p-4ra-1MauthnerSigwartvon der PfordtenMFKW. HaasHerbart    
 
HEINRICH HOFMANN
Untersuchungen über den
Empfindungsbegriff

[5/6]

"Nehmen wir z. B. den Fall, daß wir, vor einer Hausfront stehend, deren Farbe bestimmen wollen. Wir treten dann nicht bis auf die größtmögliche Nähe an das Haus heran, sondern wir bestimmen von unserem Standpunkt aus, welcher der natürlichen Betrachtungsweise des Hauses entspricht, ohne viel Umstände die Farbe der Hausfront vielleicht als ein gleichmäßige Graublau. Dabei braucht aber keineswegs auch die eigentliche Farbe ein gleichmäßiges Graublau zu sein, sondern kann sich aus einer großen Zahl grauer und blauer Tupfen zusammensetzen, die gleichmäßig auf der ganzen Fläche verteilt sind. Es kommt uns eben bei der natürlichen Wahrnehmungsweise der Dinge zumeist gar nicht darauf an, wie die eigentliche Farbe eines Dings beschaffen ist, sondern darauf, welche Farbenwirkung die Flächen für die normale Betrachtungsweise haben."


Zweites Kapitel
Die Stufen der Sinnlichkeit
[Fortsetzung]

§ 6. Die Farben der Sehdinge

Nachdem wir die gestaltlichen Verhältnisse der Sehdinge so ausführlich behandelt haben, können wir uns bei der Erörterung der Farbenerscheinungen der Sehdinge kürzer fassen. Wie jedes Sehding seine anschauungsmäßig gegebene Größe und Gestalt hat, so erscheint es uns auch in seiner jeweils bestimmten Sehfarbe. Diese Farbe des Sehdings stimmt in den allerwenigsten Fällen überein mit der wirklichen Farbe des Dings, d. h. der Farbe, die das Ding hat. Denn
    "der Laie ist ... überzeugt, daß die Außendinge bestimmte Farben besitzen, daß der Schnee weiß, der Ruß schwarz, das Gold gelb ist. Er schreibt diesen Farben ein vom Auge unabhängiges Bestehen zu, bezeichnet sie als die wirklichen Farben der diesbezüglichen Dinge und unterscheidet sie von den zufälligen Farben, welche dieselben Dinge unter gewöhnlichen Umständen, z. B. bei unzureichender oder von der gewöhnlichen Tagesbeleuchtung stark abweichender Beleuchtung zeigen können. Das Rot der Berggipfel beim Alpenglühen, die Leichenblässe eines von Natriumlicht beleuchteten Gesichts, die bunten Flecke des Fußbodens, auf welche das durch bunte Fensterscheiben gehende Sonnenlicht fällt, sind solche zufälligen Farben, die wir auf die jeweilige Art der Beleuchtung beziehen und nicht für Eigenschaften der betroffenen Dinge halten." (2)
Fragen wir nun aber, was diese sogenannte wirkliche Farbe ist, und wie der Laie dazukommt, den Dingen derartige Farben zuzuschreiben, so antwortet HERING:
    "Die Farbe, in welcher wir ein Außending überwiegend oft gesehen haben, prägt sich unserem Gedächtnis unauslöschlich ein und wird zu einer festen Eigenschaft des Erinnerungsbildes. Was der Laie die wirkliche Farbe eines Dings nennt, ist eine in seinem Gedächtnis gleichsam fest gewordene Farbe desselben; ich möchte sie die Gedächtnisfarbe des Dings nennen. Damit scheint mir ausgedrückt, in welcher Weise diese sogenannte wirkliche Farbe entsteht, und wie sie notwendig von allerlei individuellen Zufälligkeiten des von uns Erlebten einerseits und von der Beschaffenheit unseres Sehorgans andererseits abhängt. Für den Farbenblinden z. B. muß die "wirkliche" Farbe eines Außendings in vielen Fällen eine ganz andere sein als für den Menschen mit einem normalen Farbsinn. Auch wird die Gedächtnisfarbe eines Dings nicht ein ganz bestimmte sein müssen, sondern sie wird ihrer Entstehung gemäß eine gewisse Schwankungsbreite haben können." (3)
Ich möchte in Anlehnung an die Terminologie der vorhergehenden Paragraphen die "wirkliche" Farbe als die "eigentliche" Farbe eines Dings bezeichnen. Diese eigentliche Farbe des Dings, das ist auch die Meinung HERINGs, hat gegenüber den Farben der zu einem Ding gehörenden Sehdinge keinerlei prinzipielle Ausnahmestellung, sondern ist nur eine nach gewissen Gesetzmäßigkeiten festgelegte Sehdingfarbe. HERING sieht das Prinzip dieser Festlegung in der besonderen Häufigkeit des Auftretens der eigentlichen Farbe. Ich weiß nicht, ob man das so allgemein wird sagen dürfen. Es mag sein, daß dieses Prinzip mitwirkt, aber ich meine, daß man es nicht zum allein maßgebenden Faktor machen darf. Ich meine vielmehr, daß, wie bei der Bestimmung der eigentlichen Flächengestalt, so auch hier die Deutlichkeit des Flächensehens eine gewisse Rolle spielt. Wir schreiben den Dingen das als "wirkliche" visuelle Eigenschaft zu, was wir an ihnen bei einem völlig deutlichen und scharfen Sehen ihrer Oberfläche als Merkmale der betreffenden Sehdinge zu Gesicht bekommen. Und daß dieses Prinzip auch bei der Festlegung der eigentlichen Farbe eine Rolle spielt, scheint mir aus der Art und Weise hervorzugehen, wie wir die eigentliche Farbe zu bestimmen pflegen. Gebe ich jemandem die Aufgabe, zu sagen, wie ein Ding, das unter allerlei ungewöhnlichen Wahrnehmungsumständen in allen möglichen Farben schillert, nun eigentliche aussieht, so wird er sich ganz instinktiv dem Ding auf eine solche Entfernung nähern, bis er die Gestaltungsweise der Begrenzungsflächen, die "eigentliche" Sehgestalt des Dings völlig deutlich vor sich hat und bis die jeweilig betrachtete Fläche von Glanz frei ist. Erst dann wird er bestimmt sagen können, was für eine Farbe das Ding hat. Freilich kommt für eine derartige Bestimmung als nicht unwesentlicher Faktor auch noch in Betracht, daß die Beleuchtungsverhältnisse keine durchaus "ungünstigen" sein dürfen, und insofern wir unter einer "günstigen" Beleuchtung eine solche verstehen, die der "überwiegend oft" erlebten Tagesbeleuchtung nahe steht, so kommt auch das von HERING herangezogene Prinzip der Häufigkeit im Erleben jederzeit mit in Anwendung. Betrachte ich z. B. ein blaues Tuch bei gewöhnlicher Petroleumbeleuchtung, so sehe ich trotz der größten Nähe des Tuches doch nicht die eigentliche Farbe des Tuches, sondern in der Hauptsache ein Schwarz mit einem bloßen "Stich ins Blaue", eben weil die Beleuchtung keine "günstige" ist (4).

Doch wie auch die Prinzipien der Festlegung der eigentlichen Farben im einzelnen bestimmt werden mögen, Tatsache ist jedenfalls, daß die eigentliche Farbe überall bei der Dingwahrnehmung als ein richtunggebender Faktor mitwirkt, daß wir, wie HERING sagt, alle Dinge "durch die Brille der Gedächtnisfarben" (5) sehen, d. h. daß wir die Dinge zumeist nicht in denjenigen Farben sehen, welche den von den Dingen in unser Auge treffenden Strahlungen entsprechen würden, sondern in einer Ablenkung nach der Seite der eigentlichen Farbe hin, so daß die Farben, in denen uns die Dinge tatsächlich erscheinen, in der Regel weder die eigentlichen Farben noch die den ins Auge treffenden Strahlungen entsprechenden Farben sind, sondern gleichsam ein Mittelding zwischen beiden.
    "Große Fertigkeit besitzen wir (auch), die eigentliche (6) Farbe eines Dings von den zufälligen Farben desselben zu scheiden. So sondern sich für uns jene fein abgestuften Schatten auf der Oberfläche eines Körpers ... als etwas Akzendentelles [Unwesentliches - wp] von der Farbe der schattentragenden Fläche, und wir meinen außer dem Dunkel des Schattens und durch ihn hindurch die eigentliche Farbe der Fläche zu sehen." (7)

    "Durch ein Loch im Fensterladen eines durch andere Fenstern beleuchteten Zimmers fällt das Sonnenlicht auf eine begrenzte Stelle meines schwarzen Rockes: ich sehe einen grauen Fleck auf demselben und will ihn abstauben. Sobald ich aber die Stelle etwas genauer betrachte, sehe ich keinen Staubfleck mehr, sondern nur ein dem Schwarz des Rockes aufliegendes Licht und bin selbst bei indirektem Sehen kaum imstande, mir den ersten Eindruck wiederherzustellen." (8)
Ähnliche Fälle einer solchen "Farbenspaltung", deren man bei HERING noch mehr beschrieben findet (vgl. a. a. O. Seite 8 und 9 und in HERMANNs "Handbuch usw.", Seite 573f), wird jeder schon einmal erlebt haben; Beispiele dafür kann man im Übrigen am Tag bei Sonnenschein oder noch deutlicher des Abends bei Straßenbeleuchtung haben. Sind wir in großer Entfernung von der beschatteten Fläche, so drängt sich die Schattenwirkung so stark auf, daß man eine dunkle Fläche sieht, indem der Schatten die "darunter liegende eigentliche Farbe" mehr oder weniger verdeckt. Je mehr wir uns aber der beschatteten Fläche nähern, desto mehr schwindet auch die deckende Wirkung des Schattens; wir merken, wie bei der Annäherung die eigentliche Farbe der Fläche allmählich mehr und mehr zum Durchbruch kommt, bis wir schließlich eine Fläche mit vorgelagertem Schatten zu sehen bekommen. Völlig rein wird sich uns freilich die eigentliche Farbe auch im erreichten Maximum des Hervortretens kaum darstellen, sondern immer wird sich, das eine Mal mehr, das andere Mal weniger, die "verdunkelnde" Wirkung des Schattens noch geltend machen.

