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Kant und die philosophische Aufgabe unserer Zeit [2/7]
I. Was beabsichtigte Kant und wodurch ist das Mißlingen seines großen Unternehmens von seiner Seite her begründet? Allerdings mußten zu einem Unternehmen, wie das der kantischen Kritik war, sich viele Motive vereinigen und als solche im Werk selber ausgesprochen werden. Wir werden im Verfolg unserer Darstellung Gelegenheit haben, mehrere derselben hervorzuheben. Erfassen wir aber KANTs Unternehmen in seiner ganzen Tiefe: so ergibt sich augenscheinlich als die Grundtendenz desselben die Feststellung und Durchführung des Satzes: daß aus bloßen Begriffen keine Erkenntnis des Seienden oder keine Begründung der Existenz des in diesen Begriffen Gedachten möglich sei. KANT stellte sich mit diesem Satz, den Systemen des CARTESIUS, SPINOZA, LEIBNIZ, WOLFF gegenüber, welche, wie verschieden sie auch über andere Gegenstände denken, doch darin übereinkommen, daß sie ohne weiteres den menschlichen Verstand als Norm auch für die objektive Wahrheit betrachten, die deutliche Darlegung eines Begriffs für die Darlegung der Existenz seines Gegenstandes halten und daher aus bloßen Begriffen die inneren Eigenschaften der Dinge, die Existenz Gottes usw. beweisen zu können glauben. Im Gegensatz mit diesem Verfahren setzte KANT die Verschiedenheit des Erkennens vom bloßen Denken ins Licht. Zum bloßen Denken haben wir allerdings an unseren Begriffen genug, aber wir werden dann auch nichts anderes erhalten, als "bloße Gedankenformen, um aus gegebenen Anschauungen, Erkenntnisse zu machen". (1) Die Erkenntnis dagegen kann uns, insofern sie eine Existenz behauptet, nur durch die Wahrnehmung des Existierenden gegeben werden. Auf die Feststellung dieses Satzes geht KANTs ganze Theorie der Erfahrungserkenntnis hinaus, wie sie in der transzendentalen Ästhetik und in der transzendentalen Analytik der "Kritik der reinen Vernunft", so wie in den "Prolegoma zu einer jeden künftigen Metaphysik" uns vorliegt. Zu jeder Erkenntnis (lehrt er) gehören notwendig Elemente von zwei verschiedenen Gattungen: die Empfindung (das objektive Element, die Materie der Erkenntnis), durch welche allein uns der Gegenstand gegeben werden kann und die aus uns selber, als subjektive Elemente, hinzugebrachten Erkenntnisformen unseres Geistes. Diese letzteren sind wieder zwiefach: die Formen der Rezeptivität oder die reinen Anschauungen von Raum und Zeit, vermöge deren die Empfindung erst zur Anschauung wird und die Formen der Spontaneität oder die reinen Verstandesbegriffe (Kategorien), durch welche die Anschauungen gedacht werden.
Diese Grundgedanken sind es, welche KANT ausführt und anwendet, indem er die Paralogismen in der Bestimmung der Natur unserer Seele, indem er in den Antinomien die Widersprüche darlegt, in welche, seiner Ansicht nach, die Vernunft notwendig verwickelt wird bei der Ausbildung ihrer Vorstellungen vom Weltganzen, indem er endlich in der Kritik der bisherigen Beweise für das Dasein Gottes zu zeigen unternimmt, daß dieselben alle, durch eine Art von Erschleichung, das zu Beweisende schon voraussetzen. Die menschliche Erkenntnis hat zwar (so schließt er seine transzendentale Dialektik) in Hinsicht ihrer Anschauungen, Begriffe und Ideen, "Erkenntnisquellen a priori, die beim ersten Anblick die Grenzen der Erfahrung zu verschmähen scheinen"; aber eine vollendete Kritik überzeugt uns, "daß alle Vernunft im spekulativen Gebrauch mit diesen Elementen niemals über das Feld möglicher Erfahrung hinauskommen kann und daß es die eigentliche Bestimmung dieses obersten Erkenntnisvermögens sei, sich aller Methoden und Grundsätze derselben nur zu bedienen, um der Natur nach allen möglichen Prinzipien der Einheit, worunter die der Zwecke die vornehmste ist, bis in ihr Innerstes nachzugehen, niemals aber ihre Grenzen zu überfliegen, außerhalb welcher für uns nichts als leerer Raum ist. Zwar hat uns