Erkenntnis und Wirklichkeit I -38
Die Unerkennbarkeit des Subjekts des Ichs ist schon im Upanishad abgründig ausgesprochen (nach DEUSSEN): "Nicht sehen kannst du den Seher des Sehens, nicht hören kannst du den Hörer des Hörens, nicht verstehen kannst du den Versteher des Verstehens, nicht erkennen kannst du den Erkenner des Erkennens." Wie denn im Upanishad die Mystik des vedischen Wissens überwunden und das Nichtwissen gelehrt wird. Die Unmöglichkeit aller Erkenntnis durch die Sprache wäre sogar mathematisch zu beweisen, wenn eine Anwendung solcher Formeln auf psychologische Fragen nicht schon wieder ein Mißbrauch der besonderen mathematischen Sprache wäre. Aber ein Bild des wahren Sachverhalts wird doch etwa die Formel geben, welche DELBOEUF aufgestellt hat A = f (a, x)in Worten ausgedrückt, soll das heißen: das Wirkliche (A) wäre zu erkennen oder zu berechnen als eine Funktion von unserer Sinneswahrnehmung (a) und der uns unbekannten (x) Mitwirkung unserer Sinnesorgane bei dieser Wahrnehmung. Wenn man diese Formel auf Treu und Glauben hinnimmt, so könnte sie beinahe trostreich aussehen. Sie scheint nur eine einzige Unbekannte zu enthalten. Sie stellt die Wirklichkeitswelt unter dem Bilde eines positiven Wertes hin; man könnte fast glauben, daß aus dieser Formel sich die einzig vorkommende Unbekannte, die Natur unseres Geistes oder die Art unserer Sinnestätigkeit, genau berechnen ließe aus der Wirklichkeitswelt (A) und ihrer Erscheinung oder unseren Sinneswahrnehmungen von ihr (a). Wirklich könnte man alle Versuche, eine physiologische Psychologie zu begründen, auf den Aberwitz zurückführen, das x aus der Formel DELBOEUFs heraus berechnen zu wollen. Aberwitz scheint mir dieses Bestreben, weil es nicht wahr ist, daß es eine Formel mit nur einer Unbekannten ist. Die Bewertung der einzelnen Zeichen wird, von unserem Standpunkt betrachtet, ganz anders ausfallen. Wir werden eine Formel mit einer imaginären (nicht "imaginär" im mathematischen Sinne) Größe, mit einer von zweifelhafter Wirklichkeit und mit einer unbekannten Größe vor uns sehen. Die Natur unseres Geistes (x) ist die imaginäre, oder meinetwegen imaginierte, fingierte Größe. Ob wir sie unsere Seele nennen wollen oder das Wesen unserer Sinne, oder noch vorsichtiger die Tätigkeit unseres Gehirns, immer wird es für unseren Standpunkt gewiß sein, daß diesem x nichts Wirkliches entspricht. Wenn heute die fortgeschrittene Psychologie sich darüber klar ist, daß das Wort Seele eine ebenso kühne Personifikation war wie einst Zeus für das Prinzip des Himmels oder die Dryade für das Lebensprinzip des Baumes, so wird man bald dahinter kommen, daß selbst das unscheinbare Wort Tätigkeit eine zwar weniger kühne, aber doch nicht weniger leere Personifikation ist. Das Wirkliche (A) ist die Größe von zweifelhafter Wirklichkeit. Denn seine Wirklichkeit, seine Wirksamkeit auf uns, sein Verhältnis zu unseren Sinneswahrnehmungen steht ja eben in Frage. Wenn nun Psychologen wie WUNDT mit Hilfe physikalischer Apparate das Wirkliche zu erkennen glauben, mit Hilfe anderer physikalischer Apparate unsere Sinneswahrnehmungen von der Wirklichkeit genauer beobachten und aus diesen beiden scheinbar bekannten Größen auf die Natur unseres Geistes schließen wollen, wenn sie z.B. (in Übereinstimmung mit der gegenwärtigen