p-4p-4ra-2ReslWillyBergmannVariscoOesterreich    
 
WLADISLAUS SWITALSKI
Zur Analyse des Subjektbegriffs
[3/3]

Gerade die Beziehung meiner Erkenntnisse auf die Realität wie die einander vielfach durchkreuzende Verknüpfung des Idealen und Realen in mir und um mich herum hat mich zu der Überzeugung geführt, daß mein Streben nach Autonomie und zugleich nach allgemeingültiger, sachlich bedingter Erfassung des Gegebenen nur deshalb realisierbar ist, weil das absolut autonome Subjekt nicht bloß ein von uns konstruiertes Ideal, sondern der aus sich seiende, Idealität und Realität, uns und die Umwelt in gleicher Weise schöpferisch begründende Gott ist.


III. Empirisches und absolutes Subjekt

"Denn ich war ihnen überlegen, aber doch niedriger als du, Gott, und du bist die wahre Freude, wenn ich mich dir unterwerfe, so wie du unterwarfest, was du niedriger schufst als mich."
              - Augustinus, Bekenntnisse, Buch VII, Kapitel 7


Das Erkennen definierte ich eingangs als selbständiges und zugleich sachliches bedingtes Ordnen der zu erfassenden Gegenstände. Die Selbständigkeit des Erkenntnisaktes erschien mir am Besten im überempirischen Ideal des autonomen Subjekts gewahrt, und das sachlich bedingte Ordnen des Gegebenen führte uns zu unveränderlichen Ordnungssystemen (Invarianten), die allein dem nach festen Beziehungspunkten innerhalb des Variablen suchenden Blick sicher die Richtung zu weisen vermögen. So erschien mir das Erlebnis-Ich und auch das ihm zugrundeliegende empirische Subjekt in mehr als einer Hinsicht unfähig, letzter und einziger Bestimmungsgrund und Maßstab der Erkenntnis zu sein. Der Subjektivismus in seiner landläufigen Form ist hiermit gerichtet: Das jeweilige Erlebnis-Ich ist eben nur eine Phase in der Entwicklung des realen Subjekts, und dieses so sich allmählich auswirkende Subjekt selbst ist nach allen Seiten mit unzähligen Fäen an die einzelnen Wirklichkeitsordnungen geknüpft, eine Bedingtheit, die der vom Subjektivismus angemaßten Selbstherrlichkeit radikal widerspricht.

Jene idealen Beziehungspunkte allerdings, die mich in den Stand setzen, mich über die Bedingtheit zu erheben, sind selbst zunächst Gebilde des empirischen Subjekts, und es erschien mir soggar als charakteristisches Merkmal meiner geistigen Würde, daß ich das Ideal der Autonomie und die Idee des Invariantensystems selbständig konzipieren kann. Ist nun damit nicht der krasseste Subjektivismus durch eine Hinterpforte wieder hereingelassen? Um dieses schwerwiegende Bedenken zu beseitigen, muß ich genauer feststellen, was ich mit jenen apriorischen Konstruktionen eigentlich bezwecke und was unter ihrer "idealen", "überempirischen" Geltung zu verstehen ist.

Die Vergegenständlichung des zu Erforschenden, welche uns als die unerläßliche Vorbedingung des eigentlichen Erkenntnisprozesses erschien, gelingt uns umso mehr, je mehr wir uns aus den wechselnden Komplikationen der in einem steten Fluß befindlichen Erfahrung zu retten vermögen. Indem ich nun zu diesem Zweck einzelne Fäden aus dieser konkreten Verwicklung herauslöse und sie dann für sich, d. h. ohne weiteren Appell an die Erfahrung zergliedernd betrachte, gehe ich zwar von der Erfahrung aus, aber ich halte mich nicht sklavisch an ihren Verlauf, ich ziehe gleichsam die in ihr vorfindlichen Linien rein aus und erhalte so die Möglichkeit, innerhalb der Erfahrung das festzustellen, was sich lediglich aus dem uns vorliegenden Gegenstand ergibt, und was ihm durch störende Einflüsse sozusagen aufoktroyiert ist. Auf diese Weise gibt mir der Begriff des autonomen Subjekts oder auch (was dasselbe besagt) des "Bewußtseins überhaupt" Aufschluß über die wesentliche Struktur des Subjekts, und er schärft damit unseren Blick für alles, was den Subjektcharakter nicht voll zur Geltung kommen läßt. Ebenso vermittelt mir der Begriff des "reinen Raumes" - um eine gegenständliche Invariante als Beispiel anzuführen - die Einsicht in den Stetigkeitscharakter und in das Richtungsgerüst (Koordinatensystem) der Ausdehnung, so daß der ursprüngliche Wirrwarr der konkreten ausgedehnten Dinge sich auf einmal erklärt und so allmählich als übersichtliche Ordnung erscheint. Die apriorische Konstruktion, so kann ich nunmehr abschließend sagen, "stilisiert" die in der Erfahrung gegebenen Merkmale und bringt so die ihnen eigentümliche Natur uneingeschränkt zur Geltung.

