ra-2P. RéeG. HeymansH. DietzelG. StörringF. NietzscheF. Brentano    
 
PAUL RÉE
Der Ursprung der
moralischen Empfindungen

[3/3]

"Ist die gesetzliche Strafe eine Abschreckung für die Zukunft oder Vergeltung für Geschehenes? Der ursprüngliche Zweck der Strafe ist, von schlechten Handlungen abzuschrecken. Das Gerechtigkeitsgefühl dagegen betrachtet die Strafe nicht als ein Abschreckungsmittel für die Zukunft, sondern als eine Vergeltung für die Vergangenheit. Würde der auf die Zukunft gehende Sinn der Strafe im Bewußtsein der Menschen wach erhalten, so entstände in Niemandem ein Gerechtigkeitsgefühl. Da dieser Hinweis aber nicht gemacht zu werden pflegt, so muß die Strafe als Vergeltung scheinen, und danach das Gerechtigkeitsgefühl entstehen."

"Ob die lebenslängliche Einsperrung oder die Todesstrafe anzuwenden ist, hat die Statistik zu entscheiden. Nämlich: wenn zum Schutz des allgemeinen Wohls die lebenslängliche Einsperrung der Mörder ebensoviel beiträgt, wie die Todesstrafe, d. h. wenn die Mordtaten durch eine Abschaffung der Todesstrafe nicht häufiger werden, so ist diese ungerechtfertigt. Wenn dagegen die Einsperrung weniger abschreckt, als die Todesstrafe, d. h. wenn die Mordtaten nach einer Abschaffung der Todesstrafe zahlreicher werden, so erfordert das Wohl aller ihre Beibehaltung. Es ist vernünftig, das Leben Einzelner zu vernichten, um das Leben vieler zu erhalten."

"Fast alle, welche den Satz  der Zweck heiligt die Mittel  verabscheuen, haben nie über ihn nachgedacht. Sie verwerfen denselben, weil man ihnen von Jugend an oft und eindringlich gesagt hat, daß er verwerflich ist. Ihre Verurteilung ist ein  Vor urteil, insofern sie nicht auf eine Prüfung, sondern auf einer  vor  jeder Prüfung vorausgegangenen Gewohnheit beruth. Demnach haben sie ihre Meinung nicht, weil sie dieselbe für richtig halten, sondern sie halten dieselbe für richtig, weil sie sie haben."


§ 4. Der Ursprung der Strafe und des
Gerechtigkeitsgefühls; über Abschreckung und Vergeltung.

Den Ursprung der Strafe berührten wir schon im ersten Paragraphen. Wir sahen dort, daß das Wohl, der Frieden aller die Existenz derselben notwendig macht. In der Tat: wenn die Strafe nicht existieren würde, etwa in diesem Augenblick fortfiele, so würde jeder, unbekümmert um das Glück, ja das Leben anderer, so viel von ihrem Besitz an sich raffen, wie mit Gewalt zu erlangen wäre. Auch den übrigen Leidenschaften, wie Haß, Rachsucht, würden wir, insofern nicht Angst vor der Gegenwehr uns abschreckt, rücksichtslos folgen. Denn der unegoistische Trieb und seine Formen, Mitleid, Nächstenliebe, sind nicht stark genug, um die Egoismen in Zaum zu halten. Das vermag bloß die Furcht vor der mächtigen Staatsgewalt.

Jede staatliche Gemeinschaft ist eine große Menagerie, in der Furcht vor Strafe und Furcht vor Schande die Gitter sind, durch welche die Bestien davon abgehalten werden, sich gegenseitig zu zerfleischen. Zuweilen brechen diese Gitter entzwei -.

Nachdem nun die Strafe, um innerhalb eines Staates die Ruhe herzustellen, eingeführt worden war, bildete sich das Gerechtigkeitsgefühl, das heißt dasjenige Gefühl, vermöge dessen wir fordern, daß auf schlechte Handlungen eine Strafe als Vergeltung folgt.

Man beachte wohl, daß dieses offenbar in uns liegende Gefühl die Strafe nicht aus demselben Gesichtspunkt fordert, aus dem sie bei ihrer ersten Begründung gefordert wurde. Denn der ursprüngliche Zweck der Strafe ist, wie wir soeben sahen, von schlechten Handlungen abzuschrecken. Das Gerechtigkeitsgefühl dagegen betrachtet die Strafe nicht als ein Abschreckungsmittel für die Zukunft, sondern als eine Vergeltung für die Vergangenheit. Nach ihm soll  quia peccatum est [weil gesündigt worden ist - wp] gestraft werden, nicht  ne peccetur [um Verfehlungen zu verhüten - wp].

Trotzdem hat das Gerechtigkeitsgefühl sich aus der ursprünglichen Bestimmung der Strafe entwickelt, und entwickelt sich noch jetzt in einem jeden von uns während seines Lebens.

