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ALBERT SELLNER
Fritz Mauthner -
Kleine Wirkungsgeschichte


"Die Erkenntnis, daß Sprache und Wirklichkeit voneinander unabhängige Systeme sind, hat Mauthner als erster radikal zu Ende gedacht - darin freilich eine lange sprachskeptische Tradition der Geistesgeschichte aufnehmend."

FRITZ MAUTHNER ist in die Kulturgeschichte als der radikalste Kritiker der Sprache eingegangen. Sein Freund, der Anarchist GUSTAV LANDAUER, hat ihn einen der  großen Zertrümmerer  genannt und vom Werk MAUTHNERs die Voraussetzungen für eine revolutionäre Umgestaltung sowohl des alten Denkens wie der gesellschaftlichen Wirklichkeit erwartet. Derartige politische Zuspitzungen lagen dem BISMARCK-Bewunderer MAUTHNER freilich völlig fern. Er selbst sah seine eigene Leistung als gewaltigen geistigen Befreiungsschlag gegen die Herrschaft jeglichen Dogmas und aller metaphysischen Zwangsvorstellungen und stellte sich selbst in eine Reihe mit den Heroen der philosophischen Kritik wie HUME oder NIETZSCHE.

In seinem von der akademischen Zunft seiner Zeit verlästerten, von vielen schöpferischen Geistern emphatisch begrüßten dreibändigen Werk "Beiträge zu einer Kritik der Sprache" (1901/1902) nahm er wesentliche Erkenntnisse moderner Sprachphilosophie - von WITTGENSTEIN bis CHOMSKY - vorweg. Der Kahlschlag, den er mit seinem Werk in den metaphysischen Grundlagen der traditionellen Philosophie anrichtete, trug indirekt zur Grundlegung der modernen Wissenschaftstheorie bei, die im Wiener Kreis des Neopositivismus um MORITZ SCHLICK, RUDOLF CARNAP und OTTO NEURATH ihre  klassische  Gestalt finden sollte.

MAUTHNER ging einen langen Weg, von der Verzweiflung über die konservative Unfähigkeit der Sprache, neue Erkenntnisse zu befördern, ja überhaupt mitzuteilen, bis zu einer Begriffskritik der philosophischen Tradition und schließlich zur Kritik der Religion, darin zu den Anfängen der Moderne zurückkehrend.

MAUTHNERs Gelehrsamkeit sprengte alle Grenzen der Fachdisziplinen. Er hatte soviele Bibliotheken geistig in sich aufgenommen, daß er am Ende seines Lebens - wie später BORGES oder SARTRE - fast erblindet war. Die unübersehbare Fülle seiner Kenntnisse vermochte er zudem mit dem faszinierenden Witz eines Praeceptors (Lehrmeisters) der Kritik und der Erzählerkraft eines weltweiten Rabbi darzulegen. Seine Urteile sind immer originell, nie eklektisch, auch wenn einzelne Bewertungen - etwa die der MARXschen Religionskritik - im Lichte der heutigen Forschung überzogen sein mögen.

Sein  semantisches  Erkenntnisinteresse befähigte ihn, die Geschichte des Atheismus als einen sehr viel umfassenderen Prozess zu beschreiben, als der enge Wortsinn nahelegt. Es ist die Geschichte der widerspruchsvollen Ablösung des freien Denkens im Okzident aus den Fesseln der Dogmen und Institutionen der Religion. Nicht nur die  großen  Philosophien spielen in diesem komplizierten Emanzipationsprozess eine Rolle, sonder auch moralischer Mut und die List der Unterdrückten, die partisanenhaft ihre Sprengsätze des Neuen im jeweils herrschenden Zeitgeist verstecken.

Nach einer zeitgenössischen Stimme ( THEODOR KAPPSTEIN / ein Biograph MAUTHNERs) führte MAUTHNER in diesem letzten großen Werk die Leser "auf die helle und kalte Höhe, von der aus betrachtet alle Dogmen als geschichtlich gewordene und vergängliche Menschensatzungen erscheinen, die Dogmen aller positiven Religionen ebenso wie die Dogmen der materialistischen Wissenschaft, also allwo Glaube und Aberglaube gleichwertige Begriffe sind."

