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HEINRICH RICKERT
Die Grenzen der
naturwissenschaftlichen Begriffsbildung

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Einleitung
Erstes Kapitel - Die begriffliche Erkenntnis der Körperwelt
I. Die Mannigfaltigkeit der Körperwelt
II. Die Bestimmtheit des Begriffs
III. Die Geltung des Begriffs
IV. Dingbegriffe und Relationsbegriffe
V. Die mechanische Naturauffassung
VI. Beschreibung und Erklärung

Zweites Kapitel - Natur und Geist
Drittes Kapitel - Natur und Geschichte
Viertes Kapitel - Die historische Begriffsbildung
Fünftes Kapitel - Naturphilosophie und Geschichtsphilosophie

"Die Überwindung einer extensiven Mannigfaltigkeit ist nur dadurch möglich, daß in der Wortbedeutung das mehreren einzelnen Anschauungen Gemeinsame zu Bewußtsein kommt, denn nur dadurch sind wir imstande, die Anschauungen, in denen sich dieses Gemeinsame findet, als zu der betreffenden Wortbedeutung gehörig zu erkennen."

"Ein Begriff, welcher die Blindschleiche mit der Eidechse, den Delphin mit dem Hund zusammenfaßt, kann keine bloße Wortbedeutung mehr sein. Die Elemente dieser Begriffe müssen vielmehr in Form von Urteilen ausdrücklich abgegeben werden."

Erstes Kapitel
Die begriffliche Erkenntnis der Körperwelt

II.
Die Bestimmtheit des Begriffs

Die ursprünglichste Art der Begriffsbildung, d. h. die Verwendung der unwillkürlich entstandenen Wortbedeutungen zu einem wissenschaftlichen Zweck, haben wir kennen gelernt. Wir müssen nun aber auch hervorheben, daß es sich hier nur um den ersten Ansatz zur Bildung eines brauchbaren wissenschaftlichen Begriffs handelt. Die Wortbedeutungen bedürfen, um vollkommene Begriffe zu sein, d. h. um die Aufgabe, die sie haben, zu erfüllen, einer weiteren logischen Bearbeitung. Um die Notwendigkeit und die Art dieser Bearbeitung zu verstehen, müssen wir uns die Natur der Wortbedeutungen etwas genauer vergegenwärtigen.

Wir stoßen damit auf eine sehr schwierige psychologische Frage, für deren Beantwortung von Seiten der Psychologie noch verhältnismäßig wenig getan ist. Was geht in uns vor, wenn wir ein Wort verstehen? Was tritt dem ansich bedeutungslosen Wortbild oder Wortklang hinzu, das ihm Bedeutung gibt? Wir wollen uns dieses Problem für unsere Zwecke hier nur so stellen, daß wir fragen: können wir der anschaulichen Vorstellungen beim Verstehen der Worte gänzlich entbehren? Warum diese Frage hier von Bedeutung ist, ist klar. Wird sie verneint, so kommt mit der Anschauung auch wieder unendliche Mannigfaltigkeit mit in den Begriff und sein Wert, der ja gerade in der Überwindung der anschaulichen Mannigfaltigkeit bestehen soll, muß zweifelhaft werden. In der Beseitigung auch dieser Mannigfaltigkeit würde dann die weitere Bearbeitung des Begriffes zu suchen sein.

