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ERNST von ASTER
Realismus und Positivismus

"Die einzige unbestreitbare Grundlage aller empirischen Wissenschaften ist die Bewußtseinswirklichkeit nur insofern, als sie das  Material  darstellt, vor dem alle empirische Forschung ausgeht. Für sich allein aber kann sie keine Wissenschaft zustande bringen. Erkenntnis, wie sie schon in den einfachsten Urteilen einer Erfahrungswissenschaft niedergelegt ist, läßt sich nicht restlos und adäquat auf Bestandteile jener Wirklichkeit zurückführen, sondern hängt nur irgendwie von ihr ab."

"Das Reale ist der  gedachte Grund  des Gegebenen und seiner Zusammenhänge."

"Wenn wir von zwei Gegenständen sagen, sie  seien  gleich oder verschieden, so bezieht sich dieses Urteil nicht auf gegebene Inhalte als solche - diese Inhalte können als gleich oder verschieden erlebt werden, aber sie können es nicht  sein  - sondern auf  Dinge,  die als  dieselben  Dinge unter verschiedenen Bedingungen betrachtet werden."



Die Erkenntnistheorie, die sich in enger Berührung mit der mathematischen Physik auf der einen Seite, unter Rückgang auf Kantische Ideen auf der anderen Seite in den 90 Jahren des vergangenen Jahrhunderts etwa entwickelte, war vorwiegend positivistisch und idealistisch. Heute sind wir offenbar in einer nicht unbedeutenden entgegengesetzten, realistischen Strömung, der auch eine Reihe von bedeutenden Physiker nahe steht (PLANCK u. a.), obgleich die an MACH und KIRCHHOFF sich knüpfenden phänomenalistische Tradition in der Physik keineswegs erloschen ist. In der philosophischen Literatur hat diese realistische Erkenntnistheorie ihre hervorragendsten Vertreter in VOLKELT und KÜLPE gefunden, zugleich spinnen sich Fäden zwischen ihr und der Phänomenologenschule. Letzteres aus naheliegenden Gründen, obgleich HUSSERL selbst in der bekannten Abhandlung im 1. Band des phänomenologischen Jahrbuchs sich bezüglich der Körperwelt aufgrund einer scharfsinnigen Analyse auf einen idealistischen Standpunkt stellt (der Körper ist wesensgesetzlich auf ein ihn in abschattenden Wahrnehmungen erfassendes Bewußtsein bezogen): Wenn der Realismus möglich sein soll, so muß er voraussetzen, daß es nicht nur "Bewußtsein inhalte"  gibt, sondern auch  Gegenstände für  ein Bewußtsein; oder daß Bewußtsein, Wissen, nicht ein abstraktes  Merkmal  von Inhalten, von LOCKEschen Ideen, sondern ein intentionales  Bezogensein  auf Gegenstände ist, welche Gegenstände danach prinzipiell auch ohne diese Beziehung zu einer solchen Intention als seiend gedacht werden können, während eine "Idee" LOCKEs oder BERKELEYs nicht ohne das Merkmal des Bewußt(=Idee)seins denkbar ist. Daß Bewußtsein ein intentionaler Akt ist, ist ja aber die Grundbehauptung der Phänomenologie.

Die Absicht der folgenden Ausführungen nun ist es, die Hauptargumente, in denen die Widerlegung des Phänomenalismus durch VOLKELT und KÜLPE zu gipfeln scheint, hervorzuheben und die Frage zu erörtern, ob sie als Widerlegung einer positivistischen Erkenntnistheorie wirklich zwingend sind. Die These der positivistischen Erkenntnistheorie fasse ich kurz in den Satz zusammen: Jeder Versuch, uns endgültig und letztlich die Gegenstände, von denen wir überhaupt handeln, die wir denken können, inhaltlich oder sachlich vorzustellen, also sie nicht nur in leeren Worten zu bezeichnen, endet in der Vorstellung von Inhalten, die wir nur  als  Inhalte eines individuellen Bewußtseinslebens vorzustellen vermögen. Alle Worte, die nicht solche Inhalte bezeichnen, sind bei genauerer Betrachtung "leer", d. h. ihre Beziehung auf Gegenstände, die sie bezeichnen oder benennen sollen, ist fiktiv. Ich füge jedoch ausdrücklich hinzu, daß der genaue Sinn dieser These sich erst in der folgenden Begründung derselben ergeben muß.

In drei Hauptargumente scheint sich mir die Kritik VOLKELTs und KÜLPEs zusammenzufassen. Das erste betrifft den Begriff des  Gegebenen den der Positivismus vorauszusetzen genötigt ist. Das, was der Positivist als "gegeben" und damit als im eigentlichen Sinn als existierend annehme und annehmen müsse, sei selbst schon das Resultat einer gedanklichen Verarbeitung und keineswegs die unmittelbare Bewußtseinswirklichkeit, es sei selbst ein  Reales,  realiter existierende Ideen, die da sind auch ohne daß sie gedacht werden. "Die einzige unbestreitbare Grundlage aller empirischen Wissenschaften ist die Bewußtseinswirklichkeit nur insofern, als sie das  Material  darstellt, von dem alle empirische Forschung ausgeht. Für sich allein aber kann sie keine Wissenschaft zustande bringen. Erkenntnis, wie sie schon in den einfachsten Urteilen einer Erfahrungswissenschaft niedergelegt ist, läßt sich nicht restlos und adäquat auf Bestandteile jener Wirklichkeit zurückführen, sondern hängt nur irgendwie von ihr ab. Die Methoden der Forschung zeigen gleichfalls in ihrer ungeheuren Mannigfaltigkeit, daß sehr verschiedene Operationen eingeschlagen werden, um das Gegebene zu einem Besitz der Wissenschaft zu machen. Alle diese Operationen gehören somit auch zu den Grundlagen der empirischen Wissenschaften. Ohne Beobachtung, ohne Schlüsse, ohne Abstraktion und Kombination, ohne Analyse und Kritik sind die Bewußtseinstatsachen für die Realwissenschaften unverwendbar. Diese Operationen führen alsbald zu  Gegenständen."

Nebenbei bemerkt: KÜLPE berührt sich in diesem Gedankengang mit dem Neukantianismus Marburger Richtung. Auch er anerkennt ja kein Gegebenes im Sinn des Positivismus, sondern nimmt das "Gegebene" selbst als Produkt eines objektivierenden Erkenntnisprozesses, an dessen Anfang kein für sich faßbares Gegebenes, sondern ein hypothetisches "Aufgegebenes" steht und der in geradliniger Fortsetzung gleichsam von "gegebenen" "Dies" zum beharrlichen Ding und weiter zum gültigen Naturgesetz führt. Der obigen Kritik KÜLPEs würde sich also auch der Neukantianismus anschließen, nur daß für ihn "gegebener" Wahrnehmungsinhalt und "reales" Ding nur  als  Produkte jenes Objektivationsprozesses gedacht werden können (das Denken ein  Schaffen  von Gegenständen ist), während für KÜLPE der Realisierungsprozeß ein Reflexionsprozeß ist, der aus der unmittelbaren Erfahrung fixierbare Inhalte herausschält, die dann aber als "real" auch unabhängig vom Realisierungsprozeß selbst gedacht werden.

Mit dieser  Kritik des Gegebenheitsbegriffs  hängt ein zweites Argument eng zusammen, das ich als  Kritik des Immanenz- gedankens  bezeichne. Ist alle Existenz eine Existenz unmittelbar gegebener Inhalte im Bewußtsein und alles Hinausgehen des Denkens und Erkennens über diese Inhalte unmöglich, so ist der Solipsismus, ja noch mehr: der Jllusionismus in Bezug auf die eigene Erinnerung und Erwartung die notwendige Konsequenz. Fremdes Bewußtsein, eigene Vergangenheit und Zukunft sind meinem Augenblicksbewußtsein transzendente Realitäten, werden also mit aller Transzendenz zugleich aufgehoben.

