HintzeSchmeidlerDroysenGrotenfeltvon Sybel | ||||
Geschichtsphilosophie [ 5 / 7 ]
II. Die Prinzipien des historischen Lebens [Fortsetzung] Bei der Frage nach der Bedeutung der historischen Gesetze sei schließlich noch auf einen Punkt hingewiesen, der ebenfalls zu Streitfragen Veranlassung gegeben hat. Es kommt nämlich noch darauf an, zu zeigen, daß nicht nur gewisse viel behandelte geschichtsphilosophischen Probleme keine allgemeine Entscheidung zulassen, sondern daß auch dort, wo ein Historiker einen für alles geschichtliche Leben gültigen Satz behauptet, es sich dabei durchaus nicht immer um ein Produkt der generalisierenden Auffassung zu handeln braucht. Nehmen wir als Beispiel eine These RANKEs, die im Kampf um die historischen Gesetze eine Rolle gespielt hat. Sie enthält, wie von BELOW sagt, die "allgemeine Wahrheit: die Erkenntnis, daß das innere Leben der Staaten zum großen Teil abhängig ist vom Verhältnis der Staaten untereinander, von den Weltverhältnissen" und sie wird zugleich als eine wissenschaftliche Entdeckung allerersten Ranges bezeichnet. Ist, so kann man fragen, diese allgemeine Wahrheit nicht ein historisches Gesetz, wenn auch nur in jenem logisch widerspruchslosen Sinn eines Gesetzes für den von der Geschichte individualisierend dargestellten Stoff? Wer RANKEs Geschichtsauffassung kennt, wird diese Frage verneinen. Die "Weltverhältnisse" sind für diesen großen Historiker ein bestimmter Komplex von untereinander zusammenhängenden Kulturstaaten und RANKE rechnet überhaupt nur Staaten, die in einem Zusammenhang mit diesen Kulturstaaten stehen, also auch Einflüsse von ihnen empfangen, zu seiner geschichtlichen "Welt". Wir haben im angeführten Satz, gerade wenn er absolut allgemein gelten soll und daher von jedem eigentlich geschichtlichen Inhalt frei ist, nichts weniger als ein Produkt generalisierener Wissenschaft und überhaupt keine wissenschaftliche "Entdeckung" vor uns, sondern nur die Formulierung einer methodologischen Voraussetzung, mit der RANKE an die individualisierende Darstellung der einzelnen Staaten herangeht und herangehen muß, wenn er alles universalgeschichtlich in seinem Sinn behandeln will. Ebenso steht es mit anderen allgemeinen Behauptungen, wie zum Beispiel, daß jedes noch so große Individuum in Grenzen eingeschlossen ist, die durch den Kulturzustand seines Volkes gegeben sind. Das ist in dieser Allgemeinheit absolut selbstverständlich; denn auch hier wird gar nichts anderes als der reale Zusammenhang jedes historischen Teils mit seinem historischen Ganzen behauptet. Ein System solcher allgemeinen Sätze würde also nicht einmal als generalisierende Hilfswissenschaft der Geschichte bei Erforschung von Kausalzusammenhängen Dienste leisten, sondern nur die Voraussetzungen enthalten, die gemacht werden müssen, wenn Geschichte als wissenschaftliche Darstellung historischer Zusammenhänge überhaupt möglich sein soll. So zeigt sich von neuem, daß es keinen Sinn hat, die Prinzipien des historischen Geschehens in Gesetzen zu suchen. Aber gerade weil die Ablehnung einer Geschichtsphilosophie als Gesetzeswissenschaft sich als notwendige Folge der Einsicht in das logische Wesen der Geschichte ergeben hat, so scheint damit zu viel bewiesen zu sein; denn, mögen auch alle soziologischen Theorien, die Geschichtsphilosophie sein wollen, inhaltlich falsch sein, so gibt es doch tatsächlich Versuche, Gesetze für das einmalige Ganze der historischen Entwicklung aufzustellen und diese wären überhaupt unmöglich, wenn der Begriff der Gesetzeswissenschaft als Geschichtsphilosophie einen logischen Widerspruch enthielte. Das ist gewiß richtig und deshalb muß noch gezeigt werden, daß, wo Prinzipien des historischen Geschehens in Form von Gesetzen aufgestellt scheinen, tatsächlich nicht einmal in formaler Hinsicht Gesetze im Sinne von Naturgesetzen gebildet sind. Zugleich wird sich dadurch, daß wir einsehen, was hier wirklich vorliegt, eine Antwort auf die Frage ergeben, was allein als Prinzip des historischen Lebens bezeichnet werden darf. Es ist für fast alle Versuche, das Naturgesetz des historischen Universums zu