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HEINRICH RICKERT
Die Grenzen der
naturwissenschaftlichen Begriffsbildung

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Einleitung
Erstes Kapitel - Die begriffliche Erkenntnis der Körperwelt
I. Die Mannigfaltigkeit der Körperwelt
II. Die Bestimmtheit des Begriffs
III. Die Geltung des Begriffs
IV. Dingbegriffe und Relationsbegriffe
V. Die mechanische Naturauffassung
VI. Beschreibung und Erklärung

Zweites Kapitel - Natur und Geist
Drittes Kapitel - Natur und Geschichte
Viertes Kapitel - Die historische Begriffsbildung
Fünftes Kapitel - Naturphilosophie und Geschichtsphilosophie

"Wenn Geschichte als Wissenschaft getrieben werden soll, so sind transzendente Elemente in ihr unentbehrlich. Ein immanenter Naturalismus ist logisch undurchführbar. Die Wissenschaftslehre muß uns überhaupt zu dem Resultat führen, daß solche Elemente für jede Wissenschaft notwendig sind. Die Naturwissenschaften mögen sich über den Gebrauch dieser Elemente täuschen können, weil dieser Gebrauch hier so selbstverständlich geworden ist, daß man ihn meist völlig übersieht. Die historischen Wissenschaften werden sich auf ihre transzendenten Elemente ausdrücklich zu besinnen haben. Im Nachweis dieser Notwendigkeit mündet die Logik in eine allgemeine Weltanschauungslehre."

Einleitung
- Fortsetzung -

Was ist für HEGEL die Weltgeschichte? Die ursprüngliche Geschichte, in der der Autor selbst erzählt, was er erlebt hat und allenfalls das Erlebte durch Berichte anderer ergänzt oder in der auch eine Übersicht über die ganze Geschichte eines Volkes, eines Landes oder auch der Welt gegeben wird, genügt HEGEL nicht. Auch die verschiedenen Arten der reflektierenden Geschichte, die pragmatische, welche die Vergangenheit zur Gegenwart in Beziehung setzt, die kritische Untersuchung der Geschichte auf ihre Glaubwürdigkeit, die Entwicklungsgeschichte gewisser Sonderbegriffe in Kunst, Recht, Religion, alles das kann den Philosophen nicht befriedigen. Für ihn ist es eine Voraussetzung, daß die Geschichte nicht bloß einfach ablaufe, sondern einen Sinn habe, daß Vernunft die Welt beherrsche. Den Plan in der Geschichte aufzusuchen und darzustellen, ihren Geist zu erkennen, das ist die eigentlich philosophische Aufgabe. Und weil nunf für HEGEL das Wesen des Geistes Freiheit ist, im Gegensatz zur Materie, der Geist aber nur frei ist, insoweit er sich selbst frei weiß, so will HEGEL uns die Weltgeschichte als den Prozeß zeigen, in dem der Geist zu Bewußtsein seiner selbst und damit zur Freiheit kommt. Auf diesen Prozeß wird jedes historische Ereignis bezogen. - Die HEGELsche Geschichtsphilosophie gilt heute für veraltet und bis zu einem gewissen Grad gewiß mit Recht. Zunächst steht und fällt sie, wie HEGEL selbst das sehr wohl weiß, mit seinem eigenen metaphysischen System, das den Sinn der Geschichte inhaltlich bestimmt. Aber davon abgesehen wird man heute geneigt sein, noch weiter zu fragen, wer uns verbürgt, daß überhaupt ein Sinn, eine Vernunft, ein Plan in der Geschichte ist oder für den Menschen erkennbar ist? Damit ist die Möglichkeit jeder Behandlung der Geschichte, die der HEGELs ähnlich ist, zumindest in Frage gestellt. Da ihr ein erkenntnistheoretischer Unterbau fehlt, ist sie solchen Einwürfen gegenüber machtlos.