Doch scheint zunächst die Anschauung beim Verstehen der Wortbedeutungen keine wesentliche Rolle zu spielen. Wir werden geneigt sein, mit SCHOPENHAUER, (1) LIEBMANN (2), RIEHL (3) u. a. anzunehmen, daß wir zumindest nicht alle Worte einer Rede, die wir verstehen, in anschauliche Bilder umsetzen, denn es würde dann ein so schnelles Verständnis von Worten, wie es tatsächlich stattfindet, gar nicht möglich sein. Aber dieser Umstand läßt das Problem der Wortbedeutung doch eigentlich nur umso schärfer hervortreten. Worin die Bedeutung eines Wortes besteht, wenn sie keine anschauliche Vorstellung ist, hat noch niemand zu sagen vermocht. Vielleicht jedoch dürfen wir die Frage so gar nicht stellen. Vielleicht fallen Bedeutung und Wort nicht so auseinander, daß man fragen kann, was die eine ohne das andere sei. RIEHL (4) hat bemerkt, daß nur bei Betrachtung einer fremden Sprache, die wir unvollkommen sprechen, der Schein einer vollständigen Trennung von Wort und Bedeutung entstehen kann. Wir machen nur dort die Bedeutung vom Wort einer fremden Sprache unabhängig, wo wir sie mit Worten unserer Muttersprache angeben können, also anstelle eines Wortes ein anderes setzen. In unserer Muttersprache selbst bleibt die Bedeutung vom Wort untrennbar. Das ist gewiß richtig und trägt wesentlich zur Klärung der Frage bei, aber eine Lösung des Problems ist auch das nicht.

Wir können in diesem Zusammenhang nicht daran denken, eine Lösung des psychologischen Problems zu geben. Die Logik muß versuchen, hier selbständig vorzugehen. Sie kann es, denn die Frage, die wir uns hier stellen müssen, ist vom soeben Erörterten zum großen Teil unabhängig. Eines nämlich ist sicher: wir wissen bei den meisten Worten, die wir benutzen, nicht genau anzugeben, worin ihre Bedeutung besteht. Schon der Umstand, daß überhaupt ein Streit darüber entstehen konnte, was zum Wort hinzukommt, um ihm Bedeutung zu geben, beweist das auf das unzweideutigste. Nun mag zwar die Unmöglichkeit einer genauen Bedeutungsangabe für das tägliche Leben nicht störend sein, die Anwendung der Worte ist hier trotzdem genügen gesichert. Aber völlig anders liegt die Sache bei den Worten, die als Zeichen von Begriffen einem wissenschaftlichen Zweck dienen sollen. Da genügt es nicht, daß die Worte im Allgemeinen verstanden werden, ohne daß wir wissen wodurch, denn unter dieser Bedingung sind Unklarheiten und Mißverständnisse niemals völlig ausgeschlossen. Die Wissenschaftslehre kann daher bei der vielleicht richtigen, aber für sie rein negativen Behauptung nicht stehen bleiben, daß wir keine Anschauung brauchen, um die Worte zu verstehen. Sie muß vielmehr fordern, daß die Wissenschaft, um Sicherheit in der Anwendung der Wortbedeutungen für jeden Fall herbeizuführen, darauf ausgehe, den Inhalt der Bedeutungen ausdrücklich zu Bewußtsein zu bringen. Das vermag sie aber nur, wenn sie ihn aus seiner Verschmelzung mit dem Wort herauslöst. Ist also die Trennung von Bedeutung und Wort faktisch nicht vorhanden, so ist sie doch ein logisches Ideal. Was die Wortbedeutungen tatsächlich leisten, ohne daß wir genau angeben können, wodurch sie es leisten, das müssen wir in einer wissenschaftlichen Untersuchung durch Vorgänge ersetzen, die wir durchschauen und die dadurch die notwendige Sicherheit der Leistung garantieren. Wir beachten also nun nicht den tatsächlichen Verlauf beim Verstehen der Worte, sondern wir sehen diesen gewissermaßen als Abkürzung eines Prozesses an, den es ausdrücklich zu entfalten gilt.

