tb-1Liebmann - Kant und die EpigonenHamann - Metakritik     
 
MELCHIOR PALÁGYI
Kant und Bolzano
- eine kritische Parallele
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    Einleitung
I. Der Gegensatz der beiden Denker
II. Bolzanos Lehre von den "Sätzen an sich"
III. Kant, Leibniz und Bolzano

"Bolzano darf als der Philosoph betrachtet werden, der schärfer als es bislang irgend ein Denker getan hat, den eigentlich logischen vom psychologischen Gesichtspunkt zu scheiden suchte. Hierauf mag es beruhen, daß seine Logik in unseren Tagen eine Aktualität erlangt hat, die in dem Maße wachsen dürfte, als man sie besser kennen lernen wird. Denn kaum eine Frage hat für den modernen Erkenntnistheoretiker eine größere Bedeutsamkeit, als die, wie so man die Prinzipien der Logik vor einer unreinen Verquickung mit der Psychologie bewahren könnte."

"Es handelt sich hier weniger um Persönlichkeiten, als um erkenntnistheoretische Probleme, die auch in unseren Tagen heftig umstritten sind und von deren Klärung ein jeder wissenschaftliche Fortschritt in der Logik abhängig ist."

Einleitung

Der hochgesinnte und strenge Denker, dessen Namen ich neben denjenigen KANTs setze, dürfte manchem meiner Leser völlig unbekannt sein; so schlimm ist es aber um die historische Gerechtigkeit doch nicht bestellt, daß man BOLZANO sozusagen erst entdecken müßte: wenigstens die Mathematiker vom Fach stellen ihn neben CAUCHY als den Mitbegründer der modernen Funktionentheorie iner reellen Veränderlichen und verehren in ihm den Meister, der durch die strenge Fassung des Stetigkeitsbegriffes jene exakte Darstellungsweise der höheren Analysis ermöglichte, die heute ein Gemeingut der Jünger der Mathematik ist. Trotzdem muß BOLZANO vor allem ein Philosoph und zwar ein Logiker genannt werden, denn er betrachtet selbst die mathematischen Probleme mit den Augen des Erkenntnistheoretikers, wie das der durch ihn geplante, höchst eigentümliche Reformversuch der Geometrie zeigt. Er will die Raumwissenschaft völlig unabhängig machen von der Anschauung und die Sätze derselben aus reinen Begriffen deduzieren. In seiner höchst lesenswerten Selbstbiographie sagt er selbst von sich: "Mein besonderes Wohlgefallen an der Mathematik beruhte also eigentlich nur auf ihrem rein  spekulativen  Teil oder ich schätze an ihr nur dasjenige, was zugleich Philosophie ist" (Seite 19). Er gehört kurz gesagt zu jenen seltenen und vornehmen Geistern, für welche alle Wissenschaft zur Philosophe und alle Philosophie zur Wissenschaft wird.

Wie kommt es, dürfte der Leser fragen, daß von einem solchen Manne eben zwischen den Philosophen, namentlich den Logikern vom Fach, so wenig verlautet? Man wird, um sich dieses Rätsel zu erklären, vermutlich an einen Gelehrten denken, der sich in weltabgewandter Weise so sehr der Erforschung der Wahrheit widmete, daß er darüber - wenigstens zeitweilig - auch von der Welt vergessen werden konnte. Diese Vermutung trifft jedoch im vorliegenden Fall nicht ganz zu, denn BOLZANOs Lebenslauf ist auch in rein menschlicher Beziehung geeignet ein tiefes, beinahe tragisches Interesse zu erwecken.

Fünfzehn Jahre lang (1805 - 1820) wirkte er als Professor der Theologie an der Universität Prag und wußte durch die neuartige Darstellung der Lehren seines Glaubens, wie nicht minder durch die schöne Übereinstimmung seines Lebenswandels mit der von ihm vorgetragenen Lehre, eine immer wachsende Schar von Schülern um sich zu sammeln, die mit Liebe und Verehrung an dem glaubensstarken Mann hing, der zugleich ein typischer Repräsentant exakter, mathematisch - mechanistischer Forschung - geradezu im modernen Sinne - war. Aber in jener Zeit tiefster Reaktion, konnte es nicht ausbleiben, daß ein origineller Denker eben zufolge seiner Originalität den größten Anstoß erregen mußte, selbst wenn er ein solches Musterbild tiefinnerlicher Frömmigkeit, wie BOLZANO, war. Die Neuheit seiner theologischen Argumentation wurde in Rom als Ketzerei, die Anhänglichkeit seiner Schüler aber in Wien als politische Gefahr hingestellt - und da man zu jener Zeit der geistlichen Denunziationen überall Studentenverschwörungen witterte: konnte es geschehen, daß ein Mann wie BOLZANO seines Amtes enthoben wurde.