Metaphysik, soweit sie sich Naturwissenschaft nennt) das wirkliche Licht für Bewegung ausgeben, die Lichterscheinungen als Bewegungen berechnen und darum in unserem Gesichtssinn eine Übertragung von Bewegungen erblicken, so haben wir eine vollkommen imaginierte Größe (das Wesen unseres Gesichtssinns) durch etwas zu erklären gesucht, dessen Wirklichkeit nach wie vor vollkommen zweifelhaft ist. Denn mögen sie sich bei ihren Experimenten drehen und wenden, wie sie wollen, sie kommen nicht über das Wahrnehmen von Erscheinungen hinaus, hinter denen dann das Wirkliche, die alte Frage, ungelöst bleibt. Die physikalischen Apparate können die Erscheinungen noch so sehr vergrößern, sie bieten immer nur Erscheinungen. Die glatte Wange der Geliebten, die glatte Oberfläche einer Stahlnadel mag unter dem Mikroskop noch so viele Poren, Höcker und Rauhigkeiten aufweisen, das Ding-an-sich der Haut oder des Stahls wird dennoch nicht sichtbar. Ein kurzsichtiges Auge sieht nicht so viel Sterne wie das des Schiffers, das gute Auge des Schiffers sieht nicht so viele wie das bewaffnete Auge des Astronomen, aber das Wesen der Sterne wird darum durch das Teleskop nicht besser erkannt. So ist auch die Verwandlung der Lichterscheinungen, der Farbenempfindungen in sogenannte Ätherschwingungen zum Teil eine genauere Beobachtung, zum Teil eine vorläufige Hypothese, jedenfalls eine Metapher. Diese Zurückführung der Lichterscheinungen, der Farbenempfindungen, auf Ätherschwingungen nun aber zuletzt für das Wirkliche, für daß Licht als Ding-an-sich auszugeben, ist die alte und ungeschwächte Vermessenheit unserer Sprache, besonders darum eine Vermessenheit, weil wir eben gar nicht wissen, ob dem zusammenfassenden Worte "Licht" irgend etwas in der Wirklichkeit entspreche, weil wir vielmehr annehmen dürfen, daß diesem Worte in der Wirklichkeit nichts entspreche. LICHTENBERGs köstlicher Traum: Gott reicht ihm das Buch der Natur, er aber untersucht das Buch - chemisch. Unsere Sinneswahrnehmungen (a), d. h. die uns bekannten Erscheinungen der Wirklichkeitswelt sind in der Formel von DELBOEUF das einzige, woran wir uns halten können, weil - wir gesehen haben - die anderen Werte zweifelhaft oder imaginiert sind. Wir geraten in die Lage eines Kapitalisten bei einem Weltkrach. Von den Verschreibungen und Papieren, die in seiner Kasse lagern und in seinem Hauptbuche beziffert sind, stellen sich die einen als ganz und gar imaginär heraus wie Aktien einer Plantage auf dem Monde. Wie die Franzosen eine bloße Rechnungsmünze Monnaie imaginaire nennen. Die anderen sind so zweifelhaft wie die Aktien eines Bergwerks in Westafrika, von welchem Bergwerk man nicht weiß, ob es in Betrieb und ob es überhaupt vorhanden ist. Aber auch die besten Werte sind in diesem allgemeinen Bankerott vorläufig nicht zu beziffern. Das menschliche Denken besitzt nichts als seine Sinneswahrnehmungen; von ihnen wird es fürder sein Leben zu fristen haben, aber es weiß nicht einmal, wie weit es sich auf sie verlassen kann. Es fällt mir nicht ein, damit die alte Phantasie von der Traumhaftigkeit alles Wirklichen vorkramen zu wollen, den oben erwähnten theoretischen Solipsismus. Diese Phantasie behauptet, daß das Wirkliche ganz bestimmt nichts sei. Dann ist aber auch diese Behauptung ein Traum. Würde ich so träumen, so wäre ich auch