P. NatorpH. RickertJ. ReinkeM. PalágyiH. Driesch | |||
Die Logik als Aufgabe [ 2 / 4 ]
2. Von der neuen Psychologie des Denkens a) Gedanken haben und nachdenken. Die neue "Denkpsychologie" ist erwachsen aus dem Ungenügen aller überkommenen philosophischen Definitionen von "Verstand", "Vernunft", "Denken" und anderem einerseits, aus dem Unbefriedigtsein mit der gegenständlichen, die "höheren" Funktionen vernachlässigenden Beschränktheit der neueren exakten Psychologie andererseits. Man wollte endlich einmal in Strenge wissen, was das beim "Denken" bewußt Gehabte eigentlich erlebnismäßig sei, was ein "Gedanke" bedeutet für das Ich. Und dadurch, so durfte man hoffen, werde auch erst ganz klar werden, was ein "Gedanke" im Bereich der Gegenstände bedeutet, was es insbesondere heißt, ihn selbst als Gegenstand von den Gegenständen - teilweise sehr seltsamer Art - zu unterscheiden, welche er "meint". Wenn KANT den Verstand als "Vermögen der Regeln", als "Vermögen der Begriffe" oder noch anders kennzeichnet, wenn andere "Bestimmen und Vergleichen" oder "Trennen und Vereinigen" als Kennzeichen des Denkens angeben, so sind diese Definitionen insgesamt erstens sozusagen zu bildlich und zweitens zu beschränkt und einseitig; drittens aber sind sie nicht rein; das heißt, sie vermengen phänomenologisch Erlebtes und theoretisch ("logisch") im Sinne von "Vermögens"-begriffen Vervollständigendes. Auch BRENTANOs schätzenswertes Unternehmen, das Urteilen als seelische Grundfunktion ausdrücklich neben Vorstellen und, in seiner Sprache, "Lieben" einzuführen, (1) entgeht diesen drei methodologischen Vorwürfen nicht. Worauf es ganz wesentlich und vor allem ankommt, das ist der in unserem dritten Vorwurf angedeutete Umstand: rein soll die Definition von Gedanke sein. Meint sie eine bestimmt abgegrenzte Form des Erlebens, so soll sie auch nur von einer Erlebensform reden; meint sie aber ein "seelisches" Vermögen oder Tun, so soll sie das unumwunden zu erkennen geben. Nicht vergessen werden soll an dieser Stelle, daß WUNDT durch seinen Begriff des "Begriffsgefühls" bereits eineArt des Gedanken-erlebnisses in Reinheit zu treffen suchte (2) und daß BENNO ERDMANNs "Umrisse eine Psychologie des Denkens" (3) der neuesten Forschung entscheidende Impulse gegeben haben. Es gilt also zumal, wenn wir das für unsere eigenen Absichten Wesentlichste hier herausschälen wollen, scharf zu scheiden zwischen einen Gedanken haben und Nachdenken. Beides pflegt gleichermaßen durch das Wort Denken gelegentlich wiedergegeben zu werden. Eben deshalb wollen wir das Wort Denken im folgenden ganz vermeiden und immer in aller Schärfe das bezeichnen, was wir gerade meinen. Wir scheiden also nicht, wie etwa WINDELBAND in einem Aufsatz seiner "Präludien", Nachdenken als willkürliches Nachdenken von Denken als unwillkürlichem Nachdenken, sondern wir scheiden "Nachdenken" als einen Verlauf von "Einen Gedanken haben" als einem rein selbstbesinnlich aufgefundenen, "phänomenologischen" bewußten Haben und vermeiden das Wort "denken" überhaupt. Für Nachdenken sowohl wie für einen Gedanken haben hat die neue experimentelle "Psychologie des Denkens" wertvolle Ergebnisse beigebracht. Sie tat das, indem sie Aufgaben stellte, über deren Lösung die Versuchspersonen, populär gesprochen, "nachzudenken" hatten; dabei fand sich, worin das "einen Gedanken erleben" eigentlich bestand. Einen gewissen naiven Realismus bezüglich des "Psychischen" setzt das ganze Verfahren naturgemäß voraus; aber er schadet