ra-1p-4E. LaasA. Meinong    
 
THEODOR LIPPS
Zur Psychologie der Kausalität

"Eine Bewegung unseres Körpers erscheint uns als von uns  bewirkt  oder als unser  Tun,  wenn sie nicht nur geschieht, sondern sich in diesem Geschehen unser Wollen befriedigt. Das befriedigte Wollen, dieser Inhalt unseres Selbstgefühls, bildet den einzigen, über das bloße Geschehen hinausgehenden, erfahrungsgemäßen Sinn der Worte  Wirkung  oder  Tätigkeit. "

"Der Mensch begreift niemals, wie anthropomorphisch er ist. Darum ist es die Pflicht des Erkenntnistheoretikers, und fast seine erste Pflicht, ernsthaft mit sich zu Rate zu gehen, ob er nicht für einen Erkenntnisfaktor ausgibt, was nur der vermenschlichenden Einbildungskraft sein Dasein verdankt, also durchaus nicht der wissenschaftlichen, sondern nur der ästhetischen Weltbetrachtung angehört."



I. Einleitung
Assoziationen und Assoziationspsychologie

Die folgende Untersuchung will die Kausalität auf Assoziation, das Kausalgesetz auf das Assoziationsgesetz zurückführen. Es ist kein neues Problem, um das es sich dabei handelt. Man wird es darum begreiflich finden, wenn ich auch schon Gesagtes und Bekanntes berühre und wiederhole. Nicht Bekanntes, wohl aber schon Gesagtes werde ich zu wiederholen haben, insofern ich das Hauptsächlichste von dem, was ich hier vorbringen will, selbst schon bei anderer Gelegenheit anzudeuten versucht habe (1).

Eine allgemeine Bemerkung schicke ich voraus. Assoziationen sind jetzt Gegenstand gewohnheitsmäßigen Mißtrauens. Dieses Mißtrauen bitte ich für einen Augenblick ruhen zu lassen. Die ganze Richtung in der Psychologie, die man mit dem Namen der Assoziationspsychologie beehrt, hat mit Vorurteilen zu kämpfen. Gewiß tragen daran Assoziationspsychologen ihren Teil der Schuld. Recht unzureichende, vielleicht kindliche Vorstellungen vom Wesen der Assoziation und dem möglichen Sinn der Assoziationspsychologie mögen sich bei ihnen finden. Dafür ist aber doch nicht ohne weiteres die Assoziationspsychologie als solche verantwortlich zu machen.

So liegt es durchaus nicht im Wesen der Assoziationspsychologie, daß sie "die Verknüpfungen der Vorstellungen lediglich für mechanische Wirkungen ihrer Elemente hält". Zunächst hätte es einigen Wert zu erfahren, was für einen Begriff man eigentlich in der Psychologie mit dem Wort "mechanisch" verbindet, oder worin dieses "mechanisch" seinen Gegensatz hat. Aber auch abgesehen davon wüßte ich für meinen Teil mit jenem Satz wenig anzufangen. Das einheitliche Wesen des Geistes oder der Seele - worin auch immer dieses Wesen, ansich betrachtet, bestehen mag - ist gewiß der letzte Grund und eigentliche Träger alles seelischen Geschehens. Vorstellungen sind nicht selbständige Wesen, die sich in der Seele als ihrem "passiven Schauplatz" nach ihren eigenen Gesetzen tummelten, sondern sie sind Tätigkeiten, Erscheinungsweisen der Seele selbst. Sie sind, was sie sind, soviel wir wissen, nur im einheitlichen Zusammenhang des seelischen Lebens. Sie sind nichts, bloße Abstraktionen, wenn wir sie isolieren und aus diesem Zusammenhang herausreißen. Dies hindert jedoch nicht, daß die Psychologie diese Isolierung vollbringen, d. h. die Vorstellungen zunächst für sich betrachten muß. Sie darf auch und muß den einzelnen Vorstellungen Kräfte und Kraftwirkungen zuschreiben. Sie weiß darum doch, daß diese Kräfte und Kraftwirkungen nichts sind außerhalb der Seele und ihres Zusammenhangs. Sie sind die Kraft und Tätigkeit der Seele selbst, wie sie sich an einer bestimmten Stelle des seelischen Lebenszusammenhang oder in einer bestimmten, nämlich der durch die einzelnen Vorstellungen bezeichneten Richtung offenbart.

Mit dieser Notwendigkeit, in der Betrachtung zu isolieren, was in einer solchen Isolierung nicht existiert, steht die Psychologie ja auch nicht vereinzelt. Jeder Wissenschaft, die auf Erkenntnis der Wirklichkeit gerichtet ist, stellt sich zunächst das Einzelne als solches dar, und jede sieht Kräfte und Kraftwirkungen zunächst an das Einzelne gebunden. Damit leugnet sie aber nicht, daß das Einzelne nur als Moment in einem umfassenderen oder weniger umfassenden Zusammenhang das zu leisten pflegt, was es leistet. Und gewiß gehört dann jedesmal diesem  Zusammenhang  die Kraft oder Kraftwirkung in Wahrheit an. Er ist ihr wahrer "Träger". Er ist zugleich, sofern er als Ganzes und nur als Ganzes ihr Träger ist, mit Rücksicht auf sie eine ungeteilte und unteilbare Einheit. Er ist im Vergleich mit der Einzelerscheinung und der an sie gebundenen Kraft und Kraftwirkung sachlich das Frühere und Erste. Aber so sehr er sachlich das Erste ist, so gewiß ist er wissenschaftlich nicht das Erste, sondern das Ziel. Die Wissenschaft sucht den Zusammenhang erst zu  gewinnen,  und sie gewinnt ihn gewiß nicht anders als aufgrund der Erkenntnis des Einzelnen und seiner Gesetzmäßigkeit. In der Gesetzmäßigkeit, der das Einzelne unterliegt, offenbart sich eben der Zusammenhang und die das Einzelne und seine Kraft tragende Einheit.

So kann auch keine Rede davon sein, daß irgendwelche erst für sich existierende Vorstellungen aus eigener Macht assoziative Beziehungen knüpfen. So gewiß die Vorstellungen, soweit wir nämlich wissen, nur aus der Einheit des Geistes heraus entstehen, so gewiß stehen sie von vornherein unter den Bedingungen dieser Einheit. Und von dieser Einheit gibt eben die Assoziation Zeugnis. Nicht Vorstellungen verknüpfen sich und  erzeugen  die Einheit des Geistes, sondern die Einheit des Geistes, die der Grund ihres Daseins ist,  stellt  sich in ihrer Verknüpfung  dar.  Die Assoziation sagt gar nichts anderes, als daß Vorstellungen  nicht  selbständig existieren, sondern in ihrem Dasein bedingt sind, daß sie sich verwirklichen aufgrund von Zusammenhängen, daß sie in solchen Zusammenhängen ihre einheitlichen Träger haben. Diese Zusammenhänge oder ihre Elemente sind dann wiederum bedingt durch weitere Zusammenhänge und haben darin ihre einheitlichen Träger. So erscheint eben in der Tatsache der Assoziation jedes Element des seelischen Lebens als Moment in weiteren und weiteren Einheiten und schließlich in der alles umfassenden Einheit des Geistes oder der Persönlichkeit. Je unmittelbarer und enger ein seelisches Geschehen in den ganzen Zusammenhang des seelischen Lebens verflochten ist, umso unmittelbarer und vollständiger betätigt sich in ihm das ganze Wesen des Geistes, seine allgemeine Natur oder seine individuelle Eigenart. Die Assoziationen sind der Ausdruck oder die unmittelbare Betätigung der Einheit des Geistes, also das volle Gegenteil eines "Mechanismus", zu dem sich der Geist passiv verhält.