finden, charakteristisch, daß ihr Gesetz zugleich die Formel für den Fortschritt der Geschichte enthalten soll und damit ist eigentlich bereits das Wesentliche klargestellt. Man versteht, wie verlockend es sein muß, mit einem Schlag Naturgesetz, Entwicklungsgesetz und Fortschrittsgesetz zu erfassen, wie das z. B. COMTE mit seinem Gesetz von den drei Stadien: dem theologischen, dem metaphysischen und dem positiven getan zu haben glaubte, und wie großer Beliebtheit sich daher diese Art von Soziologie, die so viel zu leisten verspricht, noch heute erfreut. Man versteht aber auch, sobald man sich über das logische Wesen der Geschichte Klarheit verschafft hat, daß solche Versprechungen nie erfüllt werden können. Erstens sind nämlich Fortschritt oder Rückschritt Wertbegriffe, genauer Begriffe von Wertsteigerungen oder Wertverminderungen und von Fortschritt kann man daher nur dann reden, wenn man einen Wertmaßstab besitzt. Zweitens ist der Fortschritt das Entstehen von etwas Neuem, in seiner Individualität noch nicht Dagewesenem. Der Begriff eines Wertmaßstabes aber als Begriff dessen, was sein soll, kannn niemals mit einem Gesetzesbegriff zusammenfallen, der das enthält, was überall und immer ist oder sein muß und was daher zu fordern keinen Sinn hat. Sollen und Müssen schließen einander begrifflich aus und nur wegen der erwähnten Vieldeutigkeit des Wortes "Gesetz" kann man von einem Fortschrittsgesetz reden. Ferner geht das Entstehen des Neuen, noch nicht Dagewesenen in kein Gesetz ein; denn ein Gesetz enthält nur das, was sie beliebig oft wiederholt. Versteht man daher unter Fortschritt erstens das Entstehen von etwas Neuem und zweitens eine Wertsteigerung und versteht man unter Gesetz ein Naturgesetz, so ist der Begriff des Fortschrittsgesetzes zweifach logisch widersinnig. Wo also durch ein "Gesetz" das historische Universums zur Einheit zusammengefaßt, mit Rücksicht auf das Entstehen des Neuen gegliedert und als Fortschritt bezeichnet wird, kann das Gesetz niemals ein Naturgesetz sein. COMTEs "Gesetz" ist denn auch tatsächlich eine Wertformel. Das "Positive" gilt ihm als das, was sein soll, als das absolute Ideal. Von hier aus betrachtet er die Entwicklung der Menschheit und stellt fest, was ihre verschiedenen Stadien Neues und Wertvolles für die Realisierung seines Ideals bedeuten. Das vermag eine Gesetzeswissenschaft, welche ihre Objekte von allen Wertverknüpfungen loslösen und als gleichgültige Gattungsexemplare betrachten muß, niemals zu leisten. Es ist hier nicht möglich und zur Klarlegung des Prinzips auch nicht erforderlich, die verschiedenen Versuche kritisch zu beleuchten, die gemacht worden sind, um angebliche Gesetze als Prinzipien des historischen Geschehens zustande zu bringen und überall nachzuweisen, daß diese Gesetze mehr oder weniger versteckt, Wertbegriffe enthalten, also keine Gesetze sind. Nur an eine Art sei noch ausdrücklich erinnert, die an den Namen DARWINs anknüpft. Natürlich kommen diese naturwissenschaftlichen Theorien dabei wieder nicht insofern in Betracht, als sie Hilfsbegriffe und Umwege für die Geschichte liefern können. Über ihren Wert in dieser Hinsicht läßt sich streiten. Hat wirklich erst DARWINs Entwicklungslehre, wie HÖFFDING meint, uns gelehrt, daß auch das Wertvolle kämpfen muß, um zu bestehen und daß die Wertbegriffe in Fleisch und Blut auftreten müssen, wenn sie wirklichen Einfluß üben sollen? Oder hat man Wahrheiten von so unbestimmter Allgemeinheit und großer Selbstverständlichkeit nicht schon vor DARWIN gekannt? Solche Fragen haben wir in diesem Zusammenhang nicht zu entscheiden. Nur auf die Gedanken kommt es uns an, die im Darwinismus die historischen Prinzipien suchen insbesondere auf das Unternehmen, dem Begriff der geschichtlichen Entwicklung einen rein naturalistischen Charakter zu geben durch den Nachweis, daß gerade das Naturgesetz der Entwicklung deren notwendige Wertsteigerung verbürge. Jeder Fortschritt vom Niederen zum Höheren, so argumentiert man, ist bedingt durch das überall gültige Gesetz der Auslesen, die immer mehr das Schlechte beseitigt und dem Guten zum Sieg verhilft. Dieses