die kritische Untersuchung aller Sätze, welche unsere Erkenntnis über die wirkliche Erfahrung hinaus erweitern können, in der transzendentalen Analytik hinreichend überzeugt, daß sie niemals zu etwas mehr, als einer möglichen Erfahrung leiten können und wenn man nicht selbst gegen die klarsten abstrakten und allgemeinen Lehrsätze mißtrauisch wäre, wenn nicht reizenden und scheinbare Aussichten uns lockten, den Zwang der ersteren abzuwerfen, so hätten wir allerdings der mühsamen Abhörung aller dialektischen Zeugen, die eine transzendente Vernunft zum Behuf ihrer Anmaßungen auftreten läßt, überhoben sein können: denn wir wußten es schon zum Voraus mit völliger Gewißheit, daß alles Vorgeben derselben zwar vielleicht ehrlich gemeint, aber schlechterdings nichtig sein müsse, weil es eine Kundschaft betraf, die kein Mensch jemals bekommen kann. Allein weil doch des Redens kein Ende wird, wenn man nicht hinter die wahre Ursache des Scheins kommt, wodurch selbst der Vernünftigste hintergangen werden kann und die Auflösung aller unserer transzendenten Erkenntnis in ihre Elemente (als ein Studium unserer inneren Natur) an sich selbst keinen geringeren Wert hat, dem Philosophen aber sogar Pflicht ist, so ist es nicht allein nötig, diese ganze, obwohl eitle Bearbeitung der spekulativen Vernunft bis zu ihren ersten Quellen ausführlich nachzusuchen, sondern, da der dialektische Schein nicht allein dem Urteil nach täuschend, sondern auch dem Interesse nach, welches man am Urteil nimmt, anlockend und jederzeit natürlich ist und so in alle Zukunft bleiben wird, so war es ratsam, gleichsam die Akten dieses Preises ausführlich abzufassen und sie im Archiv der menschlichen Vernunft, zur Verhütung künftiger Irrungen ähnlicher Art, niederzulegen." (8) Hat sich nun, nach unserer bisherigen Darstellung, die kantische Kritik fast nur als Polemik und ihr Ergebnis als ein rein negatives gezeigt, so hatte doch KANT, nach vielfach wiederholten ausdrücklichen Erklärungen, bei diesen Negativen zwei höchst wichtige positive Zwecke im Auge. Zuerst, bei der Aufstellung des Satzes, daß nur auf der Grundlage der Erfahrung die menschliche Erkenntnis fest und sicher begründet werden könne, was seine Absicht darauf gerichtet, die herrlichen Geisteskräfte, welche früher der Lösung unlösbarer metaphysischer Probleme zugewandt und so verloren gegangen waren, von nun an für die Erfahrungserkenntnis zu konzentrieren und hierdurch ein reicheres und schnelleres Fortschreiten derselben zu bewerkstelligen. Indem man für alle Zeiten klar und unzweifelhaft sich überzeugte, daß das Übersinnliche auf keine Weise erreicht werden könne durch durch die spekulative Vernunft, sollten von nun an alle Denker, ungestört und unbeschränkt durch jene fruchtlosen Bemühungen, ihr Bestreben allein auf dasjenige richten, was, innerhalb des Bereiches der menschlichen Erkenntniskraft liegend und zugleich eine fruchtbare Anwendung für die Praxis verstattend, mit voller Gewißheit einen ins Unendliche hin sich mehrenden Gewinn der Erkenntnis verheißt. Zweitens aber wollte KANT "das Wissen aufheben, um zum Glauben Platz zu bekommen." (9) Der Dogmatismus der Metaphysik oder das Vorurteil einer aus reiner Vernunft zu gewinnenden Erkenntnis des Übersinnlichen, sei "die wahre Quelle alles der Moralität widerstreitenden Unglaubens, der ebenfalls jederzeit dogmatisch sei"; und nur durch die klare Aufdeckung dieser unbegründeten Anmaßungen also könne das Interesse der Moral und der Religion sicher gestellt werden gegen jene immer wieder sich erneuernden Angriffe. Für alle Zukunft also sollten diese niedergeschlagen werden durch die Nachweisung, daß vom Übersinnlichen gar kein Wissen für uns möglich sei: nicht dafür und nicht dagegen, (10) und daß die Überzeugungen von Gott, von Unsterblichkeit und von Freiheit nur als Postulate der praktischen Vernunft für uns Gewißheit erhalten können. Auch KANTs praktische Philosophie liegt demnach