Dieses "Stilisieren", das für gewöhnlich auch als "Idealisieren" bezeichnet wird, ist nun, obwohl im empirischen Einzelsubjekt unternommen, von überindividueller Geltung: Ich bin mit unmittelbarer Einsicht in den Sachverhalten gewiß, daß die von mir gefundenen apriorischen Bestimmungen von jedem, der sie nachzudenken fähig ist, in gleicher Weise entdeckt werden müssen. Meine begrifflichen Konstruktionen sind also nicht auf meine Subjektsphäre eingeengt; sie fordern und finden Anerkennung bei allen sie verstehenden Subjekten. Dieser auf den ersten Blick frappierende Charakter der Allgemeingültigkeit, der allen Idealbegriffen und Idealgesetzen zukommt, und der sich dann auch in der Konsequenz verrät, mit der diese allgemeine Gesetzlichkeit in allen Variationen der Elemente (man denke z. B. an die verschiedenartigen, von einer einheitlichen Gesetzmäßigkeit beherrschten arithmetischen Funktionen!) sich äußert, hat zu der geistvoll-paradoxen Bemerkung LICHTENBERGs (1) geführt: "Es denkt, müßte man sagen, wie man sagt: es blitzt."

Ich will diese Paradoxie zwar nicht unterschreieben, da das Denken als Subjektfunktion nach meiner Überzeugung immer auf ein Wesen zurückweist, das sich seiner "Ichheit" bewußt ist. So viel freilich muß ich LICHTENBERGs Ansicht zugeben: Das "Ich" des Denkers muß eben wegen seines allgemeingültigen, überindividuellen Charakters als "reines", von aller individuellen Beschränkung befreites "Ich" gedacht werden, als qualitätsloser Beziehungspunkt, der in allen empirischen Subjekten in gleicher Weise zur Geltung kommt und darum den auf ihn bezogenen Denkinhalten den Rang der Allgemeingültigkeit verbürgt. So ragt das Gedachte, wiewohl auf empirisch-subjektivem Boden erwachsen, seiner Bedeutung nach in ein allen Erfahrungsschwankungen entrücktes Reich hinein, das als Subjekt-Korrelat, dessen es wegen seiner Idealität vor dem Forum unseres Denkens bedarf, nicht mehr das empirische Einzel-Ich, sondern das zunächst nur abstrakt zu fassende "Ideal-Ich" fordert: Aus der exzentrischen Stellung, in der ich mich meiner individuellen Beschränktheit und Variabilität dem Wirklichkeitsganzen gegenüber befinde, erscheint mir das Weltgeschehen nur in einem lückenhaften Ausschnitt und in unübersichtlichen Komplikationen. Um diese Verwicklung zu entwirren, um die individuellen Ausschnitte zu ergänzen und die in ihrer undurchsichtigen Tatsächlichkeit uns gegenübertretenden Vorgänge auf allgemeingültige Gesetzmäßigkeiten und eindeutige Zusammenhänge zurückzuführen, beziehe ich eben meine Erkenntnisfragmente auf ein vorerst ideell konstruiertes "Bewußtsein überhaupt", das uns den absolut ruhenden Mittelpunkt allen Wissens und das ebenso festgefügte Gerust (Invariantensystem) aller Erkenntnisfunktionen repräsentiert, und dadurch wird uns die Möglichkeit geboten, "mein" Wissen von allem störenden individuellen Beiwerk zu reinigen und so mich "der" Wissenschaft anzunähern, die als das endgültige, alles erschöpfende Erkennen von seiten jenes Idealbewußtseins gedacht wird.

Genügt nun aber zur allseitigen Begründung meines auf Allgemeingültigkeit Anspruch erhebenden Erkennens das logische Postulat eines rein "idealen" Ichs, als dessen ebenfalls "ideale" Struktur eben das Invariantensyste des gesamten Wissens anzusehen wäre?

Solange man lediglich "das" Wissen und "die" Wissenschaft ins Auge faßt, liegt es nahe, mit KANT und den Neukantianern den Hinweis auf das "Bewußtsein überhaupt" und auf dessen rationale "Setzungen" als hinreichende Erklärung für die Allgemeingültigkeit der Erkenntnis anzusehen. Das Wissensgebäude ruht ja, als ideelles System, in sich selbst; der seinen Ausbau leitende Grundgedanke ist die Forderung, restlos einsichtig und streng notwendig alles Wissen aus evidenten Grundlagen abzuleiten; der Ausblick auf eine dem Erkennen vorangehende, also "denkfremde" Wirklichkeit erscheint demnach als ein den Rahmen "der" Wissenschaft sprengender Fehlschluß.

"Die" Wissenschaft ist aber eben ein Ideal. Jene restlos einsichtige, ja, eigentlich schöpferische Ableitung des Erkennens aus letzten rationalen Grundsätzen ist darum wohl ein stets uns vorschwebendes Ziel, - die Pfade, die jenem Ziel uns annähern, sind jedoch damit nicht festgelegt; sie richten sich nach "unseren" Anlagen und nach dem "uns" zur Verfügung stehenden Material.

"Unser" Wissen ist bedingt, wie wir selbst: Indem es sich auf das Erleben stützt und nur unter steter Rücksichtnahme auf dieses Erleben den in diesem sich kundgebenden gesetzmäßigen Zusammenhang nachzukonstruieren sucht, ist es selbst ein "realer" Prozeß, wie das Erleben; es "schafft" nicht die Grundlagen des Erkennens, sondern es "entdeckt" sie; es "findet" die Einzeltatsache "vor", aber es "erdichtet" sie nicht, und wenn es das so anerkannte Einzelne zu erkennen, als aus letzten Grundlagen abzuleiten sucht, so ist es sich gleichwohl der mit seiner Naturbedingtheit gegebenen Grenzen jener Ableitbarkeit wohlbewußt.