noch im Traume klug genug, den ewigen Schlaf angenehmer auszufüllen als mit einer aufreibenden Gedankenarbeit. Nicht ein Traum ist unsere Lehre, sondern die wache Besinnung darüber, daß wir an der Wirklichkeitswelt zweifeln müssen, daß sogar ganz gewiß das Wort Wirklichkeit ein Bild für die Ursache der Sinnesempfindungen ist. Im übrigen ist die Lehre von der Traumhaftigkeit der Wirklichkeitswelt - wie gesagt - in keiner Weise logisch zu widerlegen. Die Annahme einer Wirklichkeitswelt war viel mehr ursprünglich die gewagteste Hypothese, die jemals von einem Menschengehirn ausgeheckt worden ist, wenn auch diese unerhörte Hypothese, ganz sicher so alt ist wie das Leben auf der Erde. Die Annahme einer Wirklichkeitswelt ist nämlich ein Induktionsschluß aus einem einzigen Falle. Weil ich, d.h. diese meine Empfindung, innerhalb der Grenzen meiner Haut, bald von innen, bald von außen bestimmt zu werden glaube, darum glaube ich an die Wirklichkeit der Außenwelt. In dem unendlichen Weltenraum und in der unendlichen Weltenzeit ist dieser einzigste Fall einer Vorstellung des Innen und Außen bekannt, und aus diesem einzigsten Falle schließe ich auf eine Regelmäßigkeit, die man das alleroberste Gesetz der Natur nennen könnte; daß es nämlich etwas Wirkliches gebe. Selbst die Existenz unzähliger anderer gleich mir empfindender Organismen, die ihrerseits wieder an ein Innen und ein Außen glauben mögen, ist wieder nur ein Induktionsschluß aus dem einzigen Falle. Der Frechheit dieser Hypothese, die allen logischen Anforderungen widerspricht, indem sie also Induktion aus einem einzigen Falle ist, steht freilich eine ganz merkwürdige Anwendbarkeit dieser Hypothese gegenüber. Von der Wiege bis zum Grabe, in jedem Augenblicke des Wirkens oder des Lebens benimmt sich mein Ich, als ob die Hypothese einer Wirklichkeitswelt, eine bewiesene Tatsache wäre. Und alle die unzähligen Handlungen meines. Ich, vom Atemholen und Essen, bis zu einer Reise nach Afrika und dem Studium der Spektralanalyse, haben noch niemals den geringsten Verdacht gegen die Richtigkeit dieser umfassendsten Hypothese in mir aufsteigen lassen. Ja noch mehr. Ich bin mir eines Gedächtnisses bewußt, d.h. der Nachwirkung einer Vorstellung über die Zeit hinaus, wo die Wirklichkeitswelt mein Ich in irgend einem Punkte bestimmte. Die freche Hypothese einer Wirklichkeitswelt wird überraschend bestätigt durch die bloße Möglichkeit dessen, was wir unser Gedächtnis nennen. Es scheint wirklich etwas da zu sein, weil es dann noch da ist, wenn wir es nicht mehr empfinden. Und weiter, durch Sprache und Schrift ist uns ein tausendjähriges Gedächtnis der Menschheit überliefert worden und in den unzähligen Empfindungen dieser tausendjährigen Gedächtnisse unzähliger Organismen, die wir uns als unseresgleichen vorstellen, widerspricht nichts der vorläufigen Annahme einer Wirklichkeitswelt. So werden wir nicht übermütig sein. Wir werden eine so bequeme Hypothese nicht ablehnen, weil sie unerwiesen ist. Wir werden so etwas wie eine Wirklichkeitswelt weiter glauben, wir werden dabei aber die verlegene Anmerkung machen ("Anmerkung" in der alten oder der neuen Wortbedeutung), wir werden die Beobachtung merken, daß es schon wieder unser Gedächtnis und das Gedächtnis der Menschheit ist, also nur unsere Sprache, was in uns den Schein