Nämlich: Der Gedankengang der Begründer der Strafe war etwa dieser: Zunächst müssen für schlechte (das Wohl eines oder mehrerer Stammesglieder schädigende) Handlungen Strafen festgesetzt werden. Wenn diese Androhung nicht wirksam ist, wenn Jemand eine mit Strafe bedrohte Handlung doch begeht, so muß die Strafe an ihm vollzogen werden, teils damit ihn selbst, den die angedrohte Strafe nicht abzuschrecken vermochte, in Zukunft doch die gefühlte Strafe von ähnlichen Handlungen abschreckt, teils damit seine Bestrafung auch allein übrigen ein sie warnendes Beispiel ist.

So die Meinung der Gesetzgeber.

Mit der Ausführung der zunächst mündlich, dann schriftlich überlieferten Gesetzesvorschriften wurden in der Folge bestimmte Personen, die sogenannte Obrigkeit, betraut. Diese praktischen Rechtsmänner hatten und haben nur die Aufgabe
    1) festzustellen, daß die angeschuldigte Peron das ihr zur Last gelegte Verbrechen wirklich begangen hat

    2) in den Gesetzesvorschriften nachzusehen, welche Strafe auf das betreffende Verbrechen steht, und diese zur Ausführung zu bringen.
Sie beschäftigen sich also nur mit der schlechten Handlung, welche begangen wurde und ihrer Bestrafung. Hingegen, ob diese Bestrafung wie ein Denkzettel für die Zukunft oder wie eine Vergeltung für das Geschehene aufzufassen ist - die Erwägung dieses Theorems kommt ihnen begreiflicherweise nicht in den Sinn. An den ursprünglichen Zweck der Strafe erinnern sie weder sich selbst noch andere.

Wenn aber bei den Strafen, die man zur Ausführung bringen sieht, nichts daran erinnert, daß sie ein Abschreckungsmittel für die Zukunft sind, so muß der Schein entstehen, als ob sie eine Vergeltung des Geschehenen sind. Wird z. B. jemand wegen Diebstahls bestraft, soll diese Strafe, gemäß der ursprünglichen Absicht der Strafe, den Dieb selbst und alle übrigen von ähnlichen Handlungen abschrecken. Dieser auf die Zukunft gehende Sinn der Strafe leuchtet aus dem Strafverfahren aber nicht hervor. Die Richter konstatieren bloß, daß auf Diebstahl unter solchen Umständen eine solche Strafe steht, und bringen dann diese zur Ausführung. Dem Schein nach strafen sie also nicht, um anderen Diebstählen vorzubeugen, sondern wegen des getanen Diebstahls selbst: scheinbar vergelten sie den begangenen Diebstahl.

Aus diesem Grund, weil Richter, Angeklagte und Zuschauer durch nichts an den ursprünglichen Sinn der Strafe erinnert werden, gewöhnen sie sich daran, in ihr das zu sehen, was sie dem Schein nach ist, eine Vergeltung.

Hat man aber auf gesetzeswidrige Handlungen stets, wie man meint, eine Vergeltung folgen sehen, so wird sich danach, sobald man eine gesetzeswidrige Handlung sieht, unwillkürlich das Gefühl einstellen, daß nun eine Vergeltung auf sie folgen muß, - das ist das Gerechtigkeitsgefühl.

Wenn man sich statt dessen bei jeder einzelnen Bestrafung darauf besinnen würde, daß dieselbe nicht, wie es den Anschein hat, vergelten will, sondern abschrecken; daß demnach die Bestrafungsformel "du wirst bestraft, weil du dies getan hast"  cum grano salis [mit einer Brise Salz - wp] zu verstehen ist, indem sie nicht meint: "Du wirst um des Getanen selbst willen bestraft", sondern: "Du wirst bestraft, damit solche Handlungen, wie du sie getan hast, weder von dir noch andern wiedergetan werden"; würde so der auf die Zukunft gehende Sinn der Strafe im Bewußtsein der Menschen wach erhalten, so entstände in Niemandem ein Gerechtigkeitsgefühl. Da dieser Hinweis aber nicht gemacht zu werden pflegt, so muß die Strafe als Vergeltung scheinen, und danach das Gerechtigkeitsgefühl entstehen.

Noch ein anderer Umstand kommt dazu. Wenn man uns als Kinder bestraft, so geschieht es offenbar nicht, um unsere Unarten zu vergelten, sondern um deren Wiederkehr zu verhüten. Aber man sagt zu uns: du wirst bestraft, weil du dies getan hast. So empfangen wir von Jugend an den Eindruck, als ob die Strafe eine Vergeltung wäre und dieses Gefühl wird durch das, was wir von öffentlichen Strafen sehen und hören, zur Ausbildung gebracht. -

Außerdem daß die Strafen der Obrigkeit und der Erzieher den Anschein haben, als ob sie Vergeltungen der schlechten Handlungen sind, trägt noch ein zweiter Irrtum zur Bildung des Gefühls bei, vermöge dessen wir für schlechte Handlungen Vergeltung fordern.