Endlich das 3. Hauptargument: Das menschliche Denken ist zur Setzung von Realitäten gezwungen, weil ohnedem nur ein zusammenhangloses, lückenhaftes, gesetzloses Chaos als "Wirklichkeit" übrig bliebe. Auch nach dem Realismus soll die Wissenschaft die  Gesetze  der "Inhalte" entdecken, aber die Inhalte des Bewußtseins rein als solche genommen sind gar nicht gesetzmäßig, sondern werden es für unser Bewußtsein erst, wenn wir sie in eine sie weit überragende reale Welt gleichsam einbauen.

Der erste Einwand kann und muß zum Anlaß dienen, den Begriff des "Gegebenen" genauer zu fixieren. Wir stellen zu diesem Zweck zunächst das Gegebene dem nur symbolisch, dem nur in Wortbedeutung Gemeinten gegenüber. Ich kann einmal von einem Gegenstand nur  sprechen,  ihn nur  nennen,  ein anderes Mal ihn  selbst  vor Augen haben. Ein Gegenstand kann gegenwärtig - selbstgegeben - ohne genannt, er kann genannt ohne gegeben, er kann endlich zugleich genannt und gegeben sein, d. h. das gebrauchte Wortsymbol kann sich nennend auf ein "Gegebenes", Selbstgegenwärtiges beziehen. Im letzteren Fall ist uns der Anlaß gegeben, eben das mit dem Wort (oder der Wortverbindung)  x  Gemeinte als "gegeben" oder als das "Gegebene" als eben das mit dem Wort  x  "Gemeinte", als seinen Sinn zu bezeichnen.

Bei jedem Wort können und müssen wir nach seiner Bedeutung fragen. Eben diese Frage verlangt letzten Endes, den Gegenstand  selbst  an die Stelle des ihn vertretenden  Symbols  zu setzen, verlangt also ein Nebeneinander von Wort und  gegebenem  Gegenstand, der durch das Wort benannt wird. Umgekehrt: setze ich zu einem Gegebenen ein sprachliches Symbol in diese Beziehung, die das Symbol zum Namen des Gegebenen macht, so ist dieses sprachliche Symbol damit seiner Bedeutung nach für mich eindeutig festgelegt.

Das Gesagte bedarf nun einer doppelten Ergänzung. Ich  sehe  einmal eine Farbe, ein anderes Mal  nenne  ich sie nur, ein drittes Mal  erinnere  ich mich ihrer, erwarte sie, stelle sie vor. Das Erinnerungs- oder Phantasiebild, das ich in diesem Fall vor mir habe, ist wie das Wort etwas, mit dem ein anderes (im Erinnerungsbild das früher Dagewesene) gemeint ist, also ein Symbol, das eine Bedeutung hat, aber es ist kein künstliches und vertretendes Symbol, wie das Wort, sondern ein natürliches und darstellendes Symbol, ein Symbol, durch das das damit Gemeinte eben nicht  nur  symbolisch gemeint, sondern  "mittelbar gegeben"  ist. Diese Bezeichnungen, die ich im Wesentlichen der Erkenntnistheorie von HANS CORNELIUS entnehme, bedürfen wohl keiner näheren Erläuterung. Zweitens: Gegenstände können nur symbolisch gemeint, sie können unmittelbar und mittelbar gegeben, sie können endlich noch  durch ihre Relationen zu anderen Gegenständen bestimmt sein. Ich denke einen Gegenstand  x,  der einem anderen, mittelbar oder unmittelbar gegebenen  a  zeitlich folgt oder ich denke einen Gegenstand  x,  der einem gegebenen  a  ähnlich oder von ihm verschieden sein soll. Was ich mir hier bewußt vergegenwärtige, ist das  a  mit einer sich an dasselbe schließenden,  in einem zweiten Glied Erfüllung verlangenden Relation,  ich meine einen Gegenstand, der diese Relation erfüllen oder zu dem der vom  a  ausgehende Relationsschritt führen würde. Dieser letzte Fall steht in gewisser Weise zwischen dem des bloß symbolischen Meinens und dem des mittelbaren Vorstellens. Mittelbar (oder unmittelbar ) vorgestellt ist das  a und  die Relation, der Schritt, wie ich es eben nannte, um es im Beispiel zu sagen: das sich abheben und in Gegensatz treten und wiederum das sich einfügen und gleichmäßige Fortgleiten des Bewußtseins, das ich erlebe, wenn ich von einem Gegenstand einmal zu einem verschiedenen, ein anderes Mal zu einem ähnlichen übergehe. Der Gegenstand selbst aber, zu dem dieser Schritt führt, ist nur genannt oder symbolisch gemeint. Die Relationen selbst aber zerfallen wieder in zwei Gruppen, nämlich solche, die zu einem Vorstellen des gedachten Gegenstandes hinführen können und solche, bei denen das nicht der Fall ist. Weiß ich, der gemeinte Gegenstand  x  ist einem mir bekannten  a  gleich oder doppelt so groß, als  a  (und im übrigen  a  gleich), so ist mir in dieser Bestimmung zugleich die Möglichkeit,  x  vorzustellen oder mir mittelbar, in einem Phantasiebild zur Gegebenheit zu bringen geboten; dagegen bietet mir die Bestimmung des  x  als eines dem  a  zeitlich folgenden oder voraufgehenden keine solche Möglichkeit.

Wir haben also zu unterscheiden: das unmittelbare oder Selbstgegebensein, das mittelbare (durch ein darstellendes Vorstellungsbild) Gegebensein eines Gegenstandes, das denkende Bestimmen (durch Relationen) und das nur symbolische Meinen desselben. Die Frage nach dem "Was" eines Gegenstandes findet sozusagen ihre endgültig befriedigende Antwort erst im Selbstgegebensein, alle anderen Formen der Vergegenwärtigung sind eine Vergegenwärtigung durch  Mittel,  also durch  Symbole,  die schließlich auf ein Selbstgegebenes zurück-, (oder vor-) weisen. Ein scharfer und wesentlicher Unterschied aber besteht zwischen denjenigen Mitteln oder Symbolen, die, weil sie den betreffenden Gegenstand direkt (Vorstellungsbild) oder indirekt (Gleichheits-, mathematische Ähnlichkeitsrelation) zur Darstellung bringen, geeignet sind, ihn kennen zu lernen und denjenigen, die nur auf ihn hinweisen oder ihn vertreten (bloße äußerliche Zusammenhangsrelationen, Wortsymbol). Man kann hier noch die Frage stellen, ob nicht auch der Gegenstand, den wir nur symbolisch, durch ein Wort meinen, von uns "gedacht", wenn auch "unanschaulich" gedacht sei. In ganz bestimmtem Sinn ist das zuzugeben, wir können nämlich den Fall des nur symbolischen Meinens unter den des durch Relationen bestimmenden Denkens einreihen. sei. Der Gegenstand "A" ist dann eben von uns bestimmt als der Gegenstand, der zum Wort  A  in der bekannten Beziehung des durch  A  benanntseins steht oder als der Gegenstand, dem das Wort  A  in der Weise seines Namens (Eigennamens) aufliegt. Es ist indessen ohne weiteres klar, daß die Beziehung, durch die der Gegenstand hier gedacht wird, keine darstellende oder zu einer solchen führende Beziehung ist. Wir wissen bei einem Wort, das wir "sinnvoll", d. h. in der Überzeugung, daß ihm ein Sinn zukommt, gebrauchen, nicht einmal, ob es einen solchen Gegenstand wirklich gibt. Wir brauchen Worte, glauben einen Sinn damit zu verbinden und merken erst nachträglich, daß das gebrauchte Wort völlig inhaltsleer für uns war.

