cr-4Gustav GerberFriedrich Max Müller    
 
GEORG RUNZE
(1852-1922)
Die Bedeutung der Sprache
für das wissenschaftliche Erkennen

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Erkenntnistheoretische Überlegungen
Bedeutung der Sprache
      "Mit Worten läßt sich trefflich streiten."

Tragweite der praktischen Anwendung
Die Tragweite des Einflusses, welchen die gewonnenen Ergebnisse zunächst auf das gesamte Gebiet der Religion und Theologie ausüben würden, kann daran ermessen werden, daß nach unserer Theorie der mythenbildende Charakter aller sprachlichen Ausdrucksweise klargelegt wird. Es würde daraus im apologetischen (rechtfertigenden) Interesse folgen, daß den wichtigen religiösen Grundbegriffen dieselbe theoretische Wahrheit zukommen muß wie den philosophischen Kategorien. Aber es sind ja keineswegs bloß Wörter wie "Gott", "Glaube", "Wahrheit", "Gerechtigkeit", "Sünde", "Erlösung", wodurch namentlich die Parzival-Naturen so wundersam angemutet werden, sondern es ist der ganze Redevorrat der Volkssprache, unter dessen Einwirkung jedes sinnige Kindesgemüt steht, und welcher tausendfache Nahrung bietet für das kombinierende und bilderschaffende Phantasiebedürfnis.

Was den meisten als alltäglicher Wortkram erscheint, das fassen begünstigte Geister, welche kindliche Unbefangenheit mit der Gabe sprachlicher Kritik verbinden, synthetisch und analytisch produktive Sprachtalente, Wortkünstler und Philologen, poetische und philosophische Originale, - ein JAKOB BÖHME, ein HAMANN, HERDER, JEAN PAUL, RÜCKERT, KRAUSE, BAADER, von SCHADEN, WILHELM von HUMBOLDT, MAX MÜLLER - in reinerem und reicherem Sinne auf: sie stehen unter dem urschöpferischen Einfluß des sprachschaffenden Willens selbst, welcher seit jeher die Sprache als sein Organ aus sich heraussetzte; sie vermögen in adäquater Weise die Schöpferkraft des produzierenden "logos" aus dem gegebenen Wortprodukt zu reproduzieren.

In den zugleich religiiös wie sprachlich beanlagten Geistern wird immer vollständiger die Einsicht zum Durchbruch gelangen, daß auch nach völligen Unterdrückungsversuchen die religiöse Überzeugung mit zwingender Allgewalt sich rehabilitieren muß.

Wir erinnern uns ferner, daß ein Hauptergebnis aller philologisch -philosophischen Forschung die wachsende Einsicht sein sollte, daß die Sprache in jeder Beziehung eine stetig wandelnde Ausdrucksform für den (auf empirische Empfindungseindrücke reagierenden) Willen ist. Auch diese Einsicht, wenn sie zu allgemeiner Anerkennung gelangt, würde weitreichende Umgestaltungen nicht bloß in der Philosophie und Theologie, sondern in dem öffentlichen Leben wie in dre Pädagogik und Jurisprudenz herbeiführen.

Die nutzbringende Verwertung der zu jener Einsicht führenden sprachpsychologischen Methode für die theologische Apologetik darzustellen, behalte ich mir für eine andere Gelegenheit vor. Für die juristische Bedeutung der entworfenen Perspektive kann ich mich auf die Arbeiten von IHERINGs berufen (insonderheit: der Zweck im Recht Bd. II). Aber auch manche Mißstände im öffentlichen Leben, der Mißbrauch der Stich- und Schlagwörter in der Rede, die gegenseitige Verhetzung der Parteien und das Trumpfen auf die unumstößliche Überzeugung, - das Prunken mit leeren Worten, die Überredungskünste im Dienst der politischen Propaganda: - diese und andere Wurzeln sozialer Übel, würden sie wohl in dem tatsächlichen Umfange gedeihen, sobald eine klarere Einsicht in die Natur des Wortes herrschend wäre?

Für die Sünden des Wortmißbrauchs wird derjenige weder fähig noch empfänglich sein, welcher als Grundvoraussetzung für alle Verständigung erkannt hat, daß die Grenze respektiert werden muß, welche die persönlichen Willenszwecke, über die sich nicht streiten läßt, scheidet von dem sachlichen Vorstellungsmaterial, welches wegen seiner bildlichen Ausdrucksform in der Sprache einerseits zu Mißverständnissen Anlaß geben kann, andrerseits durch Ausgleichung der Begriffe Verständigung und Einigung ermöglicht.

Dort das differierende Willensideal, dessen Behauptung auf der Machtfrage basiert; hier das Verständigungselement des gesprochenen Wortes, welches auf den wahrhaft Gebildeten, in dem Maße aufhört, einen Differenzpunkt zu bilden, wie aus der, vermeintlich entgegengesetzten, Überzeugung das Element des überall zu Grunde liegenden Wortstreites herausgeschält ist. "Mit Worten läßt sich trefflich streiten", - so lange man nämlich auf die Unachtsamkeit des Gegners bauend, mit Stichworten zu operieren versteht, welche jene Grenze zwischen Wollen und Wissen verwischen. Dahin gehört sowohl das gegenseitige Sichabschrecken mit Worten wie "Unsittlichkeit", "Atheismus", "Sozialismus", "Revolution", als auch das Prunken mit Begriffen des "Volkswohls", der "Freiheit", der "Kulturzwecke", des "Patriotismus".