Aber freilich, es scheint schwer, dieser letzteren Vorstellungsweise zu entsagen. Ich lasse dahingestellt, wie weit Assoziationspsychologen an ihr hängen. Gewiß ist, daß manche ihrer Gegner sich derselben schuldig machen. Immer wieder begegnen wir dem seltsamen Begriff eines Geistes, der sich zu seinen eigenen Tätigkeiten passiv oder als untätiger Zuschauer verhält. Man leugnet nicht, sondern behauptet die vorstellende "Tätigkeit" der Seele. Zugleich findet man doch kein Arg darin, die Seele in einem gesetzmäßigen Zusammenhang und Nacheinander der Akte dieser Tätigkeit passiv oder untätig sein zu lassen. Als ob sich in der Art des Zusammenhangs der Akte eines tätigen Wesens nicht erst recht die einheitliche Natur des Wesens betätigen müßte.

Hält man aber an jener sich selbst widersprechenden Vorstellung fest, dann muß man sich am Ende genötigt sehen, den begangenen Fehler nachträglich wieder gut zu machen. Zur "passiven" Tätigkeit des Geistes gesellt sich eine "Selbsttätigkeit", zu der man das Zutrauen hat, daß sie nun endlich eine wirkliche Tätigkeit sein wird. Vermöge dieser Selbsttätigkeit greift der Geist "selbst" - der ja sonst am Ende ganz überflüssig wäre - in den psychologischen Mechanismus wenigstens nachhelfend ein. Die Vorstellungen "verknüpfen sich"; der Geist verknüpft sie durch seine "Kategorien" noch einmal. Die Vorstellungsbewegung "läuft ab"; aber damit sie nicht allzusehr nach ihren "eigenen" Gesetzen abläuft, bestellt ihr der Geist einen Aufseher, der, man weiß nicht recht wie weit, die Bewegung zu "beeinflussen" oder zu "regeln" vermag. So entsteht eine größere oder geringere Anzahl von Kräften, Vermögen, Formen, Funktionen, durch die man das geistige Leben verständlich zu machen und zugleich die Ehre der Seele zu retten meint. Beides mit Unrecht. Jene zur Erklärung postulierten Faktoren erweisen sich bei genauerer Prüfung als Namenwesen, die gar nichts erklären, und der Ehre der Seele entspricht ohne Zweifel die Einheit und einheitliche Gesetzmäßigkeit in einem höheren Grad, als das Flickwerk und Stückwerk aus allerlei Faktoren, die sich wechselseitig ins Gehege geraten und ihre Gesetzmäßigkeit korrigierend ergänzen. - Diese Anschauung ist es, gegen welche die wahre Assoziationspsychologie mit allen Kräften angeht. Mit welchem Recht, das soll hier an einem speziellen Punkt einleuchtend gemacht werden.


II. Kritisches über den Kausalbegriff

Unsere erste Frage lautet: Wessen sind wir uns bewußt, wenn wir uns eines ursächlichen Verhältnisses zwischen irgendeinem  A  und irgendeinem  B  bewußt zu sein behaußten? Diese Frage hat zuerst HUME mit Bestimmtheit gestellt, ohne sie doch vollständig zu beantworten. Sie muß aber vollständig beantwortbar sein. Es handelt sich ja um einen Inhalt des  Bewußtseins

In mancherlei Wendungen, wie sie schon der gemeine Sprachgebrauch an die Hand gibt, kann man jene Frage zu beantworten und das Wesen der Kausalität zu verdeutlichen meinen. Ursache sei das, "wodurch" ein Anderes zustande kommt, oder "woraus" es "hervorgeht". Die Ursache "bringt" die Wirkung "hervor" oder "erzeugt" sie. Wirkung ist, wie es der Name sagt, nicht einfach ein sich abspielendes, sondern "bewirktes" Geschehen; Kausalität soll eine "Tätigkeit", eine "Kraftäußerung" usw. sein.

Diese Wendungen haben nicht alle den gleichen Sinn, aber sie sind alle gleich wenig zur Verdeutlichung der Verursachung geeignet. Das "Durch", das "Hervorgehen", "Erzeugen" sagt nichts über das Wesen der Kausalität, sondern fügt zum verursachten Vorgang ein anschauliches Moment, das sich bei ihm in speziellen Fällen findet, allgemein hinzu. Es liegt aber einmal in unserer Natur, daß wir leicht das Anschauliche, dasjenige, das ein Bild gibt, für verständlich, ja schließlich für selbstverständlich halten. Indem wir das Bild dann auch auf Anderes, zu dem es nicht paßt, übertragen, meinen wir weiterhin auch dieses Anderes uns verständlich gemacht zu haben.

Das anschauliche Moment fällt weg und ein noch verführerisches tritt an die Stelle, wenn wir die Ursache als das Bewirkende bezeichnen oder die Begriffe der Tätigkeit und Kraft in den Kausalbegriff hineintragen. Eine Bewegung unseres Körpers erscheint uns als von uns "bewirkt" oder als unser "Tun", wenn sie nicht nur geschieht, sondern sich in diesem Geschehen unser Wollen befriedigt. Das befriedigte Wollen, dieser Inhalt unseres Selbstgefühls, bildet den einzigen, über das bloße Geschehen hinausgehenden, erfahrungsgemäßen Sinn der Worte  Wirkung  oder  Tätigkeit.  In dieser "Wirkung" oder "Tätigkeit" steckt dann zugleich die "Kraft". Kraft - ich rede nicht von einem wissenschaftlichen, sondern vom gemeinen Kraftbegriff - kennen wir nur als Inhalt unseres Kraftgefühls oder des Gefühls unserer bei einer Leistung aufgewandten Willensanstrengung. Kraft in der unbeseelten Welt ist ein bloßes, wenn auch bei richtiger Verwendung vielleicht recht nützliches Wort. Es liegt aber wiederum in unserer Natur die Neigung, solche Inhalte unseres Selbstgefühls auf die nichtfühlenden Dinge zu übertragen. Nichts ist uns geläufiger als der Zusammenhang zwischen unserem Wollen und dem Geschehen an oder in uns. Und das Geläufige scheint uns begreiflich, keiner weiteren Erklärung bedürftig. So meinen wir auch das Geschehen außer uns zu begreifen, indem wir es in einen solchen Zusammenhang einfügen.

Die Täuschung liegt auf der Hand. Angenommen, wir hätten zu dieser Übertragung ein Recht, so wäre von neuem für das Verständnis der Kausalität gar nichts gewonnen. Die Frage nach dem Wesen des ursächlichen Verhältnisses wäre nicht beantwortet, sondern zurückgeschoben. Wir würden nicht mehr fragen, worin besteht das "Band" zwischen  Ursache  und Wirkung? wohl aber, wie ist das Band beschaffen, das mit dem in den Dingen sitzenden Wollen oder Streben, der in ihnen wohnenden Kraft ihre Wirkung oder "Verwirklichung" verbindet.