Dem "Selbstgegebenen" stehen die verschiedenen Formen des "Gemeinten" gegenüber, dem nur Gemeinten die verschiedenen Formen des mittelbar und unmittelbar Gegebenen. Nun gründet im Unterschied des Gegebenen und Gemeinten noch eine wichtige Beziehung. Ich stelle etwas vor, dessen Eintritt ich erwarte und jetzt tritt das Erwartete ein und zwar so, wie ich es erwartete. Meine Erwartung "erfüllt" sich. Dann habe ich das Bewußtsein, daß das von mir Erwartete  eben dasselbe  ist, das ich jetzt wahrnehme, das Bewußtsein einer  Identität Identisch ist das jetzt Selbstgegebene und - nicht mein Vorstellungsbild, aber - das im Vorstellungsbild Gemeinte und eben diese Identität erlebe ich im Zusammenfallen, dem zur Deckung kommen der Vorstellungsintention und des selbstgegebenen Gegenstandes. Ebenso: ich suche unter einer Gruppe von Gegenständen einen bestimmten, der einem vorgegebenen Gegenstand gleich sein soll; habe ich ihn gefunden, so habe ich das Bewußtsein, es sei  eben derselbe,  den ich suche; die intendierende Relation erfüllt sich in jenem Inhalt. Endlich: das Wort fügt sich als Name einem selbstgegebenen Gegenstand an; auch hier besteht Identität, der Gegenstand ist eben dasselbe, wie das im Wort Gemeinte. Identität ist uns da und nur da gegeben, wo wie in allen diesen Fällen eine  Intention  sich in einem Inhalt  erfüllt. Es wird auf diesen Punkt noch zurückzukommen sein.

Alle Erkenntnis muß ausgehen vom "Gegebenen" - diese Forderung bedeutet nach dem Ausgeführten nichts anderes, als: alle Erkenntnis darf nicht ausgehen von Worten, sondern vom mittelbar oder unmittelbar zur Gegebenheit gebrachten Sinn der Worte.

Fassen wir noch einmal zusammen: was ein  "gegebener"  Tatbestand ist, erkennen wir, wenn wir uns eine gesehene Farbe und Form, einen gehörten Ton, ein erlebtes Gefühl vergegenwärtigen und auf das Gemeinsame dieser Dinge achten im Unterschied zum Fall, daß wir von den genannten Tatsachen nur sprechen. Diese Festlegung des Begriffs "gegeben" ist ganz analog derjenigen Art, wie wir einen Begriff wie Farbe oder  rot  oder  süß  fixieren (wir haben im obigen Hinweis was das Wort "gegeben" bedeuten soll, selbst zur Gegebenheit gebracht). Nicht was Gegebenheit überhaupt bedeutet, sondern nur noch, was in einem bestimmten Fall tatsächlich gegeben oder nicht gegeben ist, kann jetzt umstritten sein oder was dasselbe bedeutet: wie das in einem solchen Fall Gegebene genau zu beschreiben ist. Hier kommt dann die von uns hervorgehobene Frage zur Behandlung, ob wirklich die von uns zur Beschreibung des Gegebenen gebrauchten Worte im Gegebenen selbst zur identischen Erfüllung kommen.

Stellt man sich nun die Aufgabe, das in einem bestimmten Augenblick oder Zusammenhang unmittelbar Gegebene zu beschreiben, so entsteht eine besondere Schwierigkeit, die zum ersten Argument KÜLPEs führt. Etwas beschreiben und bestimmen heißt: es "beobachten", "abgrenzen", "vergleichen", kurz jene Tätigkeiten üben, von denen KÜLPE in der angezogenen Stelle spricht. Wenn ich nun etwa die Wahrnehmungen, Empfindungen, Gefühle meines Gesamtbewußtseins in einem bestimmten Augenblick in dieser Weise analysiere: darf ich dann nachträglich behaupten, daß mir im Moment vorher eben das gegeben sei, was mir die nachfolgende Analyse zeigt und eben so, wie sie es mir zeigt? Hat nicht vielmehr die Analyse selbst das im Bewußtsein Gegebene verändert bzw. setzt nicht die Behauptung, daß das "Gegebene" so und so näher zu bestimmen sei, ein anderes an die Stelle des eigentlich "Gegebenen", ist nicht jenes Beschreiben ein "Objektivieren" im Sinne des Setzens gedachter Objekte? Darauf ist nun folgendes zu erwidern. Erstens: Es ist sicherlich unzulässig, das Ergebnis einer nachträglichen Analyse ohne weiteres zur Beschreibung eines vorgängigen gegebenen Tatbestandes zu verwenden. Mir sind zwei Strecken in der Wahrnehmung gegeben, in vergleichender Einstellung geben sie sich mir nachträglich als gleich - dann darf ich darum nicht sagen, daß mir vorher zwei  gleich Strecken gegeben gewesen seien, es sei denn, daß diese Behauptung nur ein anderer Ausdruck dafür ist, es habe sich um zwei Strecken gehandelt, an die sich nachher, unter bestimmten weiteren Bedingungen ein Gleichheitsbewußtsein geheftet habe (auch diese Beschreibung bedarf indessen noch einer näheren, gleich zu gebenden Erläuterung). Zweitens: Auf der anderen Seite aber ist zu betonen, daß nie ein Inhalt gegeben ist, ohne daß er zugleich auch in gewisser Weise von seiner Umgebung abgehoben ("unterschieden") und mit ihr verglichen (als ähnlich und gleich erkannt) wäre, genau so wie kein Inhalt gegeben sein kann, ohne mehr oder weniger "einer" und mehr oder weniger ein "Mannigfaltiges" zu sein. Einheit und Vielheit, Ähnlichkeit und Verschiedenheit sind mit allem Gegebenen mitgegeben, sie sind "Formen" des Gegebenen überhaupt. Man lasse einen Inhalt sich weniger und weniger von seiner Umgebung abheben - was ist die Folge? Er verschwindet in dieser Umgebung, er ist als dieser Inhalt auch gar nicht mehr gegeben. Alles Gegebene ist also innerhalb gewisser Grenzen zugleich ein "Beurteiltes" in diesem ganz bestimmten Sinn des Verglichenen und Unterschiedenen. Das  nur  Gegebene, "vor" aller Beurteilung, die "reine Empfindung" wäre in der Tat ein hypothetisch Angenommenes, also eben nicht mehr gegeben. Dafür können wir auch sagen: Alles Gegebene ist ein "Objekt", ein "Objektiviertes", wenn wir unter einem Objekt etwas verstehen, das verglichen, unterschieden, in sich bestimmt ist. Aber alles Gegebene ist auch nur mehr oder weniger Objekt: eine gefärbte geometrische Figur, die ich sehe, ist in höherem Grad Bewußtseinsobjekt, d. h. bestimmt sich abgrenzender, durch bestimmte Relationen mit anderem Gegebenen verknüpfter einheitlicher Inhalt, als etwa ein diffuser Schmerz im Innern unseres Körpers oder gar als ein "Erlebnis" der Freude oder der Trauer. Dem gegebenen  Objekt,  das sich abgrenzt und schärfer oder weniger scharf abhebt, steht hier gegenüber die  fließende Phase  eines Ganzen, die in dieses Ganze ohne Grenze verläuft und anderen "Teilen" dieses Ganzen nicht in der Weise des Gleichen oder Verschiedenen gegenübersteht. Dem Wahrgenommensein jenes Objekts unter anderen Objekten entspricht das "Erlebtsein" einer solchen Phase eines Erlebnisstroms, eines  subjektiven  Erlebnisstroms, wie wir nun auch sagen können. Der Gegensatz des Subjektiven und Objektiven ist aber hier, wie nochmals hervorgehoben sei, kein absoluter, sondern ein fließender und relativer: auch ein Gefühl ist, indem es erlebt wird, innerhalb gewisser Grenzen als dieser bestimmte Inhalt erlebt, d. h. verglichen und unterschieden; Subjekt und Objekt, das Erlebte und das Wahrgenommene, sind nicht zwei Sphären, sondern zwei Pole des Gegebenen; das nur Objektive, wie das nur Subjektive, ein Grenzbegriff im Sinne der Neukantianer.