ebensowenig, wie der entsprechende Realismus bezüglich des Physischen in den Wissenschaften vom Naturwirklichen schadet, wenn er nur an den Stellen, wo die letzte logische, die letzte Ordnungs fassung einsetzt, als naiver Realismus, also als eine Vorläufigkeit erkannt wird. Wir schicken nun sogleich das unseres Erachtens wesentlichste Ergebnis aller experimentellen Denkpsychologie voraus, um es erst später in breiterer Begründung darzustellen. Dieses Ergebnis ist eine Einsicht, die auch von ganz anderer Seite, nämlich durch HUSSERLs "Logische Untersuchungen", gezeitigt wurde, eine Einsicht, die auch viele "introspektive" Psychologen implizit - zwar, unseres Erachtens, ohne ihre ungeheure Bedeutung hinreichend zu betonen - ausgesprochen haben und die auch ich selbst nach gewissenhafter introspektiver Selbstprüfung von mir aus aussprechen darf. Diese grundlegende Einsicht lautet kurz: Nur "einen Gedanken haben" ist Erlebnisart, "Nachdenken" aber als ein Geschehen ist nicht erlebt. Und weiter im Besonderen: Nur einen Willensgedanken haben ist Erlebnisart, Wollen aber als ein Geschehen ist nicht erlebt. Nachdenken und Wollen als Geschehensarten, als Formen des Werdens sind vielmehr theoretische Ausfüllbegriffe; sie mögen in eine Seele, in meine Seele als ihren Ort, bildlich gesprochen, verlegt werden als in ein durch einen Gedanken gemeintes, seltsames, auf ordnungsmäßigem Weg geschaffenes Gebilde. Es unterliegt keinem Zweifel, daß die hier mitgeteilte grundlegende Einsicht dem "populären" Bewußtsein - und leider nicht nur dem "populären" - durchaus zuwider ist. Aber sie ist richtig. Meine unmittelbar wirklichen Erlebnisse, seien sie von welcher Art auch immer, sind stets im Jetzt, sind stets Dasein als solches, nie "Werden". Etwas sehr Verwickeltes in Bezug auf gewisse gemeinte Gegenstände, als ein Wirkliches zweiter Hand, ein gleichsam in sich Selbständiges, meint vielmehr meine Setzung Werden. Kurz: Werden ist stets gemeinte Gegenständlichkeit, nie Erlebnis. Nicht einmal, als ob meine unmittelbar wirklichen Erlebnisse, auch meine Gedanken also, punktartig, "Zeit"-punktartig erlebt wären. Sie sind vielmehr Zeit-unbezogen erlebt und aufgrund gewisser erlebter Zeichen besonderer Art an ihnen setze ich erst die Setzung Zeit. Zu sagen meine Erlebnisse dauerten die Zeit Null, ist also auch sinnlos; sie sind Dasein, nicht Werden, das ist alles. (4) Das alles geht uns hier nun im einzelnen noch nichts an; wohl aber geht uns schon an dieser Stelle jenes seltsame Erlebtheitszeichen an gewissem bewußt Gehabtem etwas an, kraft dessen ich die ordnungsmäßigen Satzungen Werden und Zeit schaffe. Ich erlebe nämlich gewisse Zeichen an meinen Erlebtheiten, welche mir ganz unmittelbar bedeuten jetzt, aber, auch damals. Wenn ich ein solches Zeichen an einem bewußt Gehabten erlebe, sage ich, daß ich mich erinnere. Ich kann alle Arten dessen, was ich haben kann, erinnerungsmäßig erleben: sogenannte Vorstellungen, Gedanken, Gefühle. Und es kann ein solches seltsames damals- Zeichen einerseits das damals der mit ihm im Jetzt-Erlebnis verbundenen dinghaften Gegenständlichkeit selbst zuweisen, andererseits aber auch, obwohl selbst an das gegenständliche Jetzt-Erlebnis geknüpft, eine andere Gegenständlichkeit meinen. Aus diesen seltsam bestimmten damals- Zeichen nun eben bilde ich - nicht "genetisch", sondern logisch (5) - die Zeit und das Werden und weiterhin Verknüpfung des Werdens in sich und das Beharrliche im Werden ("Kausalität" und "Substanz") (6). Die Lehre vom