wenigstens zum Teil in dieser Richtung; und wir haben nicht zu viel gesagt, wenn wir den Satz, daß "aus bloßen Begriffen keine Erkenntnis des Seienden oder keine Begründung der Existenz des in diesen Begriffen Gedachten möglich sei", als die Grundtendenz oder als den eigentlichen Mittelpunkt des kantischen Unternehmens bezeichnet haben. Vergleichen wir nun diese Grundtendenz mit der allgemeinen Tendenz der neueren Philosophie, so zeigt sie sich vollkommen einstimmig mit dem Geist dieser letzteren. Die Konstruktion der Wissenschaften aus bloßen Begriffen und unabhängig von der Erfahrung ist das Charakteristische der Scholastik. Dieser nun war BACO in seinem Organon mit Kraft und Gelingen entgegengetreten. Aber durch sein Zusammenwirken mit mehreren anderen ausgezeichneten Männern, in welchen der gleiche Gegensatz in mehr besonderer Gestalt sich entwickelt hatte, war doch die scholastische Methode vollständig nur aus den auf die Erkenntnis der äußeren Natur gerichteten Wissenschaften verbannt worden. In der Wissenschaft vom Geistigen oder in der Philosophie glaubte man noch immer durch bloße Zergliederung und Aufklärung der Begriffe zugleich eine Erkenntnis des Seins zu erwerben. Aber von LOCKE angeregt und mit dessen Ansichten nach Frankreich und Deutschland verpflanzt, hatte auch auf diesem Erkenntnisgebiet schon lange Zeit hindurch eine weit und tief greifende Polemik gegen diese Methode und insbesondere gegen die darauf begründete Erkenntnis des Übersinnlichen sich gebildet: in sehr verschiedener Gestalt, nach Maßgabe des Charakters der verschiedenen Völker. Bei den Franzosen nahm diese Polemik einen mehr oder weniger frivolen Charakter an. Mit den falschen Beweisen für die übersinnlichen Wahrheiten glaubte man die in manchen anderen Beziehungen beschwerlichen übersinnlichen Wahrheiten selbst wegwerfen zu können; und wer dieselben festzuhalten suchte, wurde mit Spott und Persiflage verfolgt. Bei den Engländern dagegen erscheint diese Polemik ernster ausgebildet. BERKELEY, indem er die religiösen Überzeugungen nicht retten zu können meint gegen die von der Körperwelt her vorgebrachten Beweisgründe, verwirft lieber das Dasein der Körperwelt überhaupt; und HUME, bei aller Schärfe seines Skeptizismus, lenkt doch zuletzt immer wieder zum gesunden Menschenverstand zurück und hält überdies streng am moralischen Gefühl fest. Außerdem aber regen seine skeptischen Argumente gegen die Erkenntnis des Übersinnlichen von allen Seiten die heftigsten Rückwirkungen auf und es wird von der schottischen Schule eine neue Begründung jener Erkenntnis nach einer von der scholastischen gänzlich verschiedenen Methode versucht. Sehen wir demnach von der unwesentlichen Verschiedenheit in den Formen der philosophischen Entwicklung ab, so zeigt sich: überall hatte man eingesehen oder doch gefühlt, daß die bisherige, von den Scholastikern vererbte Metaphysik auf unhaltbaren Gründen ruhe und daß daher die Resultate derselben wenigstens nicht in dieser Art festgehalten werden könnten, sondern anderweitig gestützt werden müßten. Nur in Deutschland bestand noch dieses Erbteil des Scholastizismus, als in KANTs Geist HUMEs Schriften "zuerst den dogmatischen Schlummer unterbrachen und seinen Untersuchungen im Feld der spekulativen Philosophie eine ganz andere Richtung gaben." (11) Denn wenn auch die Lehren der englischen und französischen Philosophen allerdings in Deutschland bekannt geworden waren, so hatten sie doch, als bloß aus der Fremde übertragen, nur eine schwache Wirkung ausüben können. Indem also KANT auf eine völlige Umformung der Philosophie, auf eine gänzliche Verbannung des Philosophierens aus bloßen Begriffen und auf die Anerkennung der Erfahrung, als der einzigen Grundquelle für alle menschliche Erkenntnis drang, sprach er hiermit nur, wenn auch auf eine eigentümliche Weise, dasjenige aus, was von allen denkenden Köpfen seiner Zeit schon als entschieden angesehen wurde.