Endlich fügt sich hier nun noch ein dritter Punkt ein. Dürfen wir mit Sinn sagen, daß  "derselbe"  Inhalt einmal erlebt und einmal wahrgenommen sei? Oder, daß er einmal so und einmal anders aufgefaßt und beurteilt sei? Diese Ausdrucksweise hat einen bestimmten Sinn, aber man muß sich über denselben klar sein. Ich erlebe einen bohrenden Zahnschmerz und dann mache ich mir diesen Zahnschmerz gegenständlich, vergleiche, beurteile ihn. Dann muß ich sagen, daß hier das Gegebene im ersten und zweiten Moment ein verschiedenes war. Aber: es hoben sich hier nicht zwei Inhalte scharf gegeneinander aber, wie dann, wenn ich erst einen hohen, dann plötzlich einen tiefen Ton höre, sondern die zwei Inhalte werden als Phasen eines Stromens erlebt, es sind nicht  zwei verschiedene,  sondern es ist  ein sich verändernder Inhalt  da. Ein anderes Beispiel: ich betrachte ein auf Papier gezeichnetes Quadrat und hebe bald die eine, bald die andere Seite, bald die Fläche besonders "beachtend" hervor, bald sehe ich das Quadrat auf der einen, bald auf der anderen Seite "stehend" usw. Dann habe ich das Bewußtsein, daß ich hier nicht mehrere, sondern einen Gegenstand, dasselbe Rechteck sehe, nur in verschiedener Auffassung. Aber ist es nun möglich, irgendeinen dieser Inhalte herauszugreifen und von ihm zu sagen, daß er das Rechteck selbst sei, das in den verschiedenen anderen Wahrnehmungen nur gemeint wäre? Offenbar nicht. Das Wahrnehmungsbild eines Quadrats kann mir ebensowenig ohne ein bestimmtes "Beachtungsrelief" gegeben sein, wie ein Haus von mir wahrgenommen werden kann, ohne von einem bestimmten Standpunkt und entweder von vorn oder von hintern oder von einer Seite wahrgenommen zu sein. Aber auch wenn ich um das Haus herumgehe und es betrachte, ist mir nur  "ein  Objekt" und innerhalb desselben sich wandelnde Phasen, nicht eine Summe von Inhalten gegeben.

Kehren wir nun noch einmal zu einem vorher erwähnten Fall zurück: wir sehen eine Figur, in der zwei Strecken enthalten sind - im nächsten Moment erfassen wir, was vorher nicht der Fall war, beide Linien  als  einander gleich oder die eine  als  größer usw. Sagen wir nun, es seien hier die ganze Zeit über dieselben zwei gleichen oder ungleichen Linien gegeben gewesen, so bedienen wir uns einer "Begriffsbildung", die über das Gegebene als solches hinausgeht, d. h. wir  sprechen  von einem Gegenstand, der nicht mehr "gegeben" ist: die dauernd vorhandenen, dauernd im Verhältnis der Gleichheit oder Ungleichheit stehenden Linien sind  nicht  gegeben, sondern zur Gegebenheit bringen kann ich nur, wenn ich mich so ausdrücken darf, ihre wechselnden "Beobachtungserscheinungen", die sich mir als Phasen  eines  Objektes darstellen, genau so, wie ich mir nicht das Ding, sondern nur seine Erscheinungen", (seine "Abschattungen") von verschiedenen Standpunkten aus zur Gegebenheit bringen kann. Das Quadrat, das auf keiner Seite einseitig steht und doch auf jeder stehen kann, das vier gleiche und je zwei gleichgerichtete Seiten, das vier gleiche rechte Winkel dauernd hat - dieses Quadrat ist kein jemals zur Gegebenheit gebrachter Inhalt, sondern ein "Ding an sich". (HUSSERL würde nach den Ausführungen seiner "Ideen" diese Analogisierung des objektivierten Wahrnehmungs- oder Empfindungsinhalts mit dem "Ding", der unmittelbar gegebenen Beachtungserscheinung mit der Dingerscheinung freilich ablehnen als phänomenologisch unzutreffend, mir scheint gerade die phänomenologische Analyse durchaus für diese Analogie zu entscheiden.)

Was ist das "Ding"?  Nicht die Summe seiner Erscheinungen, denn wenn ich die Erscheinungen zu einer Summe getrennter Summanden mache, habe ich das Ding gerade zerstört. Und ich stelle das "Ding" auch nicht wieder her, wenn ich durch Relationen die getrennten Erscheinungen wieder verknüpfe ("gesetzmäßiger Zusammenhang"). Das Ding  "ist"  aber auch nicht das  eine  "Objekt", als dessen Phasen ich seine Erscheinungen erlebe, denn dieses Objekt ist ja ein fließendes, in wechselnden Phasen sich veränderndes, ist ein Prozeß, wenn man so will, während das Ding ein Beharrliches, Dauerndes, sich gleich Bleibendes ist. Mit anderen Worten, die obige Frage ist unbeantwortbar: das Ding selbst ist kein zur Gegebenheit zu bringendes Gebilde, sondern ein  Fictum,  es gibt nur das zusammenfassende Wortsymbol, keine ihm entsprechende Sache.

Wir knüpfen an die Erscheinungen "desselben Dinges" das gleiche Wortsymbol, sprechen von "dem Apfel hier" gleichgültig, ob wir ihn von der einen oder der anderen Seite sehen oder betasten. Das gleiche Symbol scheint auf einen identischen Gegenstand hinzudeuten, an dessen Stelle uns jedoch nie etwas anderes, als eine der wechselnden Dingerscheinungen faßbar wird. Mit demselben Wort aber belegen wir jene Erscheinungen,  weil  und  soweit  sie miteinander  vertauschbar  sind oder einander  vertreten  können. Vertauschbar sind sie, insofern ich von jeder Erscheinung zu jeder beliebigen anderen übergehen kann: ob ich den Apfel von der einen oder anderen Seite ansehe, jedesmal wird er sich als hart erweisen, wenn ich das Gesehene mit dem tastenden Finger berühre und als süß, wenn ich hineinbeiße. Die Erscheinungen sind vertauschbar hinsichtlich der  Fortsetzung,  die sie in weiteren Erscheinungen finden, hinsichtlich ihrer diese weiteren Erscheinungen  anzeigenden  Funktion; dafür können wir auch sagen: Funktion, als Symbole des Kommenden erscheinen: wir wissen ja, Identität ist das sich-Treffen der Bedeutungen zweier Symbole in einem Punkt. Wir können uns also nicht das "identische Ding", aber wir können uns die Identität (die identische Bedeutung) der verschiedenen Erscheinungen desselben Dinges zur Gegebenheit bringen.