Kehren wir nun wieder zu unserem Begriff der eigentlichen Farbe zurück! Wir bestimmten dieselbe als eine Sehdingfarbe, die uns unter "günstigen" Beleuchtungsverhältnissen und bei deutlichstem Sehen der Oberfläche des Dings erscheint. Es fragt sich nun, ob wir nicht auch noch entsprechend den betrachteten Verhältnissen über die Größe und Oberflächengestalt von einer "natürlichen" Farbe eines Dings zu sprechen haben. Mir scheint es zumindet, als ob wir bei der Dingwahrnehmung auch einen derartigen Begriff häufig zur Anwendung bringen. Nehmen wir z. B. den Fall, daß wir, vor einer Hausfront stehend, "deren Farbe" bestimmen wollen. Wir treten dann nicht bis auf die größtmögliche Nähe an das Haus heran, sondern wir bestimmen von unserem Standpunkt aus, welcher der natürlichen Betrachtungsweise des Hauses entspricht, ohne viel Umstände "die Farbe" der Hausfront vielleicht als ein gleichmäßige Graublau. Dabei braucht aber keineswegs auch die eigentliche Farbe ein gleichmäßiges Graublau zu sein, sondern kann sich aus einer großen Zahl grauer und blauer Tupfen zusammensetzen, die gleichmäßig auf der ganzen Fläche verteilt sind. Es kommt uns eben bei der natürlichen Wahrnehmungsweise der Dinge zumeist gar nicht darauf an, wie die eigentliche Farbe eines Dings beschaffen ist, sondern darauf, welche Farbenwirkung die Flächen für die normale Betrachtungsweise haben. Wir wissen zwar sehr wohl, daß die Farben, die wir unter diesen Umständen sehen, nicht in jeder Hinsicht der eigentlichen Farbe des Dings entsprechen, aber trotzdem erscheinen sie uns nicht als irgendwelche zufälligen Sehdingfarben, sondern als etwas, das zum wahren Sein des Dings in naher Beziehung steht, so daß wir unter Umständen geradezu dem Ding selbst diese Farben als Eigenschaften zuschreiben. Es zeigt sich auch hier, was uns bei unseren bisherigen Betrachtungen schon wiederholt aufgestoßen ist, daß die sinnlichen Eigenschaften, die wir den Dingen als solchen zuschreiben, diesen nicht absolut zukommen, sondern immer nur im Hinblick auf eine mehr oder weniger willkürlich festgelegte Betrachtungsweise. Die Betrachtungsweise der naiven Dingwahrnehmung aber ist nicht ganz einheitlich, sondern je nach Bedürfnis legen wir diesen oder jenen Maßstab an, und so kommt dann die eigentümliche Zwitterstellung unserer Dingwahrnehmung zustande, die in einem Hin- und Herspringen zwischen "natürlichen" und "eigentlicher" Auffassungsweise ihren Ausdruck findet.


§ 7. Sehding und "wirkliches" Ding

Wenn wir auf unsere Betrachtungsweise über die Beziehungen der Sehdingeigenschaften zu den "wirklichen" visuellen Eigenschaften des Dings zurückblicken, so werden wir als Ergebnis die folgenden Sätze aufstellen können: Die "wirklichen" visuellen Eigenschaften der Dinge, von denen die naive Dingauffassung spricht, sind nicht etwas, das neben oder gar über den Sehdingeigenschaften als eine sinnliche Welt sui generis [aus sich selbst heraus - wp] steht, sondern sie sind Sehdingeigenschaften selbst, die nur aus der Gesamtheit der zu einem Ding gehörigen Sehdinge nach mehr oder weniger festen Prinzipien ausgewählt sind. Eine absolute, feste Bestimmung "der visuellen Eigenschaften der Dinge" gibt es darum nicht, sondern jede Bestimmung ist abhängig einerseits vom Ziel, das bei der Wahrnehmung jeweils verfolgt wird, und andererseits von der Beschaffenheit des Sehorgans des wahrnehmenden Individuums bzw. der ganzen Gattung.

Doch bei diesen Betrachtungen scheint uns ein wesentliches Moment der "wirklichen" Dinge, das sie überhaupt erst zu etwas "Wirklichem" macht, gänzlich verloren gegangen zu sein: Das "wirkliche" Ding kann doch auch betastet werden, es hat sein Gewicht, leistet anderen Dingen beim Durchdringen Widerstand usw. Von den Sehdingen aber kann - das geht doch aus unserer Begriffsbestimmung hervor, - derartiges nicht ausgesagt werden. Denn wie sollten wir es z. B. anfangen, die "kleinen Puppen", in denen uns die von einem hohen Turm gesehenen Menschen erscheinen, zu betasten oder ihr Gewicht festzustellen? Sobald wir uns dazu anschicken, die Sehdinge mit unseren Händen zu begreifen, würden sie nicht mehr sein, sondern an ihrer Stelle würden wieder Menschen vor uns stehen. Und ebenso sind es nicht die "kleinen Puppen", die einer etwaigen Durchdringung Widerstand entgegensetzen würden, sondern die Menschenleiber. Wie aber kann dann gesagt werden, daß die visuellen Eigenschaften der "wirklichen" Dinge Sehdingeigenschaften sind? Das hieße ja einem Ding gewisse Eigenschaften zu- und absprechen.

Doch es ist ja nicht unsere Behauptung, daß die "wirklichen" Dinge mit einem Sehding identisch sind, sondern nur das haben wir gesagt, daß die visuellen Eigenschaften der "wirklichen" Dinge, so wie sie die naive Dingwahrnehmung bestimmt, bloße Sehdingeigenschaften sind. Sehdinge sind noch lange keine "wirklichen" Dinge, mögen sie auch noch so genau die visuellen Eigenschaften von "wirklichen" Dingen wiedergeben. Das kleine Kind, dem es noch an der nötigen "Erfahrung" fehlt, nimmt fälschlicherweise das Sehding, das sich ihm im Spiegel darstellt, als Beweis für das Dasein eines "wirklichen" Dinges, und die "Erfahrung", die es in dieser Beziehung machen muß, besteht eben darin, daß es zu lernen hat, da ein "wirkliches" Ding sich nicht bloß in bestimmt gearteten Sehdingen darstellen kann, sondern daß sich seine Existenz auch in der Erfahrung der übrigen Sinne bewähren muß. Nur ein Ding, dessen Existenz sich in der Erfahrung der Gesamtheit aller Sinne bewährt, ist "wirklich". Aber trotz dieser über jedes einzelne Sinnesgebiet hinausweisenden Existenz des "wirklichen" Dings, können sich die einzelnen sinnlichen Eigenschaften doch immer nur in den einzelnen Sinnesgebieten für sich ausweisen, und so können die visuellen Eigenschaften des "wirklichen" Dings nicht anders ihre Bestätigung finden als im Bereich der visuellen Wahrnehmung. Damit aber sind wir ganz von selbst wieder auf die Welt der Sehdinge gestoßen, denn die Dinge können sich nach ihrer visuellen Seite nicht anders als ein einer Mannigfaltigkeit von Sehdingen darstellen.

Damit soll nicht gesagt sein, daß wir uns in der reinen visuellen Wahrnehmung bloß auf Sehdinge beziehen könnten; vielmehr weist die visuelle Dingwahrnehmung immer über die Welt der bloße Sehdinge hinaus. Fasse ich z. B. die mich lieblich anlächelnde Wachsfigur als eine "wirkliche" Dame auf, so bin ich eben durch die überall sich einschleichende Auffassung "als Dame" über das sich mir darbietende Sehding hinausgegangen. Und auch dann, wenn meine Auffassung der "Wirklichkeit" entspricht, wenn ich die Wachsfigur "als Wachsfigur" aufgefaßt habe, bin ich nicht rein im Bereich der Sehdinge geblieben. Ich brauche natürlich nicht notwendig diese der Sehdingwelt "transzendente" Auffassung zu vollziehen, aber es liegt im Sinn der gewöhnlichen naiven Dingwahrnehmung, daß sie über die Sehdingwelt hinausgeht. Das merken wir am deutlichsten bei den Täuschungen. Der Halluzinierende "sieht", wie ein "starker Mann" von wüstem Aussehen die Zimmertür öffnet, sich im Zimmer umsieht und sich dann auf sein Opfer stürzen will. Er weicht seinem Verfolger zuerst aus; da ihm dieser aber näher kommt, entschließt er sich, sich zur Wehr zu setzen. Doch als er seinen Peiniger bei den Armen fassen will, da greift er in die Luft. Die Halluzination währt noch kurze Zeit, dann ist sie dahin.