Verkannt und verfolgt von jenen, die ihn hätten ehren sollen: wie war es da zu erwarten, daß diejenigen ihm Anerkennung zollen würden, zu denen er in einem prinzipiellen Gegensatz stand. Er machte keinen Hehl aus seiner entschiedenen Mißachtung der mächtigen philosophischen Modeströmungen seiner Zeit und er ließ manch scharfes Wort "über die neueste Art des Philosophierens in Deutschland" fallen. Da es nicht möglich sei, - sagt er in seinem Lehrbuch der Religionswissenschaft (I, Seite 165) - die vielerlei philosophischen Systeme, deren Anzahl sich mit jeder Messe vermehrt, einzeln zu beschreiben, so wünsche er bloß einige allgemeine charakteristische Bemerkungen über den Geist dieser Philosophie zu machen. Sonderbar sei es zu sehen, daß je mehr solcher System in rascher Aufeinanderfolge in Vergessenheit gerieten, mit desto größerer Zuversicht immer neue an den Tag treten, entschiedenen Anspruch auf abschließende Richtigkeit erhebend. Ganz besonder müsse es auffallen, daß eben diejenigen die Sprache der Zuversicht führen, welche ihr System mehrmals umgeschmolzen hatten. Damit stimmt es auch zusammen, daß die sogenannte mathematische Methode in der Philosophie für pedantisch erklärt wird und daß sich eine eigentümliche Vorliebe für die Bildersprache geltend macht, wo es doch in der Philosophie immer darauf ankam, sich soweit das nur möglich ist, in den allereigentlichsten Ausdrücken zu erklären. Jene Bildersprache, meint BOLZANO, wäre das beste Mittel, entfernte Ähnlichkeiten als Gleichheiten hinzustellen oder sich in Paradoxien zu ergehen und dadurch den Schein einer Neuartigkeit des Gedankengangs zu erzeugen.

Wer merkt nicht, daß diese kritischen Pfeile auf die nachkantische philosophische Spekulation in Deutschland hinzielen? So wird es dann begreiflich, daß BOLZANO mit der mathematischen Art und Weise seines Denkens gewissermaßen ein Fremdling sein mußte im Zeitalter des Aufblühens der HEGEL Philosophie. Von seinem Lehrstuhl vertrieben versenkt er sich in seine mathematischen und philosophischen Forschungen, unbekümmert um den Kampf und den Sieg der neuen Systeme. Obwohl ein hoher Ehrgeiz in ihm lebte, lernte er die Eitelkeiten desselben immer mehr zu überwinden. Mit jedem Jahr durchschaut er mehr "das eitle Nichts der Ehre und des Nachruhms" und eben deshalb wird ihm HALLERs Ode an die Ehre eines seiner Lieblingsgedichte. Sei es nicht gleichgültig, meint der resignierte Denker, ob eine spätere Nachwelt die Silben seines Namens kennen oder nicht kennen werde, vorausgesetzt nur, daß dasjenige, was er gefunden zu haben glaubt, - falls es zu etwas nütze - nicht mit ihm untergehen werde.

Wie ernst er es mit diesen Worten meint, davon legen die zahlreichen Werke seines logischen Forschergeistes Zeugnis ab, denn nirgends mischt sich auch nur die leiseste Spur einer persönlichen Bitterkeit, ob der Unbill, die ihm widerfahren, in seine Gedankengänge ein. Man braucht ihn nur einem SCHOPENHAUER gegenüber zu stellen, um den fundamentalen Gegensatz zweier Individualitäten zu begreifen, die beide von ihrem eigenen Zeitalter verkannt, doch in ihrem Verhalten zu ihren Zeitgenossen so himmelweit voneinander verschieden sind. Mag sein, daß es dem Philosophen auch ziemt ein galliger Lyriker zu sein, soviel scheint mir aber festzustehen, daß die edle Selbstverleugnung eines BOLZANO von einer reineren und höheren Gesinnung Zeugnis gibt.