Philosophisch geht er von der Antimetaphysik ERNST MACHs aus, der ihn schon in seiner Prager Studentenzeit nachhaltig beeindruckte. Dieser löste die alte philosophische Frage nach dem Verhältnis zwischen Denken und Sein  impressionistisch,  d.h. er akzeptierte als Realität nur die für die menschlichen Sinne, Empfindungen oder Wahrnehmungen unmittelbar gegeben Elemente - darin die empiristische Tradition DAVID HUMEs (1711-1776) aufnehmend. Körper sind nach dieser Auffassung bloß relativ konstante Verknüpfungen solch qualitativer Elemente wie Farben, Klänge, Tastempfindungen, Gerüche. Die Aufgabe der Wissenschaft besteht für MACH in der Beschreibung dieser Empfindungskomplexe, wobei die Funktion der theoretischen Begriffe in der Herstellung von Denkökonomie liegt: die Zahl der Variablen, mit denen sich die Erkenntnis herumzuschlagen hat, zu minimieren. Den Leib und das Ich stufte Mach - ähnlich wiederum HUME - als einen besonderen Komplex von Empfindungen ein, der sich dadurch auszeichnet, daß er in einem geordneten, kontinuierlichen Strom auftritt. Das Bewußtsein besteht in der Erinnerungsfähigkeit, es kann frühere Empfindungskonstellationen  speichern  und funktioniert als Vergleichsinstanz zwischen den aktuellen und den vergangenen Empfindungskomplexen.

Der Unterschied zwischen der  denkökonomischen Einheit  Ich und anderen Körpern kann als Unterschied in Beschreibungsweisen ausgedrückt werden: Für das Ich ist die Psychologie, für die Körper die Physik zuständig. Die alte Frage nach der Realität der Außenwelt erledigt sich, weil sie sinnlos ist. Erkenntnis und Wissenschaft besteht allein darin, die Beziehungen zwischen den verschiedenen Komplexen präzise zu beschreiben. In den Worten WOLFGANG STEGMÜLLERs: "Es gibt (für Mach) nichts außer den gegebenen Elementen und den Abhängigkeiten zwischen diesen."(1)

MAUTHNER radikalisierte die Antimetaphysik MACHs weiter, indem er NIETZSCHEs antihistorische Skepsis auf die Sprache richtete und ihre Eignung zu Beschreibung und Mitteilung grundsätzlich in Frage stellte.

Nach der pointierten Formulierung GERSHON WEILERs lehrte MAUTHNER: "Meine augenblickliche Erfahrung ist einzigartig, daher hat sie in diesem Augenblick keinen Namen, und in dem Augenblick, in dem ich sie benenne, ordne ich sie bereits dem Lager meiner Erinnerungen zu, und die Einzigartigkeit ist dahin. Daher ist die Erfahrung der Sprache immer um einen Schritt voraus.(2)

Die Erkenntnis, daß Sprache und Wirklichkeit voneinander unabhängige Systeme sind, hat MAUTHNER als erster radikal zu Ende gedacht - darin freilich eine lange sprachskeptische Tradition der Geistesgeschichte aufnehmend. Da nach MAUTHNERs Philosophie Denken und Sprechen dasselbe ist, die Sprache aber nur als Mitteilungsinstrument für Eigenschaften, Wahrnehmungen und Prozesse nützliche Funktionen erfüllen kann (MAUTHNER nennt dies  adjektivische  und  verbale Welt),  ist jedes verständige Reden über Gott - als den Inbegriff der  substantivischen  Welt - in Wahrheit unmöglich.

Im "Philosophischen Wörterbuch" von 1911 (Neudruck 1980) gelang es MAUTHNER, die Leitideen seiner Sprachphilosophie in so unerreicht konzentrierter Weise darzulegen, daß es sich auch lohnt, dieses lange Zitat anzuführen:
    "Die  adjektivische  Welt ist als die Welt des Sensualismus ungefähr gleich der sinnlichen Erfahrungswelt; die unmittelbare und inbrünstige Erfassung dieser sinnlichen Welt kann sich in begnadeten Naturen steigern bis zu einer Welt der Kunst.