Die Übertragung ist aber nicht nur unberechtigt, sondern sinnlos. Wie sie trotzdem geschehen kann, versteht man, wenn man zusieht, wie weit die Neigung zu solchen Übertragungen geht. Wir wissen oder sollten wissen - und der Erkenntnistheoretiker vor allem  muß  es wissen -, daß wir beständig die Inhalte unseres Selbstgefühls in die Welt der Dinge hineintragen. Alle Schönheit und Häßlichkeit der Welt der Objekte, all unser positives und negatives Interesse an ihr ist durch ein solches Objektivieren unserer selbst oder Vermenschlichen der Außenwelt bedingt oder mitbedingt. Überall sehen und genießen wir uns selbst, wo wir nur die Dinge zu sehen und zu genießen meinen. Es ist eines der erkenntnistheoretisch wichtigsten Worte, das kein Erkenntnistheoretiker, sondern GOETHE ausgesprochen hat: Der Mensch begreift niemals, wie anthropomorphisch er ist. Darum ist es die Pflicht des Erkenntnistheoretikers, und fast seine erste Pflicht, ernsthaft mit sich zu Rate zu gehen, ob er nicht für einen Erkenntnisfaktor ausgibt, was nur der vermenschlichenden Einbildungskraft sein Dasein verdankt, also durchaus nicht der wissenschaftlichen, sondern nur der ästhetischen Weltbetrachtung angehört. Die höchste Stufe einer solchen Vermenschlichung wird durch die konkret persönlich gedachten Gebilde der Mythologie repräsentiert. Diese sind aus unserer wissenschaftlichen Betrachtung der Welt verschwunden. Ebenso gut wie sie müssen aber auch die unpersönlichen Tätigkeiten, die Aktivitäten, die ihnen entsprechenden Passivitäten, die Wirkungen, die Kräfte usw. aus unserer Betrachtung der Wirklichkeit weichen. Ich sage: aus unserer Betrachtung, nicht aus unserer Sprache; denn die können wir nicht weniger anthropomorphistisch machen, als sie fast in jedem ihrer Worte ist. Man muß aber den Kampf gegen diese zahmere, darum nicht minder unlogische Mythologie zu Ende führen und ihre Ausgeburten bis in ihre letzten Schlupfwinkel verfolgen. Wer auf die grob menschlich gedachten Kräfte, Strebungen und dergleichen verzichtet, aber doch schließlich eine feinere Art der Vermenschlichung aufrecht erhält, steht auf einem Standpunkt der Naturbetrachtung, der mit jenem konkret mythologischen der Art nach völlig identisch ist. Die Meinung, etwas den Inhalten des menschlichen Selbstgefühls noch so entfernt Analoges müsse den Dingen doch am Ende zugestanden werden, ist gar nichts anderes, als das Bekenntnis, daß man sich nicht entschließen kann, mit seiner richtigen Einsicht völlig Ernst zu machen. Der nach Abzug des spezifisch Menschlichen übrig bleibende Rest des Menschlichen in den Dingen ist nur ein bei aller Bemühung des klaren Denkens übrig bleibender Rest von Unklarheit, ein Stück Dichtung anstelle der Wahrheit, eine ästhetische Betrachtung anstelle der Erkenntnis und Erkenntnistheorie.

Wir sind aber mit unserer Kritik noch nicht am Ende. Noch ein Begrif bietet sich uns zur Verdeutlichung des Kausalbegriffs dar, nämlich der Begriff des Gesetzes. Ein Geschehen verursacht ein anderes, d. h. sie folgen sich nach einem Gesetz. Aber was heißt das? Das Gesetz ist zunächst der Geltung fordernde und sich Geltung verschaffende Wille. Meint man das Gesetz in diesem Sinne? Dann wäre von Neuem die Frage nach dem Wesen der Kausalität nicht beantwortet, sondern zurückgeschoben. Wir würden fragen, welches ist das kausale Band, das das Gesetz mit seiner Verwirklichung verbindet. In der Tat ist unser wissenschaftlicher Begriff des Naturgesetzes nicht so beschaffen. Das Gesetz ist eine Abstraktion von einer bestimmten Art des Geschehens selbst, oder aber es ist das Gesetz unseres Denkens.

Worin besteht die Art des Geschehens, von der das Gesetz eine Abstraktion sein könnte? Man sagt, sie besteht in der Notwendigkeit des Geschehens. Das Band, das die Wirkung an die Ursache bindet, sei das Band "realer" oder "objektiver" Notwendigkeit. Jetzt besteht die Pflicht, den erfahrungsgemäßen Sinn des Wortes Notwendigkeit festzustellen. Die Erkenntnistheorie hat nicht das Recht, ein solches Wort auch nur in den Mund zu nehmen, ehe sie dieser Pflicht genügt hat. Das Ergebnis ist, daß wir eine neue Art von Anthropomorphismus entdecken. Nicht die Ursache, sondern die Wirkung ist jetzt das Vermenschlichte. Die kraftbegabte, strebende, tätige Ursache zusammen mit der notwendigen Wirkung, darin schließt sich das System von Anthropomorphismen konsequent in sich zusammen.

Zwei Menschen sehen denselben dritten sehr krank. Der eine sagt: er wird sterben; der andere: er muß sterben. Was macht den Unterschied jenes Sterbens und dieses Sterbenmüssens aus? Was unterscheidet überhaupt das tatsächliche Geschehen vom notwendigen? Wenn es dasselbe Geschehen ist, ganz gewiß nichts. Jene Beiden wollen dann auch nicht einen objektiv verschiedenen Vorgang ankündigen. Der Unterschied besteht ausschließlich darin, daß sich der eine bescheidet, ihn anzukündigen, während der andere zugleich andeutet, daß er Gründe hat, die  ihn nötigen,  an den Vorgang zu  glauben

Wie der Inhalt des Begriffs der Tätigkeit, des Strebens, der Kraft, so finden wir auch, was den Sinn des Wortes Notwendigkeit ausmacht, nur in uns. Keine Zergliederung irgendeines wahrgenommenen oder gedachten Objekts läßt uns etwas entdecken, das den Namen der Notwendigkeit oder des Müssens tragen könnte. Nur als Inhalt unseres Erlebens kommt Notwendigkeit für uns vor. Das Erfahrungsobjekt, das wir mit dem Wort meinen und einzig meinen können, ist uns gegeben, wenn wir wollen, und dieses Wollen in seiner Verwirklichung gehindert ist. Notwendigkeit ist Inhalt des dem Kraftgefühl als Gegenstück entsprechenden Zwangsgefühls. So wenig wie den Inhalt des Kraftgefühls können wir den Inhalt des Zwangsgefühls in nicht lebende Wesen verlegen wollen.

Liegt also in der kausalen Beziehung Notwendigkeit, dann kann sie weder in der Wirkung, noch in der Ursache, sondern nur in uns liegen die wir beide denken. Auf ein  A  folgt ein  B  notwendig, das heißt, wir müssen es in Gedanken darauf folgen lassen;  A  nötigt uns, es folgen zu lassen. Nicht das irgendwo in der Welt wirkliche  A,  sondern das  A  als Inhalt meines Bewußtseins. Auch diese Nötigung ist ein "objektive", aber nicht in dem Sinne, daß das Nötigen oder Genötigtsein in den Objekten  A  und  B  als eine zu ihnen gehörige Bestimmung vorkäme, sondern insofern ich durch den Vollzug der Vorstellung des Objektes  A  oder das Bewußtsein seiner Wirklichkeit zur Hinzufügung des  B  oder zum Gedanken seiner Wirklichkeit genötigt bin.


III. Grund und Ursache

Ist damit die kausale Beziehung erschöpfend bezeichnet? - Ein Dokument, das ich aufgefunden habe, nötigt mich zur Annahme eines historischen Faktums. Auch diese Nötigung ist eine objektive im eben bezeichneten Sinn. Darum nennen wir doch das Dokument nicht Ursache des historischen Faktums. Es ist nur sein Erkenntnisgrund. Auch Ursachen sind freilich Erkenntnisgründe. Das Bewußtsein, die Ursache sei gegeben, nötigt mich immer, auch an die Folge zu glauben. Aber ebenso sicher gilt auch das Umgekehrte. Erkenntnisgründe sind nicht ohne weiteres Ursachen.

Aber sie sind es, wenn wir eine nähere Bestimmung hinzufügen. Das Dokument nötigt mich, an die Tatsache zu glauben. Aber das Dasein des Dokumentes ist nicht die  Voraussetzung,  unter der  allein  ich an die Tatsache glauben  darf.  Angenommen, ich wüßte nichts von dem Dokument und hätte wohl gar keinen Grund zu glauben, es gebe nichts dergleichen, so wäre ich doch deswegen nicht genötigt, die Tatsache zu leugnen. Das Dokument ist vielleich erst sehr spät entstanden, hat also lange Zeit nicht existiert, darum bestand doch die Tatsache schon, mußte also auch schon anerkannt werden.