Indessen zunächst wird nur in einzelnen Fällen, nicht im Ganzen das Gebaren der Parteileidenschaft zum Schweigen gebracht werden durch die Waffen, welche sprachpsychologische Kritik dem Praktiker schmieden will. Der weittragendste Einfluß wird die Pädagogik treffen. Der ruhige Gang didaktischer Methode wird allein im Stande sein, den Errungenschaften einer Denkrichtung einen weitgehenden Einfluß auf das gesamte Volksleben zu erwirken. Die selbständige Bedeutung des fremdsprachlichen grammatikalischen Unterrichts, der Wert der klassischen Rhetorik, die Notwendigkeit philosophischer Propädeutik (Einführung) für die oberen Klassen höherer Lehranstalten - sind nur Hilfsmittel, um jene Einwirkungen vorzubereiten.

Die Hauptstätte für die Verwertung der sprachpsychologischen Denkweise im Unterricht wird neben dem allgemein erforderlichen Unterriht in einer fremden Sprache die Belehrung in der Muttersprache sein und zur konkreten Anwendung auf ein gegebenes Vorstellungsobjekt wird namentlich der Religionsunterricht dienen. Hier wird die Bedeutung der Sprache für das Erkennen und für das gemeinschaftliche Empfinden sowohl gegen das Überlieferte mahnen als auch schon in dem Schüler die Fähigkeit zu einer maßvollen Selbstkritik in Bezug auf religiöse Empfindungen anbahnen.

Auf die Zweckmäßigkeit des Gebrauchs von Fremdwörtern in der wissenschaftlichen Darstellung wird ein neues Licht fallen; nur die Tendenz, die Muttersprache zurückzusetzen nicht die Abwechslung in dem Gebrauch synonymer Tauschmünzen wird beanstandet werden dürfen. Auch für die Frage nach der Berechtigung des Dualismus in unserem höheren Schulwesen kann die sprachpsychologische Denkweise fruktifiziert (nutzbar gemacht) werden. Die freie Loslösung der empirischen Beobachtung von der schaffenden Macht der Sprache zeigt den Gegensatz zwischen Realien und klassischen Wissen in einer neuen Beleuchtung. Der Sinn für empirische Objektivität kann vollständig nur durch die beschreibende Naturforschung, nicht durch die Mathematik, nicht durch die Geschichtswissenschaft ausgebildet werden.

Insofern mag die naturwissenschaftliche Bildung in ihrer Weise der sprachlichen gleichberechtigt an die Seite gesetzt werden. Allein das Wesen alles Erkennens ist hier wie dort der Wille des Einzelnen, dessen Ausbildung zum nationalen und zugleich individualisierten Charakter über den Gegensatz zwischen realem Wissen resp. Können einerseits, und der idealen Bildung des Verständnisses für das Allgemeine andrerseits erhaben ist und den vornehmsten Zweck aller Pädagogik bilden soll.

Soweit nun die Pädagogik vor allem zu Persönlichkeiten, zu Charakteren zu bilden bestimmt ist, so wird für die Beurteilung einer Bildungsanstalt dieser Maßstab in erster Linie geltend zu machen sein. In didaktischer Hinsicht aber wird die wissenschaftliche Bedeutung der Sprache als Leitstern innerhalb des gesamten Lehrzweckes dienen müssen. Und da die Grenzen des Einflusses der Sprache auf das Erkennen erst dadurch veranschaulicht werden können, daß man den Gegensatz der empirisch -experimentierenden Forschungsmethode zur sprachlich -betrachtenden und entwickelnden gründlich beobachten lernt, so ist die Aufgabe und der selbständige Wert der Realgymnasien auch vom rein wissenschaftlichen Standpunkt mehr als es zu geschehen pflegt, zu würdigen.

Denn gerade das Realgymnasium koordiniert jene beiden Bildungsfaktoren und ermöglicht insofern eine gleichmäßigere Verteilung desjenigen Lernstoffes, welcher für die theoretische Durchbildung unerläßlich ist. Es liegt in dem Bestreben, die allgemeine humanistische Bildung teilweise durch eine eingehendere realistische zu ersetzen, eine Anerkennung, welche sich mit dem Ideal der sprachpsychologischen Methode nicht allein sehr wohl verträgt, sondern dieselbe im volleren Umfange überhaupt erst ermöglicht.