    Die  substantivische  Welt ist ungefähr gleich der Welt des Seins, deren Bedingung der Raum ist. Der älteste Aberglaube der Menschen und wohl auch der Tiere ist der Glaube an die Realität der Dinge im Raume; und so abergläubisch wie dieser naive Realismus, so mythologisch ist der Glaube an die Realität oder an die Wirksamkeit der abstrakten Substantive. (MAUTHNER verwendet im  Atheismus  für diesen "Glauben" immer den Ausdruck "Wortaberglauben") Unser Denken in substantivischen Begriffen ist Mythologie. Aber das inbrünstige Erfassen dieser Welt des Seins kann sich in begnadeten Naturen steigern zu einer Welt der  Mystik,  die der Erfahrungswelt gegenüber das höhere Stockwerk ist. In welchem man nicht dauernd wohnen, in welchem man aber ruhig träumen kann.

    Die  verbale  Welt ist ungefähr die Welt des Werdens, deren Bedingung die Zeit ist; die verbale Welt glaubt nicht an die substantivische Welt und begnügt sich nicht mit der adjektivischen Welt; sie sieht in allen Veränderungen, um die allein sie sich kümmert, nur Relationen, Relationen der sogenannten Dinge zu uns und Relationen dieser Dinge zueinander; sie erhebt sich also in der Wissenschaft (von der Erfahrung und von den Dingen), als über die addjektivische und über die substantivische Welt. Das Sein wird zum Werden. Und in begnadeten Naturen steigert sich ein inbrünstiges Wissen zu etwas, das der Kunst verwandt sein muß durch die Stimmung des Einswerdens mit den beiden anderen Welten. Die Welt, deren Bedingung die Zeit ist, glaubt nicht mehr an das Substantiv Zeit. Das Wissen wird zu einer  docta ignorantia. 

    Kunst, Mystik und Wissenschaft sind drei Sprachen, die einander helfen müssen."
Die menschliche Sehnsucht nach der Erkenntnis des Seins (das MAUTHNER der abstrakten Welt des Substantivischen, daher in Wahrheit nicht Kommunizierbaren zurechnete) verweist er in die Gefilde der mystischen Tradition. Daß Mystik die Kehrseite der radikalen Skepsis sein kann, darauf war MAUTHNER früh von Gustav Landauer hingewiesen worden, der die Schriften MEISTER ECKHARTs herausgab und in dem Band "Skepsis und Mystik" (1903) bekannte: "Weil die Welt in Stücke zerfallen und von sich selbst verschieden und geschieden ist, müssen wir uns in die mystische Abgeschiedenheit flüchten, um mit ihr eins zu werden."

In der  Geschichte des Atheismus  - wie MAUTHNER sie verstand, als Befreiung vom Gottesbegriff - sind den großen Mystikern lange Passagen gewidmet. Und der Autor selbst erklärt zu seinem Credo eine "gottlose Mystik", die das  Einsgefühl mit der Welt  im Schweigen rettet, befreit von jedweder Kirche, Zaubermagie oder dogmatischen Zwängen.


Biographisches

FRITZ MAUTHNER (1849-1923) entstammte einer Familie wohlhabender böhmischer Landjuden, er ist im nahe bei Königgrätz gelegenen Städtchen Horitz geboren. Sein Großvater mütterlicherseits, der 1876 im biblischen Alter von 111 Jahren starb, war ein gebildeter Freigeist, der in seiner Jugend der Sekte des legendenumwobenen jüdischen Ketzers Jakob Frank angehangen hatte. Dieser mystische Gnostiker hatte in den vorrevolutionären 1780er Jahren die Heiligkeit der Sünde gepredigt. Frank und seine schöne Tochter wurden von der zahlreichen Gefolgschaft als Inkarnationen Gottes betrachtet. Die heftige Verfolgung der Frankisten durch die rabbinische Orthodoxie ließ den Sektenstifter und viele seiner Jünger zum Katholizismus übertreten. Der Großvater hatte sich aus solch bewegter Jugend eine tiefe Skepsis gegen die herrschenden Religionen bewahrt, ohne in die Rolle eines Eiferers und Zeloten (Bewunderers) zu geraten. Er war in seiner Umgebung als gelehrter Weiser hochgeachtet; bei seinem Begräbnis waren sowohl der örtliche Rabbi wie die Pfarrer der katholischen und der evangelischen Kirche zugegen.