Wie muß dieser Prozeß beschaffen sein, wenn er die angestrebten Zwecke erreichen soll? Was müssen wir uns vorstellen, wenn wir den Inhalt einer Wortbedeutung vorstellen? Aus der tatsächlichen Leistung der Wortbedeutungen können wir das zu erschließen versuchen, indem wir fragen, welche Eigentümlichkeiten eine vom Wort getrennte und für sich vorstellbare Bedeutung als notwendige Bedingungen ihrer Leistung haben müßte. Nach dem früher Ausgeführten ist dies selbstverständlich. Die Überwindung einer extensiven Mannigfaltigkeit ist nur dadurch möglich, daß in der Wortbedeutung das mehreren einzelnen Anschauungen Gemeinsame zu Bewußtsein kommt, denn nur dadurch sind wir imstande, die Anschauungen, in denen sich dieses Gemeinsame findet, als zu der betreffenden Wortbedeutung gehörig zu erkennen. Das Gemeinsame muß sich, wie wir auch sagen können, aus dem in der Wortbedeutung überhaupt Vorgestellten irgendwie herausheben. Dieses Herausheben ist aber auch die notwendige Bedingung für die Vereinfachung der intensiven Mannigfaltigkeit einer einzelnen Anschauung. Wir brauchen dann nicht den ganzen Inhalt der Anschauung, sondern nur diesen Teil, eben das Gemeinsame, zu beachten. Wir behaupten, wie gesagt, nicht, daß sich das unter allen Umständen psychologisch so vollziehen muß, sondern nur, daß es möglich sein muß, sich den Inhalt einer Wortbedeutung so zu Bewußtsein zu bringen, wenn ihre Anwendung für die Zwecke der Wissenschaft in ausreichender Weise gesichert sein soll.

Andererseits aber müssen wir nun hervorheben, daß, wenn wir den Inhalt einer ohne unser bewußtes Zutun entstandenen Wortbedeutung uns wirklich vorzustellen versuchen, das Gemeinsame durchaus nicht den einzigen Inhalt der Wortbedeutung bilden wird und damit kommen wir von neuem zu der Frage, ob wir der empirischen, unendlich manngfaltigen Anschauung beim Verstehen der Worte entbehren können. Sie muß in diesem Zusammenhang verneint werden. Es drängt sich, sobald wir die Bedeutung eines Wortes ausdrücklich vorzustellen suchen, immer eine individuelle Anschauung mit ihrer unendlichen Mannigfaltigkeit in unser Bewußtsein, eine Anschauung, in der wir das Gemeinsame vorstellen, ja die ein wirkliches Vorstellen des Gemeinsamen allein möglich macht. Man kann sie als den Hintergrund des Begriffes im Gegensatz zu den im Vordergrund bedindlichen gemeinsamen Elementen bezeichnen. (5)

Dieser Umstand ist für die Logik von großer Bedeutung. Im anschaulichen Hintergrund, der fehlen mag beim Verstehen der Worte im gewöhnlichen Sinn, der sich aber einstellt bei jedem Versuch einer ausdrücklichen Vergegenwärtigung des Inhaltes der Wortbedeutungen, d. h. einer Trennung von Wort und Bedeutung, haben wir wieder etwas, wobei wir nicht bleiben können. Er ist es, der uns zu weiterer logischer Bearbeitung der Begriffe nötigt. War das bloße Verstehen der Worte ohne Möglichkeit einer ausdrücklichen Bedeutungsangabe für die Sicherheit der wissenschaftlichen Untersuchung nicht ausreichend, so genügt eine solche Vergegenwärtigung der Bedeutung, wie wir sie oben beschrieben haben, erst recht nicht. Wir müssen nämlich zwar eine Scheidung von Vorder- und Hintergrund, ein gewisses Herausheben der gemeinsamen Elemente im Inhalt der Wortbedeutungen annehmen, weil, wie wir gesehen haben, ohne dieses die Wortbedeutungen nicht leisten können, was sie tatsächlich leisten. Zugleich aber wir auch jeder zugeben, daß in den ursprünglichen Begriffen weder der Vordergrund vom Hintergrund ganz scharf getrennt ist, noch daß wir die hervorgehobenen gemeinsamen Elemente durch bloßes Vorstellen uns so zu vergegenwärtigen mögen, daß wir wirklich genau und ausdrücklich wissen, was wir als Gemeinsames vorstellen. Die Mannigfaltigkeit des vorgestellten Inhalts führt vielmehr stets eine Unsicherheit, ein Schwanken mit sich und das dürfte genügen, um darzutun, daß jede Wortbedeutung, deren Inhalt wir uns ausdrücklich vergegenwärtigt haben, ihre Fähigkeit, die Mannigfaltigkeit der Welt zu vereinfachen, so lange sie ein logisch nicht weiter bearbeitetes Gebilde ist, nur einer weitgehenden Unbestimmtheit ihres Inhalts verdankt. Diese Unbestimmtheit mag bei der Verwendung der Wortbedeutungen für die Zwecke des täglichen Lebens so gleichgültig sein, daß der Schein entstehen kann, sie sei überhaupt nicht vorhanden. Sie wird durch die notwendig sich einstellende Fülle von anschaulicher Mannigfaltigkeit immer hervorgerufen, eine Fülle, die wir bei einer wirklichen Vorstellung gar nicht entbehren können.

