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Friedrich Nietzsche - sein Wesen
Wenn es überhaupt die Aufgabe des Biographen ist, den Denker durch den Menschen zu erläutern, so gilt dies in ungewöhnlich hohem Maß für NIETZSCHE, denn bei keinem Andern fallen äußeres Geisteswerk und inneres Lebensbild so völlig in Eins zusammen. Auf ihn trifft es ganz besonders zu, was er von den Philosophen überhaupt ausspricht: daß man ihre Systeme auf die Personalakten ihrer Urheber hin prüfen soll. Später hat er der gleichen Auffassung in den Worten Ausdruck gegeben
Es handelte sich für mich ausschließlich darum, die Hauptzüge von NIETZSCHEs geistiger Eigenart zu schildern, aus denen allein seine Philosophie und ihre Entwicklung begriffen werden können. Zu diesem Zweck beschränkte ich mich freiwillig sowohl nach der Seite der rein theoretischen Betrachtungsweise, als auch hinsichtlich der rein persönlichen Lebensbeschreibung. Beides durfte nicht zu weit geführt werden, wenn die Grundlinien seines Wesens deutlich hervortreten sollten. Wer NIETZSCHE auf seine Bedeutung als Theoretiker hin prüfen wollte, auf das, was etwa die zünftige Philosophie aus ihm zu lernen vermöchte, der würde sich enttäuscht abwenden, ohne zum Kern seiner Bedeutung vorzudringen. Denn der Wert seiner Gedanken liegt nicht in ihrer theoretischen Originalität, nicht in dem, was dialektisch begründet oder widerlegt werden kann, sondern durchaus in der intimen Gewalt, mit welcher hier eine Persönlichkeit zur Persönlichkeit rede, - in dem, was nach seinem eigenen Ausdruck wohl zu widerlegen,, aber doch nicht "totzumachen" ist. Wer andererseits von NIETZSCHEs äußerem Erleben ausgehen wollte, um sein Inneres zu erfassen, der würde ebenfalls nur eine leere Schale in der Hand behalten, aus welcher der Geist entwichen ist. Denn man kann von NIETZSCHE sagenm, daß er nach außen hin eigentlich nichts erlebte (2): all sein Erleben war ein so tief innerliches, daß es sich nur im Gespräch, von Mund zu Mund, und in den Gedanken seiner Werke kundtat. Die Summe von Monologen, aus denen im Wesentlichen seine vielbändigen Aphorismensammlungen bestehen, bilden ein einziges großes Memoirenwerk, dem sein Geistesbild zugrunde liegt. Dieses Bild ist es, das ich hier zu zeichnen versuche: das Gedanken-Erlebnis in seiner Bedeutung für NIETZSCHEs Geisteswesen - das Selbstbekenntnis in seiner Philosophie. Obgleich NIETZSCHE seit einigen Jahren häufiger genannt wird als irgendein anderer Denker, obgleich viele Federn damit beschäftigt sind, teils Jünger für ihn zu werben, teils gegen ihn zu polemisieren, so ist er doch in den Grundzügen seiner geistigen Individualität nahezu unbekannt geblieben. Denn seitdem die kleine, zerstreute Schar seiner Leser, die er stets besaß, und die ihn wahrhaft zu lesen verstand, zu einer großen Schar von Anhängern gewachsen ist, seitdem weite Kreise sich seiner bemächtigt haben, ist ihm das Schicksal widerfahren, welches jedem Aphoristiker droht; einzelne seiner Ideen, aus dem Zusammenhang gelöst und dadurch beliebig deutbar, sind zu Stich- und Schlagworten ganzer Richtungen gemacht worden, erklingen im Kampf von Meinungen, im Streit von Parteien, denen er selbst völlig fern stand. Wohl verdankt er diesem Umstand seinen raschen Ruhm, den plötzlichen Lärm um seinen stillen Namen, - aber im Besten, durchaus Einzigartigen und Unvergleichlichen, das er zu geben hat, ist er dadurch vielleicht übersehen worden und unbeachtet geblieben, - ja in eine vielleicht noch tiefere Verborgenheit zurückgetreten als vorher. Viele feiern ihn zwar noch laut, mit der ganzen Naivität gläubiger Kritiklosigkeit, doch gerade sie gemahnen unwillkürlich an sein bitteres Wort: Der Enttäuschte spricht: "Ich horchte auf Widerhall, und hörte nur Lob -" (Jenseits von Gut und Böse 99). Kaum Einer von ihnen ist ihm wahrhaft nachgegangen, - fernab von den Andern und ihrem Tagesstreit und allein in der Ergriffenheit seines eigenen Innern; kaum Einer hat diesen einsamen, schwer ergründlichen, heimlichen und auch unheimlichen Geist begleitet, der Ungeheures zu tragen wähnte und an einem ungeheuren Wahn zusammenbrach. Daher ist es, als stände er da inmitten derer, die ihn am meisten preisen, wie ein Fremdling und Einsiedler, dessen Fuß sich in ihren Kreis nur verirrte, und von dessen verhüllter Gestalt keiner den Mantel gehoben, - ja als stände er da mit der Klage seines "Zarathustra" auf den Lippen:
Umsonst verlebte er den Winter 1876-1877 im milden Klima von Sorrent, wo er sich in Gesellschaft einiger Freunde befand: von Rom war seine langjährige Freundin MALWIDA von MEYSENBUG (Verfasserin der bekannten "Memoiren einer Idealistin" und Anhängerin RICHARD WAGNERs) zu ihm gekommen; von Westpreußen Dr. PAUL REÉ, mit dem ihn schon damals eine Freundschaft und Gleichheit der Bestrebungen verband. Dem kleinen gemeinschaftlichen Hauswesen hatte sich auch noch ein junger brustkranker Baseler, Namens BRENNER, zugesellt, der jedoch bald darauf starb. Als auch der Aufenthalt im Süden ohne günstige Wirkung auf seine Schmerzen blieb, gab NIETZSCHE 1878 seine Lehrtätigkeit am Pädagogium und 1879 seine Professur an der Universität endgültig auf. Seitdem führte er nur noch ein Einsiedlerleben, teils in Italien - meist in Genua - teils im Schweizer Gebirge, namentlich in dem kleinen Engadiner Dorf Sils-Maria, unweit des Maloja-Passes. Sein äußerer Lebenslauf erscheint damit abgeschlossen und gleichsam beendet, während sein Denkerleben erst jetzt recht eigentlich beginnt: so daß uns der Denker NIETZSCHE, mit dem wir uns zu beschäftigen haben, erst am Ausgang dieser Lebensereignisse vollkommen deutlich entgegentritt. Trotzdem werden wir auf alle Schicksalswendungen und Erlebnisse, die hier nur kurz skizziert worden sind, bei Gelegenheit der verschiedenen Perioden seiner Geistesentwicklung noch ausführlicher zurückkommen müssen. Sein Leben und Schaffen zerfällt in der Hauptsache in drei ineinander übergreifende Perioden, die je ein Jahrzehnt umfassen: Zehn Jahre, 1869-1879, dauerte NIETZSCHEs Lehrtätigkeit in Basel; diese philologische Wirksamkeit fällt der Zeit nach fast völlig zusammen mit dem Jahrzehnt seiner Jüngerschaft WAGNER gegenüber und mit der Veröffentlichung derjenigen Werke, welche von der Metaphysik SCHOPENHAUERs beeinflußt sind: sie währte von 1868 bis 1878, in welchem Jahr er zum Zeichen seiner philosophischen Sinnesänderung WAGNER sein positivistisches Erstlingswerk: "Menschliches, Allzumenschliches" übersandte. Seit dem Anfang der Siebzigerjahre bestand seine Verbindung mit PAUL REÉ, die im Herbst 1882 ihren Abschluß fand, - gleichzeitig mit der Vollendung der "Fröhlichen Wissenschaft", des letzten derjenigen Werke NIETZSCHEs, die noch auf positivistischer Grundlage ruhen. Im Herbst 1882 faßte NIETZSCHE den Entschluß, sich zehn Jahre lang aller schriftstellerischen Tätigkeit zu enthalten. In dieser Zeit tiefsten Schweigens wollte er seine neue, dem Mystischen sich zuwendende Philosophie auf ihre Richtigkeit prüfen und dann 1892 als ihr Verkünder auftreten. Diesen Vorsatz hat er nicht ausgeführ, sondern gerade in den Achtzigerjahren eine fast ununterbrochene Produktivität entfaltet und ist dann noch vor Ablauf des von ihm angesetzten Jahrzehnts verstummt: 1889 setzte ein gewaltsamer Ausbruch seines Kopfleidens plötzlich aller weiteren Geistesarbeit ein Ziel. Der Zeitraum aber zwischen der Niederlegung seiner Baseler Professur und dem Aufhören aller geistigen Tätigkeit überhaupt umfaßt wiederum ein Jahrzehnt, die Zeit von 1879-1889. Seitdem lebt NIETZSCHE als Kranker, nach einem vorübergehenden Aufenthalt in der Anstalt vonn Professor BINSWANGER in Jena, bei seiner Mutter in Naumburg. Die beiden in diesem Buch beigegebenen Bilder zeigen NIETZSCHE inmitten dieser letzten zehn Leidensjahre. Und gewiß ist dies die Zeit gewesen, in welcher seine Physiognomie, sein ganzes Äußeres, am charakteristischsten ausgeprägt erschien: die Zeit, in welcher der Gesamtausdruck seines Wesens bereits völlig vom tief bewegten Innenleben durchdrungen war, und selbst noch in dem bezeichnend blieb, was er zurückhielt und verbarg. Ich möchte sagen: dieses Verborgene, die Ahnung einer verschwiegenen Einsamkeit, - das war der erste, starke Eindruck, durch den NIETZSCHEs Erscheinung fesselte. Dem flüchtigen Beschauer bot sie nichts Auffallendes; der mittelgroße Mann in seiner überaus einfachen, aber auch überaus sorgfältigen Kleidung, mit den ruhigen Zügen und dem schlicht zurückgestrichenen braunen Haar konnte leicht übersehen werden. Die feinen, höchst ausdrucksvollen Mundlinien wurden durch einen vornübergekämmten großen Schnurrbart fast völlig verdeckt; er hatte ein leises Lachen, eine geräuschlose Art zu sprechen und einen vorsichtigen, nachdenklichen Gang, wobei er sich ein wenig in den Schultern beugte; man konnte sich schwer diese Gestalt inmitten einer Menschenmenge vorstellen, - sie trug das Gepräge des Abseitsstehens, des Alleinstehens. Unvergleichlich schön und edel geformt, so daß sie den Blick unwillkürlich auf sich zogen, waren an NIETZSCHE die Hände, von denen er selbst glaubte, daß sie seinen Geist verraten, - eine darauf zielende Bemerkung findet sich in "Jenseits von Gut und Böse" (288):
Einen ähnlichen Eindruck des Verborgenen und Verschwiegenen machte auch NIETZSCHEs Benehmen. Im gewöhnlichen Leben war er von großer Höflichkeit und einer fast weiblichen Milde, von einem stetigen, wohlwollenden Gleichmut, - er hatte Freude an den vornehmen Formen im Umgang und hielt viel auf sie. Immer aber lag darin eine Freude an der Verkleidung, - Mantel und Maske für ein fast nie entblößtes Innenleben. Ich erinnere mich, daß, als ich NIETZSCHE zum ersten Mal sprach, - es war an einem Frühlingstag in der Peterskirche zu Rom, - während der ersten Minuten das gesucht Formvolle an ihm mich frappierte und täuschte. Aber nicht lange täuschte es an diesem Einsamen, der seine Maske doch nur so ungewandt trug, wie Jemand, der aus Wüste und Gebirge kommt, den Rockk der Allerweltsleute trägt; sehr bald tauchte die Frage auf, die er selbst in die Worte zusammengefaßt hat:
In dem Maß, wie sie zunimmt, wird alles nach Außen gewandte Sein zum Schein, - zum bloßen täuschenden Schleier, den die Einsamkeitstiefe nur um sich webt, um zeitweilig für Menschenaugen eine erkennbare Oberfläche zu werden.