Völlig anders mutet uns COMTEs Stellung zur Geschichte an. Es gibt für ihn keinen Sinn des Weltganzen und keinen Plan in der Geschichte. Die positive Wissenschaft kennt nur Tatsachen und Gesetze. Zu dieser Einsicht haben sich die Naturwissenschaften größtenteils bereits durchgerungen, es kommt darauf an, daß man endlich im geschichtlichen Leben der Menschheit ebenfalls nur die Tatsachen und die Naturgesetze sucht. Das Grundgesetz aller historischen Entwicklung glaubt COMTE dann ebenso genau zu kennen, wie HEGEL den Sinn der Geschichte. - Auch hier wird man nicht nur darauf hinweisen können, daß COMTEs "Soziologie" mit seinem bekannten Gesetz von den drei Stadien steht und fällt, sondern auch hier wird sich die erkenntnis-kritische Frage ohne Weiteres nicht abweisen lassen, ob es denn überhaupt Gesetze für die Geschichte gebe oder zumindest, ob diese Gesetze für den menschlichen Geist erkennbar seien. COMTE hat diese Frage nicht gestellt und nur dem ganz in einseitig naturwissenschaftlichem Denken befangenen Menschen kann diese Unterlassung weniger bedenklich erscheinen, als HEGELs unkritische Art. COMTEs Geschichtsphilosophie ist der Erkenntniskritik gegenüber nicht minder wehrlos, als die des deutschen Idealisten.

Die Philosophie als Wissenschaftslehre muß also zunächst sowohl die HEGELsche als die COMTEsche Art, die Geschichte zu behandeln, ablehnen. Dadurch aber ist es nicht ausgeschlossen, daß HEGEL und COMTE uns dennoch als typische Vertreter für die beiden Richtungen in der Philosophie gelten können, zwischen denen auch unsere Untersuchung eine Entscheidung zu treffen haben wird. Im Anschluß an ihre Lehren wollen wir uns daher das Problem, um das es sich handelt, klar machen.

Es fehlt uns an Schlagworten, um den Gegensatz der beiden Richtungen in seiner allgemeinsten Form eindeutig zu bezeichnen. Für die Richtung, für die Richtung, für die COMTE uns typisch ist, wird man hier allenfalls das Wort Naturalismus verwenden können. (1) Das Wort Idealismus aber ist zu unbestimmt und vieldeutig, um für die andere Richtung ohne nähere Erklärung brauchbar zu sein. Wir begnügen uns hier damit, den Gegensatz einfach durch die Negation zu bestimmen, was für diese vorläufige Orientierung ausreichend ist. Am einfachsten drücken die Termini der Immanenz und der Transzendenz vielleicht den gemeinten Gegensatz aus. Jedenfalls handelt es sich darum, daß die eine Denkart sich lediglich an eine Welt halten will, von der sie glaubt, daß sie ihr unmittelbar als Wirklichkeit gegeben ist. Die andere Richtung dagegen sucht die Wirklichkeit, die wir sehen und mit Händen greifen können, zu einer anderen Welt in Beziehung zu setzen, die uns nicht in diesem Sinne gegeben ist, ja sie meint, daß der Schwerpunkt des Lebens in einem Sichversenken in die Beziehungen zu jener anderen Welt zu suchen sei.

Es versteht sich von selbst, wie in der Stellung zur Geschichte, die COMTE einerseits, HEGEL andererseits haben, diese verschiedenen Ansichten zum Ausdruck kommen müssen, wenn sie konsequent entwickelt werden. Hier der Begriff eines in sich geschlossenen, sich selbst genügenden, von rein immanenten Gesetzen beherrschten Seins, dort die Wirklichkeit als ein Ablauf von Ereignissen, der gegliedert wird durch die Beziehungen, in denen diese Ereignisse zu eiem transparenten Prinzip stehen. Hier daher die Welt, weil unter notwendigen, ewigen Gesetzen stehend, eine Natur, die im Grunde genommen immer dieselbe ist, ein Kreislauf, gleichgültig gegen die Fülle der Einzelgestaltungen, die entstehen und vergehen und als ein Vergängliches nichtig sind. Dort die Wirklichkeit, sinnvoll gegliedert im Einzelnen in Rücksicht auf das transzendente Prinzip, eine Reihe von Entwicklungsstufen, von denen jede in ihrer Eigenart ihre Bedeutung hat. Wenn der Naturalismus im Recht ist, dann ist in der Tat die Geschichtsforschung nur in Form der Soziologie möglich, als Lehre von den Naturgesetzen, die gleichmäßig jeden Ablauf der Wirklichkeit beherrschen. Anders, wenn die Natur in Beziehung gesetzt werden darf zu einer Welt über der Natur. Dann gewinnt auch das Einzelne in seiner individuellen Eigenart Interesse, je nach der Stellung, die es zu jener anderen Welt einnimmt. Dann hat es einen Sinn, den Plan des Ganzen zu deuten.