Gesetz muß daher zugleich auch das Prinzip der historischen Entwicklung und des Fortschritts sein. Das klingt manchem wohl sehr plausibel, aber man braucht auf die nähere Ausführung derartiger Gedanken, aufgrund deren man die verschiedensten Fortschrittsbegriff gewonnen hat, nicht einzugehen, um zu zeigen, daß hier ein totales Mißverständnis der Biologie DARWINs vorliegt. Wenn diese Theorie wirklich eine rein naturalistische Erklärung geben soll, so muß sie auf jede Wertteleologie verzichten und daher auch die Verwendung von Wertbegriffen, wie "höher" und "nieder", gänzlich vermeiden. Die natürliche Auslese beseitigt nicht das Schlechte und erhält das Gute, sondern verhilft lediglich dem unter bestimmten Verhältnissen Lebensfähigeren zum Sieg und dieser Prozeß kann nur dann ein Fortschritt genannt werden, wenn man das Leben als solches, in welcher Gestalt es auch auftreten mag, zum absoluten Wert machen will. Das aber wäre ganz sinnlos; denn Lebensfähigkeit hat alles Leben schon durch sein bloßes Dasein bewiesen und daher fällt jeder Wertunterschied von diesem Standpunkt aus weg. Man darf nicht einmal aufgrund der Begriffe DARWINs menschliches Leben höher als tierisches schätzen und daher die Entwicklung zum Menschen einen Fortschritt nennen. Vollends ist es unmöglich, unter rein naturwissenschaftlichen Gesichtspunkten innerhalb des Menschenlebens irgendwelche Wertunterschiede zu machen. Nur wenn man vorher schon aufgrund eines Wertmaßstabes eine bestimmte Gestaltung als wertvoll gesetzt hat, kann man die Entwicklung, die zu ihr hinführt, als Fortschritt bezeichnen. Niemals aber wird man aus den Naturgesetzen des Entwicklungsprozesses, die für jedes beliebige Stadium dieselben sein müssen, wenn sie allgemeine Gesetze sein sollen, das Fortschrittsprinzip ableiten können. Der Umstand, daß gewisse Naturgebilde, wie z. B. die Menschen, "selbstverständlich" höher geschätzt werden, als andere Formen, erklärt uns zwar die Möglichkeit einer individualisierenden Stammesgeschichte der Organismen und trägt dazu bei, die Vertreter einer naturwissenschaftlichen Geschichtsphilosophie über den Gebrauch, den sie fortwährend von Wertprinzipien machen, zu täuschen, ändert aber an der Tatsache, daß aus wirklich naturwissenschaftlichen Begriffen keine Werte abgeleitet werden können, nichts. Von solcher Täuschung sind endlich auch diejenigen beherrscht, die, meist wohl ebenfalls angeregt durch DARWINs Begriff der "begünstigten Rassen im Kampf ums Dasein", eine Geschichtsphilosophie der Geschichte zustande zu bringen, ganz unkritisch und grundlos als Wertbegriff benutzen müssen und dieses Verfahren ist umso bedenklicher, als die dadurch den für die Geschichtsphilosophie äußerst wichtigen Begriff der Nation, der ein Kulturbegriff ist und eine Volksindividualität bedeutet, in Mißkredit bringt. Der Begriff der Kulturnation hat mit dem, übrigens auch unter naturwissenschaftlichen Gesichtspunkten wohl nicht ganz einwandfreien Naturbegriff der Rasse, mit dem heute so viel dilettantisches Unwesen getrieben wird, nichts zu tun. Das Deutschtum steckt nicht im Geblüte, sondern im Gemüt, hat LAGARDE gesagt, ein Mann, der über den Verdacht, das Nationale zu gering zu schätzen, erhaben ist und diesem Ausspruch liegt derselbe Gedanke zugrunde, der es verbietet, Naturbegriffe, wie den der Rasse, zu geschichtsphilosophischen Prinzipien zu machen. Der Nachweis, daß die angeblichen historischen Gesetze Wertformeln sind, hat uns zugleich den Weg gezeigt, auf dem tatsächlich die Prinzipien des historischen Geschehens gesucht werden müssen und wieder ist es die Einsicht in das logische Wesen der Geschichtswissenschaft, die hier entscheidet. Das historische Universum ist nichts anderes, als das denkbar umfassendste individualisieren aufgefaßte historische Ganze und weil die Wertbeziehung die conditio sine qua non einer individualisierenden Auffassung überhaupt ist, so können es auch nur Wertbegriffe sein, die den Begriff des historischen Universums konstituieren. Das allein aber, was diese Arbeit leistet und es möglich macht, die verschiedenen Teile des historischen