Machen wir uns dieselbe Sachlage noch an einem anderen Fall klar. Ich erwarte jetzt, daß morgen etwas Bestimmtes geschehen, sagen wir gutes Wetter sein wird. Ich hege dann die gleiche (dieselbe) Erwartung noch mehrfach im Laufe des Tages. Dann habe ich hier offenbar eine Mehrheit verschiedener Erwartungserlebnisse, diese Erwartungserlebnisse aber stellen alle  dasselbe  zukünftige Geschehen vor und sind insofern  identisch,  ganz im Sinn des Identitätsbegriffs, den wir festgestellt haben. Sie sind  "dieselbe Erwartung".  Wollte nun aber jemand wissen, wie eigentlich diese identische eine "Erwartung" aussieht, die "in" allen jenen Erwartungserlebnissen angeblich "steckt", so wäre diese Frage natürlich sinnlos - genauso sinnlos, wie die Frage nach dem "Ding an sich" hinter seinen Erscheinungen. Es gibt nicht diese Erwartung selbst, auch nicht oder gerade nicht als abstraktes Teilmoment jener Erlebnisse, es gibt nur die Erwartungserlebnisse (Erwartungsbilder) und ihre Identität, d. h. ihre Beziehung auf dasselbe Erwartete. Diese Identität aber läßt uns von derselben Erwartung  sprechen  und legt dadurch die Fiktion eines für sich existierenden psychischen oder außerpsychischen Gebildes nahe, das nun wirklich diese Erwartung wäre.

Fassen wir das Ergebnis noch einmal speziell mit Rücksicht auf den KÜLPEschen Einwand zusammen, so können wir sagen: wir dürfen nicht im eigentlichen Sinn behaupten, es seien uns zwei gleiche oder verschiedene Strecken oder Farben etwa gegeben, sondern nur, es seien uns zwei Strecken  als  gleich oder "als" verschieden, durch das Gleichheits-, bzw. Verschiedenheitsbewußtsein aneinander gebunden gegeben, dabei ist natürlich auch der weitere Fall möglich, daß zwei Strecken oder Farben gegeben sind, die weder als verschieden sich voneinander abheben, noch als gleich jene eigentümliche Einheit bilden, die eben das Wesen der unmittelbar erlebten Gleichheitsrelation ausmacht, es können auch Linien oder Farben gegeben sein, ohne überhaupt als "zwei" sich dem Bewußtsein darzustellenden usw. (obgleich wie wir wissen  jeder  Inhalt, indem er gegeben, auch von anderen unterschieden und auf sie bezogen ist.) Das  Urteil,  das aufgrund  hinterher  kommender Vergleichung von "gleichen" oder "verschiedenen" (gleich- usw.  seienden)  Strecken spricht, die im Moment vorher wahrgenommen gewesen seien, setzt an die Stelle des  unmittelbar Gegebenen  ein  "Ding",  d. h. beschreibt nicht einfach das Gegebene, sondern bezeichnet (beurteilt) es sprachlich im Hinblick eben auf jene weiteren Gegebenheiten, mit denen es in die Einheit der Dingwahrnehmung sich zusammenfügt.

Das Gegebene, von dem wir auszugehen haben, ist  in einem individuellen Bewußtsein  gegeben, es ist ferner ein jetzt und hier Gegebenes. Auch diese Behauptung, die uns zum zweiten Einwand hinüberführt, bedarf indessen der genaueren Erläuterung. "Ich nehme zwei Farben als gleich wahr" und "ich nehme zwei Farben wahr, die gleich sind" - wir wissen, es sind zwei verschiedene Gegebenheiten, auf die in diesen beiden Wendungen hingedeutet wird. Das im zweiten Fall Gegebene wird bezeichnet oder beurteilt im Hinblick auf eine zu erwartende weitere Gegebenheit, in die es sich unter bekannten Bedingungen ("Vergleichen", entsprechende Einstellung der Aufmerksamkeit) jederzeit verwandeln kann. Entsprechendes ist zu sagen, wenn wir die Wendungen gegenüberstellen: "ich nehme einen Inhalt  als jetzt  gegeben (und nicht zu irgendeiner anderen Zeit) wahr" und "ich nehme einen Inhalt wahr, der tatsächlich jetzt gegeben ist". Oder ebenso: "ich erlebe einen Inhalt  als  Inhalt  meines  Bewußtseins (und nicht eines fremden Bewußtseins)" und "ich erlebe einen Inhalt der tatsächlich Inhalt meines Bewußtseins ist." Die zweiten Wendungen weisen vordeutend auf eine mögliche Gegebenheit hin, die bei der ersten Wendung als tatsächlich gegeben vorausgesetzt ist. Als  jetziger  Bewußtseinsinhalt ist mir ein Inhalt nur gegeben, indem er sich als unmittelbar gegebener von einer mittelbar gegebenen (vorgestellten) Vergangenheit und Zukunft abhebt - der Gegensatz des unmittelbar und mittelbar Gegebenen wurde weiter oben erörtert. Ebenso nun freilich, wie jeder Inhalt, um überhaupt gegeben zu sein, sich von einer Umgebung abheben, wie jedes Bewußtsein ein Unterscheiden sein muß, so muß auch jeder gegebene Inhalt für das Bewußtsein anheben zu sein, d. h. sich von einer erlebten Vergangenheit abheben, also "als" jetzt erlebt sein. Aber dieses  jetzt,  als dessen Inhalt er erlebt wird, braucht sich nicht von einer Mannigfaltigkeit bestimmt geordneter Zeitmomente abzuheben und insofern einem zeitlich bestimmbaren Augenblick anzugehören. Die objektive Zeit, als kontinuierliche Abfolge aufeinander folgender Augenblicke, in der jeder einzelne Inhalt zu einem ganz bestimmten Zeitpunkt, in seiner Zeitbeziehung zu jedem anderen Inhalt eindeutig fixiert "existiert" - diese Zeit mit allen "Erlebnissen" oder "Wahrnehmungsinhalten", die sie erfüllen, ist  nichts Gegebenes,  sondern etwas, das wiederum in die Sphäre der "Dinge" gehört.

Es ist sinnvoll und möglich, jedem gegebenen Inhalt gegenüber die Aufgabe zu stellen, ihn in seiner zeitlichen Stellung zu bestimmen, genau so, wie die Aufgabe sinnvoll ist, eine im Gesichtsfeld gegebene Form mit allen sonstigen im Gesichtsfeld gegebenen Formen zu vergleichen. Die eine wie die andere Aufgabe aber führt in eine unendliche Reihe von weiteren Gegebenheiten hinein, die aus der ersten hervorwachsen, mit ihr in jener früher charakterisierten Weise zur Einheit verbunden. Jeder gegebene Inhalt ist zeitlich fixierbar, d. h. es ist  möglich,  ihn in seiner zeitlichen Folge oder seinem Voraufgehen in Bezug auf andere Inhalte zu erleben, diese dann ihrerseits auch wieder erinnernd oder erwartend in ihre zeitliche Umgebung hineinzustellen und so einen immer umfassenderen Zeitrahmen um den zu bestimmenden Inhalt zu spannen, der schließlich alle Inhalte des betreffenden Bewußtseinsleben umfassen würde. In Wahrheit bestimmen wir natürlich nie einen Inhalt zeitlich in dieser vollständigen Weise, die vollständige Bestimmung würde auch, wie eben hervorgehoben, zu einer unendlichen Aufgabe führen. Die jederzeitige  Möglichkeit  aber, in ein Urteil über den betreffenden Inhalt gleichsam übersetzt, als "seiende Eigenschaft" desselben gefaßt, führt dazu, ein fingiertes Ding an die Stelle des unmittelbaren Erlebnisses zu setzen.

Ein Inhalt kann unmittelbar, er kann aber auch wie wir wissen mittelbar, durch einen Vorstellungsinhalt gegeben sein. Nun kann aber das mittelbare Gegebensein noch verschiedene Formen annehmen. Auch jeder vorgestellte Inhalt - nicht das unmittelbar gegebene Vorstellungsbild, sondern der mit ihm gemeinte, erinnerte, phantasierte Inhalt muß in eine wenn auch noch so unbestimmte Umgebung hineingestellt, er muß von dieser Umgebung unterschieden, abgehoben sein. Ferner aber kann dieser Inhalt mit seiner Umgebung  erinnert, erwartet  oder  "eingefühlt"  sein, d. h. er kann als eigene Vergangenheit, eigene Zukunft oder fremdes Bewußtsein vorgestellt sein. Im Erinnerungs-, Erwartungs- und Einfühlungsbild stellen wir einen Inhalt als im eigenen vergangenen oder zukünftigen oder im fremden Bewußtseinsleben wirklich vor. Was das heißt, kann nur erlebt, nicht weiter erklärt oder verdeutlicht werden und zwar in der Form des Erinnerungs-, Erwartungs- und Einfühlungsbildes erlebt werden. Wer nie ein Erinnerungsbild erlebt hätte, dem würde auch der Begriff der eigenen Vergangenheit und ihrer Wirklichkeit völlig unbekannt sein.