Am klarsten wir dieser Gegensatz der Ansichten vielleicht an einem speziellen Problem. Gibt es einen Fortschritt in der Geschichte? Das ist eine, von den verschiedensten philosophischen Richtungen oft verhandelte Frage, eine Frae, deren Beantwortung sich keine Philosophie ganz entziehen kann. Auch COMTE hat seine Soziologie als Lehre vom Fortschritt bezeichnet. Wir müssen doch wohl das Wort Fortschritt in dem Sinne verstehen, daß, wenn etwas das Fortgeschrittene genannt wird, dadurch ein Wertunterschied zwischen den verschiedenen Zuständen gemacht werden soll. Sonst würde die Frage nach dem Fortschritt in der Geschichte kein sonderliches Interesse bieten. Kann der Naturalismus, wenn er konsequent verfährt, solche Wertunterschiede machen, die eine mehr als willkürliche Bedeutung haben? Muß jede immanente Wertung ihm nicht etwas Vergängliches und daher Nichtiges sein? Oder muß er sich zumindest nicht darauf beschränken, zu sagen, daß Fortschritt das ist, was nach notwendigen Gesetzen kommt und daß das Spätere daher unter allen Umständen auch das Fortgeschrittene ist? Verliert dann aber nicht das Wort Fortschritt notwendig den angegeben Sinn? Hier ist nicht der Platz, diese Fragen zu entscheiden. Nur das soll hervorgehoben werden, daß hier jedenfalls eine Schwierigkeit besteht, daß dagegen für die andere Richtung, welche die Natur zu einer außerhalb ihr liegenden Welt in Beziehung setzt, diese Schwierigkeit nicht vorhanden ist. Denn in der transzendenten Welt hat diese Richtung ein festes Ziel und in diesem Ziel einen Maßstab für eine mehr als willkürliche und vorübergehende Wertung der verschiedenen Zustände. Dem Einzelnen ist seine Stelle anzuweisen als Stufe im Entwicklungsprozeß nach jenem Ziel hin. So scheint bei der Frage nach dem Fortschritt in der Geschichte die Frage nach immanenter und transzendenter Weltanschauung nicht zu umgehen.

Wie gesagt, das eigentliche Thema unserer Untersuchung bildet diese Frage nicht und auch das Problem ist hier absichtlich nur ganz im Allgemeinen, in einer die verschiedensten Ausprägungen umfassenden und daher etwas unbestimmten Form angedeutet worden, aber schließlich wird unsere Untersuchung uns an einen Punkt führen, wo wir genötigt sein werden, zu dieser Frage in gewisser Weise wenigstens Stellung zu nehmen und wo wir dann ihren Sinn noch etwas genauer festzustellen haben. Und gerade, daß wir an einen solchen Punkt kommen, scheint diesen logischen Untersuchungen ihre Berechtigung zu verleihen. Um jede unangenehme Überraschung dem "modernen" Leser vorweg zu nehmen, sei denn auch hier gleich die Richtung angedeutet, in der sich unsere letzte Entscheidung bewegen wird. Daß eine Behandlung der Geschichte vom rein naturalistischen Standpunkt aus uns als ein prinzipieller Irrtum erscheint, versteht sich nach dem vorher Gesagten von selbst. Wir werden eingehend zu zeigen haben, daß Geschichtsforschung als Naturwissenschaft eine in sich unmögliche, sich logisch widersprechende Aufgabe ist. Damit ist zugleich auch gesagt, daß unser Standpunkt mit jener anderen Richtung Verwandtschaft zeigt, für die HEGEL uns Typus war. Allerdings nur Verwandtschaft. Die meisten bisher gemachten Versuche in dieser Richtung und insbesondere das System HEGELs leisten nicht das, was sie leisten sollen, ja konsequent zuende gedacht müssen sie zu einem Resultat führen, dem alle Unmöglichkeiten des reinen Naturalismus anhaften. Aber das meinen wir in der Tat, wenn überhaupt Geschichte als Wissenschaft getrieben werden soll. So sind transzendente Elemente in ihr unentbehrlich. Ein immanenter Naturalismus ist logisch undurchführbar. Die Wissenschaftslehre muß uns überhaupt zu dem Resultat führen, daß solche Elemente für jede Wissenschaft notwendig sind. Die Naturwissenschaften mögen sich über den Gebrauch dieser Elemente täuschen können, weil dieser Gebrauch hier so selbstverständlich geworden ist, daß man ihn meist völlig übersieht. Die historischen Wissenschaften werden sich auf ihre transzendenten Elemente ausdrücklich zu besinnen haben. Im Nachweis dieser Notwendigkeit mündet die Logik in eine allgemeine Weltanschauungslehre.