Diese Mannigfaltigkeit im Inhalt der Begriffe ist unter logischen Gesichtspunkten ein Mangel. Sie hindert uns nicht nur, den Umfang des Begriffes mit Sicherheit anzugeben, sondern vor allem kann ein Begriff mit unbestimmten Inhalt für die Überwindung der intensiven Mannigfaltigkeit der Einzelgestaltungen sehr wenig leisten. Es gilt also, die anschauliche Mannigfaltigkeit aus dem Inhalt der Begriffe zu beseitigen, den "Hintergrund" fortzuschaffen, in dem wir das Gemeinsame vorstellen und den Teil der Wortbedeutungen zu isolieren, auf den es uns ankommt. Es gilt, den Begriff noch mehr von der Anschauung loszulösen, um die Mannigfaltigkeit der Anschauung wirklich zu überwinden. Nur so werden wir vollkommene Begriffe bilden, die nichts anderes, als das verschiedenen Einzelanschauungen Gemeinsame und daher dieses Gemeinsame bestimmt enthalten. SIGWART hat deshalb durchaus Recht, wenn er die Bestimmtheit als eine wesentliche Eigenschaft des logisch vollkommenen Begriffs hervorhebt. Auch VOLKELT nennt den Begriff die bestimmte Vorstellung vom Gemeinsamen. Nur bestimmte Begriffe geben uns in der Tat das Mittel, mit Hilfe dessen wir eine anschauliche Mannigfaltigkeit wirklich zu überwinden vermögen. Da wir in den ursprünglichen Wortbedeutungen dieses Mittel noch nicht besitzen, so müssen wir es uns schaffen. Wir müssen einen Zustand herbeiführen, bei dem der Versuch einer Vergegenwärtigung des Inhalts einer Wortbedeutung uns nicht auf eine anschauliche und daher, wenn sie allgemein sein soll, unbestimmte Mannigfaltigkeit, sondern auf eine genau begrenzte und bestimmte Bedeutung führt.

Dem gegenüber aber erhebt sich nun die Frage, ob es Vorstellungen, wie die Logik sie fordert, nämlich Vorstellungen, die sowohl allgemein als auch inhaltlich vollkommen bestimmt sind, als psychische Gebilde überhaupt geben kann. Schon aus dem soeben Ausgeführten können wir ersehen, daß diese Frage ganz entschieden mit Nein beantwortet werden muß. Vergeblich werden wir uns bemühen, nur die gemeinsamen Elemente wirklich vorzustellen. Solange wir vorzustellen versuchen, drüngt sich auch eine anschauliche Mannigfaltigkeit mit in unser Bewußtsein und der Hintergrund und damit die störende Unbestimmtheit des Begriffs ist wieder da. Es scheint also, als stelle uns die Logik hier vor eine unlösbare Aufgabe. Bestimmt ist immer nur eine individuelle Anschauung. Die Allgemeinheit eines Bewußtseinsinhaltes scheint notwendig mit Unbestimmtheit verknüpft. Bestimmte Vorstellungen vom Gemeinsamen gibt es also als psychische Gebilde nincht. Daraus folgt, daß, wenn es überhaupt vollkommene Begriffe geben soll, die Wortbedeutung in völlig anderer Weise bearbeitet und umgewandelt werden muß.