Hier wird uns so recht deutlich, welchen Überschuß über die Sehdingsphäre das "Ein-Ding-Sehen" der gewöhnlichen Redeweise enthält. Der Halluzinierende sieht nicht eigentlich einen Mann, sondern ihm stellt sich in reiner Sinnlichkeit nur ein Sehding dar, das sich in bestimmter Weise verändert. Aber das Sehding faßt er als ein "wirkliches" Ding und die Veränderung des Sehdings als ein "objektiv reales" Geschehen auf. Als die Halluzination "entkappt" war, bestand diese Auffassung nicht mehr, sondern da hatte der Halluzinierende ein "reines" Sehding vor sich.

Wie sich das Aufhören der ins dinglich Reale zielenden Auffassung hier unwillkürlich vollzieht, so können wir auch willkürlich von dieser "Deutung" absehen und das "Dingliche", so wie es sich uns darstellt, für sich betrachten. Wir leben dann nicht mehr in der "wirklichen" Welt, sondern in der Welt der Sehdinge. Gehen wir, wie wir das weiter oben beim Würfel und dem Sessel taten, immer in ungefähr derselben Entfernung vom Ding bleibend um dieses herum, so stellt sich uns das betreffende Sehding nach und nach von allen Seiten dar, nähern oder entfernen wir uns, so vollziehen sich an diesem Sehding gewisse gesetzmäßige Veränderungen, wie wir sie in den vorhergehenden Paragraphen im Einzelnen betrachtet haben. Ich sage "das Sehding verändert sich"; ich hätte auch ebensogut sagen können, daß andere Sehdinge entstanden sind - analog wie man auch bei den "wirklichen" Dingen den gewöhnlich als Veränderung eines Dings bezeichneten Vorgang als ein "Entstehen" neuer Dinge beschreiben könnte, da das Ding durch die Veränderung doch bis zu einem gewissen Grad ein anderes wird. Der einheitliche Beziehungspunkt all der verschiedenen Sehdinge auf ein und dasselbe (unveränderte) "wirkliche" Ding liegt in der (entweder geschauten oder auch bloß gedachten) Stetigkeit des Übergangs von einem Sehding in ein anderes. Das, was wir weiter oben wiederholt die Zugehörigkeit der Mannigfaltigkeit von Sehdingen zu ein und demselben "wirklichen" Ding nannten, findet in dieser Stetigkeit des Übergangs seine alleinige Begründung, und auch die Rede, daß wir dasselbe Ding wahrnehmen, hat nur Sinn unter der Voraussetzung der (wirklichen oder bloß vermeintlichen) Stetigkeit im Erscheinen der Sehdinge und kann nur durch diese ihre ausweisende Bestätigung erfahren.


§ 8. Sehding und Dingerscheinung

Mit dem Begriff der Sehdinge waren wir auf eine Welt der visuellen Sinnlichkeit gestoßen, die wir der nahen Beziehung zu den "wirklichen" Dingen wegen ausführlicher behandeln mußten. Wir fahren nun in unserer allgemeinen Begriffsanalyse der visuellen Sinnlichkeiten weiter fort und betrachten das Verhältnis des Sehdings zu dem, was ich als Dingerscheinung bezeichnen will.

Die Notwendigkeit, den Begriff des Sehdings einzuführen, gründeten wir auf die Tatsache, daß uns die Dinge in verschiedenen Entfernungen, unter wechselnden Beleuchtungsumständen und unter sonstigen wechselnden Verhältnissen anders erscheinen, als sie "in Wirklichkeit" sind. Doch dem Begriff des Erscheinens der Dinge in einer Mannigfaltigkeit der Sehdinge gaben wir von vornherein das bestimmte Gepräge, daß wir unter einem Sehding nicht schlechthin dasjenige verstehen wollten, "was wir von einem Ding gerade sehen", sondern wir sagten, daß Sehding nur heißen soll, was zwar den "Eindruck" eines Dings macht, aber doch kein "wirkliches" Ding ist. Den genaueren Sinn dieser Redeweise festzustellen, soll nun jetzt unsere Aufgabe sein. Wir wollen dabei wieder an das Beispiel der Würfelwahrnehmung anknüpfen.

Soll sich ein geschlossenes Sehding konstituieren, so muß sich das Ding, das sagten wir schon früher, uns auch von allen Seiten darbieten. Zumeist wird dies bei der gewöhnlichen Dingwahrnehmung nicht zutreffen, sondern das Ding wird sich nur von einigen, eventuell auch nur von einer einzigen Seite zeigen. Doch wir wollen, um unsere Betrachtungen zu spezialisieren, annehmen, das Ding, also in unserem Beispiel der Würfel, sei uns von allen Seiten sichtbar geworden. Natürlich kann dies nur nach und nach geschehen, bald sehen wir nur drei Würfelflächen, bald nur zwei, unter Umständen auch nur eine einzige. Jetzt erscheint die eine Fläche nur ganz schmal, wird dann schnell breiter und schrumpft schließlich wieder auf Null zusammen. Und in dieser großen Mannigfaltigkeit von "Erscheinungen" ist das "Erscheinende" doch nur Eines, nämlich der eine, selbe Würfel. Aber nicht bloß der Würfel als materielles Ding erscheint, sondern auch das Sehding Würfel ist dasselbe. Dieses Sehding Würfel wird im allgemeinen die visuellen Eigenschaften des "wirklichen" Würfels umso mehr zeigen, je näher der Wahrnehmende am Würfel steht und je günstiger die Beleuchtungsverhältnisse sind. Doch das Verhältnis des Sehdings zum "wirklichen" Ding kümmert uns hier nicht; wir fragen jetzt nach den Beziehungen zu den "Dingerscheinungen", d. h. zu dem, was sich uns von einem Ding in jedem Augenblick sinnlich voll und ganz darbietet und was innerhalb der Einheit des Dings und des Sehdinges den Wechsel ausmacht, wenn wir nach und nach den Würfel von allen Seiten zu sehen bekommen. Dieses Verhältnis können wir an der Art und Weise studieren, wie uns die Würfelflächen in unserem Fall "erscheinen". Die Würfelflächen, die wir zu sehen bekommen, wechseln nicht bloß, sondern bie jeder einzelnen vollzieht sich auch im Laufe der Wahrnehmung ein Wechsel in der Gestalt, sie "erscheint" uns bald quadratisch, bald rechteckig, bald auch rhombisch. Und die in den Kanten und Ecken zusammenstoßfenden Flächen setzen sich bald rechtwinklig, bald spitzwinklig, bald stumpfwinklig aneinander. Aber alle diese verschiedenen Gestalten nehmen wir nicht auch ohne weiteres als Gestalten der Sehdingflächen, sondern wir wählen nur gewisse aus, die wir dem Sehding zusprechen. So nehmen wir in unserem Beispiel nur die rechtwinkligen Formen und bauen aus ihnen die Sehdinggestalt auf. Und dieses Verhältnis besteht nicht bloß hinsichtlich der Gestalt, sondern auch hinsichtlich der Farben. Wird etwa ein Gegenstand bloß von einer Seite her belichtet, so daß die dem Licht zugewandten Teile im Schatten liegen, so wird sich die Farbe der beschatteten Teile verschieden darstellen, je nach der Stellung, die wir gerade zu einem Gegenstand haben, aber den einzelnen Teilen des Sehdings können wir von dieser Farbenmannigfaltigkeit immer nur eine Farbe zuschreiben. Das Verhältnis des Sehdings zu den jeweiligen "Dingerscheinungen" ist also nicht ohne weiteres dasjenige des Ganzen zu seinen Teilen, den "Dingerscheinungen" sind nicht einfache Stücke des Sehdings, sondern durch einen eigentümlichen Prozeß der Auswahl und Synthese müssen wir uns aus der Mannigfaltigkeit der stetig ineinander übergehenden "Dingerscheinungen" das Sehding gleichsam erst schaffen.

Allerdings ist die Abweichung zwischen den "Dingerscheinungen" und den entsprechenden Teilen der Sehdinge nicht immer sehr groß. Bei dem in mehreren hundert Metern Entfernung gesehenen eckigen Schieferdach eines Turmes z. B. verschwinden für die sinnliche Anschauung die Ecken so gut wie ganz, keine Dingerscheinung zeigt mir Ecken, sondern bei allen sehe ich nur etwas gewölbte, zart graue Flächen und aufgrund dieser Anschauung kann sich auch nicht ein der "Wirklichkeit" entsprechendes eckiges Sehding, sondern nur ein rundliches Gebilde, gewissermaßen ein rundes Turmdach, konstituieren (9). Oder betrachten wir die Art und Weise, wie uns der kleine Würfel, den wir in der Hand drehen, "erscheint". Da stellen sich nicht - wenigstens ich sehe das so, anderen Beobachtern erscheint es vielleicht anders -, wie beim vorher betrachteten Würfel, die Flächen in allen möglichen Gestalten dar, und auch die Rechtwinkligkeit, mit der sich die verschiedenen Flächen aneinander setzen, wechselt kaum, so daß auch hier, wo das Sehding den "wirklichen" Eigenschaften des Würfels entspricht, keine wesentliche Verschiedenheit zwischen den Sehdingformen und den diese darstellenden "Erscheinungsformen" besteht.