Werden selbst als Teil der Logik kann hier in ihrer Gesamtheit nur gestreift werden, was wir aus ihr für unsere Zwecke brauchen, das nennen wir im einzelnen an seinem Ort. Es genügt also hier zu sagen, daß ich, soweit mein Erleben überhaupt in seiner unmittelbaren Gegenständlichkeit in Frage kommt, zwar mich als ein im Werden Beharrliches finde, indem ja jedes Erlebnis als Ich-Bezogenheit teilweise gleich ist, daß aber - wie des näheren die Psychologie ausführt - eine "rationale" Verknüpfung der unmittelbaren Erlebtheiten in sich, nach dem Prinzip Grund-Folge oder besser Werdegrund-Werdefolge, nicht gelingt. Dafür gelingt diese Verknüpfung im Werden hinsichtlich jenes seltsamen gemeinten einzigen Gegenstandes mittelbarer Art, welcher Natur heißt, umso besser. Natur in ihrer Einzigkeit und quasi-Selbständigkeit zeigt Werden und erlaubt dieses Werden in sich rational zu verknüpfen. (7) Aber die Psychologie gibt ihr Streben nach rationaler Verknüpfung ihrer Gegenstände in der Zeit nicht auf. Nach Analogie zum Begriff Natur schafft sie, gleichsam diktatorisch, den Begriff meine Seele, und in dieser Seele läßt sie nun all das geschehen, was ihr Erlebtheit in ihrer Unmittelbarkeit nicht bietet. (8) Freilich, die Beharrlichkeit meiner Seele ist eine durchaus nur als daseiend gedachte, nicht eine irgendie in ihrem Sosein bestimmte und auch, was da als Veränderung am Beharrlichen mit anderer Veränderung rational verknüpft wird, ist nur in seinem Dasein gedacht. Sind doch die "psychischen Dinge", das heißt die Erlebnisse in ihrem unmittelbaren Dasein, keine "Dinge", wie die als dieselben in ihrer Einzigekeit gleichsam selbständig bestehenden Dinge der Natur es sind. Begriffe wie Reproduktion, Assoziation, Perseveration, determinierende Tendenz, latente Einstellung und andere Hilfsmittel der theoretischen Psychologie sind also noch ein gutes Teil schattenhafter, "formaler" als etwa die Begriffe potentielle Energie, Affinität, embryologische Potenz, weil das Dinghafte, dem sie beziehlich angehören, selbst schattenhaft ist. Aber gleichwohl ist die theoretische reine Psychologie vor der Logik ein durchaus legitimes Gebilde. Wir werden uns des weiteren in dieser Schrift nur insoweit mit diesem Gebilde und seinen Bestandteilen einzulassen haben, als unsere Sonderabsicht, die Logik als Aufgabe zu fassen, es erfordert. An dieser Stelle sagen wir nur noch dieses Eine, daß Nachdenken in dem von uns festgelegten Sinn also ein Bestandteil der Psychologie als einer logisch konstruierten Werdelehre ist: die von mir gesetzte Seele denkt nach, ich erleben Gedanken der verschiedensten Art in Begleitung ihres von mir gesetzten Nachdenkens. Welcher Art sind nun die von mir erlebten "Gedanken"? Aufklärung über diesen Punkt ist offenbar die notwendige Voraussetzung einer Aufklärung über den theoretischen Vervollständigungsbegriff des Nachdenkens. Die experimentellen Untersuchungen zur Psychologie "des Denkens", wie sie von MARBE, WATT, ACH, STÖRRING, MESSER, BÜHLER, KOFFKA und anderen, größtenteils unter dem Einfluß OSWALD KÜLPEs, ausgeführt wurden, sind überall zugänglich; teils sind sie im "Archiv für die gesamte Psychologie" veröffentlicht, teils in handlichen Monographien. Es erübrigen sich daher lange Zitate. Wer die im folgenden dargebotene Beurteilung der experimentellen Ergebnisse nachprüfen will, wird ja doch zur Originalliteratur greifen. In allen Untersuchungen werden den Versuchspersonen mehr oder weniger leichte "Aufgaben" gestellt, welche "gelöst" werden