Dagegen ist, wenn  A  und  B  sich wie Ursache und Wirkung verhalten, die Annahme des  A  sowohl Grund der Annahme des  B,  als auch in jedem einzelnen Fall, in dem das kausale Verhältnis obwaltet, eine notwendige Voraussetzung oder Bedingung derselben. Anders ausgedrückt: nicht nur die Bejahung des  A  nötigt mich zur Bejahung, sondern auch die Verneinung des  A  nötigt mich zur Verneinung des  B.  Nicht ein einfaches, sondern ein doppeltes Band der Notwendigkeit besteht zwischen Ursache und Wirkung. Man hat das Gesetz des zureichenden Grundes in dem Satz formuliert: mit dem Grund ist die Folge gegeben. Dies ist kein Gesetz, sondern eine Definition des Grundes. Die ihr entsprechende Definition der Ursache würde lauten: Ursache ist der Grund, mit dem die Folge zugleich gegeben und aufgehoben ist. Die Folge heißt dann Wirkung.

Oder leugnet jemand, daß es sich so verhält? Soviel ich sehe, sind mit dem Gesagten die Bedingungen, unter denen wir etwas als Ursache bezeichnen, vollständig angegeben. Es gibt in keinem Fall ein anderes Kriterium der Anwendbarkeit des Ursachbegriffs. Was in einem gegebenen Fall, wo etwas geschieht oder ist, auch fehlen könnte, ohne daß das Geschehen oder der Tatbestand unterbliebe, also verneint werden müßte, ist nicht Ursache. Und umgekehrt: Was zwar Grund ist für die Annahme eines Geschehens oder eines Tatbestandes, aber nicht Ursache desselben, das können wir immer verneinen, ohne damit zugleich zur Verneinung des Geschehens oder Tatbestandes genötigt zu sein.

Damit ist auch schon gesagt, warum niemals das Spätere "Ursache" des Früheren sein kann, so sehr es sein Erkenntnisgrund sein mag. In dem Augenblick, wo das frühere Ereignis stattfindet, ist das spätere noch nicht da; wir  können  also das letztere nicht nur, sondern  müssen  es verneinen, während wir das erstere schon bejahen müssen. Das frühere Ereignis kann nicht nur, sondern muß  unabhängig  von der Bejahung des späteren bejaht werden. Das spätere Ereignis ist nicht Grund für die Bejahung des früheren in dem besonderen Sinn, daß erst dann, wenn es in Übereinstimmung mit der Erfahrung bejaht werden kann, die Bejahung des früheren stattfinden darf, es ist mit einem Wort nicht notwendige Voraussetzung der Bejahung des früheren.

Ich füge einige weitere Bemerkungen hinzu. Die Ursache des Verhaltens eines chemischen Elements, etwa des Sauerstoffs, zu anderen chemischen Elementen liegt, so sagen wir vielleicht, in der Natur des Elements. Die Verhaltensweisen sind Wirkungen der eigenartigen Natur des Sauerstoffs. Aber wenn ich die Verhaltensweise in Gedanken aufhebe, also annehme, sie fehlen bei einem Körper, muß ich dann dem Körper nicht auch die Sauerstoffnatur abstreiten, also von einem Körper sagen, er sei nicht Sauerstoff? Und wenn dem so ist, erscheinen dann nicht unserer Begriffsbestimmung zufolge die Verhaltensweisen des Sauerstoffs als Ursachen der Sauerstoffnatur?

Ich mache mir diesen Einwand, um ähnlichen Einwänden zu begegnen und darauf aufmerksam zu machen, daß es sich hier um genaue Begriffe handelt. Zunächst ist die Natur des Sauerstoffs nicht die Ursache seiner Verhaltensweisen, sondern lediglich eine Teilursache derselben. Der Sauerstoff verhält sich zum Wasserstoff so, wie er es tut, immer nur, wenn er zum Wasserstoff in eine bestimmte Beziehung tritt, er verhielte sich zu ihm gar nicht, wenn es keinen Wasserstoff gäbe. Trotzdem bliebe der Sauerstoff Sauerstoff. Wir bejahen also die Natur des Sauerstoffs auch unter der Voraussetzung, daß ein bestimmtes Verhalten zu Wasserstoff und ebenso zu den sonstigen Elementen nicht stattfindet, wir bejahen sie selbst unter der Voraussetzung, daß gar kein derartiges Verhalten stattfinden könnte. Also sind die Verhaltensweise des Sauerstoffs nach unserer Begriffsbestimmung in keiner Weise die Ursache, auch nicht die Teilursache der Sauerstoffnatur. Nur wenn die  Fähigkeit  zu den Verhaltensweisen bei einem Körper verneint werden muß, dann müssen wir dem fraglichen Körper auch die Sauerstoffnatur abstreiten. Die Fähigkeit zu jenen Verhaltensweisen ist eben ein Teil der "Natur" des Sauerstoffs.

Ähnliches wäre gegen einen ähnlichen Einwand zu erwidern. Das Atomgewicht des Sauerstoffs läßt uns den Sauerstoff als solchen erkennen, veranlaßt uns also, auch die sonstigen Eigenschaften des Sauerstoffs als vorhanden anzunehmen. Umgekehrt würden wir, wenn das bestimmte Atomgewicht fehlte, an diese sonstigen Eigenschaften nicht glauben. Wiederum könnte man daraus folgern, daß für uns das Atomgewicht Ursache jener sonstigen Eigenschaften sein muß. Aber auch das Atomgewicht ist eine Verhaltenweise, nämlich eine Weise des Verhaltens zur Erde, die nicht stattfände, wenn die Erde nicht die Erde wäre, oder überhaupt nicht wäre. Trotzdem blieben die sonstigen Eigenschaften des Sauerstoffs bestehen. Also ist das Atomgewicht für uns nicht Ursache derselben. Oder wären mit der Aufhebung des Verhaltens zur Erde, wie es im Atomgewicht ausgesprochen liegt, die Eigenschaften mit aufgehoben, dann wäre für  jedermann  dieses Verhalten zur Erde Ursache oder Teilursache der Eigenschaften.

Allgemein gesprochen: Wir schließen von den Wirkungen  A  eines Dings auf das Dasein oder die Natur dieses Dings, und auf andere Wirkungen  B  desselben Dings. Dabei setzt immer die Wirkung  A  außer dem Ding auch noch anderweitige Umstände voraus, unter denen sie geschieht, wir müssen also  A  in Gedanken verneinen, wenn wir die Umstände in Gedanken aufheben. Damit ist aber niemals das Dasein oder die Natur des Dings bzw. die unter anderen Umständen sich vollziehende Wirkung mit aufgehoben. Oder ist dies der Fall, dann gestehen wir ebendamit zu, daß die "Wirkung"  A  Mitursache ist des Dings oder seiner Beschaffenheit, bzw. daß sie Mitursache ist der Wirkung  B.  Im letzteren Fall stehen  A  und  B  im Verhältnis der Wechselwirkung; jedes ist Ursache oder Mitursache des anderen.

So ist die Wahrnehmung der Farbe eines Dings, die für das gemeine Bewußtsein Wirkung ist der dem Ding anhaftenden Farbe, vielmehr Mitursache derselben: erst in unserem Wahrnehmen kommt die Farbe zustande. So ist, wenn sich zwei Atome zu einem Molekül verbinden, jedesmal der relative Ort des einen Wirkung und zugleich Mitursache des relativen Ortes des anderen.