Dieser familiäre Einfluß auf den früh als Wunderkind bestaunten Fritz sollte sich, zumal er durch die kultivierte und belesene Mutter Amalie verstärkt wurde, für seine geistige Entwicklung prägend erweisen. Er selbst leitete seine lebenslange Beschäftigung mit der Kritik der Sprache von der frühen Religionskritik her: "Ich kann und will nämlich nicht leugnen, daß meine Sprachkritik sich zuerst und zumeist an religiösen Begriffen entwickelt hat, da mir eine Befreiung von religiösen Lügen von jeher dringend nötig erschien."

1855 übersiedelte der Vater Emmanuel MAUTHNER, ein Textilfabrikant, nach Prag. Ökonomische Gründe gaben dafür ebensowohl den Ausschlag wie die Sorge um die Ausbildung seiner sechs Kinder, dreier Töchter und dreier Knaben. Hauslehrer und der vom Vater verordnete Besuch eines katholischen Piaristengymnasiums, dessen Lehrkräfte wahre Muster an Dummheit und Bigotterie gewesen sein müssen, flößten MAUTHNER einen nie mehr versiegenden Hass gegen Dogmen und Intoleranz ein. Das endlich durchgesetzte Überwechseln auf das deutsche Gymnasium empfand er als geistige Befreiung. Wie die Mehrheit der Prager Juden assimilierte sich auch die MAUTHNERsche Familie an die deutsche Sprachgruppe, was für den Alltag der 1860er Jahre nicht unproblematisch war. Denn zu der traditionellen jüdischen Distanzerfahrung kam nun eine nationale. Die Kluft zwischen dem deutschen und dem tschechischen Bevölkerungsteil wuchs ständig, was sich besonders in einem gereizten Sprachenstreit ausagierte.

Die Entscheidung für das Prager Deutsch, das gerne als die reinste Verkörperung der deutschen Hochsprache glorifiziert wurde, bedeutete die Zugehörigkeit zu einer isolierten, in Abwehr gegen eine Mehrheitssprache stehende Sprachinsel. Vor allem in der jüdischen Mittelschicht verachtete man jede Verfälschung der Hochsprache, ächtete Dialekt und Mischbildungen wie das  Kuchelböhmische,  hielt man das Jiddische für Unkultur, Für die Sensiblen unter den jungen Juden entstanden so mächtige Barrieren zur Umwelt, die freilich auch zu außerordentlichen künstlerischen oder politischen Bewältigungsanstrengungen herausforderten. Man könnte, wollte man psychologisieren, viele Stationen des Lebenswegs MAUTHNERs mit der Anstrengung erklären, dieses Außenseitertum einerseits stolz zu bewahren, andererseits seinen gesellschaftlichen Nutzen durch überquellende kulturelle Produktivität zu rechtfertigen. Dazu gehören bei MAUTHNER Phasen opportunistischer Anpassung an den Zeitgeist - wie bei seinen antitschechischen Anwandlungen, seiner Bismarckverehrung und der Übernahme chauvinistischer Ressentiments während des 1. Weltkriegs - ebenso wie sein radikales Dissentertum, aus dem seine wichtigsten geistigen Schöpfungen hervorgingen.