Nun haben wir bisher immer die Tatsache der Konstitution des Sehdings aufgrund einer Mannigfaltigkeit von "Dingerscheinungen" vorausgesetzt, ohne die Frage zu berühren, ob sich denn auch immer ein Sehding konstituieren muß, ja ob sich überhaupt immer ein solches konstituieren kann. Betrachten wir zunächst den Fall, daß das Ding, das wir wahrnehmen, sich in nicht zu großer Ferne und unter einigermaßen günstigen Beleuchtungsumständen befindet; es handelt sich etwa um ein Haus, das wir in einigen hundert Metern Entfernung sehen. Das Haus mag auf der einen Seite von grellem Sonnenlicht beschienen werden. Wir bewegen uns hin und her, so daß wir das Haus nacheinander von mehreren Seiten zu Gesicht bekommen. Dabei werden uns Flächen von ganz verschiedener Artung erscheinen. Bei einzelnen hervorspringenden Teilen des Hauses wird sich uns eine bestimmte Flächenanordnung zeigen, während andere Teile recht unbestimmt geformt sind. Können nun derartig verschieden geartete Flächen ein Sehding konstituieren, oder müssen uns, damit ein einheitliches Sehding herauskommt, alle Teile des Hauses in gleicher Weise deutlich, im selben Grad der Bestimmtheit der Flächenanordnung erscheinen? Ich meine, das letztere ist keineswegs erforderlich, sondern wie bei den "wirklichen" Oberflächen der Dinge die verschiedenen Teile nicht alle in gleicher Weise gestaltet zu sein brauchen, so kann sich auch die Fläche, aus der das Sehding besteht, aus Teilen von verschiedenster Flächenbestimmtheit zusammensetzen. Eine einzelne "Dingerscheinung" weist ja unter Umständen auch die mannigfachsten Grade von Flächenbestimmtheit auf, und so kann es auch bei der Sehdingfläche, die sich aufgrund der "Dingerscheinungen" konstituiert, nicht anders sein. Bei der Konstitution des Sehdings kommt es ja nicht darauf an, daß alle Teile, die zu ihm gehören, in gleichem Grad die visuellen Eigenschaften der ihnen entsprechenden "wirklichen" Flächenteile darstellen, sondern nur darauf, daß sich nach dem Prozeß der Auswahl und Synthese aus der Mannigfaltigkeit der "Dingerscheinungen" eine fortlaufende Fläche zusammensetzen läßt, mag nun der eine Teile der Sehdingfläche mehr, der andere weniger den Eigenschaften der "wirklichen" Fläche nahe kommen.

Die Frage nun, ob sich aufgrundd einer stetigen Mannigfaltigkeit von "Dingerscheinungen" auch immer ein einheitliches Sehding konstituieren kann, ist allgemein nicht so ganz einfach zu beantworten, weil innerhalb des Sehdingbereichs merkwürdige Übergangsreihen vorhanden sind, die sich begrifflich nicht so leicht fassen lasen. Als ein wesentliches Konstituens des Sehdings wurde früher die anschaulich sich darbietende Größe bezeichnet. Als Bedingung für die Möglichkeit der Konstitution eines einheitlichen Sehdings würden wir also auch hinstellen müssen, daß sich alle "Dingerscheinungen" auf eine einheitliche Sehdinggröße beziehen lassen. Nehmen wir nun aber den Fall, daß wir um ein Ding herumgehen und uns ihm gleichzeitig nähern; so wird die Sehdinggröße innerhalb gewisser Grenzen wechseln, dem Sehding würden wir also verschiedene Größen zuzuschreiben haben, was nicht gut möglich ist. Wie sollen wir nun in diesem Fall den Wahrnehmungstatsachen gerecht werden? Wird hier unser Begriff des Sehdings nicht einfach zuschanden?

Doch bedenken wir, daß ganz dieselben Schwierigkeiten eigentlich auch bei der Bestimmung der "wirklichen" Eigenschaften eines Dings bestehen, das während der Bestimmung Veränderungen ausgesetzt ist. Da ergibt sich auch keine in jeder Hinsicht einstimmige Festlegung der Eigenschaften, sondern nur ein "Gemisch" aus verschiedenen Stadien der Entwicklung eines Dings, und begrifflich bringen wir die Sachlage dann durch die Rede von der Veränderung des Dings zum Ausdruck. Sollen wir nun hier bei den Sehdingen die sich entgegenstellenden Schwierigkeiten auch auf Kosten der Veränderung des Sehdings während der Wahrnehmung setzen? Von der Möglichkeit eine solchen Veränderung sprachen wir früher ja schon. Sollen wir also sagen, daß sich während unserer Wahrnehmung die Größe des Sehdings verändert, so daß wir ein sich veränderndes Sehding, oder wenn uns das besser ausgedrückt erscheint, kein einzelnes, ruhendes Sehding, sondern eine durch stetige Übergangsstufen verbundene Mannigfaltigkeit von Sehdingen wahrnehmen? Bei dieser Auffassung der Sachlage scheinen sich die Schwierigkeiten am einfachsten zu lösen. Doch ganz einwandfrei will andererseits die Lösung nicht erscheinen: den "wirklichen" Dingen schreiben wir noch solche Eigenschaften zu, die nicht gerade in unsere Wahrnehmung fallen. Hat es aber einen Sinn von Eigenschaften eines Sehdings zu reden, die nicht wahrgenommen werden? Ist nicht vielmehr das Sehding nur etwas in und mit der Wahrnehmung? Wäre es da nicht korrekter, zu sagen, ein Sehding konstituiert sich überhaupt nicht, sondern wir hätten bloß eine stetige Reihe von "Dingerscheinungen"? Die Sache wäre einfacher zu entscheiden, wenn sich alle Wahrnehmungsfälle in gleicher Weise abspielen würden. Gewiß, es kann sein, daß wir eine bloße Reihe von "Dingerscheinungen" haben, ein Sehding muß sich nicht notwendig konstituieren. Aber darüber kommt man doch auch nicht hinweg, daß sich uns in vielen Fällen keine bloße Reihe von "Dingerscheinungen" darstellt, sondern daß sich in und mit dieser Erscheinungsreihe ein Sehding konstituiert, eine dem Sinn und der Möglichkeit nach (ringförmig) geschlossene Sehfläche. Das Ziel unserer Wahrnehmungen ist doch zumeist das Ding mit seinen Eigenschaften, und eben darum achten wir gewöhnlich gar nicht auf die reinen "Dingerscheinungen", sondern nur auf das, was uns durch sie und durch das Sehding für die Bestimmung des Dings an die Hand gegeben wird. In diesen Fällen aber würden wir die Wahrnehmungstatsachen falsch beschreiben, wenn wir von einer bloßen "Erscheinungsreihe" sprechen würden. Wir werden also der Tatsachen bei unserem vorhin erwähnten Fall der Veränderung der Sehgröße auch kaum anders Herr werden können als dadurch, daß wir sie als eigentümliche Übergangs-, Veränderungsreihen der Sehdinge während der Wahrnehmung bezeichnen.

Aber abgesehen von den Verhältnissen bei der Veränderung der Sehgröße erfordert die Frage, ob sich durch eine stetige Mannigfaltigkeit von "Dingerscheinungen" ein Sehding konstituieren kann, auch im Fall der gleichbleibenden Sehgröße noch eine gesonderte Behandlung, durch welche der Begriff der Konstitution des Sehdings noch eine genauere Prüfung erhalten wird. Nehmen wir an, daß wir in weiter Ferne etwas sehen, was wir für eine Burg halten. Wir sehen nur eine flache, unbestimmt ebenenhafte, "weiche" Fläche von einer gewissen Breite. Die Burg steht vielleicht auf einem Hügel, um den uns die Eisenbahn, in der wir sitzen, in weitem Bogen herumführt. Auf diese Weise bekommen wir die vermeintliche Burg nacheinander von verschiedenen Seiten zu sehen, und aus den (ebenenhaften) Formen, die wir nach und nach schauen, können wir bis zu einem gewissen Grad auf die Gestalt der Burg im Ganzen schließen.