Wenn nun aber unser Forschen und Erkennen selbst in einem wechselseitig abhängigen Wirklichkeitszusammenhang steht, dann kann zu seiner vollständigen Begründung die Konstruktion eines idealen Subjekts mit einer gleichfalls lediglich idealen Struktur von gedanklichen Setzungen nicht genügen. Als realer und stetig zu realisierender Prozeß muß vielmehr unser Erkennen auch auf reale Gründe zurückgeführt werden. Sollten wir bei dem Versuch dieser Begründung nicht in jeder Hinsicht eine rationale Durchsichtigkeit erreichen, so würde dieses Hinausgeführtwerden aus den starren Schranken des idealen Wissensdomes den Vorwurf des Fehlschlusses solange nicht zureichend begründen, als wir uns auf einer soliden Erfahrungsbasis unter steter kritischer Selbstkontrolle bei unseren "Denkschritten" vorsichtig fortbewegen. Etwaige Dunkelheiten müssen wir als unausweichlichen Tribut unserer Bedingtheit betrachten!

Durch die Feststellung, daß die Allgemeingültigkeit unseres Erkennens nicht bloß ihrer idealen Bedeutung nach, sondern vor allem ihrer Realisierbarkeit nach für uns ein Problem sein muß, eröffnet sich unserem kritisch sondierenden Geistesblick gleichsam eine neue Dimension des Erkenntnisgebäudes. Drei Fragen drängen sich uns hierbei besonders auf:
    1. Woher die Harmonie zwischen unserem Wissen und dem von uns unabhängigen "für sich" existierenden und sich verändernden realen Erkenntnisgegenstand kommt?

    2. Wie kann ferner der ideale Gehalt bestimmend auf Reales einwirken?

    3. Und wenn zur befriedigenden Beantwortung dieser Fragen auf ein absolutes (nicht bloß abstraktes!), zugleich ideales und reales Subjekt (auf Gott) zurückgegriffen werden muß, - welche Folgerungen ergeben sich dann daraus für uns, die empirischen, bedingten Erkenntnissubjekte?
1. Die Harmonie zwischen Wissen und Sein, die glückliche Fügung also, die es ermöglicht, daß das seinen eigenen Gesetzen folgende Sein von der Gesetzmäßigkeit des Erkennens erfaßt werden kann, und daß aufgrund dieses Erfassens für das Sein zutreffende Vorausberechnungen des Erkenntnissubjekts möglich sind, ist das eigentliche Grundrätsel der Stellung dieses Subjekts zur Wirklichkeit. Wenn man nämlich auch eine Kluft zwischen Subjekt und Objekt nicht annimmt, wenn man sich vielmehr mit mir begnügt, Erkenntnissubjekt und reales Objekt zu unterscheiden, ohne diesen Unterschied, durchaus unbegründet, zur unüberbrückbaren Kluft zu erweitern, - wer bürgt uns doch dafür, daß das Erkenntnissubjekt mit seinen Erkenntnissen dem eigentlichen Gehalt der Wirklichkeit und seiner zum Teil noch im Schoße der Zukunft ruhenden Entwicklung gerecht zu werden vermag? Ich glaube hiermit die tiefste Wurzel des Subjektivismus bloßgelegt zu haben: Immer wieder beruft er sich auf die allzu schmale Erfahrungsbasis, von der aus wir allgemeingültige Erkenntnisse über Wirkliches und sich stetig Entwickelndes gewinnen zu können glauben. Der transzendentale Idealismus macht sich nun die Lösung dieses Rätsels verhältnismäßig leicht: indem er die Erfaßbarkeit der "Dinge ansich" leugnet, schränkt er eben die auch von ihm postulierte Allgemeingültigkeit des Erkennens auf das einsichtig in sich ruhende und durch Setzungen des Erkenntnissubjekts festgefügte Wissenssystem ein. Unter dieser Voraussetzung hat allerdings die Frage nach jener Harmonie keinen Sinn! Und doch drängt sie sich uns auf! Wir können uns deshalb - angesichts des in unserem Erleben uns unmittelbar Gegebenen - nicht mit der idealistischen Einengung der Erkenntnisbedeutung begnügen: Die Erkenntnis ist nicht bloß ein notwendig geordnetes und lückenlos einsichtig ableitbares System; eine wesentliche Aufgabe des Erkennens ist und bleibt vielmehr nach meiner Auffassung die stetig zu vervollkommnende Erfassung und Begründung des Wirklichen. Das Problem der Harmonisierung des Wissens mit dem Sein tritt auf diesem nüchternen, den Tatsachen allein entsprechenden Standpunkt schärfer denn je in den Vordergrund, und die durch dieses Problem motivierte subjektivistische Skepsis läßt sich nun endgültig nur beseitigen durch die grundsätzliche und konsequent bis ins Einzelne hinein durchgeführte Fundierung der Erkenntnisordnung einerseits und der Seinsordnung andererseits in einem beides in gleicher Weise bedingenden und normierenden Grund. Da ich nun diesen Grund bei der Analyse des Wissenssystems im "reinen" idealen Subjekt mit seiner idealen Struktur gefunden habe, so muß ich eben zum Zweck einer einheitlichen Fundierung von Wissen und Sein von der Realität jenes idealen Subjekts überzeugt sein: Der Grund für beide Ordnungen, der uns deshalb die Möglichkeit, beide Reihen einander eindeutig zuzuordnen, erklärt, ist also das absolute, real-ideale Subjekt (Gott). - Man wende demgegenüber von idealistischer Seite nicht ein, daß dieser "real-ideale" Grund doch selbst nur ein rein ideales Gebilde ist! Denn diese Idealität betrifft nur den Begriff von jenem "real-idealen" Wesen; daß ich aber diesem Gedankengebilde eine reale Bedeutung zuschreibe, beruth eben auf dem von mir oben erwähnten Wirklichkeitskriterium, wonach alles, was erlebt wird oder zur vollbefriedigenden Begründung des Erlebten erschlossen werden muß, als real anzusprechen ist. So hängt unserer Überzeugung vom Dasein Gottes letzten Endes von meinem Erleben ab, während sein Dasein selbst absolut, also von allem außerhalb von ihm selbst Liegenden unabhängig ist.