Überhaupt fallen die ertragreichsten Konsequenzen dieser Methode in das Gebiet der Jugendbildung. - Werfe ich zum Schluß, meiner Herren, einen Rückblick auf die gegebenen Erörterungen, so bin ich zufrieden, wenn von Ihnen anerkannt wird, daß die verschiedenen Momente der von mir entwickelten Gesamtansicht eine harmonische Einheit darstellen. Die Idee, den Ertrag der Sprachwissenschaften für die Philosophie mehr, als bisher geschehen, zu verwerten, - die entsprechend umgestaltende Klassifizierung der Wissenszweige! die entschiedenere Würdigung des Willens innerhalb der Motive des wissenschaftlichen Erkennens, endlich die praktische Tragweite der Einsicht in die sprachliche Bedingtheit  alles  (auch des religiösen Urteilens: - diese Gesichtspunkte bitte ich nunmehr als unter sich einheitliche zu Diskussion stellen zu wollen...

... ich leugne, daß bekannte Dinge erst durch Definitionen verdeutlicht werden; diese Definition, wohl angebracht im Verkehr mit Kindern, im Gebrauch der Dolmetscher, im propädeutischen Unterricht, - schadet durch ihre willkürlichen Einschränkungen einer philosophischen Untersuchung, die von reifen Männern geführt wird. -

Vielmehr genügt es im vorliegenden Falle, darauf hinzuweisen, daß alles, wodurch das stumme, wahrnehmende oder anschauende Vorstellen zum bewußten, wissenschaffenden Vorstellen wird, sich im Element der sprechen-wollenden Vernunfttätigkeit bewegt, d.h. im Element des ausgesprochenen  oder  unausgesprochenen - dann aber aussprechbaren - Begriffsbildes und daß der Sprachgebrauch nicht bloß des PHILO, des JOHANNES SCOTUS ERIGENA, des MEISTERs ECKHART den Begriff eines "ungewortet Wort" begünstigt, sondern daß gerade die volkstümliche Ausdrucksweise den zum klaren Begriff sich durchringenden unklaren Gedanken nicht besser zu bezeichnen weiß als durch Wendungen wie diese: "es schwebt mir auf der Zunge".

Will man indessen diese Ausdehnung des Begriffes "Sprache" mißbilligen, nun wohl, um Worte streite ich nicht. Der Sache, welche ich vertrete, ist Genüge geschehen, sobald anerkannt wird
  • daß nach dem Sprachgebrauch jene weitere Fassung des Begriffes Sprache überhaupt  möglich  ist;
  • daß die innere Sprachform, welche jedem Denken innewohnt, und welche in der eigentümlichen Art und Weise der Kombination, Unterscheidung und Übertragung von anschaulichen Vorstellungsbildern besteht, zur wissenden Erkenntnis genau in dem Grade fortschreitet, in welchem die Mitwirkung der sprechenwollenden Gehirntätigkeit einsetzt, - gleichviel ob das lautbare Sprechen wirklich zustande kommt oder nicht.
In dieser Betrachtung des Verhältnisses zwischen Denken und Sprechen sehe ich die reife Frucht der bisherigen sprachwissenschaftlichen Forschung; - ich verweise auf HUMBOLDT, POTT, STEINTHAL, K.E.A. SCHMIDT, KUHN, SCHWARTZ, LAZARUS, NOIRE, MAX MÜLLER, GUSTAV GERBER. Das Ergebnis im Einzelnen zu beweisen, dazu ist hier nicht der Ort;...

...Ich gestehe, daß mir für jene Einsicht die genaue Kenntnis einer semitischen Sprache von unersetzlicher - die sorgfältigste Vergleichung indogermanischer Sprachen weit überragender - Bedeutung geworden ist. Andrerseits, wer in mehreren modernen Sprachen mit gleicher Sicherheit und Klarheit zu denken gelernt hat, der erwarb für sein persönliches Geistesleben einen Wertzuwachs, ein Kapital an philosophischem Ideengehalt, dessen Ausnutzung freilich von seiner sonstigen Beanlagung abhängen wird, dessen objektive Fruchtbarkeit aber durch nichts anderes ersetzt werden kann.

Nun wohl, das Maß des Übertragbaren in der Sprache entspricht genau dem Maß der gedanklichen Verständigungsmöglichkeit zwischen den betreffenden Völkern. Das Maß des gedanklich Unübertragbaren hingegen entspricht genau der Schranke sprachlicher Übertragungsmöglichkeit. ...

Von einer Erweiterung dieses Ergebnisses im Sinne der von mir aufgestellten Behauptungen ist leider auch A. BAIN, wie MAX MÜLLER, noch weit entfernt. Inzwischen darf ich bei der Neuheit und umwälzenden Tendenz meiner Theorie auch nunmehr schwerlich auf etwas Weiteres hoffen, als auf das Zugeständnis, daß dieselbe sich formell mit einheitlicher Konsequenz gegenüber mannigfachen Einwürfen zu behaupten vermag. ...

Gleichwohl kann ich nicht umhin, mit der Erklärung zu schließen, daß nach meinem unmaßgeblichen Dafürhalten die Philosophie der nächsten Epoche keine anderen Bahnen wandeln wird als die der sprachpsychologischen Erkenntnistheorie. ...
LITERATUR - Georg Runze, Philosophische Vorträge der Philosophischen Gesellschaft zu Berlin, Neue Folge, 2. Heft, Berlin 1886