Betrachten wir nun demgegenüber den Fall, daß wir ein Haus aus der Nähe betrachten. Während wir um das Haus herumgehen, bietet sich uns dieses von allen Seiten dar, und wenn wir wieder an unserem früheren Standpunkt der Betrachtung angelangt sind, dann können wir sagen, wie sich uns das Haus (aus den jeweiligen Entfernungen und in den jeweiligen Beleuchtungsverhältnissen) dargestellt hat. Das Haus hat uns eine so und so geformte und hier so, da anders gefärbte Fläche sehen lassen. Die Farben und Formen der "Dingerscheinungen" wichen zwar hier und da von den entsprechenden Farben und Formen des Sehdings ab, aber anschaulich entwickelte sich vor unseren Augen die Sehdingfläche. Wir schlossen nicht aus den Formungen der "Dingerscheinungen" auf die Gestalt des Sehdings, sondern die sinnliche Anschauung ließ uns die Form des Sehdings deutlich erkennen. Beim Burgbeispiel aber schlossen wir aus den Gestalten der "Dingerscheinungen" auf die ungefähre Gestalt des Dings; ein den verschiedenen Erscheinungen entsprechenden Sehding konnte sich da anschaulich nicht entwickeln, sondern wir konnten höchstens ein solches Sehding in Gedanken konstruieren, wenn es überhaupt einen Sinn hat, von solchen bloß gedachten Sehdingen zu reden. Wir müßten also sagen: beim Burgbeispiel besteht die Möglichkeit der vollen anschaulichen Entwicklung eines Sehdings nicht, sondern sinnlich anschaulich haben wir eine bestimmte Folge von "Dingerscheinungen", aus denen wir nur in Gedanken ein Sehding aufbauen können. Beim Hausbeispiel hingegen stellt sich in und mit den "Dingerscheinungen" das Sehding "Haus" anschaulich dar. Die beiden Beispiele aber geben uns nur zwei mögliche Extreme; zwischen beiden haben wir keine scharfen Grenzen, sondern beide sind verbunden durch die große Mannigfaltigkeit der Fälle, wo sich das Sehding bald mehr, bald weniger anschaulich konstituieren kann. Diese merkwürdigen Übergangsstufen bringen in unseren Begriff des Sehdings in gewisser Weise etwas Schwankendes und Schillerndes, und ich gestehe, daß ich mir über die Anwendungsmöglichkeit unseres Begriffs des Sehdings auf diese Fälle noch nicht ganz klar bin. Es ist schwer, diese eigentümlichen Verhältnisse der Sehdingkonstitution, die man wohl klar schauen kann, auch begriff klar zu fassen.

Schließlich wäre auch noch die Anwendbarkeit des Begriffs des Sehdings auf eine andere Erscheinungsgruppe zu erwägen. Wir sind bisher immer von der Voraussetzung ausgegangen, daß das Sehding, das sich konstituieren soll, eine voll geschlossene Fläche ist. Nun stellen sich uns die Dinge gewöhnlich doch nicht in solchen geschlossenen Sehdingflächen dar, sondern höchstens in Teilen von solchen. Vor mir steht ein rechtkantiger Gegenstand. Ich stelle mich zuerst so, daß ich nur eine Fläche sehen kann. Dann bewege ich meinen Kopf und eventuell auch meinen Körper so weit, daß ich auch noch eine zweite Fläche zu Gesicht bekomme. Ich habe in diesem Fall eine Mannigfaltigkeit von "Dingerscheinungen", aber aus diesen kann sich, da ich von den anderen Flächen überhaupt nichts gesehen habe, auch keine volle Sehdingfläche konstituieren, sondern nur eine offene Fläche (wenn ich so sagen darf), die aus zwei sich rechtwinklig schneidenden, ebenen Flächen besteht. Das Sehding hat dann zwar keinen anderen Charakter als in dem Fall, wo ich den Gegenstand von allen Seiten sehe, aber in gewisser Weise führt dieser Fall doch auf eine neue begriffliche Schwierigkeit. Denn nehmen wir an, daß wir den Bereicht der Bewegungen unseres Körpers und Kopfes immer mehr verkleinern, so kommen wir schließlich zu dem Grenzfall, bei dem überhaupt keine Bewegung mehr erfolgt, und die Mannigfaltigkeit der "Dingerscheinungen" schrumpft so auf eine einzige "Dingerscheinung" zusammen. Haben wir nun vorher das aus den beiden rechtwinkligen Flächen bestehende Gebilde ein Sehding genannt, so werden wir auch bei der allmählichen Verringerung des Bereichs der Bewegungen immer noch von Sehdingen reden müssen, und im Grenzfall kämen wir dann dazu, die eine "Dingerscheinung" selbst ein "Sehding" zu nennen. Damit aber wäre die bisher aufrecht erhaltene scharfe Grenze zwischen dem Bereich des Begriffs des Sehdings und demjenigen des Begriffs der "Dingerscheinung" dahin, die mit Müh' und Not aufgestellten Begriffe gingen wieder durcheinander.

Doch diese Schwierigkeit läßt sich beseitigen, wenn man unseren Begriffen des "Sehdings" so, wie er von Anfang an gedacht und eingeführt war, konsequent festhält. Gewiß könnte man den Begriff des "Sehdings" auch dahin erweitern, daß man nicht bloß die "geschlossenen, sondern auch die "offenen" Sehflächen unter ihnen begreift. Doch in dieser Erweiterung war unser Begriff "Sehding" nicht gedacht. Wir führten den Begriff dadurch ein, daß wir sagten, unter ihn soll all das Gesehene fallen, was zwar den Eindruck eines "wirklichen" Dings macht, aber kein solches ist. Zu einem "wirklichen" Ding aber gehört, daß es ein Materielles ist, das ein Vorn, Hinten, Rechts, Links, Oben und Unten hat. Diese verschiedenen Seiten des Dings brauchen sich uns zwar nicht alle in der Wahrnehmung darzustellen, aber zum Wesen des Dings gehört es, daß es sich von diesen Seiten darstellen kann. Behalten wir nun die Anlehnung unseres Sehdingbegriffs an den Begriff des "wirklichen" Dings bei, so werden wir auch die wesentliche Eigenschaft, daß sich das Ding von verschiedenen Seiten darstellen kann, auf das "Sehding" übertragen. Wir würden dann also sagen müssen, daß sich uns die Dinge vielfach nicht in vollständigen Sehdingen, sondern nur in mehr oder weniger vollständigen Teilen von solchen darstellen, daß es aber zum Wesen eines jeden "Sehdings" gehört, daß sich auch die gerade nicht gesehenen Teile in der Wahrnehmung darstellen können. Und demnach würden auch die "offene" Sehfläche nicht ein vollständiges Sehding, sondern nur ein Teil eines solchen nennen, welcher der Möglichkeit nach zu einem vollen Sehding ergänzt werden kann. Die Tatsachen der Dingwahrnehmung aber würden dann in der Weise zu bezeichnen sein, daß uns gewöhnlich kein volles Sehding, sondern nur ein Teil davon zu Gesicht kommt. Dieser Teil wird sich je nach den Wahrnehmungsumständen durch eine größere oder geringere Mannigfaltigkeit von "Dingerscheinungen" konstituieren, kann unter Umständen aber auch mit einer bloßen "Dingerscheinung" zusammenfallen. Wir hätten dann also die "Dingerscheinung" nicht als Grenzfall der "Sehdinge", sondern im Grenzfall kann die "Dingerscheinung" das Ding allein wahrnehmungsgemäß repräsentieren, ein mögliches Sehding konstituiert sich überhaupt nicht.


§ 9. Die Dingerscheinung

Wir haben bisher den Begriff "Dingerscheinung" im Unterschied vom Begriff des "Sehdings" in Anwendung gebracht, ohne den Begriff der "Dingerscheinung" für sich allein völlig bestimmt herauszuarbeiten. Wir wollen diese exaktere Bestimmung jetzt nachholen. Wir knüpfen adabei an die schon wiederholt berührte triviale Tatsache an, daß wir bei der Dingwahrnehmung - sofern wir die durchsichtigen Körper, wie wir es bisher taten, wieder außer acht lassen - in jedem Augenblick nicht die gesamte Oberfläche des Dings, sondern immer nur einen jeweils bestimmten Teil zu sehen bekommen. Die Fläche, in der uns das Ding jeweils erscheint, in der Gestaltung und Färbung, in der wir sie sehen, bezeichnen wir als die jeweilige "Dingerscheinung".

Diese kurze Definition würde allein schon genügen, um den Begriff der "Dingerscheinung" eindeutig festzulegen, wenn man nicht befürchten müßte, daß das "erscheint" und die Worte "in der Gestaltung und Färbung, in der wir sie sehen" bei den verschiedenen Lesern die verschiedensten Deutungen erfahren könnten. Es sind hier zwei Richtungen, nach denen hin unsere Worte falsch gedeutet werden könnten, nämlich nach der objektiven Seite und nach der Seite des retinalen Prozesses hin. Um diese beiderseitigen Mißdeutungen auszuschließen, werden wir also anhand einzelner Beispiele genauer auf diese Verhältnisse eingehen müssen.