Wir können mit anderen Worten, um einen wirklich brauchbaren Begriff zu schaffen, beim bloßen Vorstellen nicht stehen bleiben, denn jede Vorstellung ist mit Mannigfaltigkeit verbunden, die uns stört. Wie aber werden wir diese Mannigfaltigkeit los? Das Mittel dazu ist sehr einfach und es wird fortwährend davon Gebrauch gemacht. Wir zählen einzeln auf, woraus der Inhalt eines Begriffs besteht. Damit kommen wir zu etwas ganz Neuem. Eine solche Begriffsbestimmung kann nur dadurch vorgenommen werden, daß wir an die Stelle einer einzelnen Vorstellung eine Mehrheit von Denkakten und zwar eine Anzahl aufeinander folgender Urteile treten lassen. In ihnen haben wir den Inhalt der Wortbedeutung bestimmt vor uns. Die anschauliche Mannigfaltigkeit kann jetzt nicht mehr störend wirken. Der Vordergrund ist vom Hintergrund scharf getrennt.

Ein logisch vollkommener Begriff ist demnach niemals eine einzelne Vorstellung, sondern immer ein Vorstellungsverlauf. Er besteht, wenn er wirklich gedacht wird, aus einer Reihe von Aussagen. Das soll natürlich nicht heißen, daß bei der Verwendung des Begriffs in wissenschaftlichen Ausführungen jedesmal beim Hören des betreffenden Wortes die Urteile, welche den Inhalt seiner Bedeutung angeben, ausdrücklich vollzogen werden müßten. Psychologisch betrachtet mag da wieder eine Abkürzung des Prozesses eintreten, auf deren Natur wir hier nicht näher eingehen. Nur die Möglichkeit muß vorhanden sein, daß, sobald über den Inhalt des Begriffes irgendein Zweifel entsteht, die bestimmenden Urteile auftreten können; nur das wollen wir sagen, daß, wo das Bedürfnis nach ausdrücklicher Vergegenwärtigung des Begriffsinhaltes besteht, diese nicht in Form einer unbestimmten Vorstellung, sondern in Form von Urteilen zu geschehen hat.

Doch, wir müssen noch eine Einschränkung machen. Wir wollen zunächst nur feststellen, daß die Inhaltsangabe eines Begriffes und jede wirkliche Vergegenwärtigung seines Inhaltes die Form von Urteilen annehmen muß. Die Frage, ob wir es hier auch mit wirklichen Urteilen, d. h. mit Sätzen, die etwas als wahr behaupten, zu tun haben, lassen wir zunächst dahingestellt. Hier kam es uns nur darauf an, zu zeigen, welches Mittel wir anwenden müssen, um die beiden an einen Begriff zu stellenden Anforderungen, die Allgemeinheit und Bestimmtheit, miteinander zu vereinigen. Gibt es auch keine Vorstellungen, die zugleich allgemein und bestimmt sind, so haben wir in einem Komplex von Aussagen einen Ersatz dafür, der einer allgemeinen und zugleich bestimmten Vorstellung logisch äquivalent ist.

Beseitigt nun aber dieses Mittel wirklich den Mangel, welcher den logisch unbearbeiteten allgemeinen Wortbedeutungen anhaftet? Das scheint insofern nicht der Fall zu sein, als jedes der Begriffselemente, die wir uns in der Form von Urteilen ausdrücklich zu Bewußtsein bringen und deren Gesamtheit den Inhalt des Begriffs ausmacht, wiederum eine Wortbedeutung sein und daher, wenn ihr Inhalt ausdrücklich vergegenwärtigt wird, mit derselben Mannigfaltigkeit und Unbestimmtheit behaftet sein muß, wie die zu bestimmende Wortbedeutung selbst. Wir können nun zwar diese Unbestimmtheit dadurch beseitigen, daß wir die Elemente in den zur Bestimmung der Wortbedeutung dienenden Urteilen wiederum bestimmen, indem wir natürlich ebenfalls in der Form von Urteilen ihre Elemente genau angeben. Aber da auch die Elemente in diesen Urteilen allgemeine Wortbedeutungen und also wiederum unbestimmt sind und das natürlich bei jeder neuen Bestimmung sich wiederholen würde, so scheinen wir vor die Aufgabe gestellt, eine unendliche Reihe von Begriffsbestimmungen vorzunehmen, um zum Ziel zu kommen. Das heißt mit anderen Worten, daß wir auch durch die Umsetzung des Begriffsinhalts in die Form von Urteilen nicht imstande sind, Begriffe mit völlig bestimmtem Inhalt zu bilden, daß also auch diese Begriffe die anschauliche Mannigfaltigkeit nicht überwinden.