Es ist nun nicht zu leugnen: in Erinnerung, Erwartung und Einfühlung haben wir das Bewußtsein einer  Transzendenz,  gehen wir über das unmittelbar Gegebene hinaus. Die "Möglichkeit" dieses Transzendierens ruht auf der Möglichkeit, bzw. Tatsächlichkeit eines "mittelbar Gegebenen". Das aber,  was  hier vorgestellt und als "wirklich" vorgestellt wird, ist wiederum ein Bewußtseinsinhalt, der in einer Kette oder einem Strom anderer sich abhebt, ein Inhalt, den wir im bisher bereits erörterten Sinn als Inhalt eines individuellen Bewußtseins bestimmen können.  Es gibt eben zwei ganz verschiedene Arten der Transzendenz: die Transzendenz des vorgestellten Bewußseinsinhaltes und die des Dinges,  der erstere ist  mittelbar gegeben,  das letztere nur im vertretenden Symbol  gemeint,  also fiktiv.

Erinnerung, Erwartung und Einfühlung habe ich an anderer Stelle (in meinen "Prinzipien der Erkenntnislehre") als unmittelbar erlebte (im Gegensatz zu den sprachlich formulierten)  Urteile  bezeichnet. Sie sind Urteile, wenn wir Urteil alles nennen, was wahr oder falsch sein, d. h. "mit einem Gegenstand übereinstimmen oder nicht übereinstimmen" kann. Im Erinnerungs- und Erwartungsbild stelle ich etwas vor - einen Gegenstand - und kann mit Sinn fragen, ob dieses Etwas wirklich so war oder sein wird, wie ich es vorstelle. Freilich hebt sich nun aus jenen drei Formen die Erwartung dadurch hervor, daß sie allein (natürlich auch nicht in allen, sondern nur in bestimmten Fällen) auf ihre Wahrheit hin geprüft werden kann: ich kann das sich-Erfüllen oder -Enttäuschen einer Erwartung, das Zusammenfallen von Erwartung und Erwartetem (die Identität beider)  erleben.  Erinnerung und Einfühlung bleiben auf ihre Wahrheit hin nicht prüfbar und insofern einem, jedoch nur theoretischen - Zweifel ausgesetzt.

Alles unmittelbar Gegebene hebt sich ab von einem erinnerten, erwarteten, eingefühlten mittelbar Gegebenen. Es wird eben in diesem sich Abheben oder Unterscheiden zu einem "mir" und "jetzt" Gegebenen. Fassen wir andererseits alles unmittelbar und mittelbar Gegebene zusammen, so erhalten wir als "Gegebenes" den Inbegriff der Bewußtseinsinhalte verschiedener Bewußtseinsabläufe. Diese Bewußtseinsabläufe und ihre Inhalten sind aber selbst nur erlebbar von einem  bestimmten  Punkt (einem "Jetzt") eines  bestimmten  Bewußtseinslebens aus - von einem unmittelbar gegebenen Icherlebnis aus, für das alle übrigen Inhalte vergangene oder zukünftige Ich-Erlebenisse oder Du-Erlebnisse sind. Nur in der Zentriertheit auf ein Augenblicks-Ich ist das Gegebene faßbar. Andererseits können wir aber jeden vorgestellten Inhalt unter Abstraktion von der ihn repräsentierenden Vorstellung zum Ausgangspunkt, zum Augenblicks-Ich machen, dann wird alles andere zu einem von hier aus mittelbar Gegebenen. Das Gegebene teilt mit den Formen des Raumes und der Zeit diese Eigentümlichkeit der Zentriertheit (der Zentriertheit auf ein unmittelbar Gegebenes, für das alles übrige mittelbar gegeben ist, welches mittelbar Gegebene aber selbst wieder in allen seinen Teilen zum numerisch Gegebenen werden kann - wie jeder Zeitpunkt, um bestimmt zu werden, der Beziehung auf ein "Jetzt" bedarf (einen zeitlichen Koordinaten-Anfangspunkt), aber auch selbst zum "Jetzt" gemacht werden kann). Genauer ist die Zentrierung von Raum und Zeit auf einen Koordinaten-Anfangspunkt, auf ein "Hier" und "Jetzt", das beliebig verschoben werden kann, ein Stück der Zentrierung aller Erfahrungswelt auf ein unmittelbar Gegebenes, auf das gleichfalls beliebig verschiebbare "Augenblicks-Ich": eben darauf beruht der Nerv der Beweisführung in KANTs transzendentaler Ästhetik. Raum und Zeit sind die Formen der Körperwelt, die Bedingungen der Möglichkeit ihrer Existenz, Raum und Zeit aber haben eine unaufhebbare Beziehung auf jenen Mittelpunkt, der genauer der Standpunkt des erfahrenden Ich ist, also eignet auch der Körperwelt diese unaufhebbare Beziehung, ist sie nur als Welt möglicher Erfahrung, bezogen auf ein erfahrendes Ich, denkbar. In der hier gegebenen Darstellung nimmt dieser Gedankengang die folgende Form an: Alles Wirkliche ist ein Wirkliches in der Zeit - in einem bestimmten Zeitmoment - jeder Zeitmoment erhält sein Stellung durch seine Vergangenheits- und Zukunftsbeziehungen zu einem "Jetzt" - "Vergangenes" und "Zukünftiges" in Beziehung und Gegensatz zu einem "Jetzt" bedeutet: in der Weise der Erinnerung und in der Weise der Erwartung mittelbar Gegebenes sich abhebend von einem unmittelbar Gegebenen. (Für ein Bewußtsein, das keine Erinnerung besäße, wäre "Vergangenheit" ein ebenso sinnleeres Wort, wie das Wort "rot" für den Farbenblinden.)

Vielleicht wendet man nun hiergegen ein: das Gesagte gelte für die unmittelbar erlebte, aber eben nicht für die real existierende Zeit. Ich erlebe einen Gegenstand als vergangen heißt: ich erinnere mich seiner - dagegen: der Gegenstand  ist  vergangen heißt: ihm kommt diese bestimmte Seinsweise zu, die ich als  Grund  dafür betrachte, daß ich ihn nur in der Weise des Erinnerns zu erleben vermag, die aber nicht mit jenem Erlebtsein zusammenfällt. Der Einwand kann offenbar erweitert werden: das Reale ist der  gedachte Grund  des Gegebenen und seiner Zusammenhänge. Die reale  rote  Farbe, die als Eigenschaft des vor mir liegenden Löschblattes wirklich existiert, ist das dem gesehenen oder gegebenen Farbquale "zugrunde liegende", das sich seiner Ähnlichkeit und Verschiedenheit nach zum anderen realen (den gegebenen Farbquales Grün, Blau usw. zugrunde liegenden) Farben verhält, wie das gegebene Rot zum gegebenen Blau usw., das überhaupt zu den sonstigen realen Gegenständen in Beziehungen steht, die den Beziehungen der gegebenen Inhalte entsprechen, denen jene Realien zugrunde liegen. Die "erschlossene" Welt des Realen wäre danach eine Welt, die in ihrem Quale nicht selbst dem Quale der Welt des Gegebenen ähnlich oder gleich ist, die aber in den Beziehungen ihrer Bestandteile zueinander den Beziehungen der gegebenen Inhalte entspricht und die endlich im besonderen Verhältnis des "Grundes" zum "Gegründeten" zur Welt des Gegebenen steht.