Die "Dingerscheinungen" können sich inhaltlich voll und ganz decken mit den von ihnen dargestellten "wirklichen" visuellen Flächen, können aber auch ebensogut von diesen abweichen. Sprechen wir zunächst nur von der Gestalt der "Dingerscheinung" und nehmen wir wieder den schon früher betrachteten Fall, daß wir einen kleinen Würfel, den wir in der Hand haben, betrachten. Ich halte den Würfel in etwa 40 cm Entfernung von meinen Augen hin, daß mir gerade eine Ecke des Würfels zugekehrt ist, und sehe den Würfel in der Weise der gewöhnlichen Dingwahrnehmung an. Die Fläche, die mir dann erscheint, setzt sich aus drei weißen Teilflächen zusammen, von denen jede sich an die andere in einer geradlinigen Kante unter einem rechten Winkel ansetzt. Die "Dingerscheinung" entspricht also in diesem Fall in gestaltlicher Hinsicht ganz den entsprechenden "wirklichen" Flächen. Die Möglichkeit der inhaltlichen Deckung der Dingerscheinungsflächen und der "wirklichen" Flächen besteht also. Doch diese Deckung besteht nicht in allen Fällen: Ich stelle mich in die Mitte meines Zimmers und besehe eine Zimmerecke. Die Wände dieser Ecke schneiden sich "in Wirklichkeit" rechtwinklig, die "Dingerscheinung" aber zeigt keinen rechten, sondern einen stumpfen Winkel. Oder ein anderes Beispiel: in etwa 2 m Entfernung von mir steht ein "in Wirklichkeit" zylindrischer Aschenbecher auf dem Tisch. Der obere Rand des Gefäßes aber erscheint mir nicht kreisrund, sondern ziemlich flach elliptisch, und die Wölbung der mir zugewandten Seitenfläche des Gegenstandes erscheint nicht kreis-zylindrissch, sondern zeigt deutlich eine flachere Wölbung; das Ding erscheint gleichsam in der Sehrichtung zusammengedrückt. Überhaupt zeigt die Mehrzahl der Wahrnehmungsfälle starke Abweichungen der "Dingerscheinungen" von den entsprechenden "wirklichen" Flächen; ich brauche in dieser Hinsicht nur auf all das hinzuweisen, was ich bei den Erörterungen über das Sehding über die Veränderungen der Sehgröße, der Flächenanordnung und Formung und der Sehfarbe ausgeführt habe. Alles, was dort über die Sehdinge gesagt ist, gilt entsprechend auch von den "Dingerscheinungen": die Verringerung der Sehgröße und des Grades der Bestimmtheit der Flächenanordnung und die Veränderung der Sehfarben mit der Entfernung des Dings vom Auge und mit dem Wechsel in den Beleuchtungsverhältnissen finden sich auch bei den "Dingerscheinungen" in gleicher Weise wieder; wir brauchen deshalb hier auf diese Verhältnisse nicht mehr weiter einzugehen.

Etwas ausführlicher müssen wir noch zu sprechen kommen auf das Verhältnis der "Dingerscheinungen" zu den ihnen entsprechenden Netzhautbildern. Hinsichtlich der Sehgröße der "Dingerscheinungen" können wir uns zwar auch noch auf das in § 4 Gesagte berufen, aber die gestaltlichen Beziehungen erfordern noch eine besondere Erörterung. Beginnen wir mit den ebenen Formen:

Ich betrachtet das rechteckige Blatt Papier, auf dem ich schreibe, aus verschiedenen Stellungen meines Kopfes und meiner Augen. Jedesmal laufe ich mit dem Blick den Rand des Papiers entlang und achte darauf, unter welchem Winkel sich die Begrenzungslinien erscheinungsgemäß schneiden. Ich finde dann, daß es recht viele Stellungen gibt, in denen mir das Papierblatt rechteckig erscheint. Überlege ich aber, wie es bei all diesen Stellungen mit der Gestalt der Netzhautbilder steht, so erkenne ich, daß diese nicht samt und sonders rechteckig sein können.

Oder betrachten wir eine in einiger Entfernung von uns auf dem Tisch liegende kreisrunde Scheibe. Diese erscheint uns dann, wenn wir um den Tisch herumgehen, zwar keinmal als kreisrunde, sondern immer als elliptische Scheibe, und da offenbar in diesen Fällen auch die Netzhautbilder elliptisch sein müssen, so scheinen hier die gestaltlichen Verhältnisse der "Dingerscheinungen" mit denjenigen der Netzhautbilder übereinzustimmen. Nun ist eine derartige Übereinstimmung ansich nicht ausgeschlossen, aber ich meine, eine völlige Übereinstimmung besteht auch hier nicht. Denn überlegen wir wieder die Sachlage genauer, so finden wir, daß die Achsenverhältnisse der Ellipsen, die wir sehen, doch andere sein müssen als diejenigen der Netzhautellipsen; die letzteren müssen im Vergleich zu ihrer Länge schmaler sein als die ersten.

Die Verschiedenheit in der Prägung der gestaltlichen Verhältnisse von Netzhautbild und "Dingerscheinung" tritt aber vor allem zutage, wenn wir zur Betrachtung der körperlichen Formen übergehen. Die Netzhaut, so könnte man sagen, ist eine Fläche, jedes Bild, das auf ihr entsteht, muß deshalb auch flächenhaft sein, d. h. die Netzhautbilder müssen im wesentlichen zweidimensionale Gebilde sein, und zwar muß das für alle Netzhautbilder gelten, mögen sie nun von ebenen oder gewölbten Flächen entworfen sein. Von den Netzhautbildern könnte man dann auch die räumliche Gestaltung der "Dingerscheinungen" schließen wollen und sagen: Wenn die Netzhautbilder bloß zweidimensional ausgedehnt sein können, so können auch die "Dingerscheinungen" bloß zweidimensionale Gebilde sein. Doch ein derartiger Schluß würde im Sinne unseres Begriffs der "Dingerscheinung" einfach aus der Luft gegriffen sein. Wir haben unseren Begriff der "Dingerscheinung" nicht nach den Netzhautbildern, sondern nach dem orientiert, was die sinnliche Anschauung an Material aufzuweisen vermag. Und wenn wir dieses sinnliche Anschauungsmaterial durchmustern, so finden wir, daß die Flächen, die wir von Augenblick zu Augenblick sehen, die sich uns voll anschaulich darstellen, im allgemeinen dreidimensionale und nicht bloß zweidimensionale Gebilde sind. Natürlich zeigt uns die Anschauung nicht nur Dreidimensionales. Die Papierfläche, auf der ich schreibe, ist zweidimensional, und sie erscheint mir auch nicht körperlich, sondern eben. Ebenso stellt sich mir die Sehfläche, in der mir die Körper in weiter Ferne erscheinen, immer als ein ebenenhaftes Gebilde dar. Und vielleicht ist es auch zugegeben, daß es nach einiger Übung gelingt, die Flächen der Körper, die wir in unserer Nähe sehen, auf Flächen, die hinter den Körpern liegen, zu projizieren und so den Erscheinungen womöglich aller Körper einen zweidimensionalen Charakter zu verleihen. Doch wie weit etwas derartiges auch gelingen mag, daran besteht doch wohl ein Zweifel, daß ein solches "Projizieren auf dahinter liegende Flächen" etwas durchaus Künstliches, der gewöhnlichen Wahrnehmungsweise Fremdartiges wäre, das nun und nimmer über die Tatsache hinweghelfen kann, daß wir auch dreidimensional sehen können. Denn betrachte ich den Kugelgriff meines Briefbeschwerers oder die Rundung meines Tintenfasses in gewöhnlicher Weise ohne irgendeine Absicht auf ein "Projizieren", so sehe ich vor mir keine ebenen oder ebenenhaften Gebilde, sondern ich sehe deutlich Wölbungen und Krümmungen, die sich nach drei Dimensionen erstrecken. Oder man betrachte solche Körper aus der Nähe, bei denen aus der Oberfläche irgendwelche plastischen Gebilde herausgearbeitet sind! Sehen wir da wirklich - immer natürlich die gewöhnliche Betrachtungsweise vorausgesetzt - ein unterschiedsloses bloßes Nebeneinander? Oder sehen wir nicht vielmehr, wie aus der Fläche als Ganzem hier ein Teil hervor-, da zurücktritt, wie hier ein Teil eben, da konkav, dort konvex gekrümmt ist? Und zwar "sehen" mit derselben Deutlichkeit und sinnenfälligen Anschaulichkeit, mit der wir das Nebeneinander zweier Farben sehen. Mögen diese beiden Fälle in physiologischer Hinsicht oder vom Standpunkt einer kausal-genetischen Erklärung noch so verschieden sein, die reine Deskription wird nicht umhin können zu sagen, daß das eine genauso sinnlich-anschaulich ist wie das andere.