sollen. Zu einem durch ein gegebens Wort bezeichneten Begriff soll ein über- oder nebengeordneter Begriff gefunden werden, zu einem Gegenstand als Teil das Ganze, zu dem er gehört; syllogistische Folgerungen sollen gezogen, die Zusammengehörigkeit oder Nichtzusammengehörigkeit eines dargebotenen Substantivs und eines dargebotenen Adjektivs soll im "Urteil" festgestellt werden; Sätze, Aphorismen sollen verstanden oder wiedererkannt oder auf ihre Richtigkeit hin beurteilt werden usw. Nach Lösung der Aufgabe aber hat die Versuchsperson in jedem Fall sofort zu Protokoll zu geben, was sie erlebte, während sie mit der Lösung beschäftigt war. Diese Protokolle sind das eigentliche Material für die Untersuchung. Es erhellt sich ohne weiteres, daß die hier geschilderte neueste Art "experimenteller Psychologie" die einzige Methode der älteren Seelenforschung, die Introspektion, die Selbstbesinnung - um die wenig passenden Worte "Selbstbeobachtung" und "innere Wahrnehmung" hier zu vermeiden - durchaus nicht entthronen will, sie will sie aber lenken und einengen; ja diese Lenkung und Einengung der Selbstbesinnung ist das eigentlich Experimentelle an der Experimentalpsychologie des Denkens und, wie wir schon hier beifügen können, des Wollens. Es kann durch die Spannung und Erregung der Versuchsperson eine gewisse Künstlichkeit, dem "natürlichen" Denken gegenüber, in die Versuche hineinkommen, obwohl, ganz besonders in den Versuchen KOFFKAs, diese Fehlerquelle nach Kräften ausgeschaltet wird. Auf jeden Fall aber überwiegen die Vorteile der Methode das hier etwa vorliegende Bedenken: es wird sicherlich die Selbstbesinnung in bestimmt eingeschränkter Weise gelenkt. Man hat wohl gesagt, eigentlich seien bei diesen Experimentaluntersuchungen über das Denken die Versuchspersonen die Hauptsache, ja die eigentlichen Ausführer der Arbeit. Sicherlich kann das der Fall sein, zumal wenn, wovon wir sogleich noch zu reden haben, geschulte Psychologen Versuchspersonen sind. Es soll nicht der Fall sein und braucht auch nicht der Fall zu sein: die Versuchsperson soll lediglich als phänomenologisch reagierendes Etwas in Betracht kommen. Da bleibt sie denn freilich "die Hauptsache" - aber doch nur in dem Sinne, in welchem ja doch auch bei experimentell-embryologischen Untersuchungen der Embryo schließlich "die Hauptsache" ist. Daß ein gewisser naiver Realismus bezüglich des Psychischen allen Versuchen zugrunde liegt, ist klar, schadet aber, wie schon oben einmal bemerkt wurde, nichts, wenn man sich nur im entscheidenden Moment, nämlich beim Übergang zur "Theorie", der Sachlage bewußt wird. Freilich sind naiv realistisch gesetzte psychische Dinge immer etwas bedenklicher als entsprechend gesetzte physische. Was die Verwendung geschulter Psychologen als Versuchspersonen betrifft - Forscher wie KÜLPE, DÜRR u. a. dienten als solche - so stehen hier, wie mir scheint, Vor- und Nachteile sich in ungefähr gleicher Stärke gegenüber. Vorteil ist die Übung in Selbstbesinnung, das Nicht-Verwirrtwerden durch die Fülle und Flüchtigkeit des Erlebten. Nachteil ist der Umstand, daß jeder Psychologe doch auch eben eine phänomenologisch-psychologische "Theorie" hat. Ist er Versuchsperson, so handelt er also unter der determinierenden Tendenz sich möglichst sachlich und scharf zu konzentrieren; das ist gut. Er kann aber auch unter der latenten Einstellung handeln, diejenigen Erlebnisse besonders zu betonen, ja allein mit dem geistigen Auge zu sehen, welche ein "Erfüllungszeichen" mit