Noch ein anderes mögliches Mißverständnis schließe ich aus. "Die Einführung einer gewissen Dosis Arsen in den lebenden menschlichen Körper ist Todesursache; aber auch, wenn ein Mensch sich nicht mit Arsen vergiftet, stirbt er. Die Aufhebung der Ursache hebt also die Wirkung nicht auf." - Hier wiederum liegt eine Ungenauigkeit des Ausdrucks vor. Nicht ohne Bedacht habe ich gesagt, die Aufhebung der Ursache nötigt uns,  in jedem gegebenen Fall  auch die Wirkung aufzuheben. Wirkung des Giftes ist nun in jedem gegebenen Fall nicht der Tod, sondern ein bestimmter, vor allem zu einer bestimmten Zeit eintretender Tod. Angenommen, in einem bestimmten Fall wäre der Tod ebenso und in derselben Weise eingetreten, auch wenn das Gift gefehlt hätte, dann könnte nach jedermanns Meinung das Gift nicht als Ursache des Todes bezeichnet werden.

So dürfen wir dabei bleiben, unsere Begriffsbestimmung der Ursache für zutreffend und vollständig zu halten. Sie schließt vollkommen genau die Bedingungen in sich, unter denen wir von einem ursächlichen Verhältnis sprechen. Wird man nicht daraus schließen müssen, daß sie auch den vollständigen Sinn des Kausalbegriffs in sich schließt? Was ist denn am Ende der Sinn eines Begriffs anderes, als der Inbegriff der Bedingungen, unter denen wir ihn anwenden?

Die kausale Beziehung ist eine doppelte Beziehung der Notwendigkeit in unserem Denken. Ist man zu der Überzeugung gelangt, so erhebt sich die Frage: Gibt es einen allgemeineren und umfassenderen psychologischen Tatbestand, zu dessen Eigenart es gehört, Beziehungen der Notwendigkeit in sich zu enthalten. Gibt es einen solchen, so besteht die Pflicht, wenigstens den Versuch zu machen, ob sich die kausale Beziehung daraus ableiten läßt. Kein noch so starkes Vorurteil kann von dieser Pflicht entbinden. In der Tat liegt ein solcher Tatbestand in der Assoziation vor.


IV. Erkennen und Urteilen

Ehe wir den Versuch machen aus der Tatsache der Assoziation Kausalbegriff und Kausalgesetz abzuleiten, scheinen einige allgemeinere Begriffsbestimmungen am Platz. Soweit die dabei angewandte Terminologie dem sonstigen Sprachgebrauch nicht entspricht, bitte ich sie mir zugute zu halten. Ich will durch Terminologien nichts beweisen, sondern nur meine Meinung fixieren.

Erkenntnis wird man allgemein zu definieren haben als Einordnung von Erfahrungen in einen widerspruchslosen und gesetzmäßigen Zusammenhang der Erfahrungen. Dabei verstehe ich under "Erfahrungen" alles irgendwie im Bewußtsein Gegebene, und unter der Gesetzmäßigkeit die objektive Notwendigkeit im oben als allein berechtigt bezeichneten Sinn des Wortes. - Das Denken ist die Tätigkeit der Einordnung und Zusammenordnung, auch die bloß versuchsweise und mißlingende.

Genauer sind zwei Arten der Erkenntnis wohl zu unterscheiden. Ich würde sie mit HUME, wenn auch nicht ganz und gar aus HUMEs Gründen, als analytische und synthetische Erkenntnis bezeichnen können, wenn es nicht seit KANT üblich wäre, als "analytisch" eine Erkenntnisart zu bezeichnen, die im Grunde so synthetisch ist, wie die "synthetische", nur daß sie einem besonderen Gebiet der synthetischen Erkenntnis zugehört. Körper sind ausgedehnt; dieses kantische Beispiel einer analytischen Erkenntnis sagt, daß die Ausgedehntheit im Begriff des Körpers liegt, d. h. daß das Wort  Körper  etwas Ausgedehntes bezeichnet, oder daß die Menschen, die das Wort  Körper  gebrauchen, damit etwas Ausgedehntes meinen. Diese Einsicht aber ist eine synthetische Erkenntnis. Sie ist genauer eine psychologische Erfahrungserkenntnis. - Ich halte die kantische Unterscheidung nicht nur für allzuwenig tiefgehend und darum prinzipiell verwerflich, sondern auch für bedenklich in ihren Konsequenzen. Trotzdem muß mich die Rücksicht auf KANTs Sprachgebrauch abhalten hier dem HUME'schen zu folgen. Ich will darum im Folgenden statt von analytischer und synthetischer Erkenntnis im HUMEschen Sinne, lieber von formaler und materialer Erkenntnis sprechen.

Der grundsätzliche Unterschied zwischen beiden Erkenntnisarten besteht darin, daß die eine, die formale, keinerlei, weder eine positive noch negative Beziehung zur objektiven, d. h. von meinem Bewußtsein unabhängigen Wirklichkeit in sich schließt, während in der anderen, der materialen, diese Beziehung jederzeit enthalten liegt. Jener ersteren Art ist beispielsweise die geometrische Erkenntnnis. Die Einsicht, das Dreieck hat eine Winkelsumme  = 2R,  besteht in dem Bewußtsein, daß mit der geradlinigen Figur, Dreieck genannt, ganz abgesehen davon, ob sie nur dem Bewußtsein oder auch der Welt außerhalb des Bewußtsein angehört, jene Winkelsumme notwendig gegeben ist. Ich kann das Dreieck gar nicht  vorstellen,  geschweige für objektiv wirklich halten, ohne jene Winkelsumme.

Die andere Art fällt zusammen mit der Sacherkenntnis oder Erfahrungserkenntnis im engeren Sinne des Wortes. Von ihr gilt das eben Gesagte nicht. Wenn ich von einem bestimmten mir bekannten Menschen weiß, daß er blondhaarig ist, so heißt dies keineswegs, daß die bloße  Vorstellung  dieses Menschen unvollziehbar wird, wenn ich die blonde Haarfarbe durch eine andere zu ersetzen versuche. Der Versuch, die Vorstellung oder das Bild der Menschen in allem zu belassen, wie es ist, und nur statt der blonden Haarfarbe die schwarze zu setzen, gelingt, so gewiß der Versuch eine ebene geradlinige Figur vorzustellen, die drei Ecken hätte, damit aber eine Winkelsumme größer oder kleiner gleich  2R  verbände, mißlingt. Nur die Erkenntnis der ersteren Art ist Bewußtsein der  "unbedingten"  Vorstellungsnotwendigkeit; bei der anderen ist die Erfüllung einer Bedingung vorausgesetzt.

Ich kann den blondhaarigen Menschen schwarzhaarig  vorstellen,  d. h. jene  Vorstelung, als solche,  in diese verwandeln. Aber ich kann nicht den bestimmten  wirklichen  Menschen schwarzhaarig vorstellen, d. h. ich kann nicht die Vorstellungsveränderung vollziehen und dabei das Bewußtsein haben, das Vorgestellte sei auch nach dieser Veränderung noch jener bestimmte wirkliche Mensch. Vielmehr weiß ich, daß mit der Verwandlung der Blondhaarigkeit in die Schwarzhaarigkeit zugleich das Bild des Menschen aufgehört hat, Bild jenes wirklichen Menschen zu sein, und ein bloßes Phantasiebild geworden ist. Soll es dies nicht werden, soll das Bewußtsein der objektiven Wirklichkeit des Vorgestellten bestehen bleiben, dann, aber auch nur dann muß ich bei der Vorstellung der Blondhaarigkeit bleiben.

Die Erfahrungserkenntnis ist das Bewußtsein der Notwendigkeit einen Bewußtseinsinhalt in einen Zusammenhang von Bewußtseinsinhalten einzuordnen, unter der Voraussetzung, daß jenem Zusammenhang von Bewußtseinsinhalten eine objektive Wirklichkeit zukommt, oder kürzer gesagt: sie ist die objektiv notwendige Einordnung eines vorgestellten Inhaltes in einen Zusammenhang  objektiver Wirklichkeit.  Jene "Voraussetzung" ist es, die die Erfahrungserkenntnis oder materiale Erkenntnis von der bloß formalen unterscheidet. In dem speziellen Fall, von dem wir redeten, ist der "Zusammenhang objektiver Wirklichkeit" bezeichnet durch den bestimmten wirklichen Menschen.