Universums als individuelle Glieder zur Einheit eines historischen Ganzen zusammenzufügen, verdient den Namen eines historischen Prinzips und deswegen ist die Geschichtsphilosophie als Prinzipienwissenschaft, wenn sie überhaupt eine Aufgabe haben soll, die Lehre von den Werten, an denen die Einheit und Gliederung des historischen Universums hängt. Mit Rücksicht auf diese Werte kann dann auch der einheitliche Sinn der Gesamtentwicklung gedeutet werden. Die Deutung dieses Sinnes ist auch tatsächlich immer das gewesen, was man nach Gesetzen suchen zu müssen glaubte, weil man Gesetz und Wert, Müssen und Sollen, Sein und Sinn nicht unterschied und sich nicht klar darüber war, daß das, was man nicht auf Werte beziehen kann, absolut sinnlos ist. Auf eine Deutung des Sinnes der Geschichte wollte auch der Naturalismus nicht verzichten und man wird es auch nicht gut können. Alles Kulturleben ist geschichtliches Leben und die Kulturmenschen, zu denen doch auch die Naturalisten gehören, können es als Kulturmenschen gar nicht unterlassen, sich über den Sinn der Kultur und damit über den Sinn der Geschichte Rechenschaft zu geben. Es entsteht demnach hier eine Aufgabe, welche weder der Naturalismus, der die Wirklichkeit von allen Wertverbindungen loslöst, noch die empirische Geschichtswissenschaft, die den geschichtlichen Verlauf nur theoretisch wertbeziehend darstellt, in Angriff nehmen kann und daher wird man die Lösung dieser notwendigen und unvermeidlichen Aufgabe von der Geschichtsphilosophie ist jedoch die Frage nach der Art seiner Behandlung zu beantworten. Nur eine Aufgabe läßt sich hier stellen, gegen deren Lösbarkeit man nicht erhebliche Bedenken geltend machen wird. Sie knüpft an die wirklich vorhandenen Leistungen der Historiker und Geschichtsphilosophen an und sucht darin die leitenden Kulturwerte als Prinzipien der Darstellung aufzuzeigen. Für manche historischen Werke wird diese Aufgabe zum Teil wenigstens so leicht zu lösen sein, daß es einer besonderen Untersuchung kaum bedarf. In einer Kunstgeschichte oder in einer Religionsgeschichte müssen es jedenfalls künstlerische und religiöse Werte sein, auf welche die darzustellenden Objekte bezogen werden. Aber durchaus nicht immer liegt die Sache so, daß ein bestimmter Wertgesichtspunkt sogleich als leitend hervortritt. Besonders bei umfassenderen Werken, die ganze Völkerentwicklungen oder Zeitalter zum Gegenstand haben, wird man auf die mannigfachsten Wertgesichtspunkte stoßen und es ist eine sehr anziehende Beschäftigung, sich darüber klar zu werden, warum der Historiker diese Ereignisse ausführlich, jene nur kurz, andere ebenso wirkliche Vorgänge gar nicht behandelt hat. Die Historiker selbst sind sich der Gründe hierfür nicht immer bewußt. Sie können es nicht sein, da sie oft nichts von der logischen Struktur ihrer Tätigkeit wissen und Wertbeziehungen überhaupt nicht vorzunehmen glauben. Umso wichtiger ist es, ihre Voraussetzungen ausdrücklich klarzulegen und aufzuzeigen, wovon sie bei der Gestaltung ihres Materials abhängig sind. Es muß sich dabei zeigen, daß jeder Historiker, besonders wenn er sich nicht auf Spezialuntersuchungen beschränkt, eine Art Geschichtsphilosophie besitzt, die entscheidend dafür ist, was er für wichtig und was er für unwichtig hält und es ist gewiß eine lohnende Aufgabe, diese Geschichtsphilosophie besonders der großen Historiker zu entwickeln. Auch bei einem so "objektiven" Historiker, wie z. B. RANKE es ist, sind ganz bestimmte philosophische Voraussetzungen über den Sinn der Geschichte wirksam und müssen es sein, da er ja alles vom universalistischen Standpunkt behandeln wollte. Mit Recht hat DOVE bemerkt, daß RANKE der einseitigen Teilnahme nicht durch Neutralität, sondern durch Universalität des Mitgefühls entgangen sei. Damit ist aber die Beziehung auf Werte implizit anerkannt und wenn das so ist, so kann man dabei nicht stehen bleiben. Worin besteht das Universum der Mitgefühle bei diesem großen Historiker? Eine hierauf gerichtete Untersuchung würde auch vielleicht etwas mehr Klarheit in die Frage bringen, was eigentlich die so viel besprochenen