Nach einem glänzenden Abitur war der junge MAUTHNER entschlossen, Schriftsteller zu werden, mußte jedoch bis zum Tode des mehr wirtschaftlich denkenden Vaters (1874) noch ein Brotstudium absolvieren. Sehr ernst nahm er dies allerdings nicht. Eingeschrieben an der juristischen Fakultät, glänzte er mehr durch seine politischen (deutschnational-antitschechischen) Aktivitätenals durch Paragrapheneifer. Früh verstand er es, seinem Nonkonformismus jene unterhaltsam-satirische Form zu geben, die manchem musischen Damensalon zur Zierde gereichte. Sein Jugendfreund Alfred Klar berichtet aus dieser Zeit:

"Es fehlte nicht an Menschen unter uns, die ihn als Querkopf charakterisierten, ohne zu ahnen, daß es sich um einen keimenden Geist handelte, der in der Tat durch die Fülle von Vorurteilen und konventionellen Annahmen einen energischen, gewaltigen Schlußstrich ziehen sollte. In einem Kreise geistvoller Frauen, um die wir jungen Leute uns wetteifernd bemühten, wurde er scherzweise Mephisto genannt, Das war vielleicht mitveranlaßt durch seine scharfzügige Jünglingsphysiognomie, das schneidige Profil und das diabolische Lächeln, mit dem er schlagfertige Spottreden begleitete - aber es war etwas mehr dahinter; mit ihrem der Natur näherstehendem Gefühl ahnten diese Frauen den Geist, der im großen Stil zu verneinen berufen war."

Dieser hier reportierte Mephisto-Eindruck, der auch in Äußerungen Berta von Suttners und anderer Zeitgenossen überliefert ist, fand noch durch ein merkliches Hinken eine ironische Vervollständigung.

Wichtiger als alle politischen und geselligen Begegnungen wurde jedoch für MAUTHNERs weiteres Denken die Bekanntschaft mit der Philosophie ERNST MACHs. Dieser lehrte 1867 - 1895 in Prag Experimentalphysik und hielt vor dem gebildeten Publikum der  Königl. Böhm. Gesellschaft der Wissenschaften  Vorträge. Aus der Wissenschaft die latenten metaphysischen Grundlagen zu eliminieren, diesen Anstoß habe er durch Mach erhalten, schreibt er 30 Jahre später selbst dem verehrten Leser, als er selbst mit der  Kritik der Sprache  die Publizierung seiner eigenen Philosophie eröffnet. Machs Erkenntniskritik, nach der Begriffe "denkökonomische Einheiten" sind, denen keine Dinge entsprechen, legte den Keim zu jenem skeptischen, antimetaphysischen Grundzug im MAUTHNERschen Denken, das nach Jahrzehnten journalistischer  Fronarbeit  in seinem sprachphilosophischen und begriffskritischen Spätwerk Gestaltung finden sollte.

Nach dem Tod des Vaters hatte MAUTHNER sich entschlossen aus der Juristerei verabschiedet und sich als junges Dichtergenie in mannigfachen lyrischen und dramatischen Werken versucht. Er mußte jedoch bald den Realitätsgehalt der alten väterlichen Besorgnisse einsehen: Die Muse reichte nicht zum Lebensunterhalt. Auf der Suche nach einem unabhängigen Einkommen begann er für die Prager Feuilletons zu schreiben und mauserte sich schnell zum Theaterkritiker des  Tagesboten aus Böhmen.  Sein Talent ermöglichte es ihm bald, Artikel in Wiener und Berliner Zeitungen unterzubringen, und so stand einer steilen journalistischen Karriere nichts mehr im Wege.

1876 schon übersiedelte er, möglicherweise auch aus dem Wunsch heraus, seinem politischen Idol Bismarck nahe zu sein, nach Berlin, das längst zu hektisch-pulsierende Pressemittelpunkt des Deutschen Reiches geworden war. Dort wurde er regelmäßiger Mitarbeiter für die Feuilletons der Zeitungen aus dem Konzern des liberalen Großverlegers Rudolf Mosse. In kurzer Zeit stieg er zu einem der einflußreichsten und wegen seines beißenden Witzes gefürchtetsten Theaterkritiker Berlins auf. Seine Position und seinen Einfluß nutzte er zur Unterstützung des jungen Naturalismus, der er auch institutionell zu befördern half. Er Mitbegründer der  Freien Bühne  Otto Brahms (1889) und arbeitete später im Vorstand der  Neuen Freien Volksbühne  Bruno Willes mit.