Rücksicht auf seine Theorie tragen; und das ist selbstredend nicht gut, jedenfalls würde hierdurch aller Vorteil des "Experimentierens" gänzlich aufgehoben. Es kommt noch dazu, daß diese latente Einstellung ja, wie der Name sagt, nicht bewußt gewollt ist oder war, also nicht wie eine determinierende Tendenz aus dem bewußten Wollen einer Aufgabenlösung gleichsam entstand; die Versuchsperson kann also gegen die latente Einstellung gar nichts tun, sie weiß und wußte gar nichts von ihrem "Dasein", wobei Dasein natürlich nicht "phänomenologisch erlebt sein", sondern "zum quasi-selbständigen Reich des seelischen werdenden Wirklichen gehörig" bedeuten soll. (9) Wir können hier wohl nur hoffen, daß selbstbesinnliche Selbstzucht schädliche latente Einstellungen verhindere. Ihr Vorhandengewesensein wird stets umso wahrscheinlicher sein, je ärmer an Nuancen das von einer Versuchsperson gelieferte Protokoll ist; da nun die in den neueren Denkversuchen verwendeten Personen gerade einen ungeheuren Art- Reichtum an phänomenologischen Wirklichkeiten und zwar im Gegensatz zu herrschenden Lehren, als erlebt zu Protokoll gegeben haben, so dürfen wir wohl mit Recht vermuten, daß schädliche latente Einstellungen hier jedenfalls keine große Rolle gespielt haben. Wir gehen über zur Darstellung derjenigen Ergebnisse der experimentellen Psychologie "des Denkens", welche für unsere besonderen Absichten von Wichtigkeit sind. Wir haben uns also zunächst zu fragen: Was leisten diese neuen Forschungen für den phänomenologischen Begriff einen Gedanken haben. Später werden wir uns dann auch fragen, was sie für dei Begriffe nachdenken und wollen, insonderheit nachdenkenwollen leisten. Schon oben ist gesagt worden, daß die modernen Experimentatoren ihre Versuchspersonen "nachdenken" lassen, um, abgesehen von anderen Zielen der Untersuchung, über die Phänomenologie des Erlebnisses "einen Gedanken haben" Einsicht zu gewinnen; über die Lösung von Aufgaben der verschiedensten Art soll "nachgedacht" werden. Derjenige Forscher, dem die erste bewußte Untersuchung zur "Denkpsychologie" zu verdanken ist, MARBE (10), erzielte hier nun gleich ein seltsames Resultat; er fand in den Protokollen seiner Versuchspersonen, welche "geurteilt" hatten, nichts - und doch "etwas" als das das Urteilserlebnis vor anderen Erlebenissen Auszeichnende; "nichts", insofern als eben doch ein unbestimmtes Bewußtsein eines gewissen Erlebthabens in der Erinnerung vorhanden war. Bewußtseinslage nannte MARBE jene seltsamen Erlebnisse, "deren Inhalte sich einer näheren Charakterisierung entweder ganz entziehen oder doch schwer zugänglich erweisen" (Seite 11f); es handle sich vornehmlich um ein "Wissen" - nämlich bezüglich des Verstehens einer Bedeutung oder des für richtig oder falsch Erklärens eines Zusammenhangs - und eben das sei "niemals im Bewußtsein gegeben" (Seite 92). Diese Erstlingsuntersuchung MARBEs ist von ganz besonderem Interesse gerade wegen der Unbestimmtheit ihrer Ergebnisse. Man sieht, meine ich, worauf diese Unbestimmtheit beruth. Sie beruth einmal darauf, so scheint mir, daß dasjenige, was wirklich zu finden war, so schattenhaft ist, daß es dem ersten Versuch es zu fassen nahezu völlig entgleiten mußte, daß aber dasjenige, was der Experimentator wohl zu finden erwartete, in der Tat gar nicht da ist. Dieses Erwartete und doch nicht Gefundene sind Vorgänge. Ein "Denken" als Vorgang wird eben in der Tat bei keinem "Urteilen", keinem "Nachdenken" erlebt; wohl aber werden die seltsamen unmittelbaren