einer Wirklichkeitswelt befestigt, und daß es darum mehr als verwegen wäre, aus dieser selben Erscheinung, welche uns knapp das Dasein einer Welt ahnen läßt, auch noch das Wesen dieser Welt erkennen zu wollen. Ebensogut wie ich dieses urälteste felsenfeste Vertrauen auf eine Wirklichkeitswelt die frechste Hypothese der Menschheit genannt habe, hätte ich es auch die urälteste und kindlichste Religion der Menschheit nennen können. Es sind ja Religionen immer und überall kühne Hypothesen. Ganz gewiß ist für das Tier das Vertrauen auf die Existenz der übrigen Natur, ganz gewiß ist für den Hund das Vertrauen auf die Existenz der Menschenwelt ein Glaube, ein zweifelloser Glaube, soweit man tierisches Seelenleben mit menschlichen Worten bezeichnen kann. Alle anderen Glaubenssätze werden notwendig von der fortschreitenden Wissenschaft zerstört; denn darin eben besteht ja die Wissenschaft, daß sie alte Beobachtungen mit neuen verbindet, und daß sie der Religion raubt, was erst einmal beobachtet worden ist. Der Religion bleibt nichts erhalten, als was sich der Beobachtung entzieht. Denken wir uns also die menschliche Wissenschaft, bis an ihre äußersten Grenzen ausgedehnt, so wird sie den Glauben aus allen seinen Positionen hinausgedrängt haben, so wie sie bereits im unendlichen Weltenraum keinen Platz mehr gelassen hat, der eine Wohnung der Götter sein könnte. Aus allen diesen Positionen muß der Glaube verschwinden, nur nicht aus der einen: dem Verlaß auf eine Wirklichkeitswelt. Über unsere Welt der Erscheinungen kann die Beobachtung nicht hinausdringen, vor der Wirklichkeit muß die Erkenntnis Halt machen und ewig die Wirklichkeit dem Glauben überlassen. Über die Welt der Erscheinungen hinaus kann die menschliche Sprache nicht dringen; an die Wirklichkeitswelt wird die vollendete Menschenwissenschaft einfach glauben müssen, wie das stumme Tier wohl an die Natur glaubt, wie der bellende Hund fromm auf die Existenz seines Herrn vertraut. Diese bescheidene Wahrheit lehrt uns nicht allein jede gewissenhafte Überlegung abstrakter Formeln, sondern auch jede Erinnerung an den Fortschritt auch der gewissesten Wissenschaften. Als der Lauf der Sterne noch nicht so genau beobachtet war wie heute, gehörte schon alles das der Wissenschaft an, was eben beobachtet war. Der Wechsel von Tag und Nacht war die Wissenschaft der urältesten Zeit. Es ist mir sehr fraglich, ob der Wechsel von Tag und Nacht auch zur Wissenschaft des Hundes gehört. Vermutlich ist für den Hund und für die anderen klügsten Tiere Aufgang und Untergang der Sonne noch Religionssache. Für die ältesten Menschen aber schon war der Wechsel von Tag und Nacht sichere Beobachtung, also Wissenschaft; ebenso später der Wechsel der Jahreszeiten, und nach noch zahlreicheren Beobachtungen vielleicht nach Hunderttausenden von Jahren, auch die Regelmäßigkeit im Wechsel der Jahreszeiten, in der Wiederkehr des Mondes, die Regelmäßigkeit von Sonnenfinsternissen und dergleichen. Es bedarf nur eines Hinweises darauf, daß alle diese Beobachtung oder Wissenschaft nur die Erscheinungswelt betraf; die Wirklichkeitswelt blieb Sache des Glaubens, wie der Hund an den Wechsel von Tag und Nacht glaubt, weil er ihm noch nicht einmal als regelmäßige Beobachtung aufgegangen ist. In der Sonne und in jedem Planeten saß ein Gott, der auf