Freilich soll nicht geleugnet werden, daß es neben den Fällen der vollen Anschaulichkeit der dreidimensionalen Sinngebilde auch Beispiele gibt, bei denen wir in der Tat nicht mit Bestimmtheit sagen können, ob wir die Dreidimensionalität auch wirklich sehen. Ich will in dieser Beziehung nur auf den bekannten Fall hinweisen, wie uns die kugelförmigen Stülpen der Gaslampen, wie man sie vielfach auf Bahnhöfen, in Hotels usw. trifft, aus einiger Entfernung erscheinen. Da kann von einem Sehen der Wölbung, wie sie in den vorher beschriebenen Fällen besteht, keine Rede sein. Andererseits sehen wir doch auch wieder kein bloßes Farbennebeneinander, sondern im reinen Erscheinungsmaterial liegt noch etwas, was uns die Wölbung andeutet. Und wie es in diesem besonderen Fall steht, so lassen sich auch noch mannigfache andere Beispiele aufzählen, wo in derselben Weise die Dreidimensionalität bloß angedeutet und nicht eigentlich voll und ganz gesehen ist. Doch was beweisen all diese Möglichkeiten gegen die Tatsache, daß wir in anderen Fällen, unter anderen Bedingungen eine volle Dreidimensionalität sehen? Wie die Sehbedingungen andere werden können, so kann auch der Charakter des sich darstellenden Erscheinungsmaterials wechseln: im einen Fall sehen wir eine bloße Ebenenhaftigkeit, im anderen Fall erscheinen uns vollkommen deutliche dreidimensionale Gebilde, und zwischen diese beiden extremen Gruppen von "Erscheinungen" läßt sich die große Mannigfaltigkeit derjenigen Erscheinungsgruppen einordnen, bei denen in der Erscheinung eine mehr oder weniger weitreichende "Andeutung" von Dreidimensionalität fehlt, Erscheinungsgruppen, die gleichsam "Mischungen" aus Zweidimensionalität und Dreidimensionalität darstellen, oder - wie wir es im Anschluß an unsere frühere Terminologie auch ausdrücken können - denen keine völlige, anschaulich bestimmte, sondern eine mehr oder weniger unbestimmte Dreidimensionalität zukommt. -

Entsprechende Abweichungen zwischen dem Charakter der Erscheinung und den zughörigen Netzhautbildern, wie wir sie bei den Formen konstatieren, bestehen nun auch hinsichtlich der Farben. Nehmen wir an, daß wir eine objektiv als gleichmäßig rot zu bezeichnende Kugel sehen. Um den Charakter der in diesem Fall vorhandenen Netzhautbilder zu erkennen, dürfen wir vielleicht Bezug nehmen auf das, was der Maler bei der bildlichen Darstellung der Kugel auf seine Leinwand malen würde. Dieser würde offenbar nicht einfach einen Kreis mit gleichmäßigem Rot erfüllen dürfen, sondern um die richtige Wirkung zu erzielen, würde er verschiedene Rotnuancen (im Großen und Ganzen) kontinuierlicher Abschattung zu malen haben. In derselben Weise, wie hier der Maler beim Übergang vom Mittelpunkt des gezeichneten Kreises nach der Peripherie andere und wieder andere Rotnuancen nehmen muß, würden auch die bei der Kugelwahrnehmung vorhandenen retinalen Prozesse wechseln müssen. Die Farberscheinung, die wir von der Kugel haben, zeigt nun zwar auch im allgemeinen Abschattungen, aber doch nicht in demselben Maß, wie es bei der Zeichnung der Fall ist. Wir merken dies deutlich, wenn wir es unternehmen, ohne irgendeine malerische Vorbildung eine derartig gleichmäßig rote Kugel zu malen. Da wir - um den Ausdruck HERINGs zu gebrauchen - alle Dinge durch die Brille der "Gedächtnisfarben" ansehen, so würde unsere Zeichnung nicht die richtige Wirkung erzielen, auch wenn wir die technischen Unvollkommenheiten außer Acht lassen, und die Farben, die wir sehen, die Erscheinungsfarben, vollkommen adäquat dargestellt hätten. Denn wenn die Beschaffenheit der Erscheinungsfarbe auch in hohem Maß von der Beschaffenheit der zugrunde liegenden retinalen Prozesse abhängt, so stellt die Erscheinungsfarbe doch nicht ohne weiteres etwa "die in den Raum projizierten qualitativen retinalen Prozesse" dar - wenn ich mich so ausdrücken darf -, sondern sie weicht von diesen gedachten "Projektionsfarben" in der Richtung auf die "wirkliche" Farbe des Dings ab liegt also gleichsam zwischen den Farben der "Projektion der reinen retinalen Prozesse" und der "objektiv-wirklichen" Farbe des Dings. Damit soll aber nicht gesagt sein, daß nicht einmal auch die Erscheinungsfarbe den retinalen Prozessen völlig entsprechen oder andererseits sich mit der "wirklichen" Farbe eines Dings decken könnte; diese beiden Extreme sind ansich sehr wohl möglich, aber im allgemeinen wird die Erscheinungsfarbe nach beiden Seiten hin abweichen (10).


§ 10. "Sinnliches Erlebnis" und
"sinnliche Anschauung"

Bei den Erörterungen über das Verhältnis der Dingerscheinung zum Sehding wurde ausgeführt, daß sich das vollständige Sehding erst in einer Mannigfaltigkeit von Dingerscheinungen, die kontinuierlich ineinander übergehen, konstituiert. Ein in gewissem Sinne entsprechendes Verhältnis besteht auch zwischen der Dingerscheinung und demjenigen Sinnlichen, das ich hier als "sinnliche Anschauung" bezeichnen möchte. Denn die "Dingerscheinung" ist kein schlechthin erlebtes Sinnliches, sondern ebenfalls erst durch eine gewisse Mannigfaltigkeit sinnlich einfacherer Erlebnisse konstituiert. Machen wir uns das an einem Beispiel klar!

Nehmen wir wieder den Fall, den wir schon früher erörterten, daß wir in der Mitte des Zimmers stehend eine Zimmerecke betrachten. Um die "Dingerscheinung", die wir als zwei ebene Flächen charakterisierten, die sich unter einem stumpfen Winkel schneiden, übersehen und beschreiben zu können, genügt bei der Ausdehnung der Eckenerscheinung nicht ein einziger Blick, sondern wir müssen mit unserem Blick die Erscheinung durchlaufen, müssen bald diesen, bald jenen Teil der Erscheinung fixieren, und erst in der Mannigfaltigkeit der bei der verschiedenen Fixation sich ergebenden, kontinuierlich aneinander gereihten Teilflächen konstituiert sich die "Eckenerscheinung" in ihrer Totalität. In jeder, durch die jeweilige Fixationsrichtung festgelegten "sinnlichen Einzelanschauung" ist jedesmal nur ein Stück der ganzen Eckenerscheinung enthalten, nämlich derjenige Teil, der die Mittelpartie des Anschauungssehfeldes ausmacht. Um von der Anschauung zur "Eckenerscheinung" zu kommen, nehme ich aus den sich mir bietenden verschiedenen Anschauungen diesen mittleren Teil heraus; die nur undeutlich gesehenen Außenpartien des Sehfeldes sind uns dabei völlig gleichgültig, sie sind gleichsam nur zufällige und überflüssige Zugaben, die für den Aufbau der "Dingerscheinung" nicht weiter in Betracht kommen. Allerdings ist mit dem "Herausnehmen des mittleren Teils des Sehfeldes" die Konstitution der "Dingerscheinung" aus der Mannigfaltigkeit der Anschauungen nur ganz roh beschrieben, denn wir erhalten ja die Erscheinung nicht durch eine bloße Aneinanderreihung von Anschauungsstücken, sondern durch einen ganz eigenartigen Konstitutionsprozeß, der sich schwer mit etwas Andersartigem vergleichen läßt. Doch da ich meinen Begriff der Anschauung im Unterschied von dem der "Erscheinung" deutlich zu machen versuchen muß, so muß ich das Verhältnis beider beschreiben, d. h. mit Andersartigem vergleichen, und da habe ich keinen besseren Vergleich gefunden als denjenigen, welchen ich angegeben habe. Im Übrigen wird - glaube ich - jeder im Beobachten und Unterscheiden Geübte merken, worauf ich hinaus will, wenn er das vorher angegebene kleine Experiment mit der Ecke nachmacht und dabei darauf achtet, was er tut, wenn er mit dem Blick die Kante entlangläuft und das Gesehene als die eine Erscheinung der Ecke auffaßt.

Hat man sich aber dieses eigentümliche Übergangsverhältnis klar gemacht, so wird man auch den Unterschied verstehen, den ich zwischen der "Erscheinung" und der "Anschauung" mache: Behalte ich eine bestimmte Fixationsrichtung bei, fixiere also ständig einen bestimmten Punkt der Ecke, so habe ich eine "Anschauung". Zur "Anschauung" gehört aber nicht bloß das, was sich mir in der Mitte des Sehfeldes darstellt, sondern auch das, was ich bei den Außenpartien zu sehen bekomme, wenn ich diese mit Aufmerksamkeit verfolge All das also, was sich mir an sinnlich-anschaulichem Material bei gleichbleibender Blickrichtung, aber wechselnder Aufmerksamkeitsrichtung nach und nach darbietet, soll zu einer einzigen "Anschauung" gerechnet werden (11).

Mit dieser Gegenüberstellung von gleichbleibender Blickrichtung und wechselnder Aufmerksamkeitsrichtung aber wird auch das, was wir die "Anschauung" nennen, nicht als das schlechthin erlebte Sinnliche charakterisiert, sondern als etwas, was sich erst wieder aus einer Mannigfaltigkeit von solchen Erlebnissen konstruieren muß. Ohne auf die schwierige Frage nach dem Verhältnis der Aufmerksamkeit zum sinnlich Angeschauten eingehen zu wollen, soviel scheint mir doch behauptet werden zu dürfen, daß sich die Außenpartien meines Gesichtsfeldes anders anmuten, daß ihre sinnliche Anschaulichkeit eine andere ist, wenn ich in gewohnter Weise mit meiner Aufmerksamkeit in den Mittelpartien des Gesichtsfeldes ruhe, als wenn ich die Außenpartien selbst zum Zielpunkt meiner Aufmerksamkeitsrichtung mache. Wenn ich demnach bei feststehender Blickrichtung und sich verändernder Aufmerksamkeitsrichtung das "Angeschaute" durchlaufe, so wechselt das schlicht erlebte sinnliche Material ständig, aber wir fassen doch das Gesehene als eine einheitliche "Anschauung" auf, lassen sich also aufgrund des "sinnlich Erlebten" die "Anschauung" konstituieren.