So atmet denn auch seine Polemik gegen KANT den Geist echter wissenschaftlicher Objektivität. Er macht zum Teil KANT dafür verantwortlich, daß nach ihm jene Art des Philosophierens zur Mode wurde, die er als unwissenschaftlich betrachtete. Aber je eindringlicher er sich mit KANT auseinandersetzt, desto deutlicher tritt es hervor, wie sehr er den Scharfsinn des leitenden deutschen Philosophen schätzt und wie sehr er auch von Hochachtung für den persönlichen Charakter desselben erfüllt ist. Ja, er läßt sich in einer fundamentalen Frage der Erkenntnislehre (im Problem der analytischen und synthetischen Urteile) direkt von KANT beeinflussen und er spricht es freimütig aus, in diesem wichtigen Punkt tiefgehende Anregung aus dem Kritizismus geschöpft zu haben. Trotzdem muß BOLZANO als ein entschiedener Widersacher des kantischen Denkens bezeichnet werden, was zum nicht geringen Teil darauf beruth, daß er sich einen dem kantischen durchaus entgegengesetzten Begriff von der erkenntnistheoretischen Bedeutung der Mathematik zurechtlegt. Gerade diese antagonistische Stellung BOLZANOs KANT gegenüber ist besonders geeignet, ein neues Licht auf den Kritizismus zu werfen.

Ich habe es mir in dieser Arbeit zur Aufgabe gemacht, den Widerstreit der Logik BOLZANOs mit der kantischen Vernunftkritik darzustellen, weil ich der Überzeugung bin, daß der Gegensatz der beiden Denker für die moderne erkenntnistheoretische Bewegung von ganz ausgezeichneter Bedeutung ist. BOLZANO nämlich darf als der Philosoph betrachtet werden, der schärfer als es bislang irgend ein Denker getan hat, den eigentlich logischen vom psychologischen Gesichtspunkt zu scheiden suchte. Hierauf mag es beruhen, daß seine Logik in unseren Tagen eine Aktualität erlangt hat, die in dem Maße wachsen dürfte, als man sie besser kennen lernen wird. Denn kaum eine Frage hat für den modernen Erkenntnistheoretiker eine größere Bedeutsamkeit, als die, wie so man die Prinzipien der Logik vor einer unreinen Verquickung mit der Psychologie bewahren könnte. Die Partei der sogenannten "Psychologisten" glaubt, daß es ihr gelingen könnte, alle Logik schließlich in Psychologie aufzulösen oder populär gesprochen: den Verstand in der Sinnlichkeit aufgehen zu lassen. Der alte Streit zwischen Sensualismus und Rationalismus hat sich in unseren Tagen erneut und ist zu einem überaus interessanten und lehrreichen Grenzstreit zweier Disziplinen, der Psychologie und der Logik, geworden. Aber gerade diesen Grenzstreit hatte BOLZANO (schon zu Beginn des vorigen Jahrhunderts) ins Auge gefaßt und denselben zu einem Hauptmotiv seines Denkens erhoben, indem er eine Logik zu begründen suchte, die wenigstens in ihrem ersten Hauptteil von jeder Psychologie unabhängig sein sollte.

Zwar betont auch KANT mit dem größten Nachdruck den Unterschied zwischen dem Denken, wie es ist (Gegenstand der Psychologie) zum Denken, wie es sein soll (Gegenstand der Logik): trotzdem glaubt BOLZANO in den Lehren des Kritizismus eine trübe Vermengung des psychologischen und des logischen Elementes zu erkennen. Von diesem Gesichtspunkt ausgehend polemisiert er an vielen Stellen seiner vierbändigen Wissenschaftslehre mit KANT, sowie mit der ganzen Schar seiner unmittelbaren Anhänger, und seine diesbezüglichen kritischen Ausführungen hätten sicherlich schon längst das Interesse der Logiker erweckt, würde er dieselben in eine einheitliche Abhandlung zusammengefaßt haben. Ich muß bemerken, daß BOLZANOs philosophische Darstellungs- und Ausdrucksweise durch eine seltene Klarheit ausgezeichnet ist; leider treibt er aber diese Klarheit bis ins Peinliche, ich möchte beinahe sagen ins Unerträgliche. Es mag sein, daß der innere Gegensatz zu KANT ihn dazu verleitete, auch seine Schreibweise zu einem förmlichen Widerspiel der kantischen auszubilden. Meine Aufgabe mußte es sein, die vereinzelten und gelegentlichen kritischen Betrachtungen BOLZANOs, die sich auf die kantische Philosophie beziehen, in irgendeinen übersichtlichen Zusammenhang zu bringen. Wenn ich nicht irre, läßt sich der Antagonismus der beiden Denker immer darauf zurückführen, daß BOLZANO nichts von einer Materie und Form der Erkenntnis - im Sinne KANTs - wissen will. Er kennt keine apriorischen Formen der Sinnlichkeit und ebensowenig irgendwelche apriorische Formen des Verstandes. Der ganze komplizierte Formenapparat, den KANT in Bewegung setzt, um aus der Materie der Empfindungen die Welt der objektiven Erkenntnis hervorgehen zu lassen, ist für ihn eine Spekulation, die nicht leistet, was sie leisten soll, da sie nicht imstande ist, die Objektivität der Erkenntnis zu verbürgen.