seinem feurigen Wagen über das Firmament kutschierte. Wir lächeln über diesen naiven Glauben und lächeln noch spöttischer über den frommen Mann, der christlich zu sein glaubte, da er noch nach der Zeit der Renaissance sieben Engel als die bewegenden Geister der sieben Planeten annahm und lehrte. Der damals schon ziemlich richtig beobachtete Lauf der Planeten war die bewußt gewordene Erscheinung, war Wissenschaft; die sieben Engel waren die geglaubte Wirklichkeit, die Religion. Bald darauf erfolgte die große Tat NEWTONs, die Beobachtung, daß der Fall der Körper auf Erden und der Lauf der Gestirne im Himmel eine und dieselbe Regelmäßigkeit besitzen. Seitdem haben wir noch viel genauere Tafeln über den wirklichen Lauf der Planeten, über das Eintreffen der Finsternisse und über das Sichtbarwerden der Kometen. Die Wissenschaft, die Sammlung beobachteter Erscheinungen ist viel reicher geworden; die Wirklichkeit nennen wir seitdem die Gravitation, aber die Gravitation ist nicht Wissenschaft, ist nicht Beobachtung, die Gravitation ist Hypothese, ist Religion. An die Stelle der göttlichen Kutscher auf feurigen Wagen und an die Stelle der schon viel unkörperlicheren und durchsichtigeren leitenden Engel ist das leere Abstraktum Gravitation getreten. Es ist das neue Wort einer unbefriedigenden, einer langweiligen Religion, aber es ist dennoch Religionssache. Man kann der Naturwissenschaft nahetreten, wo man will, überall wird man denselben Fortgang wahrnehmen. Die geistige Entwicklung des Menschengeschlechts besteht in der Verbesserung ihrer natürlichen und ihrer künstlichen Sinnesorgane. Immer genauer wird beobachtet. Was wir aber beobachten und unter dem Namen der Wissenschaft sammeln und ordnen, ist immer nur die Welt der Erscheinungen. Wir sitzen vor der Natur wie das Kind im Theater vor dem bunten Vorhang. Es staunt den Vorhang an und glaubt, er wäre schon die Sache, um derentwillen es gekommen ist. Die Wirklichkeitswelt hinter dem Vorhange beobachten wir nie. Heute wie vor unendlichen Jahrtausenden beobachtet Mensch und Tier den Blitz, wie er leuchtet und den Donner nachrollen läßt. Einst sagte man, Zeus sei der Donnerer. Heute sagen nur noch fromme Mütter zu unmündigen Kindern: der liebe Gott sei böse und drohe mit Blitz und Donner. Die Wissenschaft hat die Schnelligkeit des Donnerschalls berechnet, sie hat ferner die Erscheinung des Blitzlichtes mit den Erscheinungen sogenannter elektrischer Körper in Zusammenhang gebracht; die Wissenschaft ist eben im Begriff gemeinsame Regelmäßigkeiten der Lichtwirkungen und der elektrischen Wirkungen zu beobachten und damit ihrer Ordnung einzufügen. Alle diese bewunderungswürdigen Beobachtungen betreffen aber immer nur die uralte und unveränderte Erscheinung des Blitzes; für seine Wirklichkeit tritt heute das Wort Elektrizität auf. Das Wort ist nicht so schön, ist nicht so faßlich, wie es einst der zürnende Gott war, aber Religionssache ist "die Elektrizität" so gut wie Zeus. Es ist sogar nur scheinbar, wenn wir darin einen Fortschritt zu sehen glauben, daß der zürnende Zeus eigentlich nur ein Mensch war mit menschlichen Absichten, die Elektrizität aber eine unpersönliche Kraft zu sein vorgibt, ohne Einsicht und Absicht wie der blutleere Gott SPINOZAs. Nur die Erscheinungen dieser angenommenen Kraft sind ohne Einsicht