In jeder Periode seiner Geistesentwicklung finden wir daher NIETZSCHE in irgendeiner Art und Form der Maskierung,, und immer ist sie es, welche die jeweilige Entwicklungsstufe recht eigentlich charakterisiert.
"Wanderer, wer bist Du? --- Ruhe Dich hier aus. --- erhole Dich! --- Was dient Dir zur Erholung? ---" "Zur Erholung? Zur Erholung? Oh du Neugieriger, was sprichst du da? Aber gib mir, ich bitte --" "Was? Was? sprich es aus! - "Eine Maske mehr! Eine zweite Mase! ..." (Jenseits von Gut und Böse 278)
Dieses innere Alleinsein, diese Einsamkeit ist in allen Wandlungen NIETZSCHEs der unveränderliche Rahmen, aus welchem sein Bild uns anschaut. Mag er sich verkleidet haben, wie er will, - immer trägt er "die Einöde und den heiligen unbetretbaren Grenzbezirk mit sich, wohin er auch geht." (Der Wanderer und sein Schatten 337) Und es drückt daher auch nur das Bedürfnis aus, daß das äußere Dasein seiner einsamen Innerlichkeit entsprechen möge, wenn er einem Freund schreibt (am 31. Oktober 1880 aus Italien):
Leiden und Einsamkeit, - das sind also die beiden großen Schicksalszüge in NIETZSCHEs Entwicklungsgeschichte, immer stärker ausgeprägt, je näher man dem Ende kommt. Und sie tragen bis an das Ende jenes wundersame Doppelgesicht, welches sie als ein äußerlich gegebenes Lebenslos, und zugleich als eine rein psychisch bedingte, eine gewollte innere Notwendigkeit erscheinen lassen. Auch sein physisches Leiden, nicht minder als seine Verborgenheit und Einsamkeit, reflektierte und symbolisierte etwas Tiefinnerliches - und dies so unmittelbar, daß er es auch in seine äußere Schickung aufnahm wie einen ihm zugedachten ernsten Freund und Weggenossen. So Schreibt er einmal bei Gelegenheit einer Beileidsäußerung (Ende 1881 aus Sils-Maria):
Er schildert den Einfluß der Stimmungen des Kranken und des Genesenden auf das Denken, er begleitet die feinsten Übergänge solcher Stimmungen bis ins Geistigste hinauf. Eine periodisch wiederkehrende Erkrankung, wie die seinige es war, scheidet beständig eine Lebensperiode, und damit auch eine Gedankenperiode von der vorhergehenden. Sie gibt durch dieses Doppeldasein die Erfahrungen und das Bewußtsein zweier Wesenheiten. Sie läßt alle Dinge immer wieder auch dem Geist neu werden, - "neu schmecken" nennt er es einmal höchst treffend, - und setzt ganz neue Augen auch noch für das Gewohnteste, Alltäglichste ein. Ein Jegliches erhält etwas von der Frische und dem lichten Tau der Morgenschönheit, weil eine Nacht´ es vom vorhergehenden Tag getrennt hat. So wird jede Genesung ihm zu einer Palingenesis [Wiedergeburt früherer Eigenschaften - wp] seiner selbst und darin zugleich des Lebens um ihn, - und immer wieder ist der Schmerz "verschlungen in den Sieg". Deutet NIETZSCHE es schon selbst an, daß die Natur seines physischen Leidens sich gewissermaßen in seinen Gedanken und Werken widerspiegelt, so springt der enge Zusammenhang von Denken und Leiden noch auffälliger hervor, wenn man sein Schaffen und dessen Entwicklung als Ganzes betrachtet. Man steht nicht jenen allmählichen Veränderungen des Geisteslebens gegenüber, wie sie ein Jeder durchmacht, der seiner natürlichen Größe entgegenwächst, - nicht den Wandlungen des Wachstums: sondern einem jähen Wandel und Wechsel, einem fast rhythmischen Auf und Nieder von Geisteszuständen, die letzten Grundes nichts Anderen zu entspringen scheinen, als einem Erkranken an Gedanken und einem Genesen an Gedanken. Nur aus der innersten Bedürftigkeit seiner ganzen Natur, nur aus dem quälendsten Heilungsverlangen heraus erschließen sich ihm neue Erkenntnisse. Kaum aber ist er völlig in ihnen aufgegangen, kaum hat er an ihnen ausgeruht und sie seiner Kraft assimiliert [angepaßt - wp], - da ergreift es ihn auch schon wieder wie ein neues Fieber, etwas wie ein unruhig drängender Überschuß an innerer Energie, der zuletzt seinen Stachel gegen ihn selbst kehrt und ihn an sich selber erkranken läßt. "Das Zuviel von Kraft erst ist der Beweis der Kraft", sagt NIETZSCHE im Vorwort zur "Götzendämmerung" (Seite 1); - in diesem Zuviel tut seine Kraft sich Schmerzen an, tobt sie sich aus in leidvollen Kämpfen, reizt sich auf zu den Qualen und Erschütterungen, an denen sein Geist fruchtbar werden will. (4) Mit der stolzen Behauptung: "Was mich nicht umbringt, macht mich stärker!" (Götzendämmerung, Sprüche und Pfeile 8) geißelt er sich, - nicht bis zum Umbringen, nicht bis zum Tod, aber eben bis zu jenen Fiebern und Verwundungen, deren er bedarf. Dieses Schmerzfordernde zieht sich durch die ganze Entwicklungsgeschichte NIETZSCHEs als die eigentliche Geistesquelle in ihr; er spricht es am treffendsten in den Worten aus:
"Jene Spannung der Seele im Unglück, --- ihre Schauer im Anblick des großen Zugrundegehens, ihre Empfindsamkeit und Tapferkeit im Tragen, Ausharren, Ausdeuten, Ausnützen des Unglücks, und was ihr nur je von Tiefe, Geheimnis, Maske, Geist, List, Größe geschenkt worden ist: - ist es ihr nicht unter Leiden, unter der Zucht des großen Leidens geschenkt worden?" (Jenseits von Gut und Böse 225) Wie NIETZSCHEs körperliches Leiden der Anlaß zu seiner äußeren Vereinsamung wurde, so muß auch in seinem psychischen Leidenszustand einer der tiefsten Gründe gesucht werden für seinen scharf zugespitzten Individualismus, für die strenge Betonung des "Einzelnen" als des "Einsamen" in NIETZSCHEs besonderem Sinn. Die Geschichte des "Einzelnen" ist durchaus eine Leidensgeschichte und nicht mit irgendeinem allgemeinen Individualismus zu vergleichen, - ihr Inhalt lautet viel weniger: "Selbstgenügsamkeit" als: "Selbsterduldung". Betrachtet man das leidensvolle Auf und Nieder seiner Geisteswandlungen, dann liest man die Geschichte ebenso vieler Selbstverwundungen, und es verbirgt einen langen, schmerzlichen Heldenkampf mit sich selbst, wenn Nietzsche über seine Philosophie die kühnen Worte setzt:
Der Meinungswechsel, der Wandlungsdrang stecken daher der Philosophie NIETZSCHEs tief im Herzen, sie sind durchaus bestimmend für die Art seines Erkennens. Nicht umsonst nennt er sich im Schlußlied von "Jenseits von Gut und Böse" einen:
"- wir müssen Verräter werden, Untreue üben, unsere Ideale immer wieder preisgeben." (Menschliches, Allzumenschliches, I 629)
Über nichts hat wohl NIETZSCHE so oft und so tief nachgedacht, wie über dieses sein eigenes Wesensrätsel, und über nichts können wir uns daher aus seinen Werken so gut unterrichten wie gerade hierüber: im Grunde waren ihm alle seine Erkenntnisrätsel nichts anderes. Je tiefer er sich selbst erkannte, desto rückhaltloser wurde seine ganze Philosophie zu einer ungeheuren Widerspiegelung seines Selbstbildes, - und desto naiver legte er es dem Allbild als solchem unter. Wie unter den Philosophen abstrakte Systematiker ihre eigenen Begriffe zu einer Weltgesetzlichkeit verallgemeinert haben, so verallgemeinert NIETZSCHE seine Seele zur Weltseele. Aber um sein Bild zu zeichnen, bedarf es nicht erst der Zurückführung seiner sämtlichen Theorien auf ihn selbst, wie es in den folgenden Teilen geschieht. Ein gewisses Verständnis dafür ist auch schon hier möglich, wo NIETZSCHE lediglich in Bezug auf seine geistige Veranlagung betrachtet wird. Der Reichtum derselben ist zu mannigfaltig, als daß er in einer bestimmten Ordnung erhalten werden könnte; die Lebendigkeit und der Machtwille jedes einzelnen Talentes und Geistestriebes führen notwendig zu einer nie beschwichtigten Nebenbuhlerschaft aller Talente. In NIETZSCHE lebten in stetem Unfrieden, nebeneinander und sich gegenseitig tyrannisierend, ein Musiker von hoher Begabung, ein Denker von freigeistiger Richtung, ein religiöses Genie und ein geborener Dichter. NIETZSCHE selbst versuchte, daraus die Besonderheit seiner geistigen Individualität zu erklären, und erging sich häufig in eingehenden Gesprächen darüber. Er unterschied zwei große Hauptgruppen von Charkateren: solche, deren verschiedene Regungen und Triebe in Harmonie zueinander stehen, eine gesunde Einheit bilden, und solche, deren Triebe und Regungen sich gegenseitig hemmen und befehden. Die erste Gruppe verglich er, - innerhalb des einzelnen Individuums, - mit dem Zustand der Menschheit zur Zeit des Herdenwesens, vor aller staatlichen Gliederung: wie dort der Einzelne seine Individualität und sein Machtgefühl nur besitzt im geschlossenen Ganzen der Heerde, so hier die einzelnen Triebe im Ganzen der geschlossenen Persönlichkeit, deren Inbegriff sie bilden. Die Naturen der zweiten Gruppe dagegen leben in ihrem Innern, wie die Menschen bei einem Krieg Aller gegen Alle leben würden; - die Persönlichkeit selbst löst sich gewissermaßen in eine Unsumme von eigenmächtigen Triebpersönlichkeiten auf, in eine Subjekt-Vielheit. Dieser Zustand wird nur überwunden, wenn von außen her eine höhere Macht, eine stärkere Autorität geschaffen werden kann, die über Alle zu herrschen weiß: gleich einem Gesetz staatlicher Gliederung, für das es nur unterworfene Gewalten gibt. Denn was in den zuerst geschilderten Naturen ganz instinktmäßig vor sich geht - die Einordnung des Einzelnen ins Ganze, - das muß hier erst erobert und den tyrannischen Einzelgelüsten abgezwungen werden als eine unerbittlich feste Rangordnung der Triebe untereinander. (8) Man sieht, hier ist der Punkt, an welchem NIETZSCHE die Möglichkeit einer Selbstbehauptung als Ganzes durch das Leiden alles Einzelnen aufgegangen ist. Hier liegt wie in einer Knospe eingeschlossen die ursprüngliche Bedeutung seiner späteren Dekadenz-Lehre mit dem Grundgedanken: es gibt die Möglichkeit eines höchsten Vermögens und Schaffens durch ein beständiges Erdulden und Verwunden. Mit einem Wort: hier ging ihm die Bedeutung des Heroismus als Ideal auf. Die eigene qualvolle Unvollkommenheit riß ihn dem Ideal und dessen Tyrannei entgegen: "Unsere Mängel sind die Augen, mit denen wir das Ideal sehen." (Menschliches, Allzumenschliches, II 86) "Was macht heroisch? zugleich seinem höchsten Leid und seiner höchsten Hoffnung entgegengehen" sagt er (Fröhliche Wissenschaft 269). Und ich füge dem noch drei Aphorismen bei, die er mir einmal niederschrieb, und die mir seine Auffassung mit besonderer Schärfe zu verdeutlichen scheinen:
Er unterscheidet nämlich die harmonische oder einheitliche und die heroische oder vielspältige Naturanlage als die beiden Typen des handelnden und des erkennenden Menschen, mit anderen Worten: den Typus seines Wesensgegensatzes und seinen eigenen. Zum handelnden Menschen wird ihm der Ungeteilte und Unzersetzte, der Instinktmensch, die Herrennatur. Wenn dieser seiner natürlichen Entwicklung folgt, muß sein Wesen sich immer selbstsicherer und fester zuspitzen und seine gedrängte Kraft in gesunden Taten sich entladen. Die Hemmnisse, welche die Außenwelt ihm möglicherweise entgegenstellt, enthalten zugleich eine Anregung und Förderung dafür: denn nichts ist ihm naturgemäßer, als der tapfere Kampf nach außen hin, in nichts erweist sich seine ungebrochene Gesundheit so sehr wie in seiner Kriegstüchtigkeit. Mag sein Intellekt klein oder groß sein: in jedem Fall steht er im Dienst dieser frischen Wesenskraft und dessen, was ihr wohl tut und not tut, - er hat sich ihr in seinen Zielen nicht entgegengesetzt, er hat sie nicht zersetzt,, er folgt nich eigenen Wegen. Ganz anders der erkennende Mensch. Anstatt nach einem festen Zusammenschluß seiner Triebe zu suchen, der sie schützt und erhält, läßt er sie so weit wie irgendwie möglich auseinanderlaufen; je breiter das Gebiet, das sie zu umfassen lernen, desto besser, je mehr Dinge, bis zu denen sie ihre Fühlhörner ausstrecken, und die sie betasten, sehen, hören, riechen, desto tüchtiger sind sie ihm für seine Zwecke, - für die Zwecke des Erkennens. Denn ihm ist nunmehr "das Leben ein Mittel der Erkenntnis" (Fröhliche Wissenschaft 324) und er ruft seinen Genossen zu ("Fröhliche Wisenschaft" 319): "Wir selber wollen unsere Experimente und Versuchtstiere sein!" So gibt er sich selbst freiwillig als Einheit auf, - je polyphoner [vielstimmiger - wp] sein Subjekt, desto lieber ist es ihm:
Vertraut und seltsam, schmutzig und rein, Der Narren und Weisen Stelldichein: Dies alles bin ich, will ich sein, Taube zugleich, Schlange und Schwein!" (Fröhliche Wissenschaft, Scherz, List und Rache 11)
Ich liebe es, gleich Wald- und Meerestieren, Mich für ein gutes Weilchen zu verlieren, In holder Irrnis grüblerisch zu hocken. Von ferne her mich endlich heimzulocken, Mich selber zu mir selber - zu verführen."
Trotzdem aber wird durch das Erkennen in diesem Innenkrieg eine Verwandlung vollzogen, die demselben eine neue Bedeutung gibt, - eine rettende und erlösende Bedeutung: in der Erkenntnis ist ein allen Triebe gemeinsames Ziel gegebenn, eine Richtung, der in jeder von ihnen insofern zustrebt, als sie alle das Nämliche erobern wollen. Die Zersplitterung des Beliebens, die Tyrannei der Willkür ist damit gebrochen. Die Triebe halten an ihrer "Subjekts-Vielheit" fest, aber sie unterstellen dieselbe einer höheren Macht, die ihnen als Dieernn und Werkzeugen befiehlt; sie bleiben wild und kriegerich, aber sie werden in ihrem Kriegsziel unvermerkt zu Helden, die zu kämpfen und zu bluten berufen sind; das heroische Ideal ist inmitten ihrer Selbstsucht aufgerichtet und zeigt den für sie einzig möglichen Weg zur Größe. So ist die Gefahr der Anarchie beseitigt zugunsten eines sicheren "Gesellschaftsbaus der Triebe und Affekte". Ich erinnere mich eines mündlichen Ausspruchs von NIETZSCHE, der sehr bezeichnend diese Freude des Erkennenden an der umfassenden Breite und Tiefe seiner Natur ausdrücktf, - die Lust, die daraus entspringt, daß er sein Leben nunmehr als ein "Experiment des Erkennenden" (Fröhliche Wissenschaft 324) auffassen darf:
Der geschilderte Seelenprozeß selbst aber bleibt durch alle Wandlungen hindurch in seinen Grundzügen derselbe. "Hat man Charakter, so hat man auch sein typisches Erlebnis, das immer wiederkommt," sagt NIETZSCHE (Jenseits von Gut und Böse 70). Nun, dieses ist sein typisches Erlebnis, das immer wiederkommt, an dem er sich immer wieder aufrichtete, über sich selbst erhob, - an dem er auch endlich sich in sich selbst überschlug und zugrunde ging. Und daran mußte er wohl zugrunde gehen. Denn in dem gleichen Prozeß, der ihm stets von neuem Heilung und Erhebung sicherte, lag auch schon das pathologische dieser Art von Geistesentwicklung verborgen. Auf den ersten Blick fällt es nicht auf. Man sollte vielmehr meinen, in einer Kraft, die sich selber so zu heilen weiß, müßte mindestens ebensoviel Gesundheit stecken wie in dem ruhigen Frieden einer harmonischen Kräfteentfaltung. Ja, sogar eine weit größere Gesundheit: denn sie ist imstande, selbst an dem, was Wunden schlägt und Fieber erzeugt, sich noch zu befestigen und zu beweisen; sie ist imstande, Krankheit und Kampf zu einem Stimulans für Leben und Erkennen umzuwandeln, zu einem Sporn und Hellsehen für Zwecke, - sie umfaßt also schadlos Kampf und Krankheit. Auf solche Weise wollte NIETZSCHE, namentlich zuletzt, namentlich als er am krankhaftesten war, seine Leidensgeschichte aufgefaßt wissen: als eine Genesungsgeschichte. Allerdings vermochte diese gewaltige Natur es, sich mitten aus Schmerzen und Widerstreit heraus in ihrem Erkenntnisideal selbst zu heilen und zusammenzufassen. Aber, nach erlangter Genesung, bedurfte sie wiederum ebenso notwendig der Leiden und Kämpfe, der Fieber und Wunden. Sie, die sich selbst Heilung geschafft, ruft jene wieder hervor; sie wendet sich gegen sich selbst, schäumt gleichsam über, um sich in neue Krankheitszustände zu ergießen. Über jedem erreichten Erkenntnisziel, jedem erlangten Genesungsglück stehen immer wieder die Worte: "Wer sein Ideal erreicht, kommt eben damit über dasselbe hinaus", denn: "Sein Überglück ward ihm zum Ungemach" (Fröhliche Wissenschaft, Scherz, List und Rache 47), und er fühlt sich: "verwundet von seinem Glück." (Also sprach Zarathustra II 2). (10)