Nun ist BOLZANO selbst ein strenger Apriorist (Rationalist), und zwar einer ausLEIBNIZ' Schule. Seine eigentliche Bedeutung für die Geschichte der deutschen Philosohie beruth vornehmlich darauf, daß er ein wahrhaft berufener, wissenschaftlicher Fortbildner der LEIBNIZschen Logik ist. Er versucht es durch einen eigentümlichen Kunstgriff (den ich später bloßlegen werde), die LEIBNIZsche Logik aus ihrer Abhängigkeit von der Metaphysik zu befreien und sie dadurch von neuem kampfestüchtig zu machen. Er verstärkt sie mit Elementen, die er dem Kritizismus entlehnt, jedoch nur zu dem Zweck, um den letzteren desto entschiedener bestreiten zu können. So gewinnt man während der Lektüre der "Wissenschaftslehre" den Eindruck, also ob man LEIBNIZ und KANT in ein logisches Duell verwickelt sehen würde. Apriorismus streitet wider den Apriorismus: die zweierlei Wahrheiten des LEIBNIZ (vérités de raison und vérités de fait [Begriffssätze und Anschauungssätze - wp]) ziehen ins Feld gegen die zweierlei Erkenntnisse KANTs (apriorische und aposteriorische Erkenntnis). Die subtilsten Unterschiede beider Denkweisen treten in eine scharfe Beleuchtung und die Folge ist, - daß die Schwächen beider Richtungen sich gewissermaßen von selbst bloßlegen. Man erkennt, daß es sich in beiden um einen Zwiespalt innerhalb des Wahrheitsbegriffes handelt: blaublütige Wahrheiten, die der hohen Vernunft entstammen, treten den plebejischen Wahrheiten der Erfahrung entgegen, die sich ihrer niederen sinnlichen Herkunft beinahe zu schämen scheinen. Man fühlt, daß der große historische Widerstreit zwischen Rationalismus und Sensualismus, zwischen Sinnlichkeit und Verstand, trotz LEIBNIZ, trotz KANT und trotz BOLZANO ungelöst geblieben ist und man lernt begreifen, daß dieser Widerstreit sich mit innerer historischer Notwendigkeit von neuem entzünden muß, wie er sich denn auch tatsächlich in Form von Grenzfragen zwischen Psychologie und Logik wieder entzündet hat.

Mein Bestreben ist in dieser Schrift darauf gerichtet, den Gegensatz zwischen KANT und BOLZANO (bzw. LEIBNIZ) in seiner ganzen Schärfe herauszuarbeiten, weil sich nur auf diese Weise irgendein Gewinn für die moderne erkenntnistheoretische Forschung ergeben kann. Ich bin bemüht hinter den großen Denkern, die sich hier befehden, womöglich gänzlich zu verschwinden, damit sie ihre Differenzen gewissermaßen selbst zur Anschauung bringen; ich selbst aber ergreife nur das Wort, um die ungeklärt gebliebenen Punkte der Diskussion zu fixieren und sie als offene Probleme für die fortschreitende philosophische Forschung hinzustellen. Inwieweit es mir gelungen ist beiden Seiten meiner Aufgabe, der rein historischen und zugleich auch der rein kritischen, gerecht zu werden, das muß ich wohl dem freien Urteil des philosophischen Lesers überlassen und will mir nur in Bezug auf diese Einleitung eine nachsichtige Beurteilung erbitten. Gerne hätte ich es mir zur Aufgabe gemacht, die interessante Individualität BOLZANOs ausführlich zu kennzeichnen, ich durfte jedoch die Grenzen nicht außer Acht lassen, die meiner Arbeit dadurch gezogen sind, daß ich eine vergleichende Kritik zweier logischer System zu liefern habe. Es handelt sich hier weniger um Persönlichkeiten, als um erkenntnistheoretische Probleme, die auch in unseren Tagen heftig umstritten sind und von deren Klärung ein jeder wissenschaftliche Fortschritt in der Logik abhängig ist.

LITERATUR - Melchior Palágyi, Kant und Bolzano - ein kritische Parallele, Halle 1902