Zu einem für ihn selbst unerwarteten Erfolg wurden seine seit 1878 veröffentlichten Parodien auf die literarischen Größen der Zeit, die zuerst im Feuilleton des  Deutschen Montagsblatts  erschienen, später in Buchausgaben  (Nach berühmten Mustern)  gesammelt, zu sensationeller Leserwirkung kamen. Darin war mit ganz wenigen Ausnahmen (seine Lieblingsschriftsteller Keller und Anzengruber) alles versammelt, was damals Rang und Namen hatte: Gustav Freytag, Berthold Auerbach, Viktor Scheffel, Georg Ebers, Karl Emil Franzos, Richard Wagner, Leopold Sacher-Masoch, Eugenie Marlitt, Paul Heyse, Arno Holz und viele andere heute Vergessene. Großes Vergnügen bereitete er seinen Lesern mit der Vorführung des Philosophen Eduard von Hartmann, aus dessen "Philosophie des Unbewußten" er satirisch die "Philosophie des unbewußten Hühnerauges" destillierte. Die Gesamtausgabe der Parodien erreichte allein bis 1902 dreißig Auflagen.

Das Erfolgsjahr 1878 brachte MAUTHNER auch die Heirat mit der schönen jüdischen Pianistin Jenny Ehrenberg und die Geburt seines einzigen Kindes, der Tochter Grete. Die gesellschaftlichen und finanziellen Erfolge ermöglichten MAUTHNER, einen Teil seiner publizistischen Produktivität auf die eigene Schriftstellerei zu verwenden.

Von 1882 bis 1897 veröffentlichte er zwölf Romane, darunter historische wie  Xanthippe  und  Hypathia,  zeitkritische wie den  Neuen Ahasver, Fanfare  und  Villenhof,  und patriotische wie  Der letzte Deutsche von Blatna  und  Die böhmische Handschrift  schließlich Künstlerromane wie den  Pegasus.  Daneben entstanden zahlreiche Erzählungen, dramatische Versuche und Lyrik. Das Niveau dieser Werke war sehr schwankend, die Kritik reagierte meist eher ablehnend. Repräsentativ für deren Haltung ist das Urteil des Literaturhistorikers Eduard Engel, der MAUTHNERs belletristische und journalistische Leistungen rückblickend von 1913 aus mit den Worten würdigt: "Er hatte sich durch prächtige Stilnachahmungen und durch jahrzehntelange meisterliche Ausübung des kritischen Richteramtes den Ruf eines unserer geistreichsten Literaturkenner erworben, auch eine Reihe lesbarer, wenngleich nicht hervorragender Sittenromane geschrieben."(3)

Beim Publikum fand die MAUTHNERsche Belletristik durchaus Anklang, was ihm finanziell die Möglichkeit bot, die journalistische Brotarbeit einzuschränken. Über die Jahre jedoch mehrten sich seine Selbstzweifel an der eigenen dichterischen Kraft. Eine Lebenskrise, der Tod seiner Frau (1896) und der Überdruß am journalistischen Alltag lassen ihn sein ureigenstes Lebensprogramm wiederfinden: das Denken aus den vormodernen metaphysischen und dogmatischen Fesseln zu befreien.

Ab etwa 1891 beginnt er an seiner  Kritik der Sprache  zu arbeiten. Wesentliche Anstöße dazu gab ihm die Begegnung mit Gustav Landauer, den er 1889 als zwanzigjährigen Studenten kennenlernt. "Es ist anzunehmen, daß MAUTHNER in Gesprächen mit dem leicht begeisterten und begeisternden Anarchisten die eigenen Gedanken einer geistigen Revolution schärfer faßte und mutiger vorantrieb."(4) Bestätigung für diese Auffassung liefert MAUTHNER selbst, der 1911 in einem Brief an Landauer schreibt: "Ich weiß nicht, ob ich Dir schon einmal von Deiner Wirkung auf mich gesprochen. Es ist da ein Schwung der Seele, zu dem es bei einem früh müden wie ich erste einen Ruck braucht; ich glaube, daß ich Dir für manche Tapferkeit verpflichtet bin. Ich weiß es. Jüngst in Portofino fragte Hauptmann bei Nennung deines Namens: Ist das der, der Ihnen die Anregung zur Sprachkritik gegeben hat? Ich lehnte das Wort Anregung ab, wie Du es lachend getan hättest; aber ich besann mich und mußte ihm ungefähr das sagen, was ich Dir jetzt - nicht sage."