Mit dem "sinnlichen Erlebnis" aber hat unser Zergliederungsprozeß des visuell Wahrnehmbaren sein Ende erreicht. Das "sinnliche Erlebnis" ist das einfach hingenommene Sinnliche, das keiner Konstitution aus einer Mannigfaltigkeit primitiverer sinnlicher Data mehr fähig ist. Aber es ist zugleich auch dasjenige Sinnliche, das in seiner Totalität einer vollkommenen Erfassung und Beschreibung nicht mehr standzuhalten vermag. Denn erfassen und beschreiben kann ich immer nur, was durch die Hinlenkung meiner Aufmerksamkeit aus einem schemenhaften sinnlichen Hintergrund ausgezeichnet pointiert, herausgehoben ist. Versuche ich also, ein "sinnliches Erlebnis" nach seinem gesamten Habitus zu erfassen, so muß ich notgedrungen das "Erlebnis" mit Aufmerksamkeit durchlaufen, das "sinnliche Erlebnis" also in das verwandeln, was ich die "Anschauung" genannt habe.

Doch möchte ich das Verhältnis der "Anschauung" zum "sinnlichen Erlebnis" nicht weiter verfolgen. Es mag genug sein, daß auf die Konstitution der "Anschauung" durch den Wechsel der Aufmerksamkeitsrichtung hingewiesen worden ist. Mit ein paar Worten aber will ich noch auf die Grenze der Bereiche der Begriffe "Anschauung" und "Dingerscheinung" zu sprechen kommen. Wir sagten, daß sich in der Veränderung der Blickrichtung aus der Mannigfaltigkeit der "Anschauungen" die "Dingerscheinung" konstituiert. Daß ein solches Verfahren möglich ist und bei der Betrachtung größerer Flächen auch tatsächlich mannigfach geübt wird, kann wohl nicht bestritten werden. Aber ebenso offenbar ist es andererseits auch, daß diese Konstitutionsweise bei kleinen Flächen unnötig und überflüssig, ja unter Umständen gar nich vollziehbar ist, sondern daß in diesen Fällen die "Dingerscheinung" einfach "Anschauung" ist. Wenn dem aber so ist, dann laufen die Begriffe "Anschauung" und "Dingerscheinung" scheinbar wieder durcheinander. Vor allem kann dann nicht allgemein gesagt werden, daß sich die "Dingerscheinung" erst aus "Anschauungen" konstituieren muß, sondern höchstens, daß sie sich daraus konstituieren kann. Und in der Tat bedürfen unsere Ausführungen über den Übergang von den "Anschauungen" zur "Dingerscheinung" in dieser Hinsicht noch der Ergänzung. Wir haben ja auch bereits früher darauf hingewiesen, daß unter Umständen die "Dingerscheinung" ein Stück des "Sehdings" sein kann, daß es also einen Punkt gibt, in dem sich "Sehding" und "Dingerscheinung" berühren können. Es kann sein, daß sich erst aus einer Mannigfaltigkeit von "Dingerscheinungen" ein Sehding oder ein Teil eines solchen konstituiert, aber es kann auch sein, daß uns nur eine Seite des Dings in einer einzelnen "Dingerscheinung" zur Anschauung kommt. Ähnlich verhält es sich auch beim Übergang von der "Empfindung" zur "Dingerscheinung". Es kann sein - und dies wird hier wohl der gewöhnliche Fall sein -, daß sich bei der Wahrnehmung eines Dings aufgrund einer Mannigfaltigkeit von "Anschauungen" eine regelrechte "Dingerscheinung" konstituiert, es kann aber auch der Fall eintreten, daß wir den Gegenstand nur mit einem flüchtigen Blick streifen, daß die "Anschauung" zugleich als "Dingerscheinung" fungiert. Überhaupt soll ja mit unserem ganzen Aufbau der verschiedenen Stufen der visuellen Sinnlichkeit in im "sinnlichen Erlebnis" der "Anschaung", der "Dingerscheinung" und dem "Sehding" nicht gesagt sein, daß bei jeder Dingwahrnehmung alle diese Stufen auch wirklich betreten werden, sondern die Aufstellung soll den Sinn haben, daß es verschiedene Arten von "Konstitutionsmöglichkeiten" im Bereich der visuellen Sinnlichkeit gibt, die in diesen Begriffen ihren Ausdruck finden. -

Damit möchte ich dann dieses zweite Kapitel schließen. Man übersieht allerdings sofort, daß meine Beobachtungen noch sehr unvollständig sind, und daß meine Ausführungen noch nach verschiedenen Seiten hin der Ergänzung, manche aufgestellten Sätze vielleicht auch der Einschränkung bedürfen. Einmal haben wir uns nur auf die Körper beschränkt, haben also die "Vorgänge" und die "reinen objektiven Erscheinungen", bei denen sich entsprechende Überlegungen anstellen lassen, gar nicht berücksichtigt. Andererseits aber haben wir uns beim "Körperlichen" bloß auf das "Dingliche" bezogen, obwohl es doch auch "Körperliches" (z. B. Rauch- oder Dampfwolken) gibt, das nicht ohne weiteres als Ding angesehen werden kann. Und schließlich wurden bei den "Dingen" auch wieder die durchsichtigen von vornherein von der Betrachtung ausgeschlossen, obgleich doch gerade bei dieser Dingklasse Besonderheiten auftreten, die einer eingehenden Erörterung bedürfen. Mögen künftige Untersuchungen auch in diese Fragen mehr Klarheit bringen!

Schließlich möchte ich am Schluß dieses Kapitels auf die engen Beziehungen hinweisen, die in methodischer Hinsicht zwischen meinen Betrachtungen und den Untersuchungen bestehen, die mein verehrter Lehrer, Herr Professor HUSSERL, in seinen Vorlesungen vorgetragen hat. Daß und wie sich in stetigen Übergängen von anschaulichen Gegebenheiten die Einheit des Dinggegenstandes konstituiert, war das Thema einer Vorlesung von 1907 und zum Teil auch schon von 1904/05. Der beherrschende Gedanke war dabei der folgende: Nach einer im Wesen der Korrelation von Ding und Dinganschauung (zunächst Wahrnehmung) liegenden Notwendigkeit vollzieht sich die anschauliche perzeptive Dinggegebenheit, die immerfort eine "unvollkommene" ist, um zu allseitiger Vollkommenheit fortzuschreiten und sich der Idee wahrer und eigentlicher Selbstgegebenheit anzunähern, notwendig in kontinuierlichen Wahrnehmungsmannigfaltigkeiten, die sich zu einem einheitlichen, aber in Schichten zu sondernden Kontinuum zusammenschließen. Jedem einheitlichen Teilkontinuum entspricht dabei die eigentliche Gegebenheit eines konstitutiven Dingmoments oder einer für die Dinggegebenheit konstitutiven Erscheinungseinheit. Die Methode der Schichtenanalyse bestand demgemäß darin, daß vom Ding, und zwar dem Ding der Wahrnehmung ausgegangen und die möglichen objektiven Vorkommnisse (Ding in Ruhe, der Bewegung, ohne Deformation, in "qualitativer" Veränderung usw.), dann aber auch die verschiedenen Gegebenheitsweisen behandelt wurden. So fügen sich meine Betrachtungen in methodischer Hinsicht ganz den von meinem Lehrer vorgetragenen Untersuchungen ein. Die von mir hier mitgeteilten Einzeluntersuchungen sind aber nicht den Vorlesungen meines Lehrers entnommen, sondern von mir selbständig durchgeführt worden.
LITERATUR - Heinrich Hofmann, Untersuchungen über den Empfindungsbegriff, [Inaugural-Dissertation] Archiv für die gesamte Psychologie, Bd. 26, Leipzig 1913
    Anmerkungen
    2) HERING, Grundzüge etc., a. a. O., Seite 6/7
    3) HERING, a. a. O., Seite 7
    4) Auch diese Ausführungen stimmen in der Hauptsache überein mit den Aufstellungen meines Freundes DAVID KATZ, vgl. a. a. O., Seite 88f.
    5) HERING, a. a. O., Seite 8 oben
    6) Ich ersetze überall das "wirklich" durch eigentlich, wie ich ja bereits hervorgehoben habe.
    7) HERING, a. a. O., Seite 8
    8) HERING, a. a. O., Seite 8/9
    9) Der Begriff der Konstitution, den ich hier verwende, ist von HUSSERL wiederholt in den Vorlesungen und in Privatgesprächen entwickelt worden.
    10) Vgl. DAVID KATZ, Die Erscheinungsweisen der Farben und ihre Beeinflussung durch die individuelle Erfahrung, Leipzig 1911, Seite 214f.
    11) HUSSERL hat in seinen Vorlesungen auf die "kontinuierlichen Erscheinungsreihen, die zu den Wandlungen der Aufmerksamkeit gehören", hingewiesen, aber die nähere Beschreibung zugunsten anderer Zusammenhänge unterlassen.