2. Die Divergenz zwischen der Idealität des Erkennens und der Realität des Seins, zwischen "intelligiblem" Gesetz und "brutaler" Tatsache ist somit prinzipiell beseitigt. Es handel sich aber bei näherem Zusehen nicht bloß um eine harmonische Zuordnung beider Reihen, sondern um die Tatsache, daß durch reale Verläufe ideale Zusammenhänge hergestellt werden, und daß andererseits ideale Gesetzmäßigkeiten bestimmend auf reale Verläufe einwirken: Wir haben jetzt nicht die stetige, sinnvolle Ordnung der Naturgesetzlichkeit im Auge, die als letzter Stützpunkt aller Erfaßbarkeit des Wirklichen eben jene harmonische Zuorddnung von Wissen und Sein grundsätzlich ermöglicht. Ich denke hier vielmehr an die von Fall zu Fall sich ändernde und sich stetig erneuernde konkrete Hervorbringung von Sinnvollem, also Idealem durch scheinbar regellos miteinander wirkende Faktoren und die eben damit gegebene Determination konkreter realer Vorgänge durch Ideales. Bereits auf dem Gebiet der Lebenserscheinungen haben wir dieses wunderbare Ineinandergreifen von Realem und Idealem zu konstatieren: Die wirkursächlichen Faktoren, die zur Entstehung und Erhaltung des Lebewesens ihren Beitrag zu liefern haben, stehen sämtlich unter der starren Gesetzmäßigkeit der anorganischen Natur; aber diese allein genügt nicht, um uns das aus der "zufälligen" Komplikation dieser Faktoren entstehende und in ihr sich erhaltende organische Gebilde in seinem immanenten Zweckzusammenhang zu erklären. Hier spielt unfraglich ein den realen Verlauf richtunggebend bestimmender idealer Faktor mit; und das Staunenswerte besteht nun darin, daß er auf dieselben realen Faktoren determinierend einwirkt, denen er die Realisierung des in ihm ideell Angelegten verdankt!

Dieselbe Beeinflussung realer Ereignisreihen durch ideale Gesetze finden wir nun auch innerhalb der Kulturentwicklung der Menschheit. Wenn wir nämlich den Kulturprozeß als die fortgesetzte Bearbeitung der Natur zur Realisierung der von Menschen selbständig gesetzten Zwecke definieren, so fällt uns auf, daß die Kulturentwicklung in einer Abfolge von Perioden verläuft, die untereinander in einer sinnvollen Abhängigkeit stehen und so trotz aller Zwischenfälle einen im Großen und Ganzen einheitlichen, logisch begreiflichen Charakter zeigen; und doch sind es, die Jahrtausende hindurch, unzählige, verschieden veranlagte und mannigfach praktisch interessierte Subjekte, die zum Teil in ganz "zufälligen" Konstellationen an der Kultivierung der Natur arbeiten! Zeigt sich darin nicht besonders deutlich die Herrschaft der Ideen, die - allerdings meist durch das Medium der empirischen Subjekte - dem realen Kulturprozeß trotz des Wechsels der Generationen einen inneren Halt und fruchtbare Triebkraft gewähren? Was man als "Logik der Tatsachen" der subjektiven Willkür gegenüberstellt, findet hier im Bereich der Kulturarbeit sein besonderes Anwendungsgebiet. Wenn wir übrigens diese "Logik der Tatsachen", die uns einen besonders deutlichen Beweis für das reale Walten eines überempirischen Subjekts zu liefern scheint, nicht bis ins Einzelne hinein verfolgen können, so liegt es eben an der Komplikation der empirischen Vorgänge, zu deren übersichtlicher Beherrschung wir als bedingte, innerhalb der Erfahrungswirklichkeit stehende Subjekte nicht die genügende Distanz gewinnen können.

Was wir im Großen in der organischen Natur und im Kulturprozeß der Menschheit vorfanden, das können wir sozusagen mit Händen greifen, wenn wir die "Kleinwelt" unseres Innenlebens betrachten: Macht es die geistige Würde unserer Natur aus, daß wir uns aus dem Strom der Erlebnisse gerade mittels der in ihnen wirkenden realen Faktoren zur Konzeption idealer Gedankengebilde aufschwingen können, so hat uns andererseits vor allem die Analyse des Ich-Begriffs (Kapitel 1) gezeigt, wie diese idealen Gebilde als wirkkräftige Ziele auf die Auswirkung und einheitliche Durchgestaltung der realen Subjektnatur Einfluß gewinnen können. Im Übrigen belehrt uns die Reflexion auf unseren realen Begriffsbildungsprozeß zur Genüge darüber, wie bedeutsam die determinierende Einwirkung idealer Gesetzmäßigkeiten auf die reale Gedankenbewegung und Gedankenverknüpfung ist. Im gewöhnlichen Leben erscheint uns freilich diese Wechselbeziehung des Idealen und Realen in unserem Innern als selbstverständlich. Sobald wir uns aber den Unterschied zwischen idealem Gelten und realem Existieren klargemacht und vergegenwärtigt haben, welche realen Faktoren bei der Erkenntnisbetätigung im Spiel sind, dann dürfte uns die Rätselhaftigkeit dieses Verhältnisses einleuchten, zumal der Einfluß des "Idealen" keineswegs ungehemmt "von selbst" erfolgt, sondern sich erst energisch durchsetzen muß. Die einfach als tatsächlich anzuerkennende Möglichkeit dieser Wechselbeziehung können wir nur aus einer ursprünglichen Veranlagung unserer Subjektnatur, die wir eben als Geistigkeit bezeichnen, verständlich machen. Diese "subjektive" Geistigkeit weist aber, wie jener "objektive" geistige Gehalt in Natur und Kultur, zurück auf das sie real begründende Wesen, das als Einheitsgrund des Idealen und Realen, der zugleich ihre Wechselwirkung ermöglicht, des Subjektcharakters nicht entraten kann. So hat auch die Beantwortung der zweiten Frage uns auf das real-ideale Subjekt (Gott) hingewiesen, das als absolute Persönlichkeit das Ideal des autonomen Subjekts in sich realisiert und als souveräner Schöpfer die empirische Realität mit idealem Gehalt erfüllt und so zur fortschreitenden Realisierung des Idealen befähigt. Der Idealismus, der die Tatsächlichkeit ignoriert, und der Positivismus, der dem idealen Gesetzescharakter des Realen nicht gerecht wird, finden ihre Überwindung in einem theozentrischen Real-Idealismus, der allein die in beiden steckenden Wahrheitskeime in originaler Weise zu einer Einheit zu verschmelzen vermag.