Der libertäre Sozialist GUSTAV LANDAUER (1870-1919) hatte sich früh mit dem dogmatischen Marxismus der Sozialdemokratie überworfen und versuchte seit seines Lebens neue theoretische und praktische Grundlagen für eine radikale emanzipatorische Umgestaltung der Gesellschaft zu entwerfen. Sein utopisches Denken kreiste um die Vorstellungen von gegenseitiger Hilfe, Gewaltlosigkeit, Auflösung der autoritären Zwangsgemeinschaften durch freie Kommunen, Lebensreform und ästhetische Erfüllung. Er erhoffte sich vom langsam Gestalt annehmenden sprachkritischen Werk MAUTHNERs vor allem die Befreiung zur Tat: "Gewiß ist Sprachkritik untrennbar zu dem gehörig, was ich meinen Anarchismus und Sozialismus nenne, und ich wüßte auch nicht, wie es anders sein könnte." MAUTHNERs Kritik der Worte legte für MAUTHNER unabweisbar nahe, daß es keine absolute Wahrheit und keine absolute Wirklichkeit gibt und deshalb das Streben nach (absoluter) Erkenntnis unsinnig ist: "Denn wenn das Wort getötet ist: Was soll dann noch stehen bleiben? Und was wiederum soll dann nicht versucht werden?(5) Die praktische Sprachkritik hilft den Menschen, sich der Gedankengespenster zu entledigen, die sie knechten. Erst dadurch werde wahrhaft Gestaltung möglich, sowohl künstlerische wie gesellschaftliche.

MAUTHNER teilte die politische Vision Landauers überhaupt nicht. Ihn trieb es, die Erfahrung theoretisch zu verarbeiten, "daß jede Zeit ihre eigene Sprache spricht und daß die Größten der alten Zeit uns ganz oder teilweise unverständlich geworden sind."(6)

In gewaltigen inneren Krisen, in Krankheit - 1898 ist er zum erstenmal von der Erblindung bedroht - und Depressionen entsteht das Mammutwerk der  Kritik der Sprache,  dessen drei Bände 1901 und 1902, rechtzeitig zum Beginn des neuen Jahrhunderts, bei Cotta erscheinen.

Die Aufnahme dieser Herkulesarbeit enttäuschte MAUTHNER tief. Die Feuilletons waren zwar des Lobes voll, aber die akademische Zunft reagierte ablehnend, teilweise ließ sie sogar antisemitische Vorurteile anklingen.

1905 verließ MAUTHNER, der journalistischen Krämerarbeit müde - ohne ihr je aus finanziellen Gründen je entsagen zu können - die Metropole und übersiedelte zunächst nach Freiburg. 1909 zog er mit seiner neuen Lebensgefährtin HEDWIG STRAUB (1872-1945) nach Meersburg am Bodensee. Diese außergewöhnliche Frau war in einem katholischen Elternhaus und der Klosterschule entronnen, hatte in Zürich Medizin studiert und im Auftrag der französischen Regierung zehn Jahre lang die gesundheitlichen Verhältnisse der Beduinenfrauen in der Sahara erforscht. 1904 hatte sie den irischen Adeligen SILLES O'CUNNINGHAM geheiratet. Die Ehe war jedoch bald wieder geschieden worden. 1906 lernte sie MAUTHNER kennen, 1910 wurde sie seine zweite Frau.