RANKEschen "Ideen" sind. Es dürfte sich zeigen lassen, daß RANKEs Geschichtsphilosophie Wandlungen unterworfen gewesen ist, aber unter den Faktoren, aus denen die nichts weniger als einfachen Ideen bestehen, haben immer die leitenden Wertgesichtspunkte von RANKEs Geschichtsauffassung eine wesentliche Rolle gespielt. In solchen und ähnlichen Untersuchungen müssen Geschichte und Philosophie sich aufs engste berühren. Noch wichtiger unter philosophischen Gesichtspunkten aber ist die Analyse der Versuche, die insofern über die empirische Geschichtswissenschaft hinausgehen, als sie ausdrücklich Prinzipien des geschichtlichen Lebens aufstellen und zwar solche, die zum Verständnis der gesamten menschlichen Entwicklung und zur Deutung ihres Sinnes dienen sollen. Hier bedarf es daher nicht nur der Analyse, sondern auch der Kritik, das heißt, es ist nach der Feststellung, inwiefern die Prinzipien des historischen Lebens Werte sind und worin sie bestehen, zu untersuchen, mit welchem Recht gerade diese Wertgesichtspunkte als entscheidend für den allgemeinen Sinn der universalen Entwicklung betrachtet werden. Natürlich kann es sich hier wieder nur um den Hinweis auf dieses oder jenes Beispiel handeln. Als besonders charakteristisch sei die sogenannte materialistische Geschichtsauffassung herausgegriffen und zwar in ihrer ursprünglichen Gestalt, wie sie im kommunistischen Manifest vorliegt und soweit sie, ganz unabhängig vom theoretischen oder metaphysischen Materialismus, sich auf eine Deutung des empirischen geschichtlichen Lebens beschränkt. Schon der Umstand, daß sie als Bestandteil eines politischen Programms entstanden ist, weist darauf hin, wo die für sie leitenden Wertgesichtspunkte zu suchen sind. Sie ist nur zu verstehen, wenn man berücksichtigt, daß die Interessen ihrer Urheber sich um den Kampf des Proletariats gegen die Bourgeosie drehten und daß der Sieg des Proletariats der zentrale, absolute Wert war. Weil das mit Rücksicht auf diesen Wert Wesentliche in der Gegenwart der Kampf zweier Klassen miteinander ist, so sucht man die ganze Geschichte als eine Geschichte von Klassenkämpfen zu verstehen und sie dadurch zu einer Einheit zusammenzuschließen. Die Namen der kämpfenden Parteien wechseln: Freier und Sklave, Patrizier und Plebejer, Baron und Leibeigener, Zunftbürger und Gesell stehen einander gegenüber. Aber jedesmal ist es, wieder mit Rücksicht auf den leitenden Wertgesichtspunkt, das eigentlich Wesentliche, daß es Unterdrücker und Unterdrückte, Ausbeutende und Ausgebeutete sind, die auf den verschiedenen Stufen der geschichtlichen Entwicklung miteinander kämpfen. So sind die allgemeinen Prinzipien des historischen Geschehens gewonnen und auch die nähere Ausgestaltung wird ebenfalls durchweg vom absoluten Wert, vom erhofften Sieg des Proletariats über die Bourgeosie bestimmt. Im gegenwärtigen Kampf ist die Hauptsache, weil das entscheidende Moment, der Kampf um die wirtschaftlichen Güter. Deswegen muß überall in der Geschichte das wirtschaftliche Leben die Hauptsache sein und nach den verschiedenen Gestaltungen der Wirtschaft sind daher die Epochen der Geschichte zu gliedern, wodurch dann die "materialistische", das heißt ökonomische Auffassung entsteht. Eines weiteren Beweises, wie sehr diese ganze Auffassung von Wertgesichtspunkten abhängig ist, bedarf es nicht. Daß sie sich nicht damit begnügt, das auf ihren absoluten Wert Bezogene für das Wesentliche anzusehen, sondern daß sie nach Art des naiven Begriffsrealismus, zu dem hier noch der gar nicht naive Begriffsrealismus der Hegelianer hinzukommt, das Wesentliche zugleich als das "eigentlich Wirkliche" betrachtet und dem ganzen übrigen Kulturleben nur eine Existenz geringeren Grades als Überbau oder Reflex zugestehen will, ändert nichts an Sache. Dieser Fehler ist typisch für geschichtsphilosophische Konstruktionen, die sich nicht klar geworden sind, daß sie Werte als leitende Gesichtspunkte benutzen und er dient zugleich dazu, die Unklarheit über das leitende Prinzip aufrechtzuerhalten; denn ist einmal die Scheidung zwischen zwei verschiedenen Arten des Realen gemacht und im