Wenn ich ein Dreieck vorstelle, so  muß  ich es als begabt mit der Winkelsumme  = 2R  vorstellen. Die Vorstellung des Dreiecks, abgesehen von der Winkelsumme,  zwingt  mich zum Vollzug der Vorstellung der bestimmten Winkelsumme. Wenn ich einen Menschen nicht bloß vorstelle, sondern in einem Vorstellungsinhalt zugleich einen mir bekannten wirklichen Menschen sehe, dann muß ich die bestimmte, an ihm wahrgenommene Haarfarbe mitvorstellen. Nicht die Vorstellung, sondern das Bewußtsein der objektiven Wirklichkeit des Vorgestellten  zwingt  mich in diesem Fall zur Hinzufügung der bestimmten Haarfarbe. Was mich zum Vollzug einer Vorstellung zwingt, ist für mich Grund derselben; der Grund ist ein objektiver, wenn mich ein gegebenes Objekt zwingt, zu ihm einen anderen Vorstellungsinhalt hinzuzufügen. Der objektive Grund ist der logische oder Erkenntnisgrund. Also ist der Unterschied der beiden Arten der Erkenntnis ein Unterschied der objektiven, logischen oder Erkenntnisgründe. Alle Erkenntnis ist objektiv begründetes Vorstellen bzw. Verbinden von Vorstellungen. Bei der lediglich formalen Erkenntnis besteht der objektive Grund im Dasein eines Bewußtseinsinhaltes, bei der materialen oder Erfahrungserkenntnis im engeren Sinn besteht er im Bewußtsein der objektiven Wirklichkeit eines Bewußtseinsinhaltes.

Die materiale oder Erfahrungserkenntnis ist Natur- oder psychologische Erkenntnis. Es ist eine der gefährlichsten erkenntnistheoretischen Jllusionen, daß es materiale, insbesondere Naturerkenntnis geben kann, ohne den Gedanken einer vom Bewußtsein unabhängigen Wirklichkeit. Jede Beschreibung einer solchen Erkenntnis bewegt sich in einem Widerspruch mit sich selbst.

Es ist aber das Bewußtsein der objektiven Wirklichkeit, wie es nach dem Gesagten bei der materialen Erkenntnis vorausgesetzt ist, selbst Erkenntnis und materiale Erkenntnis. So ist das bei der Erkenntnis der Blondhaarigkeit des bestimmten Menschen vorausgesetzte Bewußtsein der objektiven Wirklichkeit des vorgestellten Individuums auch ein Akt materialer Erkenntnis. Danach haben wir innerhalb der materialen Erkenntnis wiederum zwei Arten, oder besser zwei Stufen zu unterscheiden: ich weiß, daß  A B  ist; und ich weiß, daß  A  ist.  Diese  Erkenntnis ist die  Voraussetzung  jener, d. h. ich muß mit dem  A  das  B  verbinden, nur unter der Voraussetzung, daß  A  als der Welt der objektiven Wirklichkeit zugehörig gedacht wird. Tue ich das nicht, sondern betrachte  A  als bloße Vorstellung, so kann ich statt des  B  ebensowohl jedes beliebige  non-B  mit  A  verbinden. Wir wollen die bloße Erkenntnis, daß etwas objektiv wirklich ist, also das einfache Bewußtsein der vom Bewußtsein unabhängigen Existenz eine primitive Erkenntnis nennen. Der Name rechtfertigt sich eben daraus, daß solche Erkenntnisse bei jeder sonstigen materialen Erkenntnis vorausgesetzt sind. Was der primitiven Erkenntnis auf dem Gebiet der bloß  formalen  Erkenntnis entspricht, ist nicht wiederum Erkenntnis, sondern das bloße Dasein von Vorstellungen. Die Erkenntnis von der Größe der Winkelsumme des Dreiecks setzt lediglich das Dasein von Dreiecken in der  Vorstellung  voraus.

Das Urteil ist der einzelne Akt der - wirklichen oder vermeintlichen, objektiv oder nur subjektiv gültigen - Erkenntnis. Es gibt also, abgesehen von den formalen Urteilen, primitive und nichtprimitive materiale  Urteile.  Primitive Urteile vollziehen wir jedesmal in der Wahrnehmung. Jedes Wahrnehmungsurteil, d. h. jedes Bewußtsein, daß Wahrgenommenes objektiv wirklich ist, läßt sich schließlich sogar in ebensoviele primitive Urteile auflösen, als es unterscheidbare Bestandteil enthält. Die primitiven Urteile sind für sich betrachtet beziehungslose, die anderen können im Gegensatz zu ihnen Beziehungsurteile heißen. Formale Urteile sind immer Beziehungsurteile.

Statt "beziehungslose" können wir auch sagen "unbestimmte" Urteile. Die primitiven Urteile sind unbestimmte, sofern sie einem Bewußtseinsinhalt nur überhaupt objektive Wirklichkeit zuschreiben. Dagegen sind die Beziehungsurteile bestimmte, sofern sie einen Vorstellungsinhalt in einen bestimmten Vorstellungszusammenhang bzw. einen bestimmten Zusammenhang objektiver Wirklichkeit einordnen. Auch die primitiven Urteile ordnen ein, aber nur in den Zusammenhang objektiver Wirklichkeiten überhaupt, also in der denkbar allgemeinsten Weise.

Die Beziehung, die in den Beziehungsurteilen stattfindet, ist die Beziehung zwischen "Subjekt" und "Prädikat". Dabei verstehe ich unter Subjekt und Prädikat das logische Subjekt und Prädikat, das mit dem sprachlichen in keiner Weise übereinzustimmen braucht. Logisches Prädikat muß aber ohne Zweifel der Bewußtseinsinhalt heißen, in dessen Einfügung in einen Vorstellungszusammenhang oder Zusammenhang objektiver Wirklichkeit die Absicht oder Leistung des Urteils besteht, logisches Subjekt dasjenige, was dabei "zugrunde liegt" oder vorausgesetzt ist, was sich zur Aufnahme oder Einfügung des Prädikats darbietet und sie fordert, also der Vorstellungszusammenhang oder Zusammenhang objektiver Wirklichkeit selbst, bzw. die Stelle des Zusammenhangs, an welcher das Prädikat eingefügt wird und eingefügt werden muß.

Es erhellt sich, daß nach dieser Fassung von Subjekt und Prädikat das Subjekt der Grund des Prädikates ist. Ihre Beziehung ist die Beziehung zwischen Grund und Folge. Ich sehe nicht, wie man das logische Subjekt und Prädikat anders bestimmen will.

So ist in dem Urteil, das dem Dreieck die Winkelsumme  = 2R  zuschreibt, das Dreieck - abgesehen von dieser Winkelsumme - Subjekt und Grund des Prädikates. Nicht minder fällt beim Urteil "Gold ist gelb" Subjekt und Grund des Prädikates zusammen. Vielleicht frägt man, ob wir denn, wenn wir die Einheit von Eigenschaften, die - von der gelben Farbe abgesehen - das Gold ausmacht, irgendwo wirklich denken,  jederzeit  die gelbe Farbe hinzufügen müssen, auch dann, wenn wir annehmen, daß es Nacht ist oder kein menschliches Auge von diesem Gold affiziert wird. Darauf antworte ich, daß ebendarum, weil dies nicht der Fall ist, kann der Satz, daß Gold gelb ist, nicht als der richtige Ausdruck für das ihm zugrunde liegende Urteil gelten. Nicht vom Gold überhaupt, sondern vom Gold, das beleuchtet und von einem Auge gesehen wird, meinen wir, daß es gelb ist. Nicht das Gold überhaupt ist also das logische Subjekt des Urteils, sondern das beleuchtete und wahrgenommene Gold. Und genau dieses Gold ist auch der Grund des Prädikats, das Prädikat seine Folge. Es handelt sich uns hier eben nicht um den sprachlichen Ausdruck des Urteils, sondern um das Urteil. Wir haben es zu tun mit der Psychologie der Erkenntnis, nicht mit der Psychologie der Sprache.