In der Tat, eine rein formal logische Betrachtung, die ohne Einschränkung an jeden Begriff die Anforderung absoluter Bestimmtheit stellt, verlangt etwas Unmögliches. Ganz anders aber wird die Sache, wenn wir daran denken, daß wie den Begriff als Mittel zu einem Zweck betrachten und daß die Bestimmtheit der Begriffe nur die Sicherheit ihrer Anwendung gewährleisten soll. Die Wissenschaftslehre kann die Begriffsbestimmung dann offenbar nur soweit verlangen, daß die Unbestimmtheit des Begriffsinhaltes keinen störenden Einfluß mehr auf den Gang der wissenschaftlichen Forschung auszuüben vermag. Ist nun - so müssen wir fragen - zur Erreichung dieses Zwecks immer eine absolute Bestimmtheit des Begriffs erforderlich?

Es läßt sich zeigen, daß auf dem bei weitem größten Teil des wissenschaftlichen Arbeitsgebietes das nicht der Fall ist. Nur bestimmter müssen wir die Begriffe machen können, als es in vielen Fällen die psychologisch entstandenen Wortbedeutungen sind, aber darum nicht absolut bestimmt. Schon von vornherein ist die Unbestimmtheit der Wortbedeutungen, auch wenn ihr Inhalt nur durch eine Vorstellung angegeben wird, infolge der Trennung von Vorder- und Hintergrund in gewisse Grenzen eingeschlossen und es kommt nur darauf an, diese Grenzen zu verengern. Eine solche Grenzverengerung aber kann auch durch Angabe von Elementen, die für sich nicht vollkommen bestimmt sind, in hohem Maß erreicht werden. So wird z. B. die Jurist bei den unbestimmten Bedeutung des Wortes "Ehe" zwar nicht stehen bleiben können, sondern ihren Begriff durch Angabe der betreffenen Gesetzesbestimmungen ausdrücklich feststellen. Er wird jedoch dabei nicht vermeiden können, mit unbestimmten Wortbedeutungen, wie Mann und Weib, zu operieren und wenn er hier von einer ausdrücklichen Begriffsbestimmung absieht, so liegt das daran, daß die Unbestimmtheit der Wortbedeutungen Mann und Weib sich niemals so weit erstrecken wird, daß dadurch der Begriff der Ehe eine für den Juristen störende Unbestimmtheit enthielte. (6)

Wo die Grenze für die Umsetzung der Wortbedeutungen in die Form von Urteilen liegt, ist selbstverständlich aus formal logischen Gesichtspunkten nicht zu entscheiden, sondern kann immer nur für die einzelnen Wissenschaften, unter Berücksichtigung ihrer sachlichen Eigentümlichkeiten, festgestellt werden. Die Wissenschaften müssen sich hierin sehr verschieden verhalten und ein Versuch, die Arten dieses Verhaltens und die Gründe dafür anzugeben, wäre eine ebenso interessante Aufgabe der Wissenschaftslehre. Hier genügt es, darauf hinzuweisen, daß aus dem Mangel an absoluter Bestimmtheit und der notwendigen Einmischung anschaulicher Mannigfaltigkeit in den Inhalt des Begriffs kein Einwand gegen unsere Theorie hergeleitet werden darf. Die Begriffe brauchen sich nur dann nicht in Form von Urteilen darzustellen, wenn sie der formal logischen Vollkommenheit entbehren, d. h. aus den angegebenen Gründen im Stadium der unbestimmten Wortbedeutungen verharren können.