wirtschaftlichen Leben infolge eines Platonismus mit umgekehrten Vorzeichen die "eigentliche Ursache" von allen anderen historischen Ereignissen gefunden, dann muß der Schein entstehen, als konstatiere die materialistische Geschichtsauffassung lediglich Tatsachen, wenn sie überall vom wirtschaftlichen Leben als der Grundlage ausgeht. Doch sind diese metaphysischen Hypostasierungen [einem Gedanken gegenständliche Realität unterschieben - wp] des Wirtschaftlichen schließlich nur Übertreibungen und würden sich beseitigen lassen, ohne den geschichtsphilosophischen Kernpunkt des historischen Materialismus zu berühren. Jedenfalls ist mit der Einsicht in die Wertprinzipien dieser Geschichtsauffassung zugleich der Gesichtspunkt gegeben, von dem die Kritik auszugehen hat. Diese soll natürlich hier nicht die wissenschaftliche Bedeutung des gesamten Marxismus treffen. Vielleicht hat HÖFFDING recht, wenn er daran erinnert, die materialistische Geschichtsauffassung lehre uns, daß eine gesunde soziale Entwicklung nicht ohne eine ökonomische Basis und eine gerechte Verteilung der elementaren Lebensgüter möglich sei. Ebenso ist es ganz gewiß richtig, daß jede Philosophie auch vom Naturalismus lernen kann und daß es nicht gut ist, wenn die Ideen zu hoch über dem Leben schweben. Aber das alles und noch manches andere, was ebenso richtig und ebenso verständlich sein mag, ist nicht das, worauf es allein in diesem Zusammenhang ankommt. Hier besteht die Frage nur darin, ob es berechtigt ist, in dem Sieg des Proletariats auf wirtschaftlichem Gebiet und somit in einem wirtschaftlichen Gut den absoluten Wert und den Sinn aller geschichtlichen Entwicklung zu erblicken. Natürlich soll auch diese Frage hier nicht entschieden werden. Aber man wird es doch wohl von vornherein als nicht sehr wahrscheinlich bezeichnen dürfen, daß die unter parteipoligischen Gesichtspunkten gewonnenen Wertprinzipien des Marxismus auch zur Deutung des Sinnes der Universalgeschichte geeignet sind. Man denke z. B. nur an MAX WEBERs Untersuchungen über protestantische Ethik und den Geist des Kapitalismus. Kann man ihnen gegenüber noch an einer rein "materialistischen" Deutung auch nur der Wirtschaftsgeschichte festhalten? Vollends wird eine unübersehbare Fülle von anderen menschlichen Bestrebungen und Taten aller Jahrhunderte vom Standpunkt des Marxismus aus als gänzlich sinnlos erscheinen müssen. Doch mit solchen Vermutungen kann es natürlich nicht sein Bewenden haben. Gerade der Gedanke, daß die Geschichtsphilosophie nicht nur durch Analyse die Prinzipien der empirischen geschichtswissenschaftlichen Werke und der geschichtsphilosophischen Konstruktionen klarzulegen hat, sondern auch kritisch zu ihnen Stellung nehmen muß, sobald diese Prinzipien auf universale Geltung Anspruch erheben, weist darauf hin, daß die Hauptaufgabe einer historischen Prinzipienwissenschaft noch in einer ganz anderen Richtung liegt. Kritik ist immer nur aufgrund eines Wertmaßstabes möglich und ferner muß, um eine Geschichtsauffassung als einseitig bezeichnen zu können, der Begriff einer allseitigen Auffassung in irgendeinem Sinne vorhanden sein. Zu einer selbständigen Wissenschaft wird sich die Lehre von den Prinzipien des historischen Geschehens daher nur dann entwickeln, wenn sie sowohl systematische Vollständigkeit als auch kritische Begründung bei der Aufstellng der historischen Prinzipien anstrebt, das heißt, sie muß sich die Aufstellung eines Wertsystems zum Ziel setzen und ferner kommt für sie nicht nur die tatsächliche Wertung, sondern auch die Frage nach der Geltung der Kulturwerte in Betracht und dazu braucht sie einen notwendigen Wert, an dem die tatsächlichen Wertungen gemessen werden können. Dieser Wert wird dann zugleich auch den Gesichtspunkt abgeben, der bei der Aufstellung eines Wertsystems maßgebend ist, so daß die Probleme einer Systematisierung und einer Geltung der Kulturwerte auf das engste zusammenhängen. Wie aber soll die Geschichtsphilosophie ein solches Wertsystem gewinnen, das es ihr ermöglicht, den Sinn des gesamten geschichtlichen Verlaufes zu deuten? Damit kommen wir zur letzten