Hiergegen wäre nun zunächst die Frage zu stellen, was denn das für ein Verhältnis von Grund und Folge sein soll, von dem hier die Rede ist? Für die Worte, die Beziehungen oder Verhältnisse benennen, gilt doch zunächst offenbar dasselbe, wie für alle Worte: sie müssen ihren Sinn irgendwie  zur Gegebenheit bringen,  sonst bleibt das Wort leer. Wo und wann erleben wir denjenigen Zusammenhang von "Grund und Folge, der Reales" und phänomenal Gegebenes verknüpfen soll (und der natürlich kein Zusammenhang zeitlicher Folge sein kann)? Nun, diese Frage ließe sich vielleicht noch beantworten: Vom phänomenal gegebenen Wahrnehmungsinhalt erstreckt sich eine nach Erfüllung gleichsam suchende Relation, die wir unmittelbar erleben - das andere Glied dieser Relation freilich kann  nicht  gegeben, es kann eben nur  als  Endglied dieser Relation -  als  "Grund" des Wahrnehmungsinhalts - bestimmt oder gedacht sein. Allein hier entsteht nun eine tiefe Schwierigkeit: Das "Reale" ist selbst realiter Grund der Phänomene, nicht bloß phänomenaliter, wir sagen, das Reale  sei  Grund des Wahrnehmungsphänomens, nicht etwa, es werde als solcher erlebt, das Relationserlebnis ist also nur der im Bewußtsein gegebene Ausgangspunkt, von dem aus wir zur Annahme eines realen Verhältnisses zwischen dem realen Ding und dem Wahrnehmungsphänomen kommen. Damit aber wiederholt sich hier offenbar genau dieselbe Frage wie oben: Was meinen wir mit der  real  bestehenden Relation, von der uns die phänomenal gegebene Kunde gibt? Mit welchem Recht und Sinn sprechen wir von der ersteren? Soll auch hier das Phänomenale - das phänomenale Relationserlebnis - für unser Bewußtsein in einem Realen - einer realen Relation - "gründen"? Dann sind wir offenbar bei einem unendlichen Regreß angelangt.

Und nun doch weiter. Soll der "Grund" der Wahrnehmungsphänomene nicht in einem ewig unbekannten und unbestimmbaren  Ding an sich  liegen, soll das Reale irgendeine positive Bedeutung für die Erkenntnis, im Besonderen die wissenschaftliche Erkenntnis haben, so müssen wir auf die Realen, wie schon hervorgehoben, die  Beziehungen  übertragen, die zwischen den entsprechenden Phänomenen bestehen, wir müssen sie also als ähnlich, gleich und verschieden, als einheitlich und mannigfaltige Teile in sich schließend etwa betrachten. Es müssen solche Relationsbegriffe auf sie anwendbar sein. Was  heißt  aber "gleich" und "verschieden"? Es sind offenbar Bewußtseinsphänomene, auf die uns diese Worte zurückweisen, Phänomene, von denen schon andeutungsweise gesprochen wurde: die "Verschiedenheit" zweier Inhalte erleben wir in ihrem sich voneinander Abheben im Ganzen eines Bewußtseinslebens. Und zwar handelt es sich hier, wie wir wissen, nicht nur um Bewußtseinsinhalte beliebiger Art, wie Farben und Töne, sondern um  die  Phänomene  des  Bewußtseins, ohne die kein Bewußtsein vorstellbar ist: alles "Bewußtsein" ist zugleich ein  "Unterscheiden" "eines"  Inhaltes, der zugleich eine "Mannigfaltigkeit" enthält und seiner Umgebung als mehr oder weniger ähnlich gefunden wird. Ohne diese Relationsphänomene, die zugleich den einzelnen Inhalt in ein Bewußtseinsganzes eingliedern, ist kein Bewußtsein möglich, aber auch jedes Unterscheiden, Zergliedern, Wiedererkennen - alles diese Tatbestände, ohne die die Begriffe der Gleichheit, Verschiedenheit usw. ebenso zu sinnleeren Worten werden, wie der Begriff der Vergangenheit ohne den Tatbestand der Erinnerung - ist nur innerhalb eines Bewußtseinslebens möglich. Jene Relationsphänomene sind Konstituentien, wenn man will "Formen" eines Bewußtseins überhaupt und damit auch jedes Bewußtseinsinhalts. So wird auch jeder Gegenstand, an den solche Relationsphänomene sich knüpfen, eben damit als "Bewußtseinsinhalt" in einem Bewußtseinsleben charakterisiert.

Es ist möglich, hier noch einen Schritt weiter zu gehen. Jedes Bewußtsein ist Ichbewußtsein - Bewußtsein eines Ich- und Gegenstandsbewußtsein - Bewußtsein von Gegenständen. Oder jedes Bewußtsein hat eine Ich- und eine Gegenstandsseite, einen subjektiven und einen objektiven Pol. Es ist Gegenstandsbewußtsein, sofern sich in ihm einheitliche, unterschiedliche Gegenstände abzeichnen, Inhalte, die als umschlossene Einheiten einander und der fließenden Bewußtseinseinheit, in der sie sich abheben, "gegenüberstehen", es ist Ich-Bewußtsein, sofern es eben als fließende Einheit mit kontinuierlich wechselnden Phasen, als  ein  Bewußtseinsleben  (bzw. als Phase desselben) erlebt wird. Nun sind es eben die Relationsphänomene, die die "Gegenstände" zur Abhebung von einander bringen: ohne Verschiedenheits- und Gleichheitserlebnis keine Mannigfaltigkeit von Gegenständen. Aber ohne die verknüpfenden Relationsphänomene würden die Gegenstände sich auch wiederum nicht als Inhalte eines Bewußtseins, als Glieder eines und desselben Bewußtseinslebens darstellen. So sind die Relationserlebnisse zugleich, wenn auch in verschiedener Weise, die Konstituentien des Ich- und des Gegenstandsbewußtseins, sie sind Kantisch gesprochen die Formen der "Einheit der transzendentalen Apperzeption", die sowohl Gegenstands- wie Icheinheit ist. Dasselbe verknüpfende und scheidende Relationsbewußtsein, das die Summe der Gegenstände bildet,läßt auch das eine sie denkende Ich in unserem Bewußtsein entstehen.

Was bedeutet es nun, wenn wir zwei Inhalten gegenüber nicht nur behaupten, daß sich an sie ein Gleichheits- oder Verschiedenheitsbewußtsein knüpfe; sondern daß sie gleich oder verschieden  "seien"?  Wir betrachten zwei Farben bei Lampenlicht, die "gleich aussehen". Wir behaupten, daß sie "in Wirklichkeit" nicht gleich, sondern verschieden seien. Es ist klar, daß wir uns in dieser Behauptung auf weitere, zukünftige Vergleiche beziehen, erwartend beziehen und zugleich ist klar, daß diese weiteren Vergleiche in ihrer Gesamtheit nicht mehr den jetzt und hier verglichenen zwei Inhalten, sondern Dingeinheiten und damit auf kontinuierlich sich wandelnden Inhaltsgrenzen gelten. Diese "Farbe", d. h. das  Ding,  das ich diese Farbe nenne, sieht in der Dämmerung grau, in der Nacht schwarz, bei Lampenlicht grün und bei Tageslicht blau aus, sie ist realiter blau im unterschied zu jener anderen Farbe, die auch in der Dämmerung grau, im Dunkeln schwarz und im Lampenlicht grün erscheint. Und ebenso sind diese beiden Farben verschieden - h. h. es werden sich Bedingungen finden lassen, unter denen sie sich dem Vergleich verschieden darstellen, obgleich sie, wie jeder weiß, unter anderen Bedingungen gleich erscheinen.