Gegenstände, welche "Gedanken" heißen, erlebt und zwar sogar in reicher Füllen von Arten. Das eben haben nun schon die Versuche von WATT und haben dann weiter die Arbeiten von ACH, MESSER, STÖRRING, BÜHLER, KOFFKA - um hier nur das Allerwesentlichste hervorzuheben - gezeigt, (11), auch MOSKIEWICZ, BRUNSWIG, SCHWIETE, BETZ u. a. haben dem beigestimmt. ACH (12) aber gebührt das Verdienst, die der Assoziationspsychologie gegenüber neue Erkenntnis zuerst in einen Begriff zusammengedrängt und ihrem Gegenstand einen Namen gegeben zu haben: es gibt "Bewußtheiten". Das Dasein von "Gedanken" als von unmittelbaren Erlebnisgegenständen, eben von den "Bewußtheiten" ACHs, steht also außer Zweifel. Ja, es steht dermaßen außer Zweifel, daß man, wie sich zeigen wird, geradezu sagen kann: Kein Erlebnis ist gedankenfrei; es gibt gar nicht die sogenannte reine "Empfindung" oder "Wahrnehmung" oder "Vorstellung". Schon von der Logik her ergibt sich als Postulat, daß jede Empfindung, Wahrnehmung oder echte Vorstellung zumindest diese und solche ist, zumindest also zwei "Ornungszeichen" trägt. Auf dem Boden der Pänomenologie aber erklärt KOFFKA (13) neuerdings geradezu, "daß schon jede Vorstellung ihren unanschaulichen Gehalt hat und daß dieser allein auftreten kann ohne das anschauliche Fundament, mit dem er ursprünglich vereint war". Ob es nun unanschauliche Erlebtheiten gibt, welche gar nicht von "Anschaulichem" getragen, gar nicht in Anschaulichem "fundiert" sind? Diese für die Phänomenologie als solche sehr bedeutsame Frage brauchen wir für unsere Zwecke nicht in Breite zu behandeln. Uns genügt es zu wissen: es gibt Gedanken, mögen sie nun als "Gedanken" sozusagen selbständige oder unselbständige Erlebnisarten sein. Am schärfsten hat BÜHLER aufgrund der Aussagen seiner Versuchspersonen die Möglichkeit ungetragener Gedanken als Erlebnisse behauptet. (14) Am Schluß seiner Arbeit freilich macht er der entgegengesetzten Auffassung ein Zugeständnis mit den Worten, daß kein "festes und bestimmbares Funktionsverhältnis zwischen den beiden Mannigfaltigkeiten des Empfindens und des Wissens" bestehe. "Ja es ist kaum zu viel gesagt, wenn man behauptet, man könne prinzipiell alles mit allem meinen, d. h. jedes Wissen könne an jeden Empfindungs- oder Vorstellungsinhalt geknüpft sein". In Bezug auf die Lehre MEINONGs von den fundierenden und fundierten Inhalten heißt es dann weiter bei BÜHLER: "Eine solche Behauptung kann durch direkte Selbstwahrnehmung wohl nie widerlegt werden." (15) Das Ganze aber sei ziemlich bedeutungslos. Im Vergleich zur Frage nach dem Dasein von "Gedanken" als selbständigen Erlebnisarten ist es das sicherlich und diese Frage allein geht uns hier an. Persönlich möchte ich selbst, aufgrund von Selbstbesinnung und von Ermittlungen an anderen, (16) für die Notwendigkeit eines Getragenseins von Gedanken eintreten, allerdings durchaus im Sinne der vorher zitierten Sätze BÜHLERs: man kann in der Tat "alles mit allem meinen", aber man meint eben immer Etwas mit oder vielleicht besser durch "Etwas", wobei dieses zweite Etwas irgendeine "Anschaulichkeit" ist, sei diese Anschaulichkeit auch nur ein vorgestelltes großes L, wenn ich "LEIBNIZ' System" durch einen signitiven Gedanken im Sinne HUSSERLs "meine" oder sei es auch nur die unmittelbare perseverierende [krankhaft haftenden - wp] Anschaulichkeit eines auf einen Augenblick gesehenen Wortbildes. (17) Kann ich doch auch nie eine Farbe bewußt haben ohne ein Neben zu erleben. Es handelt sich eben