3. In Gott haben wir somit das absolut autonome Subjekt als Idealgrund aller Gesetzmäßigkeit und als Realgrund allen Seins gefunden. Die als Ideal uns vorschwebende Autonomie hat in Gott ihre einzig mögliche und einzig vollendete Realisierung erreicht: Nur das reale, absolut autonome Subjekt (Theonomie) erfüllt die Idee des selbständigen Gestaltens und des restlos einsichtsvollen Erkennens, weil es schöpferisch handelt und weil sein souveränes Wissen die Dinge nicht nachträglich erfaßt, sondern in ihrer Eigenart überhaupt erst begründet. Frei von jedem Schatten der Beschränktheit und Veränderlichkeit stellt dieses Subjekt den absolut unabhängigen Mittelpunkt dar, um den alles in der Wirklichkeit schwingt, weil alles von ihm in jeder Hinsicht abhängig ist. So ist Gott denn auch die Wirklichkeit in ihrer Totalität - sub specie aeterni [im Licht der Ewigkeit - wp] - gegenwärtig. Alles wird von ihm allseitig erfaßt, wie es ist; denn die Seinsordnung und die in ihr herrschende objektive Wertabstufung erhält ja vom Erkennen Gottes selbst erst ihr Fundament und ihre Norm.

Wie verhält sich nun das empirische Erkenntnissubjekt zu diesem wahrhaft autonomen, realen und alle Empirie voraussetzungslos realisierenden Subjekt? Man könnte versucht sein, angesichts der Souveränität des göttlichen Subjekts pantheistisch alle Selbständigkeit empirischer Subjekte zu leugnen und das Erkenntnisideal in einem passiven Versinken in Gottes unendliche Natur zu suchen. Jenes "es denkt" LICHTENBERGs könnte eine solche pantheistische Auffassung als Devise erwählen, da sie ja die Auslöschung aller Individualität als Endziel auch für das Denken predigt.

Es ist eine eigenartige Ironie, daß die wirklichkeitsfremde, pantheistische Überspannung des geschöpflichen Abhängigkeitsverhältnisses zu demselben Resultat führt, wie der die Gottheit ignorierende Positivismus: Für beide ist die Individualität empirischer Subjekte eine Jllusion. Wird sie im Pantheismus von der das Wesen der Wirklichkeit ausmachenden Gottheit gleichsam aufgesogen, so zerfällt sie in der Hand des Positivismus in einzelne "Gegebenheits"-elemente, aus denen sie als rein zufälliges Gebilde äußerlich zusammengesetzt sein soll!

Eine vorurteilsfreie, alles gewissenhaft berücksichtigende Betrachtung kommt nun freilich zu einem ganz anderen Ergebnis: Die Analyse des Ich-Bewußtseins vergewisserte uns ja, daß "ich" der Brennpunkt für alle Strahlen bin, die von außen auf "mich" einwirken, und daß "ich" nach Maßgabe meiner Entwicklung alles in mir Vorfindliche selbständig organisiere, so daß "ich" eine "Welt für mich" habe, ein Reich von Erlebnissen, dessen Beherrscher "ich selbst" bin, und dessen Grundgesetz in dem von mir in mir selbst entdeckten idealen Invariantensystem besteht. Die Bausteine zu dieser "Welt für mich" stammen freilich letzten Endes von der Umwelt, der Wirklichkeitsordnung, als deren Glieder wir uns selbst erkannt haben, aber "ich" bin es doch, der diese Bausteine zu einem Ganzen fügt und so u. a. auch einen möglichst getreuen Begriff von der Wirklichkeit (d. h. ihre Erkenntnis) anstrebt. Und so wie "ich", so bauen alle empirischen Subjekte, deren Existenz uns die kritische Umschau in der Erlebnissphäre bezeugte, ihre eigene Welt auf.

An der Selbständigkeit der empirischen Subjekte ist demnach nicht zu zweifeln, wenn wir auch Gelegenheit hatten, uns wiederholt von der Relativität dieser Selbständigkeit zu überzeugen.