Diese wenigen Andeutungen mögen genügen, um im Allgemeinen über Charakter und Zweck dieser Untersuchung zu orientieren und den Rahmen zu kennzeichnen, innerhalb dessen sie sich bewegt. Wir können uns jetzt der Formulierung unseres speziellen Problems zuwenden. Schon die Umwandlung einer allgemeinen Frage der Welt- und Lebensauffassung in ein logisches Problem erschien als eine Beschränkung unserer Aufgabe. Wir müssen jetzt in dieser Beschränkung noch einen Schritt weiter gehen. Nicht in einem System der Wissenschaftslehre wollen wir die Grenzen der Naturwissenschaft feststellen, um von dort aus zur Klarheit über das Wesen der historischen Forschung vorzudringen, sondern wir greifen nur einen besonderen Fall heraus. Doch haben wir diesen Fall so gewählt, daß wir daran das allgemeine Prinzip zeigen und die wesentlichen Fragen systematisch behandeln können. Das gilt sowohl für die Grenzen der naturwissenschaftlichen Forschung, als auch für die logischen Grundbegriffe der historischen Wissenschaften.

Es ist der Logik geläufig, zwischen wissenschaftlicher Untersuchung und wissenschaftlicher Darstellung zu unterscheiden. Wenn man das Wort Darstellung nicht in einem äußerlichen Sinn nimmt, wonach es sich dabei etwa nur um die sprachliche Formulierung von Gedanken handelt, sondern darunter die Form versteht, in welche sich die Ergebnisse wissenschaftlicher Arbeit mit innerer Notwendigkeit kleiden müssen, so können wir sagen, daß es uns hier nicht darauf ankommt, den ganzen Prozeß des naturwissenschaftlichen Forschens in seiner logischen Struktur darzulegen, sondern daß wir im Wesentlichen eines der Darstellungsmittel ins Auge fassen wollen. Für die Form, in der die Resultate der wissenschaftlichen Untersuchung gewissermaßen niedergelegt werden, brauchen wir in den Naturwissenschaften den Namen des Begriffs. Begriffsbildung in unserem Sinne bildet immer einen wenigstens relativen Abschluß einer Untersuchung, im Begriff stellt sich alos das als fertig dar, was durch die Forschung geleistet ist. Insofern als jede naturwissenschaftliche Arbeit schließlich auf Begriffsbildung gerichtet ist und der Begriff in diesem Sinne hier als Zielpunkt der ganzen naturwissenschaftlichen Untersuchung angesehen werden kann, scheint eine Einsicht in das Wesen dieser Begriffsbildung uns in hohem Grad geeignet zu sein, die Eigenart der naturwissenschaftlichen Methode überhaupt hervortreten zu lassen, insbesonderes so weit ihre Beziehungen zur wissenschaftlichen Behandlung der Geschichte in Frage kommen. Eine Untersuchung darüber, auf welchen Gebieten die Bildung von Begriffen durch die Naturwissenschaft einen Sinn hat und auf welchen Gebieten sie diesen Sinn notwendig verlieren muß, d. h. also eine Untersuchung über die Grenzen der naturwissenschaftlichen Begriffsbildung haben wir uns daher, unserer früher angedeuteten Absicht entsprechend, zur Aufgabe gemacht. Sie soll uns die Lücke zeigen, welche auch eine zu höchster Vollkommenheit gebrachte Naturwissenschaft notwendig in unserem Wissen lassen muß, sie soll auf das hinführen, was durch die naturwissenschaftliche Begriffsbildung nicht bewältigt werden kann.