Es ist also zweierlei festzuhalten: Wenn wir von zwei Gegenständen sagen, sie "seien" gleich oder verschieden, so bezieht sich dieses Urteil nicht auf gegebene Inhalte als solche - diese Inhalte können als gleich oder verschieden erlebt werden, aber sie können es nicht sein - sondern auf "Dinge", die als "dieselben" Dinge unter verschiedenen Bedingungen betrachtet werden, also in einer kontinuierlichen Abfolge wechselnder Inhalte sich darstellen können. Diese Dinge selbst als  identische Einheiten  sind fiktive Gebilde, fingierte Gegenstände, die in unserem Denken oder vielmehr in unserem Sprechen entstehen, indem wir ein einheitliches Wort für die wechselnden Erscheinungen setzen, sofern diese selbst sich wechselseitig vertreten können. "Vertreten" aber bedeutet hier allemal: Vertreten in Bezug auf das Kommende, das Zukünftige, das zu Erwartende, als Anzeichen oder Vorzeichen des Kommenden. Als solches Vorzeichen, in dieser symbolischen Bedeutung des Kommenden sind die Erscheinungen "desselben" Dinges identisch und in dieser Identität bezeichnet sie der Dingname. (Daß dieser Dingname vielfach mit dem Namen der charakteristischen Erscheinung gleichlautend ist, wie bei den Farbbezeichnungen etwa, bedarf wohl keiner besonderen Erklärung). Diese Dinge "sind" gleich und verschieden, das will sagen: ihre Gleichheit und Verschiedenheit, die wir in unseren Gleichheits- und Verschiedenheitserlebnissen erkennen, verhält sich zu diesen Erlebnissen, wie eben das "Ding" überall sich zur Erscheinung" verhält, sie ist in demselben Sinn eine Fiktion und in demselben Sinn gegründet auf einen Erwartungszusammenhang von Phänomenen, wie das vom "Ding" gesagt werden kann.

Jetzt ist es endlich möglich, die letzte noch übrig bleibende Frage zu beantworten. Alles Erkennen stellt sich die Aufgabe, seinen Gegenstand, die "Welt", in ihrer Gesetzmäßigkeit zu erkennen. Nun ist das Gegebene selbst wesentlich zufällig, unzusammenhängend (unzusammenhängend im Sinn des durch die Wissenschaft gesuchten Funktional- und Kausalzusammenhangs, also abgesehen vom unmittelbar erlebten Zusammenhang des Bewußtseinslebens, in das alles Gegebene als "Phase" oder "Gegenstand" eingebettet ist). Nie wäre es möglich, die gegebenen Inhalten allein in einen geschlossenen Kausalzusammenhang zu bringen. Andererseits weisen sie unverkennbar hin auf das Bestehen eines solchen Zusammenhang, der aber im Gegebenen selbst eben nur bruchstückweise sich darstellt, weil die "Welt" im "Gegebenen" nur bruchstückweise uns entgegentritt.

Die Argumentation hat etwas Überzeugendes und ist auch in gewisser Weise durchaus richtig. Die Flamme, die ich vor einer Viertelstunde im Ofen sah und die Asche, die ich jetzt in ihm sehe, werden zu Gliedern eines gesetzmäßigen Zusammenhangs erst, indem ich sie durch den Gedanken eines die ganze Zeit hindurch im Ofen brennenden Feuers verknüpfe. Dieses Feuer aber ist eben nicht wahrgenommen, kein Gegebenes, es existierte realiter, ohne gegeben zu sein. Indessen: das, was ich hier  phantasiemäßig ergänzend  hinzufüge, ist gleichwohl ein Inbegriff, eine Kette von Wahrnehmungen, die das zuerst gesehene Feuer und die zuletzt gesehene Asche zum Ganzen einer kontinuierlichen Dingerscheinung ergänzen. Diese Wahrnehmungen sind in derselben Weise als zu erwartende vorgestellt, wie die übrigen Erscheinungen eines Dings, das von einer Seite gesehen vor uns steht. Jene Wahrnehmungen wären zu erwarten gewesen, wenn wir zur rechten Zeit hingesehen hätten, sie sind noch jetzt zu erwarten, nämlich als Erinnerungsbilder im Bewußtsein eines Anderen, der das Feuer in der Zwischenzeit etwa betrachtete. Genauer hegen wir diese Erwartungen nicht ausdrücklich, aber sie sind impliziert, sobald wir das brennende Feuer und die Asche als "dasselbe", nämlich dasselbe Ding (denselben dinglichen Vorgang) identifizieren. Wir wissen: zwei gegebene Inhalte als Erscheinungen "desselben Dinges" aufeinander beziehen und identifizieren heißt: sie als anzeigende Symbole derselben Inhalte, also als Ausgangspunkt derselben Erwartungen (Erwartungen nach vorwärts und nach rückwärts) sprachlich bezeichnen und identifizieren. So ist also in der Tat die Welt des Gegebenen unzusammenhängend, die des dinglich Realen funktionell und kausal zusammenhängend, ein Zusammenhang, der uns auch tatsächlich durch den fragmentarischen Zusammenhang der gegebenen Wahrnehmungen nahe gelegt wird, aber dieser Zusammenhang entpuppt sich dann bei genauerem Zusehen doch als ein Zusammenhang von Gegebenem, nämlich erwartetem Gegebenen.

Fordert indessen nicht die Gesetzmäßigkeit der Wahrnehmungsinhalte eine Erklärung? Und kann diese Erklärung nicht nur gefunden werden in der Bedingtheit der Wahrnehmungen durch ein kausal zusammenhängende dinglich reale Welt? Mir scheint die hier vorliegende Frage und Antwort so wenig sinnvoll zu sein, wie die bekannte "Erklärung", die die Erde auf dem Elefanten, diesen auf der Schildkröte ruhen läßt. Bleiben wir bei der Gesetzmäßigkeit der Wahrnehmungsinhalte nicht stehen, sondern führen sie auf eine Gesetzmäßigkeit der Dinge zurück, so ist nicht einzusehen, warum nicht auch nach einem weiteren Grund dieser Gesetzmäßigkeit gefragt werden sollte usf. Allerdings hat es einen guten Sinn, auf die Frage, "warum" wir an jener Stelle erst einen leuchtenden Schein, dann rauchende Asche sahen, zu antworten: "weil" dort ein Feuer brannte, das wir sahen. Die Erklärung, die wir hier geben, hat die Bedeutung, daß sie einfach die hier gegebene Wahrnehmungsfolge als Spezialfall eines allgemeinen Gesetzes anspricht. Der  Sinn  der Behauptung, das Wahrgenommene "sei" Feuer, ist kein anderer, als der, es sei der Ausgangspunkt dieser und jener gültigen Erwartungen (Erwartungen - nicht Erwartungserlebnisse: der Unterschied wurde weiter oben genannt und begründet), als deren Erfüllung eben auch der leuchtende Schein, wie die rauchende Asche angesehen werden kann.

Die vorigen kurzen Ausführungen sollten weder die positivistische Erkenntnistheorie beweisen, noch den realistischen Standpunkt widerlegen. Sie sollte sich nur gegen die oben angeführten Argumente wenden. Die tiefere Entgegensetzung beider Standpunkte müßte mit der Diskussion des Gegenstandsbegriffs und damit zugleich des Bewußtseins auf beiden Seiten einsetzen. Der Standpunkt, von dem der Positivismus hier gefaßt ist, dürfte klar sein. Er ruht auf der Fassung, die HANS CORNELIUS der Erkenntnistheorie gegeben hat und zugleich auf der Fiktionenlehre HANS VAIHINGERs.
LITERATUR - Ernst von Aster, Realismus und Positivismus, Kantstudien 27, Berlin 1922
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