Im erwähnten Fall ist das Subjekt des Urteils unvollständig  ausgesprochen.  Es kann aber freilich auch unvollständig  gedacht  sein. dann wird auch der Grund des Prädikats nicht vollständig in ihm enthalten sein. Wenn ich von einem Menschen nur weiß, daß er krank war, ohne zugleich zu wissen, wann er es war, dann genügt gewiß das Subjekt des Urteils - der der objektiv wirklichen Welt angehörige bestimmte Mensch - nicht, um mich zur Hinzufügung des Prädikats - der Krankheit - zu nötigen. Aber war der Mensch wirklich nur zu einer bestimmten Zeit krank, so ist eben nur der Mensch in der bestimmten Zeit das wirkliche Subjekt des Urteils.

Bei den materialen Urteilen, sagte ich, sei der Grund des Prädikats, oder wie wir jetzt ebensogut sagen können, das Subjekt des Urteils, ein als objektiv wirklich gedachter Vorstellungsinhalt bzw. Zusammenhang von Vorstellungsinhalten. Wir sahen dann, daß jenes Bewußtsein der objektiven Wirklichkeit selbst ein materiales Urteil ist. Andererseits wird auch das Prädikat dadurch, daß es in einen Zusammenhang objektiver Wirklichkeit eingeordnet wird, zu etwas objektiv Wirklichem. Auch dieses Bewußtsein objektiver Wirklichkeit ist für sich betrachtet ein materiales Urteil. Sonach können wir das materiale Beziehungsurteil auch als eine Beziehung von Urteilen bezeichnen. Die Beziehung ist die von Grund und Folge. Dies gibt sich sprachlich darin zu erkennen, daß wir statt zu sagen: Gold ist gelb, auch sagen können: Wenn etwas oder: Wenn irgendwo Gold ist, ist es gelb. Der einfache Satz ist zu einer konditionalen Satzverbindung geworden. Dagegen ist das primitive Urteil als solches jederzeit ein einfaches Urteil.


V. Assoziation und Erinnerungsurteil

Wir haben im Vorstehenden verschiedene Urteilsarten unterschieden. In diesem und dem folgenden Abschnitt beschäftigt unst ausschließlich das materiale Beziehungsurteil. Und zwar zunächst das einfache Erinnerungsurteil.

Ich habe gestern an einem bestimmten Ort und zu einer bestimmten Zeit einen Tatbestand wahrgenommen. Den Ort und den Zeitpunkt, bzw. was den Ort und Zeitpunkt für mein Bewußtsein bestimmt, wollen wir  U,  den Tatbestand  T  nennen. Dieses  U-T  nun kann in meiner Erinnerung wiederkehren. Ich erinnere mich, daß an dem bestimmten Ort und zu der bestimmten Zeit  T  stattfand. Diese Erinnerung besteht nicht in der bloßen Wiederkehr der Vorstellungen  U  und  T.  Vielmehr ist mit diesen Vorstellungen zugleich das Bewußtsein ihrer objektiven Wirklichkeit verbunden. Es ist damit verbunden, weil es sich in der Wahrnehmung damit verband.

So ist überhaupt unser Reproduzieren nicht ein bloßes Reproduzieren von Vorstellungen, sondern zugleich eine Reproduktion ihres logischen oder Erkenntniswertes. Angenommen ich habe gestern ein Ereignis nicht  erlebt,  sondern nur  vorgestellt,  gedacht, meiner Einbildungskraft vergegenwärtigt. Ich sah etwa nicht an einer bestimmten Stelle und zu einer bestimmten Zeit Regen niederfallen, sondern ich  stellte mir nur vor,  daß er fällt. Auch an dieses Phantasie-Erlebnis kann ich mich erinnern. Dabei sind die reproduzierten Vorstellungen genau dieselben, oder können genau dieselben sein, als ob das Erlebnis ein wirkliches gewesen wäre. Aber die Erinnerung hat dennoch in beiden Fällen einen ganz verschiedenen Inhalt. Das Phantasie-Erlebnis, die erlebte Wirklichkeit auch für meine Erinnerung Wirklichkeit. - Ich lasse hier dahingestellt, wie sich dieser Unterschied genauer bestimmt. Ich stelle nur fest, daß er besteht.

Fassen wir nun die Erinnerung an das wirklich Erlebte näher ins Auge. Wir finden dann im Akt der Erinnerung ein Moment, das beim Erlebnis selbst fehlte.

Zur Wahrnehmung des  U  oder der dasselbe konstituierenden Umstände gesellte sich, als ich  U-T  erlebte, die Wahrnehmung des  T;  mit dem Gedanken der objektiven Wirklichkeit des  U,  oder dem Urteil, daß  U ist,  verband sich der Gedanke der objektiven Wirklichkeit des  T,  oder das Urteil, daß  T ist.  Aber das letztere Urteil verband sich mit jenem ersteren nur  tatsächlich,  nicht notwendig. Beide  Urteile  waren zwar notwendig, aber ihre  Verbindung  war es nicht. Ich hatte nicht das Bewußtsein,  weil  ich  U  "bejahte", auch  T  "bejahen" zu müssen, d. h. ich war mir nicht bewußt, in den objektiv wirklichen Zusammenhang des  U  das  T  einfügen zu müssen,  weil  es eben  dieser  Zusammenhang objektiver Wirklichkeit  ist.  Mein Bewußtsein, daß  T  ist, war nicht durch das Bewußtsein, daß  U  ist, "objektiv begründet". Ich bejahte das  T,  weil ich es wahrnahm. Aber ich würde es aufgrund der Wahrnehmung haben bejahen müssen, auch abgesehen von der vorangehenden oder gleichzeitigen Bejahung des  U.  Ich hätte es bejahen müssen, auch wenn ich  U  nicht wahrgenommen hätte, also gar keine Gelegenheit gehabt hätte, das  U  zu bejahen. Ich hätte andererseits, nachdem ich  U  bejaht hatte, oder während ich dies tat, durch die Wahrnehmung ebensowohl genötigt werden können, statt des  T  ein  non-T  zu bejahen, und keine aus der Bejahung des  U  entspringende Notwendigkeit der Bejahung des  T  würde gegen diese, auf einer Wahrnehmung beruhende Notwendigkeit der Bejahung des  non-T  Einspruch erhoben haben.

Jetzt dagegen, in der Erinnerung, besteht jene Beziehung der Notwendigkeit zwischen der Bejahung des  U  und der Bejahung des  T.  Ich muß eben jenem  U - sofern ich es als das von mir erlebte wirkliche  U  denke - das  T  hinzufügen, dagegen jedes  non-T  von ihm abweisen. Indem ich den Ort und Zeitpunkt oder mit einem Wort in die Stelle des objektiv wirklichen Weltverlaufs, in der ich ehemals den Regen beobachtete, mich zurückversetze, bin ich genötigt eben an dieser Stelle den Regen wiederum zu bejahen. Wohl kann ich in der Vorstellung das Gegenteil, den heiteren Himmel, an die Stelle setzen, aber ich kann dieses Gegenteil nicht für eine an jener Stelle des Weltverlaufs stattfindende objektiv wirkliche Tatsache halten. Oder was dasselbe sagt, ich kann es vorstellen, aber nicht so, daß ich das Bewußtsein habe, auch mein durch den Vollzug dieser Vorstellung modifizierter Vorstellungszusammenhang entspreche noch der objektiven Wirklichkeit. Der Vollzug der Vorstellung erscheint als mein willkürliches und der Forderung des Zusammenhangs der objektiven Wirklichkeit, insbesondere des Ortes und der Zeit, worin ich den Regen beobachtete, widersprechendes Tun. - Und es ist zunächst nur dieser raumzeitliche Zusammenhang oder diese Stelle des Weltverlaufs, die mich nötigt den Regen einzufügen, und hindert, den Sonnenschein an die Stelle zu setzen. Ersetzte ich den Ort durch einen anderen, oder die Zeit durch eine andere, so schwände die objektive Nötigung.