Mit ihren Kenntnissen von acht Sprachen, ihrer Liebe zur Philosophie und zur Einsamkeit wurde sie zur idealen Partnerin MAUTHNERs, der durch sie den Mut zum Fortschreiten des eingeschlagenen Weges gewann. Mit wiedererwachter Schaffenskraft entsteht nach kurzen Monographien über Aristoteles und Spinoza das  Philosophische Wörterbuch , in dem er die Konsequenzen der Sprachkritik für die philosophischen Begriffe herausarbeitet. Er gibt bei GEORG MÜLLER eine  Bibliothek der Philosophen  heraus und wendet sich mit dem  Letzten Tod des Gautama Buddha  wieder der Dichtung zu. In der Mystik des Ostens glaubt er die Konsequenz seiner Sprachkritik für das Leben zu finden:
"Ich will keine abgestandenen Antworten mehr geben, ich will kein Knecht mehr sein meiner eigenen alten Worte, kein Knecht mehr sein von Götterworten, Priesterworten, Buddhaworten, Menschenworten."
Der erste Weltkrieg zerbricht die Idylle vom Bodensee, und MAUTHNER erlebt einen schweren Rückfall in die Welt der abstrakten Substantive. Der Deutschnationalismus seiner Jugend treibt grüne Knospen. Bei seinem Eifer, mit der Feder zum deutschen Sieg beizutragen, unterlaufen ihm schwere chauvinistische Entgleisungen, vor denen sich alte Freunde wie Landauer oder Harden entsetzt abwandten.

Es bedarf der deutschen Niederlage und des Schocks, den die Ermordung Landauers durch die Konterrevolution in München in ihm hervorruft, daß er sich wieder auf seine philosophischen Grundsätze besinnt. Bis kurz vor seinem Tod (am 29. Juni in Meersburg) arbeitet er nun an der  Geschichte des Atheismus , die Band für Band von 1921 bis 1923 erscheint. Sie hatte wenig Zeit, Wirkung zu entfalten. Die Dogmen und  Wortgespenster  gewannen in den nächsten Jahrzehnten eine Macht wie nie zuvor in der Geschichte.

In der Schwellensituation, in der wir gegenwärtig leben, scheint die Macht der alten Totalitarismen im Verschwinden begriffen zu sein. Die neuen Barbarismen zeichnen sich - vergleichbar mit der Zeit vor der letzten Jahrhundertwende - erst undeutlich am Horizont ab. So scheint die Zeit reif für eine offene Rezeption des großen Skeptikers MAUTHNER.

Das humane Erbe der Aufklärung zu bewahren und weiterzugeben, heißt vor allem solche Traditionen wieder fruchtbar werden zu lassen, die sich nicht in die Strategien totaler Macht einbauen ließen. Alle Konzepte illusionärer existenzieller Sicherheit, wie sie immer noch von den religiösen und säkularen Dogmatismen verheißen werden, müssen jener unermüdlichen Kritik unterzogen werden, die sich stets aufs Neue die Frage nach dem Raum für individuelle Freiheiten und Menschenrechte stellt. MAUTHNERs epochales Werk der Ablösung der modernen Menschheit vom Gottesbegriff, als dem Prototyp dogmatischen Denkens, kann heute einer verständnisvolleren Aufnahme sicher sein, als in jener Zeit des Aufstiegs der Totalitarismen.

(Es ist an dieser Stelle auch besonders der Erbin Fritz MAUTHNERs, Frau MARGARET EISENSTAEDT in Jerusalem, zu danken, ohne deren freundliche Unterstützung die vorliegende Neuherausgabe der "Geschichte des Atheismus" nicht möglich gewesen wäre.)
LITERATUR - Albert Sellner, Vorwort zu Fritz Mauthner, Geschichte des Atheismus, Frankfurt/Main 1989
    Anmerkungen
  1. WOLFGANG STEGMÜLLER, Hauptströmungen der Gegenwartsphilosophie
  2. GERSHON WEILER: Critique of Language, Seite 82
  3. Geschichte der deutschen Literatur, Seite 492
  4. JOACHIM KÜHN, Gescheiterte Sprachkritik
  5. GUSTAV LANDAUER, Skepsis und Mystik
  6. Brief an MAXIMILIAN HARDEN, 1897