Ist diese Frage erledigt, so wollen wir zu zeigen versuchen, welche Art von Wissenschaft geeignet ist, diese Lücke in unserem Wissen aufzufüllen. Wir glauben, daß den historischen Wissenschaften diese Aufgabe zufällt. In den positiven Ausführungen über die historische Methode werden wir besonders das hervorzuheben haben, was geeignet ist, den Gegensatz der beiden Methoden klarzulegen. Dadurch wird zunächst die prinzipielle Bedeutung der Grenzen der naturwissenschaftlichen Begriffsbildung noch mehr hervortreten. Sodann aber muß dieser Gegensatz auch Licht werfen auf die wesentlichen Eigentümlichkeiten der historischen Untersuchung. Daß wir hier unter historischen Wissenschaften nicht nur die Geschichte im engeren Sinne meinen, versteht sich von selbst. Wir fassen vielmehr unter diesem Namen alle Erfahrungswissenschaften zusammen, die nicht Naturwissenschaften sind. Es fällt also unter diesen Begriff nicht nur ein großer Teil dessen, was sonst als Geisteswissenschaften bezeichnet wird, sondern auch noch einiges mehr. Warum wir die Bezeichnung der Geisteswissenschaften oder der Kulturwissenschaften oder was man sonst noch für Ausdrücke gebraucht hat, vermeiden, und warum wir den Ausdruck der historischen Wissenschaften wählen, das muß die folgende Untersuchung ausführlich rechtfertigen. Hier wollen wir nur hervorheben, daß es sich auch in diesem Zusammenhang natürlich wiederum nicht um eine systematische Logik der historischen Wissenschaften oder um ein System der Geschichtsphilosophie im Sinne einer Philosophie als Wissenschaftslehre handeln kann, sondern daß entsprechend der Beschränkung, die wir für die Untersuchung der Naturwissenschaft festgestellt haben, es uns auch in diesen Teilen unserer Arbeit weniger auf den Prozeß des Findens und Forschens in den Geschichtswissenschaften, als auf die Form ihrer Darstellung, d. h. auf die logische Struktur ihrer Ergebnisse ankommt. Das Wesen des "historischen Begriffs" möchten wir vor allem feststellen, wenn dieser Ausdruck im Gegensatz zum naturwissenschaftlichen Begriff gestattet ist. Insofern aber der gesamte Prozeß wissenschaftlicher Arbeit auch hier vom Ziel, nach dem er strebt, beherrscht wird oder wenigstens beherrscht werden sollte, so muß sich schon bei dieser Untersuchung über die Darstellung in den historischen Wissenschaften über Wesentliche wenigstens in seinen Grundzügen ergeben. In diesem Sinne versuchen wir im Folgenden eine logische Einleitung in die historischen Wissenschaften.

Die Scheidung in naturwissenschaftliche und historische Begriffe ist den modernen Systemen der Logik nicht geläufig. In den Abschnitten, in denen sie die Lehre vom Begriff im allgemeinen behandeln, finden wir fast ausschließlich die Art der Begriffsbildung in Betracht gezogen, die wir als naturwissenschaftliche Begriffsbildung bezeichnen zu müssen glauben, wie die gesamte Logik, von wenigen Ausnahmen abgesehen, bis heute im Wesentlichen eine Logik der naturwissenschaftlichen Forschung geblieben ist. Doch können wir uns nicht einmal für die Lehre vom naturwissenschaftlichen Begriff ohne weiteres auf allgemein anerkannte Sätze der allgemeinen Logik berufen, denn besonders seit SIGWART in seinem, die neueren logischen Bewegungen beherrschenden Werk der Lehre vom Begriff den Platz an der Spitze des Systems genommen hat, den sie in der traditionellen Logik fast unbestritten besaß, ist es noch nicht wieder gelungen, der Begriffstheorie eine allgemein anerkannte Stellung und Gestaltung zu geben. Was überhaupt, ganz im Allgemeinen, ein Begriff sei oder wofür man diesen Ausdruck am passendsten zu verwenden habe, darüber gehen die Meinungen weit auseinander. Sowohl für die einfachsten Bestandteile des logischen Prozesses, als auch for die kompliziertesten Denkgebilde wird das Wort gebraucht. Die Elemente eines primitiven Urteils soll es bezeichnen, ebenso wie den Denkakte, in dem eine wissenschaftliche Untersuchung ihren Abschluß findet. Ja, die Vieldeutigkeit ist so große, daß man neuerdings den Terminus auch wohl vollständig vermieden hat. Man freut sich, "ohne jede Hilfe auch nur des Wortes Begriff" (2) Probleme erörtern zu können, die früher als die Hauptprobleme der Lehre vom Begriff gegolten haben.