Diese relative Selbständigkeit der empirischen Subjekte, die unseren positiven Eigenwert bildet, ist nun bei der Bestimmung unseres Verhältnisses zu Gott nicht außer acht zu lassen. Kann sie als Selbständigkeit "von Gottes Gnaden" die Absolutheit Gottes in keiner Weise beeinträchtigen, so wird andererseits die durch sie gegebene "Spannung" zwischen unserer Subjektivität und Gottes Persönlichkeit wie für die Auswirkung unseres gesamten geistigen Lebens, so besonders für den Ausbau unseres Erkenntnissystems von weittragender Bedeutung sein. In genialer Weise hat AUGUSTINUS dem einzigartigen Wert dieser grandiosen "Gewölbespannung" unseres Wissensgebäudes, wie überhaupt unserer gesamten Lebensführung einen prägnanten Ausdruck am Anfang seine Soliloquien verliehen: Deum et animam scire cupio. Nihilne plus? Nihil omnino! [Gott und die Seele möchte ich kennen lernen, nichts mehr, überhaupt nichts mehr. - wp]

Die Lösung des Erkenntnisrätsels besteht somit nicht in einer pantheistisch-mystischen Aufhebung dieser von Gott selbst gewollten "Spannung", sondern in der Normierung ihrer "Spannweite" nach objektiven Wertmaßstäben d. h. aber nach Gesetzen, die in Gott, dem absolut autonomen Subjekt selbst, ihre zureichende Begründung finden.

Das empirische Erkenntnissubjekt verhält sich zum absoluten Subjekt wie der Planet zur Sonne, um die er kreist. Wie bei diesem, soll er seine Bahn beschreiben, die Zentrifugal- und Zentripetalkraft, die beide aus der Rotation der Sonne und aus der von ihr ausgeübten Anziehung herstammen, sich die Waage halten müssen, so kann das empirische Subjekt seine Erkenntnisfunktion nur dann in normaler Weise ausüben, wenn die Zentrifugalkraft des Strebens nach Autonomie, nach selbständiger Gestaltung des Erkenntnisstoffes, sich harmonisch verknüpft mit der Zentripetalkraft der Einordnung der eigenen relativen Autonomie in die absolute theonome Ordnung, unserer Wahrheitserkenntnis in die "Wahrheit ansich".

Was für den transzendentalen Idealisten ein unlösbares Rätsel bleiben muß, die Naturgebundenheit der empirischen Subjekte und die daraus sich ergebenden Verkürzungen und Überschneidungen, die Lücken, Dunkelheiten und Widersprüche der subjektiven Weltbilder, das alles erhält vom Standpunkt unserer theozentrischen Weltauffassung seine vollgültige Begründung. Wie vom Planeten aus - seiner exzentrischen Stellung gemäß - das Sonnensystem eine fragmentarische, unübersichtliche Form gewinnt, während es von der es einheitlich beherrschenden Sonne aus in seiner "wirklichen" Gestalt sich zeigt, so ist es nur natürlich, daß vom Standpunkt des empirischen Subjekts aus die gesamte Wirklichkeit nicht in ihrer eigentlichen Seins- und Wertabstufung, sondern wegen des unverhältnismäßigen Hervortretens des Nahen und uns besonders Angehenden gegenüber dem ungebührlich vernachlässigten und verdrängten, objektiv vielleicht wichtigeren "Fernen" in einem "verzerrten", dunklen und lückenhaften Charakter erscheint. Nicht in der Wirklichkeit als solcher sind ja diese Lücken und Dunkelheiten begründet, sondern in unserer individuellen Stellung zur Wirklichkeit. Wenn es uns deshalb auch nicht gelingt, den letzten Schleier von den Welträtseln zu lüften, so finden wir doch unsere intellektuelle Befriedigung in der Gewißheit, daß diese Schleier nur für unser relatives Erkennen bestehen, und daß ein Strom schattenlosen Lichts vom absolut autonomen Subjekt aus die ganze Wirklichkeit durchflutet (vgl. Augustinus, Bekenntnisse I, 6: "Was kümmert es mich, wenn es jemand nicht begreifen sollte? ... möge er dich lieber finden, indem er dich nicht findet, als daß er dich nicht finde, indem er (hochmütig) dich gefunden zu haben wähnt.".

So findet das empirische, von Unruhen und Zweifeln zerquälte, an den Schranken seiner Relativität und Variabilität rüttelnde Subjekt einen absolut festen Stützpunkt in der Überzeugung vom Dasein Gottes, des absolut autonomen Subjekts. Nicht ein bloßes Postulat, nicht die Idee des "Bewußtseins überhaupt" dient nunmehr seinem Forschen als überindividuelles Orientierungsmittel; er hat eine weit festere Basis gefunden, von der aus er wieder Vertrauen zur realen Geltung idealer Gesetze und Zuversicht zu einer, wenn auch nur allmählich fortschreitenden Erfaßbarkeit des Realen gewinnen kann. Nun vermag er auch an der ihm allein erreichbaren Autonomie erfolgreich zu arbeiten. Die Richtung des empirischen Subjekts auf das absolut autonome Subjekt erdrückt nicht die eigene Selbständigkeit; sie fördert sie vielmehr, weil nur durch eine immer vollkommenere Auswirkung dieser Selbständigkeit und durch die damit gegebene Überwindung aller Hemmnisse ihrer Betätigung die objektiv geforderte normale Beziehung zwischen dem positiv Wertvollen in uns und Gott, dem Begründer aller Werte, hergestellt werden kann. Indem wir in uns das Pflichtgefühl erleben, unser fragmentarisches Erkennen immer besser mit der "Wahrheit ansich" in Einklang zu bringen, läutert sich unser Wahrheitssinn, und es erstarkt in uns die Spannkraft, allen Enttäuschungen zum Trotz durch die Entfaltung der in uns schlummernden Kräfte an der erkenntnismäßigen Bewältigung und Beherrschung der Wirklichkeit zu arbeiten. Wir entfalten und behaupten somit unser "Selbst" (unsere Subjektivität), wenn wir in vertrauensvoller Unterordnung unter das göttliche Wahrheitsideal dem Strom der Erlebnisse, der uns unbarmherzig fortzuspülen droht, uns entgegenstemmen.