und zugleich wichtigsten Frage der historischen Prinzipienlehre, die hier natürlich nicht in ihrem ganzen Umfang zu beantworten, aber wenigstens in ihrer Bedeutung als Problemstellung klarzulegen ist. Es liegt der Gedanke nahe, die angedeutete Aufgabe einer besonderen Art der psychologischen Untersuchung zuzuweisen. Freilich nicht der "erklärenden" Psychologie, möge sie als "Individualpsychologie" vom Seelenleben im allgemeinen oder als Sozialpsychologie vom sozialen Leben im besonderen nach naturwissenschaftlicher Methode handeln, sondern nur einer Psychologie der Kulturwerte. Alle Geschichte handelt ja nicht nur im wesentlichen von Kulturmenschen, sondern wird ausschließlich von Kulturmenschen geschrieben. Die Werte, welche der Kulturmensch allgemein anerkennt, müssen, so scheint es, zugleich die Prinzipien einer universalen Geschichte der Kulturmenschheit sein. Es ließe sich also eine Kulturpsychologie denken, welche die Gesamtheit der allgemeinen Kulturwerte erforscht und systematisch darstellt und damit zugleich ein System der Prinzipien des historischen Geschehens liefert, in dem alle die durch Analyse der historischen und geschichtsphilosophischen Werke gewonnenen Wertsysteme ihren Platz finden und an dem sie zu messen sind. Das ist jedenfalls der tiefste, ja der einzige Sinn, den man der Behauptung, daß die Psychologie die Basis für die Geschichtsphilosophie sein müsse, geben kann und dieser Sinn liegt wohl auch dem von den Psychologen so gänzlich unverstandenen Bemühen DILTHEYs zugrunde, das Programm für eine "beschreibende und zergliedernde Psychologie" zu entwerfen, die neben die "erklärende" Psychologie zu treten hat. So bestechen jedoch der Gedanke erscheinen mag, der Geschichtsphilosophie auf diese Weise eine rein empirische und daher sichere Grundlage zu verschaffen, so steht seiner Ausführung eine unüberwindliche Schwierigkeit im Weg. Diese Kulturpsychologie kann sich nicht auf die Untersuchung "des Kulturmenschen" in dem Sinne beschränken, daß sie die allen Kulturmenschen gemeinsamen Wertungen feststellt und systematisiert; denn bei diesem generalisierenden Verfahren würde ein äußerst dürftiges Wertsystem herauskommen, in dem nur wenig von den Prinzipien einer Geschichte des historischen Universums enthalten sein könnte. Die Kulturpsychologie müßte sich vielmehr an das historische Leben selbst in seiner ganzen Fülle und Mannigfaltigkeit wenden, um alle Kulturwerte kennen zu lernen und wie sollte sie so zu leitenden Gesichtspunkten kommen, die ihr eine Gliederung und Beherrschung dieses Materials ermöglichen? Sie müßte, um in der Fülle der Wertungen das Wesentliche vom Unwesentlichen scheiden zu können, das bereits besitzen, was sie erst suchen soll: nämlich die Kenntnis der Werte, die Prinzipien einer universalen Geschichte und Prinzipien des historischen Universums selbst sind. So gerät die Kulturpsychologie als Geschichtsphilosophie in einen unentfliehbaren Zirkel. Dem Ziel einer systematischen Darstellung und Begründung der historischen Prinzipien wird man sich auf rein empirischem Weg durch bloße Analyse tatsächlich vorhandener Wertungen überhaupt nicht nähern können. Es gilt vielmehr, sich zuerst, ganz unabhängig von der Mannigfaltigkeit des historischen Materials, auf das zu besinnen, was notwendig gilt und was Voraussetzung jedes Werturteils ist, das auf mehr als individuelle Geltung Anspruch erhebt. Erst wenn zeitlos gültige Werte gefunden sind, kann man auf sie die ganze Fülle der empirisch zu konstatierenden, in der Geschichte zur Entwicklung gekommenen Kulturwerte beziehen und so eine systemtaische Anordnung und zugleich kritische Stellungnahme versuchen. Nur dann also, wenn die Gewinnung übergeschichtlicher Werte möglich ist, läßt sich Geschichtsphilosophie als eine besondere Wissenschaft von den Prinzipien des historischen Universums treiben und der Sinn der Geschichte des Universums deuten. Die Besinnung auf übergeschichtliche Werte aber gehört nicht mehr in das Gebiet der Geschichtsphilosophie als einer philosophischen Spezialdisziplin, sondern kann nur im Zusammenhang mit der Aufstellung eines Systems