Es kommt selbstverständlich auf das Wort nicht an. Man möge es wegen seiner Unklarheiten führenden Vieldeutigkeit durch mehrere eindeutige Termini ersetzen. Trotzdem wird man sich wohl schwer entschließen können, die Ausdrücke Begriff, begreifen, begrifflich in der Logik gänzlich zu entbehren und vielleicht gelingt es, etwas mehr Einheit und Klarheit in die Behandlung dieser Frage zu bringen, wenn wir jetzt mit Bewußtsein das in einer logischen Spezialuntersuchung tun, was die Logik in ihrem allgemeinen Teil fast ausnahmslos ohne ausdrückliche Hervorhebung getan aht, nämlich wenn wir uns zunächst einmal völlig auf den naturwissenschaftlichen Begriff beschränken. Dann erst werden wir die Grenzen der naturwissenschaftlichen Begriffsbildung feststellen und von da aus in das Wesen des historischen Denkens eindringen können.

In einer Klarlegung des Wesens der naturwissenschaftlichen Begriffsbildung haben wir also den Ausgangspunkt unserer Untersuchung gefunden. Wie vorher die allgemeine Tendenz, so wollen wir jetzt auch die Gliederung unseres weiteren Gedankenganges in ihren Hauptzügen wenigstens andeuten.

Es ist bekannt, daß, wo überhaupt neben der naturwissenschaftlichen Forschung eine andere Art wissenschaftlicher Arbeit anerkannt wird, diese Scheidung fast ausnahmslos durch den Gegensatz der Geisteswissenschaften und der Naturwissenschaften bezeichnet zu werden pflegt. Wird die Natur durch diese Bezeichnung in einem Gegensatz zum Geist gebracht, so ist unter Geist in den meisten Fällen wohl das gesamte psychische Leben gemeint und dementsprechend muß dann unter dem Wort Natur nur die Körperwelt verstanden werden. Wir akzeptieren vorläufig diese Ausdrucksweise und versuchen, um allen unnötigen Schwierigkeiten aus dem Weg zu gehen, die naturwissenschaftliche Begriffsbildung zuerst nur in ihrer Anwendung auf dem Gebiet kennen zu lernen, das Objekt der Naturwissenschaften in diesem engeren Sinn ist, die Gesamtheit der körperlichen Dinge und Vorgänge.

Nachdem wir uns über die begriffliche Erkenntnis dieser körperlichen Natur im ersten Kapitel klar geworden sind, fragen wir, ob ihre Grenzen vielleicht dort beginnen, wo die Körperwelt aufhört. Wir können diese Frage nicht umgehen, wenn wir zu der üblichen Gegenüberstellung von Natur- und Geisteswissenschaften Stellung nehmen wollen und das müssen wir, weil nur so das Wesen der Geschichtswissenschaften sich völlig klar legen läßt. Die meisten der historischen Wissenschaften habe es ja zweifellos mit seelischen Vorgängen zu tun. Sie sind also den sogenannten Geisteswissenschaften zuzurechnen und da muß nun die Frage entstehen, ob sie in ihrer Eigenschaft als Geisteswissenschaften die naturwissenschaftliche Methode nicht anwenden können. Diese Frage gestaltet sich naturgemäß zu dem Problem, ob die Natur des seelischen Lebens überhaupt der für die Körperwelt anwendbaren naturwissenschaftlichen Begriffsbildung eine Grenze entgegenstellt und ob demnach der Gegensatz von Natur und Geist einer logischen Gliederung des Systems der Wissenschaften zugrunde gelegt werden darf. Einer Beantwortung dieser Frage ist das zweite Kapitel gewidmet. Wir werden dazu kommen, sie zu verneinen. Nichts scheint uns einer klaren Einsicht in das Wesen der historischen Wissenschaften mehr hinderlich gewesen zu sein, als die Einführung des Gegensatzes von physischen und psychischen Vorgängen in diese Probleme. Gewiß ergeben sich aus der Natur der geistigen Vorgänge gewisse Modifikationen der Methoden, die bei der Erforschung der Körperwelt angewendet werden. Aber es handelt sich dabei nur um Modfikationen und diese erscheinen unwesentlich im Vergleich zum prinzipiellen Gegensatz, der bei der Behandlung der Natur einerseits, der Geschichte andererseits entstehen muß.