Eine solche innere Spaltung liegt nämlich dem ganzen geschilderten Seelenprozeß zugrunde. Anscheinend zwar sollte in ihm die Vielspältigkeit, die Subjekt-Vielheit der unharmonisch veranlagten Natur, in einer höheren Einheit, in einem richtunggebenden Ziel aufgehoben werden. Nun vollzieht sich aber dieser Vorgang innerhalb der vielspältigen Seele in der Weise, daß ein einziger Trieb sich alle übrigen unterordnet; mit anderen Worten:. die Vielspältigkeit wird auf eine umso tierfer gehende Zweispaltung reduziert. So wenig wie die Gesundheit hier überragend das Krankhafte mit umfaßt, so wenig umfaßt und überragt der herrschende Trieb wahrhaft das gesamte Innere, indem er es in den Dienst der Erkenntnis stellt: der Erkennende blickt wohl mit seinen Geistesaugen auf sich selbst wie auf eine zweite Wesenheit, aber er bleibt doch in der eigenen Wesenheit gefangen; er ist nur imstande sie zu spalten, nicht über sie hinauszugreifen. Die Macht der Erkenntnis also, weit davon entfernt, eine einigende zu sein, ist vielmehr eine trennende, - aber die Tiefe der Trennung erweckt den Schein, als läge das Ziel aller Regungen außer ihnen. Infolge dieser Selbsttäuschung drängen alle Kräfte begeistert der Erkenntnis zu, als vermöchten sie damit sich selbst und ihrem Zwiespalt zu entlaufen. Man sollte allerdings glauben, es werde wenigstens eine Art von Zusammenschluß des Gesamtlebens dadurch erreicht, daß auf der einen Seite das Triebleben, unter dem darauf eingerichteten Erkenntnisblick, zu ungeheurer Bewußtheit gesteigert wird, - daß auf der anderen das Denken durch die Welt der Stimmungen und Triebe eine ungemeine Belebung erhält. Aber das Resultat ist ein gerade entgegengesetztes, indem der Gedanke die Unmittelbarkeit aller inneren Regungen zersetzt, die Erregungen des Inneren hinwiederum die beherrschte Streng des Gedankens beständig lockern. So durchdringt tatsächlich die Spaltung des Ganzen alles Einzelne nur immer tiefer. Was ist es nun, das trotzdem eine so hohe, geradezu erlösend wirkende Befriedigung aus einer so durchsichtigen Selbsttäuschung quellen läßt? Was ist es, das einen Schein dazu befähigt, das ganze Sein, wenn auch unter steten Erkrankungen und Verwundungen, zu beseligen und zu verklären? Mit dieser Frage stehen wir vor dem eigentlichen NIETZSCHE-Problem; sie erst weist uns auf den geheimen Zusammenhang des Gesunden und Pathologischen in ihm. Indem nämlich die Vielheit unverbundener Einzeltriebe sich in zwei einander gleichsam gegenüberstehende Wesenheiten zerspaltet, von denen die Eine herrscht, die Andere dient, - wird es dem Menschen ermöglicht, zu sich selber nicht nur wie zu einem anderen, sondern auch wie zu einem höheren Wesen zu empfinden. Indem er einen Teil seiner selbst sich selber zum Opfer bringt, ist er einer religiösen Exaltation [Affekt - wp] nahegekommen. In den Erschütterungen seines Geistes, in denen er das heroische Ideal eigener Preisgebung und Hingebung zu verwirklichen wähnt, bringt er an sich selbst einen religiösen Affekt zum Ausbruch. Von allen großen Geistesanlagen NIETZSCHEs gibt es keine, die tiefer und unerbittlicher mit seinem geistigen Gesamtorganismus verbunden gewesen wäre, als sein religiöses Genie. Zu einer anderen Zeit, in einer anderen Kulturperiode würde dasselbe diesem Predigersohn sicherlich nicht gestattet haben, zum Denker zu werden. Unter den Einflüssen unserer Zeit erhielt jedoch sein religiöser Geist die Richtung aufs Erkennen und vermochte dasjenige, wonach es ihn instinktiv am drängendsten verlangte, wie nach dem natürlichen Ausdruck seiner Gesundheit, nur in krankhafter Weise zu befriedigen, - das heißt, er vermochte es nur mittels einer Rückbeziehung auf sich selbst anstatt auf eine ihn mit umfassende, außer ihm liegende Lebensmacht. So erreichte er das gerade Gegenteil des Angestrebten: nicht eine höhere Einheit seines Wesens, sondern dessen innererste Zweiteilung, nicht den Zusammenschluß aller Regungen und Triebe zu einem einheitlichen Individuum, sondern ihre Spaltung zum "Dividuum". Es war immerhin eine Gesundheit erreicht, - doch mit den Mitteln der Krankheit; eine wirkliche Anbetung, doch mit den Mitteln der Täuschung; eine wirkliche Selbstbehauptung und Selbsterhebung, doch mit den Mitteln der Selbstverwundung. Deshalb liegen in dem gewaltigen religiösen Affekt, aus dem ganz allein bei NIETZSCHE alle Erkenntnis hervorgeht, unlöslich in einen Knoten verschlungen: eigene Aufopferung und eigene Apotheose, Grausamkeit der eigenen Vernichtung und Wollust der eigenen Vergötterung, leidvolles Siechen und siegende Genesung, glühender Rausch und kühle Bewußtheit. Man fühlt hier die enge Verknüpfung der Gegensätze, die einander unaufhörlich bedingen: man fühlt das Überschäumen und freiwillige Hinabstürzen der auf das Höchste erregten und gespannten Kräfte ins Chaotische, Dunkle, Schauerliche, und dann wieder aus diesem heraus ein Drängen ins Licht, Zarteste, - das Drängen eines Willens, der sich "-- von der Not der Fülle und Überfülle, vom Leiden der in ihm gedrängten Gegensätze löst", (11) - ein Chaos, das den Gott gebären möchte, - gebären muß.