der Philosophie überhaupt unternommen werden. Es sieht sich also die Geschichtsphilosophie als Prinzipienwissenschaft auf das Ganze der philosophischen Untersuchungen angewiesen, insbesondere auf die Lehre vom Sinn der Welt - oder, falls die Frage danach keine wissenschaftliche Frage sein sollte, auf die Lehre vom Sinn des Menschenlebens. Die Grundlagen der Geschichtsphilosophie fallen daher mit den Grundlagen einer Philosophie als Wertwissenschaft überhaupt zusammen. Nur bis zu diesem Punkt kann die Untersuchung geführt werden, um den Begriff der Geschichtsphilosophie als der Lehre von den historischen Prinzipien im allgemeinen festzustellen. Die Frage, ob die Aufstellung absoluter Werte noch zu den Aufgaben der Wissenschaft gerechnet werden kann, ist an dieser Stelle nicht zu beantworten; denn sie ist identisch mit der Frage nach dem Begriff der wissenschaftlichen Philosophie überhaupt. Hier kam es nur darauf an, zu zeigen, daß Gesetze nicht Prinzipien der Geschichte sein können, daß daher, wenn es außer der Logik der Geschichte noch geschichtsphilosophische Probleme geben soll, diese Probleme sich zur Frage nach dem Sinn der Geschichte zusammenschließen müssen und daß die Deutung dieses Sinnes eines Wertmaßstabes von übergeschichtlicher Geltung bedarf. Nur das sei noch hinzugefügt, daß die Philosophie als kritische und systematische Wertwissenschaft keinen inhaltlich bestimmten absoluten Wert als Maßstab vorauszusetzen braucht. Gelingt es auch nur, einen rein formalen unbedingten Wert zu gewinnen, so kann dann der ganze Inhalt des Wertsystems dem geschichtlichen Leben entnommen werden, obwohl dieses seinem Begriff nach unsystematisch ist. Ja, die Geschichtsphilosophie, welche nach dem Sinn der Geschichte fragt, wird sich rein formaler Wertprinzipien bedienen müssen, gerade weil diese Prinzipien geeignet sein sollen, für alles geschichtliche Leben zu gelten. Freilich läßt sich unter dieser Voraussetzung dann auch nur ein Wertsystem denken, das systematische Vollständigkeit ebenfalls allein nach der formalen Seite hin besitzt, in bezug auf seinen Inhalt dagegen niemals abgeschlossen werden kann, weil sich immer neues geschichtliches Leben entwickelt und damit immer neue inhaltlich bestimmte Kulturwerte entstehen, die im System ihre Stellung finden müssen. Das Wertsystem kann also mit Rücksicht auf seien Inhalt nur insofern systematisch genannt werden, als sich uns der systematische Abschluß als eine ebenso notwendige wie unlösbare Aufgabe darstellt und der Gegenstand der Geschichtsphilosophie als Prinzipienwissenschaft ist deshalb nur eine "Idee" im kantischen Sinne, wie überall, wo der Gegenstand die Totalität in der Fülle ihres Inhalts ist. An der Realisierung der Idee eines solchen Wertsystems hätten also alle Zeiten zu arbeiten mit dem Bewußtsein, daß sie diese Arbeit nie vollenden werden. Das aber hebt die Bedeutung dieser Arbeit nicht auf. Im Gegenteil, wer sich zu ihr entschließt, wird Mut sowohl aus einem Blick in die Vergangenheit als auch aus einem Blick in die Zukunft schöpfen. Sehen wir von all den Problemen ab, die sich im Laufe der Jahrhunderte von der Philosohie losgelöst haben und den Spezialwissenschaften zugewiesen worden sind, so zeigt sich, daß alle bedeutenden Philosophen für ein System von Werten im angegebenen Sinne zu arbeiten gesucht haben; denn sie alle haben nach dem Sinn des Lebens gefragt und schon diese Frage setzt einen Wertmaßstab, der gesucht werden soll, voraus. So sind sie alle als Vorläufer anzusehen. Der Umstand aber, daß diese Grundfrage aller Philosophie nicht nur nicht beantwortet ist, sondern in inhaltlicher Vollständigkeit auch niemals ganz beantwortet werden kann, solange neues geschichtliches Leben entsteht, ist ebenfalls nur ein Grund, die Bedeutung der Arbeit an ihrer Beantwortung zu erhöhen; denn das Bewußtsein von der ebenso gewissen Notwendigkeit wie Unlösbarkeit einer Aufgabe gibt uns die Sicherheit ihrer "Ewigkeit" und damit den FICHTEschen Trost, daß diejenigen, die an der Lösung dieser Frage mitarbeiten, durch diese ihre Arbeit "ewig" werden, wie die Aufgabe selbst es ist. |