und ohne Absicht, ohne Verstand und ohne Willen vorzustellen; die Kraft selbst, diese religiöse Vorstellung, diese schlechtmythologische Elektrizität muß (im Sinne SCHOPENHAUERs) etwas wollen, sollen wir uns sie überhaupt vorstellen können. Und wer etwas will, der stellt sich immer selber das vor, was er will. Auch die Elektrizität hätte also (in ihrer Sprache) Verstand und Willen, auch sie ist der alte Donnerer Zeus, nur so durchsichtig und formlos, daß unsere Bildhauer sich umsonst abquälen, sie künstlerisch darzustellen. Ich weiß, daß ich aus Anlaß der elektrischen Gottheit, aus Anlaß dieses Wortes "Elektrizität" soeben ins Phantasieren geraten bin. Ich tat es aber vielleicht nur, um einen Weg zu finden zu einem schwierigen Gedankengang, der mir deutlicher als alles andere zu beweisen scheint, daß irgend eine Erkenntnis der Wirklichkeitswelt in alle Ewigkeit der Ewigkeiten auch der vollendeten Menschenwissenschaft versagt bleiben müsse. Ich will diesen Gedankengang auszusprechen suchen. Der urälteste Glaube der Menschheit, der Glaube an eine Wirklichkeitswelt, fällt zusammen mit einem anderen urältesten Glaubenssatz, den wir für Wissenschaft auszugeben pflegen, fällt zusammen mit dem Glauben an die Kausalität, mit dem Glauben an eine Verkettung von Ursache und Wirkung in der Natur. Ich bemerke nebenbei, daß der Glaube an eine Kausalität eigentlich noch kindlicher, noch ursprünglicher sein muß als die Religion der Wirklichkeit. Denn der Hund, der den Glauben an die Wirklichkeitswelt zwar zweifellos, aber auch ganz unbewußt besitzen mag, lebt und webt doch ganz bewußt im Glauben an eine Kausalität dieser Wirklichkeit; er kennt im Umkreise seiner Beobachtung die Verkettung von Ursache und Wirkung. Wenn wir aber bis auf die letzten Elemente auflösen, was in unserem Gehirn als Ursache und Wirkung erscheint, und wovon wir glauben, daß es auch in einer Wirklichkeitswelt existiere, so gelangen wir knapp zu der höchst abstrakten Vorstellung, daß das undurchdringliche Gewebe von Raum und Zeit diese Kausalität, diese Wirklichkeitswelt hervorbringe. Der Raum allein in seinen drei Dimensionen stellt sich unserem Gehirn immer noch dar als etwas Unwirkliches, als etwas Leeres, als ein unerfüllter Raum. Wir müssen ihn mit der vierten Dimension durchweben, mit der Zeit, um zur Wirklichkeit zu gelangen. Oder umgekehrt: Wir müssen der Gottheit, die wir Wirklichkeit nennen, ihr Gewand ausziehen, die drei Dimensionen des Raums, um die nackte Zeit vor uns zu haben. Wenn uns auch die ungeheure Vorstellung erschreckt, wir müssen es fassen, daß Raum und Zeit zusammen uns die Wirklichkeit weben helfen und daß wir in jedem Augenblicke der unendlichen Zeit, und jeder einzelne für sich an jener Stelle stehen, wo das Weberschiffchen der Zeit die drei Dimensionen des Raums geschäftig durchschneidet. Hätten wir dann - so scheint es - Raum und Zeit begriffen, so besäßen wir auch endlich, endlich eine Erkenntnis der Wirklichkeit und hätten mit dem diamantenen Sporn unseres dahinfahrenden Geistes die ehernen Schranken der Erscheinungswelt endlich durchbrochen. Es scheint nur so. Und mit erstaunlichem Scharfsinn hat man versucht, Raum und Zeit zu erklären, zu begreifen. Die Zeit sei das eigentliche Wesen menschlich-geistigen Lebens. Der Raum aber lasse sich durch die Geltung