Aber dieses "Selbst" darf nicht einer Phase der Subjektentwicklung gleichgesetzt werden. Unsere Subjektivität soll ja, das wissen wir schon, von allen Zufälligkeiten der Veränderlichkeit befreit werden. Nicht auf die Einzelphase kommt es an; sie muß überwunden werden; insofern ist also Selbstverleugnung Pflicht des Subjekts: Was sorgfältig bewahrt und rein zur Geltung gebracht werden muß, ist vielmehr das einheitliche, unsere individuelle Subjektnatur konkret durchwaltende Gesetz, und dieses "Selbst" kann in seiner Einheitlichkeit und Konsequenz nur behauptet werden, wenn es sich an das absolut einheitliche und unveränderliche Subjekt anschließt: nur so vermag unsere Subjektivität alle in der Empirie scheinbar unabhaltsam auseinanderstrebenden Momente energisch zusammenzuhalten und selbständig zu organisieren. Dieses Organisieren ist aber die eigentliche autonome Funktion. der Imperativ "Crede ut intelligas" [Glauben durch Wissen - wp] gilt für alle Gebiete unseres Wissens. Das einfache Hinnehmen ist ein Notbehelf, zum Teil ein unentbehrlicher Notbehelf, da die Schranken unserer Natur ein allseitiges, selbständiges Aneignen uns unmöglich machen. Aber immerhin bleibt bestehen, daß eigentlich gewußt nur dasa wird, was auf eine selbständige, einsichtige Weise aus letzten Gründen abgeleitet ist. So ist das seiner Schranken sich bewußte Streben nach kritisch fundierter, autonomer Gewißheit keine Auflehung gegen das absolut autonome Subjekt, sondern die einzig unserer Subjektnatur entsprechende Ausprägung seines Ebenbildes! Je mehr wir unsere Einheitlichkeit wahren, und je mehr sie bis ins Einzelne unserer Überzeugungen hinein zur Geltung kommt, umso mehr gelingt uns auch die als Erkenntnisziel uns ständig vorschwebende Anpassung an die absolute Wahrheit!

Einheitlichkeit bedeutet aber nicht Einseitigkeit. Wer ehrlich vom Dasein und Walten Gottes überzeugt ist, der fühlt in sich nicht das Bedürfnis, sich engherzig vor der Durchforschung der Wirlichkeitsfülle zu verschließen. Er weiß ja, daß etwaige Schwierigkeiten seinem eigenen beschränkten Erfassen und der Schwäche seiner selbständigen Gestaltungskraft, nicht aber einer objektiv unauflösbaren Disharmonie, die eine schwerwiegende Instanz gegen Gottes Allmacht und Weisheit wäre, zuzuschreiben sind. Wer darum als Theist bei seinem Forschen absichtlich Schwierigkeiten, die sich ihm entgegenstellen, aus dem Weg geht und das von ihm Erforschte allzu einfach darstellt, handelt nicht nur unehrlich; er erweist vielmehr seiner Weltanschauung einen schlechten Dienst, ja, er verrät sie eigentlich, indem er mit ihrem Deckmantel die Blöße seiner subjektiven Beschränktheit zu verhüllen sucht.

Selbständig errungene Einheitlichkeit führt zugleich zur Schlichtheit: Mit seinem Wissen zu prunken, vermag nur der, dem es nichts mehr als äußerer Prunk und Schmuck bedeutet. Wer dagege an der selbständigen Durchdringung des Wissensstoffes unermüdlich arbeitet und dabei neben dem Errungenen stets neue Rätsel und Dunkelheiten mit Ehrfurchtsschauern erschaut, der vergißt über der zu erforschenden Wahrheit sich selbst. Nicht wie etwas gesagt wird, sondern was gesagt wird erscheint nunmehr als das Wichtigste, und dieses "Was", dieser Wesenskern leuchtet als Einheitsgrund des Mannigfaltigen am Klarsten hervor im einfachsten Gewand, wie ja auch Gottes Werke, soweit wir sie zu würdigen wissen, uns durch ihre majestitische Einfachheit ergreifen. Simplex sigillum veri! [Einfach ist das Siegel des Wahren. - wp]


Eben wegen der Selbstvergessenheit wird die Schlichtheit, in der wir den Gipfel der Selbstvollendung erblicken, zur unbedingten Sachlichkeit. Wenn nämlich auch das Erkennen nach unserer Überzeugung eine Subjektfunktion ist und bleibt, so sahen wir doch bereits ein, daß es als sachlich bedingtes Erfassen von aller empirisch-subjektiven Verfälschung sich befreien muß. Diese Loslösung ist aber erreicht, sobald wir gelernt haben, im Hinblick auf die "Wahrheit ansich" unsere "materielle Ich-Komponente", sofern sie die Forschung stören konnte, außer Kraft zu setzen, uns so selbst zu vergessen und mit unserer derart geläuterten Subjektivität uns ganz in die zu erforschende Sache selbst zu versenken. Reine Subjektivität ist in diesem Sinne zugleich reine Sachlichkeit, während ein Untergehen im Sachlichen ohne Wahrung der subjektiv-synthetischen Funktion uns nie zur vollen Würdigung des Sachlichen also zu seiner Erkenntnis führen kann, weil wir dann unbarmherzig von der verwirrenden Fülle des Sachlichen erdrückt werden. Aber "reine Subjektivität" (Autonomie) oder, was dasselbe ist, "reine Sachlichkeit" muß wegen unserer realen Variabilität ständig von Neuen errungen werden. Wiederum dient die Theonomie für diesen Kampf nicht nur als unwandelbarer Richtpunkt, sondern auch als untrügliche Bürgschaft unseres Sieges (vgl. Augustinus, Bekenntnisse, I, 20: ... und sie werden zunehmen [deine Gaben] und was du mir gabst, wird vollendet werden, ich selbst werde mit dir sein, denn auch das Dasein hast du mir gegeben.)