um Fälle des Notwendigen-Beieinander, (18) über die sich weiter gar nichts sagen läßt. Das Wort "Anschaulichkeit" zur Bezeichnung des Fundierenden ist sicherlich schlecht; es geht gar zu sehr auf den Realismus des täglichen Lebens. Noch schlechter wäre "Sinnlichkeit", etwa im Gegensatz zu "Verstand", wie bei KANT. Sinnlichkeit und Verstand sind allenfalls "Vermögen" im Sinne theoretischer Psychologie; für Phänomenologie aber handelt es sich nur um Erlebnisarten, da gibt es keine "Sinne". Vom Erleben eines "Gegenständlichen" zu reden, um das Fundierende zu kennzeichnen, geht nicht an, da das Wort Gegenstand für unmittelbar bewußt Gehabtes überhaupt, für Nicht-Ich, schon vergeben ist und mit Zusätzen versehen, später noch als Natur-Gegenstand usw. auftritt. Vielleicht könnte man passen Sacherlebnis für alles Fundierende sagen. Dann dürften wir also die beiden Sätze aussprechen: Kein Gedanke ohne tragendes Sacherlebnis, kein Sacherlebnis, das nicht irgendeinen Gedanken trüge; aber keine feste Beziehung zwischen bestimmten Sacherlebnissen und bestimmten Gedanken.
1) FRANZ von BRENTANO, Psychologie vom empirischen Standpunkt, 1874, Seite 256f 2) WILHELM WUNDT, Grundzüge der physiologischen Psychologie II, 4. Auflage, Seite 477 3) BENNO ERDMANN in der Festschrift für Sigwart; 2. Auflage (Sonderabdruck) 1908 4) Vgl. PAUL NATORP, Allgemeine Psychologie I, 1912, Seite 259: "im Bewußtsein erst entspringt, für das Bewußtsein selbst, die Zeit". - Man vergleiche schon hier das weiter unten über NATORPs Lehre gesagte. Ich bemerke, daß ich sein Werk erst nach Vollendung meines Manuskripts kennen lernte und die von seiner Lehre handelnden Stellen nachträglich eingeschoben habe. Gleiches gilt von der Schrift PAUL F. LINKEs, "Die phänomenale Sphäre und das reale Bewußtsein", 1912, in welcher man zumal den Abschnitt VI und die Anmerkung auf Seite 48 vergleiche. 5) Das heißt, ich erkenne, daß in den Begriffen Werden, Werdeverknüpfung usw. das Geschilderte liegt. 6) DRIESCH, Ordnungslehre, Seite 124 7) DRIESCH, Ordnungslehre, Seite 132f, 145f, 173f 8) DRIESCH, Ordnungslehre, Seite 314f 9) Siehe oben 10) KARL MARBE, Experimentell-psychologische Untersuchungen über das Urteil, Leipzig 1901 11) Kurze übersichtliche Darstellungen des Geleisteten bieten JOSEPH GEYSER, Einführung in die Psychologie der Denkvorgänge, Paderborn 1909 und OSWALD KÜLPE, Über die moderne Psychologie des Denkens, Internationale Monatsschrift, Juni 1912 12) NARZISS ACH, Über die Willenstätigkeit und das Denken, Göttingen 1905, Seite 210f. In seinem Werk "Über den Willensakt und das Temperament", Leipzig 1910, beschwert sich ACH über die von manchen begangene Vermengung der MARBEschen "Bewußtseinslagen" und seiner eigenen "Bewußtheiten" (Seite III und 9f). Mir scheint abe, man sei berechtigt zu sagen, die MARBEschen Bewußtseinslagen hätten sich eben mit der Zeit doch als "einer näheren Charakterisierung" ganz gut "zugänglich" erwiesen und insofern sei der MARBEsche Begriff durch den ACHschen ersetzt. (Ähnlich KÜLPE, Internationale Monatsschrift, Juni 1912, Seite 16f des Sonderabdrucks) 13) KURT KOFFKA, Zur Analyse der Vorstellungen und ihrer Gesetze, Leipzig 1912, Seite 365 14) KARL BÜHLER, vgl. die Protokolle aus Seite 318f des Archivs für die gesamte Psychologie IX, 1907 15) ebenda Seite 362 16) Zum Beispiel den Teilnehmern an meinen philosophischen Übungen. 17) Vgl. LEIBNIZ, Nouveau Essays, Seite 39 der deutschen Ausgabe von SCHAARSCHMIDT (1904) 18) DRIESCH, Ordnungslehre, Seite 94f |