Die Gottsehnsucht wird in ihrer Qual zu einem Drang der Gott-Schöpfung, und dieser mußte sich notwendig in Selbstvergottung äußern. Mit richtigem Blick erkannte NIETZSCHE im religiösen Phänomen die ungeheure Auslebung des individuellsten Verlangens, den Wilen zur Selbstbeseligung. Dieser Individualismus, der als Kern in allem Religiösen steckt, dieser "sublime Egoismus", der in allem Religiösen frei und naiv ausströmt, indem er sich auf eine von außen gegebene Lebens- oder Gottesmacht zu beziehen glaubt, wurde in ihm, dem "Erkennenden", auf sich selbst zurückgeworfen. Und so gelangt er dazu, sich die ihm vom Verstand aufgedrungene Gottlosigkeit mit dem vermessenen Schluß innerlich anzueignen:
Diese Grundzüge von NIETZSCHEs Eigenart enthalten die Ursachen des zugleich Raffinierten und Exaltierten, das auch dem Großen und Bedeutenden in seiner Philosophie beigemischt ist gleich einer brennenden Würze. Am schärfsten wird es wohl von der unverdorbenen Zunge junger und gesunder Geister herausgeschmeckt werden, - oder auch von denen, die, im ruhigen Frieden glaubensvoller Anschauungen geborgen, niemals den ganzen furchtbaren Kampf und Brand eines religiös veranlagten Freigeistes am eigenen Leib erfahren haben. Aber es ist auch dasjenige, was NIETZSCHE in so hohem Maße zum Philosphen unserer Zeit hat werden lassen. Denn in ihm hat typische Gestalt gewonnen, was sie in ihrer Tiefe bewegt: jene "Anarchie in den Instinkten" schöpferischer und religiöser Kräfte, die zu gewaltig nach Sättigung begehren, um sich mit den Brosamen begnügen zu können, welche vom Tisch der modernen Erkenntnis für sie abfallen. Daß sie sich nicht mit ihnen begnügen können, aber ebensowenig ihre Stellung zur Erkenntnis preisgeben, - gleich unersättlich im leidenschaftlichen Verlangen wie unermüdlich im Darben und Entbehren, - das ist der große und erschütternde Zug im Bild der Philosophie NIETZSCHEs. Das ist es auch, was sie in immer neuen Wendungen zum Ausdruck bringt: - eine Reihe von gewaltigen Versuchen, dieses Problem moderner Tragik, das Rätsel der modernen Sphinx zu lösen und sie in den Abgrund zu stürzen. Aber deshalb ist es eben der Mensch und nicht der Theoretiker, auf den wir unseren Blick richten müssen, um uns in den Werken NIETZSCHEs zurechtzufinden, - und deshalb wird auch der Gewinn, das Resultat unserer Betrachtung nicht darin bestehen, daß uns ein neues theoretisches Weltbild in seiner Wahrheit aufgeht, sondern das Bild einer Menschenseele in ihrer Zusammensetzung von Größe und Krankhaftigkeit. Zunächst scheint die philosophische Bedeutung in NIETZSCHEs Wandlungen dadurch abgeschwächt zu werden, daß sich jedesmal genau derselbe innere Prozeß abspielt. Aber sie wird vertieft und verschärft, weil der Wechsel der Ansichten immer wieder auf das Wesen übergreift. Nicht nur die äußeren Umrißlinien einer Theorie sind jedesmal verändert, sondern die ganze Stimmung, Luft, Beleuchtung wandelt sich mit ihnen. Während wir Gedanken einander widerlegen hören, sehen wir Welten versinken, neue Welten emporsteigen. Gerade hierauf beruth die wahre Originalität des NIETZSCHE'schen Geistes: durch das Medium seiner Natur, die alles auf sich und ihre intimsten Bedürfnisse bezieht, aber sich auch an alles hingebend verliert, erschließen sich ihm jene inneren Erlebnissen und Ergebnisse von Gedankenwelten, die wir sonst nur mit dem Verstand streifen, ohne sie jemals in ihren Tiefen auszuschöpfen und ohne daher an ihnen schöpferisch zu werden. Theoretisch betrachtet, lehnt er sich häufig an fremde Muster und Meister an, aber das, worin diese ihre Reife, ihren Produktionspunkt haben, wird ihm nur zum Anlaß, daran zu eigener Produktivität zu gelangen (13). Die geringste Berührung, die sein Geist empfand, genügte, um in ihm eine Fülle inneren Lebens, - Gedanken-Erlebens, auszulösen. Er hat einmal gesagt:
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1) Eine zusammenfassende Charakteristik NIETZSCHEs, in der zum ersten Mal die drei Perioden seiner geistigen Entwicklung unterschieden und bestimmt charakterisiert sind, erschien in der Sonntagsbeilage der "Vossischen Zeitung", 1891, Nr. 2, 3 und 4. Außerdem brachte die "Freie Bühne" eingehendere Ausführungen einzelner Punkte unter dem Titel "Zum Bilde Friedrich Nietzsche", Jahrgang II, 1891, Heft 3, 4 und 5; Jahrgang III, 1892, Heft 3 und 5; das "Magazin für Literatur", 1892, Oktober, "Ein Apokalyptiker"; der "Zeitgeist", 1893, Nr. 20, "Ideal und Askese". 2) "Was das Leben -, die sogenannten "Erlebnisse" angeht, - wer von uns hat dafür auch nur Ernst genug? Oder Zeit genug? Bei solchen Sachen waren wir, fürchte ich, nie recht bei der Sache, wir haben eben unser Herz nicht dort - und nicht einmal unser Ohr! (Zur Genealogie der Moral, Vorrede III) 3) Eine ähnliche Bedeutung legte er seinen selten kleinen und feinmodellierten Ohren bei, von denen er sagte, sie seien die wahren "Ohren für Unerhörter" (Zarathustra I 25). 4) "Gibt es - eine Vorneigung für das Harte, Schauerlich, Böse, Problematische des Daseins aus Wohlsein, aus überströmender Gesundheit, aus der Überfülle selbst? --- Gibt es vielleicht - eine Frage für die Irrenärzte - Neurosen der Gesundheit?" (Versuch einer Selbstkritik zur neuen Ausgabe der "Geburt der Tragödie aus dem Geist der Musik" IV und IX) 5) Vgl. auch "Die fröhliche Wissenschaft" 253: "Eines Tages erreichen wir unser Ziel - und weisen nunmehr mit Stolz darauf hin, was für lange Reisen wir dazu gemacht haben. Wir kamen aber dadurch so weit, daß wir an jeder Stelle wähnten, zu Hause zu sein." 6) Daher nennt er die Überzeugungen Feinde der Wahrheit: "Überzeugungen sind gefährlichere Feinde der Wahrheit als Lügen." (Menschliches, Allzumenschliches, I 483) 7) Durch diesen Trieb entwickelte er sich mehr, als er es selbst wahr haben wollte, zu jenem "Don Juan der Erkenntnis" , den er ("Morgenröte" 327) folgendermaßen schildert: "Er hat Geist, Kitzel und Genuß an Jagd und Intrigen der Erkenntnis - bis an die höchsten und fernsten Sterne der Erkenntnis hinauf! - bis ihm zuletzt Nichts mehr zu erjagen übrig bleibt, als das absolut Wehtuende der Erkenntnis, gleich dem Trinker, der am Ende Absinth und Scheidewasser trinkt. So gelüstet es ihn am Ende nach der Hölle, - es ist die letzte Erkenntnis, die ihn verführt. Vielleicht, daß auch sie ihn enttäuscht, wie alles Erkannte! Und dann müßte er in alle Ewigkeit stehen bleiben, an die Enttäuschung festgenagelt und selber zum steinernen Gast geworden, mit einem Verlangen nach einer Abendmahlzeit der Erkenntnis, die ihm nie mehr zuteil wird! - denn die ganze Welt der Dinge hat diesem Hungrigen keinen Bissen mehr zu reichen." 8) "Die Instinkte bekämpfen müssen - das ist die Formel für décadence: so lange das Leben aufsteigt, ist Glück gleich Instinkt", sagt er (Götzendämmerung, Das Problem des Sokrates 11) und unterscheidet so den Dekadenten von der geborenen Herrennatur. 9) NIETZSCHE faßt hier, nebenbei bemerkt, GOETHE durchaus anders auf als einige Jahre später (in der "Götzendämmerung). Hier sieht er noch in ihm den Antipoden seiner eigenen, unharmonischen Natur - später hingegen einen ihm tief verwandten Geist, der nicht harmonisch war, sondern sich durch Ausgestaltung und Hingabe seiner selbst zum Harmonischen umschuf. 10) Vgl. auch "Jenseits von Gut und Böse" 224: "wir --- sind erst dort in unserer Seligkeit, wo wir auch am meisten - in Gefahr sind." 11) "Versuch einer Selbstkritik", in der neuen Ausgabe der "Geburt der Tragödie aus dem Geist der Musik" XI. 12) Siehe in der "Fröhlichen Wissenschaft" (Scherz, List und Rache 38) über die menschliche Bestimmung als erfüllt in der Gottschöpfung des Menschen:
Gott liebt uns, weil er uns erschuf! Der Mensch schuf Gott!, sagt darauf ihr Feinen. Und soll nicht lieben, was er schuf? Soll's gar, weil er es schuf, verneinen? Das hinkt, das trägt des Teufels Huf. 14) Manchmal, wenn er dies besonders empfand, war er geneigt, das weibliche Genie als das eigentliche Genie zu nehmen. "Die Tiere denknen anders über die Weiber, als die Menschen; ihnen gilt das Weibchen als das produktive Wesen. --- Die Schwangerschaft hat die Weiber milder, abwartender, furchtsamer, unterwerfungslustiger gemacht; und ebenso erzeugt die geistige Schwangerschaft den Charakter des Kontemplativen, welcher dem weiblichen Charakter verwandt ist: - es sind die männlichen Mütter. -" (Die fröhliche Wissenschaft 72) |