Das Gleiche läßt sich ohne Schwierigkeit in Hinsicht des Positiven in der kantischen Kritik nachweisen: in Hinsicht der Aufgabe, die er sich für seine Erkenntnistheorie gestellt hatte und in Hinsicht dieser Theorie selber. Der Plan KANTs ging dahin, die Grenzen der menschlichen Erkenntnnis zu bestimmen durch eine tiefere Untersuchung der zur Erzeugung derselben zusammenwirkenden Erkenntniskräfte. Den gleichen Plan hatte vor ihm schon LOCKE entworfen und ausgeführt. Der erste Schritt, um zwischen den verschiedenen Meinungen entscheiden zu können (sagt dieser in der Einleitung zu seinem berühmten Werk), (13) muß darin bestehen,
Wir verfolgen dieses Verhältnis noch einen Schritt weiter. Die von KANT aufgestellte Erkenntnistheorie ist eine idealistische, d. h. seine Untersuchungen hatten ihn zu dem Ergebnis geführt, daß der menschlichen Erkenntnis keine metaphysische Wahrheit, keine volle Einstimmigkeit mit den Objekten zugestanden werden könne, sondern nur eine beschränkte. Ein Erkennen sei ja nur möglich auf der Grundlage gewisser Erkenntniskräfte oder Erkenntnisformen, welche, als untrennbare Bestandteile in die Erkenntnis eingehend, derselben einen gewissen subjektiv bestimmten Charakter erteilten. Unsere Erkenntnis sei also zwar eine objektiv wahre, insoweit als es doch die Dinge seien, welche, vermöge ihrer Kräfte und gemäß der Beschaffenheit derselben, unsere Erkenntnis wirken; nur in diesen Wirkungen aber seien sie für uns erkennbar, nich in ihrem inneren Sein, oder wie sie in sich selber existieren. War nun vielleicht hierin KANT mit den herrschenden Ansichten in Gegensatz und also hierdurch ihm der Weg verschlossen, über sein Vaterland hinaus auf seine Zeit einzuwirken? - Keineswegs unstreitig; vielmehr liegt auch in dieser Hinsicht sein System ganz in der Richtung der allgemeinen philosophischen Entwicklung der neueren Zeit. CARTESIUS und LOCKE, die Begründer der beiden Richtungen, welche seitdem die ganze neuere Philosophie geteilt haben, sind doch darin einstimmig, daß es ein Vorurteil sei, die Empfindungen der Farben, der Töne, des Geschmacks und Geruchs, der Wärme und Kälte, des Schmerzes usw., als auch außer dem Geiste in den Dingen existierend anzunehmen. LOCKE prägte diese Ansicht bestimmter aus in seiner berühmten Einteilung der Eigenschaften in erste oder ursprüngliche, welche als solche den Objekten zukommen und in zweite oder abgeleitete, denen in den Objekten, der Wahrheit nach, nichts weiter entspricht, als ein Vermögen, gewisse Empfindungen in uns oder gewisse Veränderungen in anderen Objekten hervorzubringen. Aber auch schon vor KANT war man hierin viel weiter gegangen und zwar in gleichem Maße in jenen beiden Hauptrichtungen und ohne irgendeine bedeutende Ausnahme. Sogar die Erkenntnistheorie des SPINOZA, welchen man gewöhnlich als den entschiedensten Realisten aufführt, hat eine augenscheinlich idealistische Grundlage. Die Wahrnehmungen von den Außendingen geben uns, nach ihm, keine adäquate Erkenntnis von denselben; vielmehr tragen sie, mit der Beschaffenheit des äußeren Körpers, zugleich auch die Beschaffenheit des menschlichen in sich; ja die letztere selbst in höherem Maß als die erstere. (14) In der LEIBNIZschen Monadenlehre sind Ausdehnung und Bewegung nur Phänomene: die Monaden, welche die einfachen Elemente alles Existierenden bilden, sind nicht ausgedehnt, indem ja die Ausdehnung nicht möglich ist ohne Zusammengesetztheit; auch ihre einfachen Perzeptionen an und für sich der Ausdehnung fremd. Diese letztere entsteht vielmehr erst aus ineinander gewirrten Perzeptionen. Der Raum ist etwas nur Relatives, nur die Ordnung des Koexistierenden, so wie die Zeit die Ordnung des Sukzessiven. - In gleicher Weise bildete sich der Idealismus auch in der anderen Hauptrichtung weiter aus. Schon BERKELEY hatte die ersten Qualitäten, in Hinsicht der Subjektivität, den zweiten ganz gleich gestellt und auch nach CONDILLAC kommt der Ausdehung, welche man doch meistenteils allen anderen Eigenschaften als Grundlage untergelegt hatte, nicht mehr wahre Objektivität zu, als den übrigen. Sie ist eine Modifikation der Seele, so wie diese. CONDILLAC macht sich selber den Einwand, man werde sagen, wenn es keine Ausdehnung gäbe, könne es auch keine Körper geben.
1) Kritik der reinen Vernunft, 6. Auflage, Seite 210 2) ebenda, Seite 54f 3) Kritik, Seite 217 4) ebenda, Seite 220f 5) ebenda, Seite 264 6) Kritik, Seite 315 7) Ebenda, Seite 257 und 288 8) Kritik Seite 539f 9) Kritik, Vorrede Seite XXIII 10) Kritik Seite 495 11) Prolegomena, Seite 13 12) Prolegomena, Seite 190f 13) JOHN LOCKE, An essay concerning human understanding, Book I, c 1., § 7 14) Vgl. SPINOZA, Ethic, part II, prop XVI, besonders Coroll II und prop. XXV 15) CONDILLAC, Traitè des sensations in den Oeuvres revues, corrigées par l'auteur etc., Paris 1798, Tome III, Seite 383 |