Diesen Gegensatz von Natur und Geschichte möglichst scharf herauszuarbeiten, ist die wesentlichste Aufgabe des dritten Kapitels. Wir kommen damit zum eigentlichen Kernpunkt unserer Untersuchung. Es wird sich zeigen, daß hier wirklich ein logischer Gegensatz vorliegt, der mit dem sachlichen Gegensatz von Natur und Geist zunächst gar nichts zu tun hat. Wir wollen nachweisen, daß die Natur- und die Geschichtswissenschaften sich ihrem allgemeinsten logischen Begriff nach überhaupt nicht dadurch unterscheiden, daß die eine es mit anderen Objekten als die andere zu tun hat. Es kann vielmehr derselbe Vorgang einer wissenschaftlichen Bearbeitung durch beide Methoden unterzogen werden. Um dies deutlich hervortreten zu lassen, versuchen wir zuerst über das Wesen der historischen Untersuchung, soweit sie möglich ist, uns an solchen Fällen klar zu werden, in denen wir uns diese Untersuchung auf körperliche Dinge und Vorgänge gerichtet denken. Es wird sich zeigen, daß unter rein formal-logischen Gesichtspunkten die gesamte gegebene Wirklichkeit sowohl Objekt einer naturwissenschaftliche, als auch einer historischen Darstellung werden könnte.

Im wirklichen Wissenschaftsbetrieb stellt sich allerdings die Sache erheblich anders. Es gibt Gebiete, die ausschließlich naturwissenschaftlich, es gibt solche, die ausschließlich historisch behandelt werden müssen und es gibt endlich solche, die sowohl der Behandlung durch eine Naturwissenschaft, als auch durch eine historische Wissenschaft zugänglich sind. Die Darlegung der Gründe hierfür muß den Unterschied von Natur- und Geschichtswissenschaften völlig klar machen. Für uns kommt es dann hauptsächlich darauf an, zu sehen, welche Gebiete nun eine historische Behandlung nicht nur ermöglichen, sondern notwendig machen und damit gelangen wir endlich zu den historischen Wissenschaften im engeren Sinne, die gewöhnlich als Geisteswissenschaften bezeichnet werden. Die Aufgabe, ihre logischen Grundbegriffe und Voraussetzungen zu entwickeln, fällt dem vierten Kapitel zu.

Wie schon erwähnt, werden wir bei der Klarlegung dieser logischen Eigentümlichkeiten schließlich zur Behauptung der Notwendigkeit transzendenter Annahmen geführt werden. Die ganze Frage, ob Geschichte in dem Sinne als eine Wissenschaft gelten kann, wie die Naturwissenschaft es ist, hängt mit diesem Problem zusammen. Wir werden daher genötigt sein, unsere Arbeit wenigstens zu diesem Problem in Beziehung zu setzen und wir werden damit zu geschichtsphilosophischen Erörterungen im engeren Sinnes des Wortes geführt werden. Sie setzen die vorangegangen Ausführungen über das Wesen der naturwissenschaftlichen und historischen Arbeit und versuchen ihnen zugleich einen festeren Halt an einigen Sätzen aus der allgemeinen Wissenschaftslehre zu geben. Diese Aufgabe hat das fünfte und letzte Kapitel zu lösen. Es soll zugleich die Einwürfe und Bedenken beseitigen versuchen, die sich vielleicht bei den vorangegangenen Ausführungen hier und da ergeben mögen und die erst in dem dann erreichten systematischen Zusammenhang ihre Erledigung finden können.
LITERATUR - Heinrich Rickert, Die Grenzen der naturwissenschaftlichen Begriffsbildung [Eine Einleitung in die historischen Wissenschaften], Freiburg i. Br./Leipzig 1896
    Anmerkungen
    1) Ob COMTE bei der Ausführung seiner Gedanken seine naturalistischen Tendenzen konsequent entwickelt hat, ist eine Frage, auf die es hier natürlich nicht ankommt.
    2) Benno Erdmann, Logik I, Seite 184