Nur für die naturwissenschaftliche Begriffsbildung, mit der wir es hier ja allein zu tun haben, sei noch einiges hinzugefügt. Hier wird sich in vielen Fällen wenigstens die Sache so darstellen, daß die Wortbedeutungen, die der eine Zweig der Naturwissenschaften nicht in Aussagen umzusetzen braucht, weil ihre Bestimmtheit für seine Zwecke ausreicht, von einem anderen Zweig der Naturwissenschaft zu weiterer begrifflicher Bearbeitung aufgenommen werden, während dieser Zweig wiederum einen anderen Teil seiner Wortbedeutungen einer dritten Naturwissenschaft zu begrifflicher Bearbeitung überläßt usw. Oft bilden die Wortbedeutungen, mit denen die eine Wissenschaft trotz ihrer Unbestimmtheit sicher arbeitet, gerade die schwierigsten Probleme für eine andere Wissenschaft. Man kann versuchen, unter diesem Gesichtspunkt eine systematische Anordnung der einzelnen Wissenschaften vorzunehmen. Man würde mit denen zu beginnen haben, in denen die meisten unbearbeiteten Wortbedeutungen vorkommen, d. h. in denen es sich im Wesentlichen um Vereinfachung der Wirklichkeit lediglich mit Hilfe der ohne bewußte Absicht entstandenen Wortbedeutungen, als um "Beschreibung" im angegebenen Sinne handelt. Man würde dabei jedoch finden, daß schon die gewöhnlich als beschreibende Naturwissenschaften bezeichneten Wissenszweige mit Wortbedeutungen, deren Inhalt nur eine unwillkürlich sich einstellende Anschauung bildet, dann allein auskommen, wenn sie Dinge unter einen Begriff bringen, die eine weitgehende aunschauliche Ähnlichkeit miteinander haben. Diese rein äußerliche Gemeinsamkeit ist aber nur in seltenen Fällen maßgebend. Ein Denken, welches lediglich mit Wortbedeutungen operiert, wird z. B. eine Blindschleiche zu den Schlangen, einen Delphin zu den Fischen zählen. Ein Begriff, welcher die Blindschleiche mit der Eidechse, den Delphin mit dem Hund zusammenfaßt, kann keine bloße Wortbedeutung mehr sein. Die Elemente dieser Begriffe müssen vielmehr in Form von Urteilen ausdrücklich abgegeben werden. Von hier aus könnte man dann zu anderen Wissenschaften aufsteigen, die umso höher stehen, je mehr in ihnen die unbestimmten Wortbedeutungen beseitigt und durch logisch bearbeitete, in der Form von Urteilen darstellbare Begriffe ersetzt sind. Doch wird es erst dann möglich sein, diesen Gedanken zu voller Klarheit zu bringen, wenn wir später die Frage behandeln, wie weit die Urteile, durch welche die Elemente eines Begriffes angegeben werden, nicht nur die Form, sondern auch den Gehalt oder den Wert von Urteilen haben, weil dann erst das eigentliche Wesen des Begriffs sich uns enthüllen wird, das mit der Bestimmtheit durchaus nicht erschöpft ist.

Diesen Gedanken schon hier anzudeuten, veranlaßt der Umstand, daß er uns auch in Bezug auf die Bestimmtheit des Begriffs vor eine neue Schwierigkeit führt. Gerade wenn wir nämlich vor eine neue Schwierigkeit führt. Gerade wenn wir nämlich an den Zusammenhang und an die Rangordnung der Naturwissenschaften denken, müssen wir zweifelhaft werden, ob die Theorie, nach der die eine Wissenschaft unbestimmte Wortbedeutungen benutzt, die sie einer anderen zu begrifflicher Bearbeitung überläßt, uns wirklich befriedigen kann. Wir dürfen nicht vergessen, daß die verschiedenen Zweige der Naturwissenschaft zwar zunächst von verschiedenen Seiten her die Wirklichkeit bearbeiten, daß aber, weil die Körperwelt als ein einheitliches Ganzes zu betrachten ist, alle Naturwissenschaften als Glieder eines wissenschaftlichen Systems, in gewissem Sinn auch als Vorbereitungen zu einer allgemeinen Theorie der Körperwelt anzusehen sind, zu der sie alle beitragen. Es wird danach also doch eine Wissenschaft geben müssen, die nun die Aufgabe der vollständigen Begriffsbestimmung, der Beseitigung aller anschaulichen Mannigfaltigkeit wirklich zu Ende zu führen sucht, weil sie es mit Elementen zu tun hat, deren begriffliche Bearbeitung sie keiner anderen Wissenschaft mehr zuschieben kann. Diese Wissenschaft würde ihre Aufgabe erst dann erfüllt haben, wenn sie nur mit Begriffen arbeitete, deren Elemente sowohl allgemein als auch zugleich absolut bestimmt sind. Wir kommen also damit doch wieder zu der oben abgewiesenen Forderung zurück oder wir scheinen wieder vor eine unendliche Reihe von immer neuen Begriffsbestimmungen gestellt.