des Gravitationsgesetzes beweisen. Die Anziehungskraft zweier Körper verhält sich nachweisbar umgekehrt wie das Quadrat ihrer Entfernungen. Wir können uns ganz deutlich vorstellen, wie dieses Verhältnis in einem dreidimensionalen Raum so sein muß. Die Anziehungskraft verteilt sich nach unserer Vorstellung auf die Oberfläche der Kugel, in welche die Anziehungskraft ausstrahlt. Die Kugel ist hier nur eine ideale Form des Raums. Die Oberfläche der Kugel steht zu ihrem Halbmesser wirklich in einem quadratischen Verhältnis. Also muß der wirkliche Raum ebenso dreidimensional sein wie unsere Vorstellung von ihm. Hätte der Raum in Wirklichkeit nur zwei Dimensionen, die Anziehungskraft müßte im einfachen Verhältnis zum Halbmesser oder zur Entfernung wirken. Hätte der wirkliche Raum mehr als drei Dimensionen, so müßte in der Formel der Gravitation eine andere Funktion als die quadratische eintreten. Also: der wirkliche Raum entspricht unserer dreidimensionalen Vorstellung, wir haben eine Erkenntnis von der Wirklichkeit. Alles sehr hübsch und geistreich. Ich will nicht fragen, wo in diesem Bilde die Zeit bleibt, die vierte Dimension der Wirklichkeit. Ich will nicht fragen, ob die ganze Vorstellung von einem geometrischen Raum nicht am Ende doch nur ein bildlicher Ausdruck für die Beziehungen der Wirklichkeit sei, wie wir doch auch die Sphärenvergleichung der logischen Begriffe und Urteile als ein falsches Bild des geistigen Vorgangs nachweisen werden. Ich will endlich nicht die letzte Frage stellen: ob wir bei den Worten dieser Gedanken noch Erinnerungsbilder an Sinneseindrücke glaubhaft vor uns haben, ob wir nicht die Welt der Erscheinungen schon verlassen haben, da wir auf ihren Schultern in die Welt der Wirklichkeit einzudringen suchen. Eines aber will und muß ich fragen. Auch die Gravitation enthüllt sich uns als ein polarer Dualismus. Einen einzigen Körper allein können wir uns gar nicht als dem Gravitationsgesetze unterworfen vorstellen. Was wir zu beobachten glauben, ist immer und überall die gegenseitige Wirkung zweier Körper, eine Polarität. Wie weit wir auch diese Polarität zurückverfolgen, sie bleibt Erscheinung, schon darum, weil wir sie eben auf keine Einheit zurückbringen können. Und weiter muß ich jetzt fragen: ist bei dieser Erscheinung, die wir Gravitation nennen, die andere Form, unter der wir die Wirklichkeit glauben, ist die Zeit nicht immer und überall mit tätig? Die Welt stürzt uns zusammen auf einen Punkt, wenn wir den Raum fortdenken. Die Welt zerfließt aber auch sofort in nichts, wenn wir die Zeit fortdenken. Auch die Gravitation ist nur ein Doppelheiligenbild von etwas, was wir gegenseitige Wirkung nennen, um das Vielfache, was wir sehen, endlich auf ein Zweifaches zurückzuführen. Wer aber sagt uns, daß dieses Zweifache der Wirklichkeit selbst angehört? Wer sagt uns, daß dieser Dualismus etwas anderes sei, als auf der einen Seite die Welt der Erscheinung und auf der anderen Seite mein altes Ich, das an eine Wirklichkeitswelt glaubt? Ist aber mit Hilfe unserer armen Sprache nicht einmal die Erkenntnis dessen möglich, was den urältesten Glauben der Menschheit bildet, die Erkenntnis eines Wirklichen nämlich, wie steht es da um das Verhältnis der Sprache zur Erkenntnistheorie überhaupt ? Zur Sprache und Psychologie, Stuttgart/Berlin 1906 |