"Ab uno te (Deus) aversus, in multa evanui."
[... da ich von dir, dem Einen, abgewandt, mich in die Vielheit verlor.] - Augustinus, Bekenntnisse II, 1


Subjektivität uns Autonomie gegeneinander abzuwägen und in das rechte Verhältnis zueinander zu setzen, bildete die eigentliche Aufgabe meiner Studie. Wenn ich hierbei meine Aufmerksamkeit auf das Erkenntnisgebiet konzentrierte, obwohl ansich jede wertende Stellungnahme des Subjekts an diesem Problem beteiligt ist, so geschah es deshalb, um auf einem uns geläufigen Gebiet und zugleich, wie es uns scheint, an einem klassischen Beispiel die eigentümliche Problemverschlingung darzustellen und kritisch zu analysieren. Ich glaube nun nachgewiesen zu haben, daß die eigenartige Mittelstellung des empirischen Subjekts zwischen vorgefundener Naturgebundenheit und selbständiger Geistigkeit eine uneingeschränkte Gleichsetzung unserer im "Ich" sich kundtuenden Subjektivität mit der Autonomie verwehrt. Nur durch Selbstüberwindung d. h. durch die Loslösung von allem empirisch Variablen in uns gelangen wir zur Erstarkung unserer Selbständigkeit, also zur allmählich fortschreitenden Annäherung an das Ideal der Autonomie. (siehe Kapitel I)

Diese Vollendung des eigenen "Selbst" wird aber dadurch erschwert, daß wir nicht bloß Beobachter, sondern Glieder des Wirklichkeitszusammenhangs sind. Im Wirken und Leiden haben wir zur Umwelt Stellung zu nehmen und in diesem Ringen mit ihr unsere Subjektnatur zu entfalten. Diese Variabilität der einzelnen Wirklichkeitsreihen, zu denen auch unsere Subjektivität im Allgemeinen und unser Erkenntnisprozeß im Besonderen gehört, steigert die Komplikation unserer Erkenntnis, die eine allseitige, eindeutige Zuordnung ihrer selbst zu den übrigen Wirklichkeitsreihen anzustreben hat. Vom Versinken im Strom des wirklichen Geschehens sucht sich nun das empirische Subjekt zu retten, indem es vermöge der in ihm erwachenden und erstarkenden Selbständigkeit (Autonomie) ein ideales Invariantensystem zum Zweck der Fixierung der einzelnen Reihen und ihrer Beziehung zueinander konstruiert (Kapitel II)

Das Ideal des autonomen Subjekts mit dieser Struktur eines apriorischen, aller Erfahrung zugrunde liegenden Invariantensystems reicht aber als solches nicht aus, um alle Rätsel des Erkenntnisproblems, die aus dem Gegensatz unserer Subjektivität zu den von uns unabhängigen Erkenntnisobjekten sich ergeben, zu beseitigen. Gerade die Beziehung meiner Erkenntnisse auf die Realität wie die einander vielfach durchkreuzende Verknüpfung des Idealen und Realen in mir und um mich herum hat mich zu der Überzeugung geführt, daß mein Streben nach Autonomie und zugleich nach allgemeingültiger, sachlich bedingter Erfassung des Gegebenen nur deshalb realisierbar ist, weil das absolut autonome Subjekt nicht bloß ein von uns konstruiertes Ideal, sondern der aus sich seiende, Idealität und Realität, uns und die Umwelt in gleicher Weise schöpferisch begründende Gott ist. Für das empirische Subjekt ergab sich aus dieser Erkenntnis und der in ihr gesetzten Spannung zwischen dem empirischen und dem absoluten Subjekt erst die vollgültige, unausgesetzt uns anregende und antreibende, ethisch-religiöse Verpflichtung, aus der uns zersplitternden Vielheit des Erfahrungslebens zur Einheit einer in Gott begründeten Weltansicht vorzudringen und so unsere Wahrheitserkenntnis immer mehr vom Dunkel der Empirie zu befreien, indem wir auf sie das Licht der "Wahrheit ansich" wirken lassen (Kapitel III).

Die Etappen dieses Vollendungsprozesses unserer Subjektivität und ihrer Umwandlung in die uns erreichbare Autonomie können wir zum Schluß in die Formeln zusammenfassen: Selbstüberwindung zum Zweck der Selbstvollendung! Selbstentfaltung, nicht Selbstvernichtung! Selbstentfaltung durch Selbstbehauptung! Selbstbehauptung durch selbstgewollte Unterordnung unter das absolut autonome Subjekt! Selbstvollendung als Bürgschaft vollendeter Sachlichkeit!


Noli foras ire, in te redi, in interiore homine habitat veritas, et si animam mutabilem inveneris, transcende te ipsum!
[Geh nicht nach außen, zu dir selbst kehre zurück; im inneren Menschen wohnt die Wahrheit. Und wenn du deine Natur als veränderlich wahrnimmst, übersteige dich selbst.]
Augustinus, De vera religione 72
LITERATUR - Wladislaus Switalski, Probleme der Erkenntnis, Gesammelte Vorträge und Abhandlungen II, Münster in Westfalen 1923