Woher nun diese Nötigung? Darauf wird jeder antworten: aus der zwischen  U  und  T  in der ehemaligen Wahrnehmung geknüpften Assoziation. Oder verweigert man die Antwort?

Dann weiß ich nicht, was man überhaupt noch unter Assoziation verstehen will. Assoziatioinen sind nicht etwas ansich Bekanntes; nie hat jemand eine Assoziation als solche gesehen. Wir kennen nur ihre Ursachen und ihre Wirkungen: gleichzeitige Bewußtseinsinhalte erscheinen in der Folge aneinander gebunden, d. h. die Wiederkehr des einen nötigt zu Wiedervollzug des anderen. Genau darum aber handelt es sich hier. Gewisse Wahrnehmungsinhalte, die als solche zugleich für objektiv wirklich genommen wurden, waren gleichzeitig gegeben; eben sie erscheinen jetzt aneinander gebunden; und sie würden nicht aneinander gebunden erscheinen, wenn sie nicht gleichzeitig gegeben gewesen wären. Da diese Bindung  aufgrund  der Wahrnehmung entstand, so konnte sie nicht schon bestehen, als die Wahrnehmung stattfand. Das Band der Nötigung mußte im Akt der Wahrnehmung selbst noch fehlen.

Ich brauche nicht zu sagen, daß die Assoziation, von der ich hier rede, nicht die Assoziation überhaupt ist. Es gibt eine Assoziationsart, die auf Ähnlichkeit oder Verwandtschaft beruth. Aber nicht diese, sondern nur die Assoziation aufgrund des gleichzeitigen Gegebenseins von Bewußtseinsinhalten, oder kürzer, nur die Erfahrungsassoziation kommt hier für uns in Frage.

Nur von dieser Erfahrungsassoziation kann ja auch gesagt werden, sie erweise sich darin, daß die Wiederkehr eines Bewußtseinsinhalts zum Wiedervollzug eines bestimmten anderen nötigt. Einem Bewußtseinsinhalt  A  ähnlich oder verwandt sind jederzeit viele Bewußtseinsinhalte  B1, B2  etc., so daß  A  anstelle eines  B1  ebensowohl ein  B2, B3  etc. reproduzieren könnte. Vollends ist keine Rede davon, daß wir aufgrund der Ähnlichkeitsassoziation dem  A,  weil es dieses bestimmte  A  ist, ein bestimmtes und zugleich zu  A  in bestimmten  zeitlichen  bzw.  raumzeitlichen Verhältnis  stehendes  B  mit Ausschluß aller anderen  B  zuordnen müßten. Die Ähnlichkeitsassoziation begründet keinerlei objektive Nötigung.

Aber auch, daß die  Erfahrungsassoziation  einem  U  ein  T  hinzufügen "nötigt" oder "zwingt", ist nicht so zu verstehen, als müsse sich zum wiedergekehrten  U  das  T  jedesmal unweigerlich gesellen. Nur dies ist damit gesagt, daß dann, wenn überhaupt die Reproduktion von  U  aus die Richtung einschlägt, der das  T  angehört, das  T  dem  U  sich an- oder einfügen muß, daß also kein derselben Richtung angehöriges, mit  T  unverträgliches  non-T  an  seine Stelle  treten kann, ohne daß das  U  dagegen Widerspruch erhebt. Ich habe schon oben versucht, diesen Sinn der "objektiven Nötigung" deutlich heraustreten zu lassen. Ich lege aber darauf, um Mißverständnissen vorzubeugen, hier noch besonderes Gewicht.

Ich sah etwa an einer bestimmten Stelle und in einem bestimmten Zeitpunkt einen Menschen, der trug schöne Kleider, hatte eine wohllautende Stimme, einen stolzen Gang und dergleichen. Alle diese Dinge sind jetzt für mich mit dem Bild des Menschen aufgrund der Erfahrung verknüpft. Aber durch diese Verknüpfung ist ganz und gar nichts darüber ausgemacht, ob sich dann, wenn ich mir den Menschen, samt Ort und Zeit, worin ich ihn sah, wiederum vergegenwärtige, meine Gedanken der Kleidung oder dem Gang oder der Stimme oder einem sonstigen Tatbestand, den ich an ihm oder in einem raumzeitlichen Zusammenhang mit ihm wahrnahm, zuwenden. Nur dies liegt in der Tatsache der Assoziation eingeschlossen, daß ich,  wenn  etwa mein Gedankengang die Richtung auf die Stimme nimmt, dem Menschen nur die wohllautende und nicht eine andere, übelklingende Stimme zuschreiben kann.

Freilich könnte mir jemand sagen, der in Rede stehende Mensch habe eine krähende Stimme gehabt, und mich dadurch veranlassen, versuchsweise die entsprechende Vorstellung zu vollziehen. Es könnte ebensowohl mein eigener Vorstellungsverlauf für einen Augenblick einen solchen Gedanken in mir aufkommen lassen. Sobald aber das Bild des Menschen, wie ich es in der Erfahrung gewonnen habe, einschließlich des Bewußtseins, dasselbe repräsentiert jenen wirklichen Menschen, sich mir wiederum darstellte und die Verknüpfung zwischen ihm und der wohllautenden Stimme Kraft gewänne, müßte jeder dieser Gedanken weichen. - Lassen wir einstweilen dahingestellt, wie weit  sonst  die nötigende Kraft der Assoziationen geht oder aus welchen Gründen sie in vielen Fällen keine zwingende ist. In dem hier in Rede stehenden Fall hat jedenfalls die Assoziation durchaus "zwingende" Kraft.

Wir können nun aber, was die Assoziation in unserem Fall bewirkt, auch noch mit anderen Worten bezeichnen. Ich habe bereits den Akt der Erinnerung  U-T  den materialen Beziehungsurteilen zugeordnet. Dieses Beziehungsurteil  U-T  ist eben durch die Assoziation zustande gekommen. Innerhalb desselben ist  U,  nämlich die damit bezeichnete Stelle im Zusammenhang der objektiven Wirklichkeit, Grund des  T,  nicht subjektiver, sondern objektiver, logischer oder Erkenntnisgrund. Es wäre überflüssig, zu sagen: zureichender oder zwingender Grund, da ein nicht zureichender oder nicht zwingender Grund in Wahrheit nicht Grund ist, obgleich er Teilgrund sein mag. Die Einfügung des  T  in jene Stelle der objektiv wirklichen Welt oder die Bejahung des  T  an  U  ist die Folge des Grundes.  U  ist ebendamit zugleich logisches Subjekt,  T  logisches Prädikat des Urteils  U-T  oder der Assoziation, die dem Urteil zugrunde liegt. Sie sind zu all dem geworden durch die erfahrungsgemäße Assoziation.
LITERATUR - Theodor Lipps, Zur Psychologie der Kausalität, Zeitschrift für Psychologie und Physiologie der Sinnesorgane, Bd. 1, Leipzig 1890
    Anmerkungen
    1) Vgl. meine "Grundtatsachen des Seelenlebens" in den erkenntnistheoretischen Kapiteln.