Das ist gewiß richtig. Allerdings stehen wir dieser Forderung jetzt insofern ganz anders gegenüber, als sie nicht mehr an jeden Begriff gestellt werden darf, aber sie erscheint in der Tat als der Gedanke eines Zieles, dem die grundlegende Naturwissenschaft sich immer mehr anzunähern hat. Wir müssen - das läßt sich nicht leugnen - als letztes Ideal Begriffe erstreben, deren Elemente vollkommen frei von anschaulicher Mannigfaltigkeit und das heißt nichts anderes als absolut einfach sind. Wären wir im Besitz solcher Begriffselemente, dann könnten wir den Inhalt der Begriffe so angeben, daß er absolut bestimmt ist. Die Beantwortung der Fragen jedoch, inwieweit diese letzten idealen Begriffselemente jemals erreichbar sind und ob sie sich unserer Theorie in jeder Hinsicht einordnen würden, wollen wir für einen späteren Zusammenhang aufschieben. Wir können es, denn diese Begriffe stellen nur gewissermaßen einen Grenzfall dar. Im Allgemeinen läßt sich aus ihnen kein Einwand gegen unseren Gedankengang gewinnen, daß die wesentliche Leistung des Begriffs in einer Vereinfachung der anschaulichen Mannigfaltigkeit besteht. Auch die Begriffs bestimmung läuft auf eine immer größere Vereinfachung des Begriffsinhaltes hinaus.

Daß Vereinfachung der gegebenen Wirklichkeit das wahre Wesen des naturwissenschaftlichen Begriffs ausmacht, wird noch deutlicher werden, wenn wir nun zu zeigen suchen, daß daraus auch die letzte Beschaffenheit zu begreifen ist, die neben der Allgemeinheit und Bestimmtheit den Begriffen zukommen muß.
LITERATUR - Heinrich Rickert, Die Grenzen der naturwissenschaftlichen Begriffsbildung [Eine Einleitung in die historischen Wissenschaften], Freiburg i. Br./Leipzig 1896
    Anmerkungen
    1) ARTHUR SCHOPENHAUER, Die Welt als Wille und Vorstellung, Werke Bd. I, Erstes Buch, § 9, (Hg Grisebach), Seite 77f
    2) OTTO LIEBMANN, Zur Analysis der Wirklichkeit, 2. Auflage, Seite 471f
    3) ALOIS RIEHL, Beiträge zur Logik
    4) ALOIS RIEHL, Beiträge zur Logik, Seite 59
    5) Vgl. BENNO ERDMANN, Logik I, Seite 44f
    6) Dieses Beispiel ist von SIGWART in einem anderen Zusammenhang gebraucht, zur Erörterung einer Frage, die erst ein späterer Abschnitt dieses Kapitels behandeln wird. Es ließ sich aber auch in diesem Zusammenhang gut verwerten, wenn es auch nicht den Naturwissenschaften entnommen ist. Wie die Sache in den Naturwissenschaften liegt, werden wir sogleich sehen. Hier kam es nur darauf an, ganz im Allgemeinen zu zeigen, was unter Grenzverengung der Unbestimmtheit eines Begriffs durch Angabe von selbst unbestimmten Elementen zu verstehen ist. Vgl. SIGWARTs Kritik meiner Schrift "Zur Lehre von der Definition" in den Göttingischen gelehrten Anzeigen, 1890, Nr. 2., Seite 55