Man hält den menschlichen Willen, wie gesagt, für frei. "Der Verbrecher verdient Strafe, weil er so gehandelt hat, während er doch anders handeln konnte."

Hätte man dagegen die Notwendigkeit der verbrecherischen Handlungen eingesehen, so würde die Vorstellung, daß ihnen zu vergelten sei, nicht haben Fuß fassen können. Vielmehr würde man richtig gesagt haben: Handlungen, die notwendig sind, können des Geschehenen selbst wegen nicht zur Verantwortung gezogen, nicht vergolten werden; wohl aber muß dieselben, gerade weil sie notwendig, d. h. durch Motive bestimmt sind, eine Strafe treffen, damit die Furcht vor dieser Strafe dem Täter selbst und allen übrigen zum Motiv wird, in Zukunft ähnliche Handlungen zu unterlassen.

Also infolge zweier Irrtümer, nämlich
    1) weil die Strafen der Obrigkeit und der Erzieher Vergeltungen zu sein scheinen

    2) weil man den Willen für frei hält, entsteht das Gerechtigkeitsgefühl
Wenn dieses Gefühl aber erst entstanden ist, so bezieht man es nicht bloß auf die schlechten Handlungen, welche gesetzlich oder von Seiten der Erzieher mit Strafe bedroht werden, sondern man überträgt dasselbe, vermöge hinzukommender Gewohnheit, auf  alle  für schlecht gehaltenen Handlungen: es stellt sich dann angesichts jeder verwerflichen Handlung das Gefühl ein, daß ein vergeltendes Leid die Folge sein sollte. Dementsprechend sagen die Menschen, wenn aus einer schlechten Handlung wirklich für den Täter ein Leid hervorgegangen ist: das ist seine verdiente Strafe, das ist die gerechte Vergeltung seiner Schlechtigkeit.

Ja, selbst dann, wenn nicht  aus  einer schlechten Handlung, sondern nur  auf  dieselbe ein Leid des Täters folgt (z. B. jemand der schlecht gehandelt hat späer durch einen herabfallenden Dachziegel getötet wird), pflegt, vermöge der Gewohnheit für eine schlechte Handlung Vergeltung zu fordern, dieses bloße  Auf einanderfolgen doch wie ein  Aus einanderfolgen bestrachtet zu werden, indem man sagt: der Herr, dessen Wege höchst wunderbar sind, hat dieses Leid als Strafe über den schlechten Menschen verhängt.

Auch die Annahme einer Bestrafung nach dem Tod, mag sie auch einesteils in der Absicht erfunden worden sein, die Menschen von schlechten Handlungen abzuschrecken, beruth doch andernteils auf dem Gesagten. Weil wir in dieser Welt viele schlechte Handlungen unbestraft sehen (denn ob Missetäter infolge ihrer schlechten Handlungen Leid erfahren oder nicht, hängt von der zufälligen Gestaltung der Umstände ab), die Vorstellung aber, daß ein Leid folgen sollte, nun einmal erlangt haben, so liegt der Aberglaube nahe, die hier ausgebliebene Strafe in ein schon anderweitig vorausgesetztes zukünftiges Leben zu verlegen.


Ist die gesetzliche Strafe eine Abschreckung für die Zukunft oder Vergeltung für Geschehenes?

Auf diese Frage ist oft geantwortet worden: das in uns liegende Gefühl, vermöge dessen wir für Verbrechen Vergeltung fordern, beweist, daß eine solche Vergeltung auch wirklich eintreten, und demnach die gesetzliche Strafe als eine Vergeltung aufgefaßt werden muß.

So konnte man sprechen, solange man den Ursprung des Gerechtigkeitsgefühls nicht kannte. Jetzt aber, nachdem wir eingesehen haben, daß dieses Gefühl infolge zweier Irrtümer, also aus Versehen enstanden ist, ergibt sich unmittelbar, daß dasselbe, indem es aussagt, den Verbrecher müsse eine Vergeltung treffen, nicht respektabel ist, sondern lügt: In Wahrheit darf nicht gestraft werden, weil gesündigt worden ist, sondern damit nicht gesündigt wird.  Nemo prudens punit, quia peccatum est, sed ne peccetur. [Kein Kluger straft weil eine Verfehlung begangen wurde, sondern damit in Zukunft keine solche Verfehlung mehr begangen wird. - wp]

Wenn die Strafe nun da ist, um zum Wohl aller von schädigenden Handlungen abzuschrecken, und demnach Handlungen, die das Wohl eines oder mehrerer Bürger schädigen, bestraft werden, damit sie nicht wieder vorkommen, so folgt hieraus, daß, je mehr jemand das Wohl anderer schädigt, desto mehr er selbst und alle übrigen von der Wiederholung ähnlicher Handlungen, abzuschrecken sind. Je größer das Verbrechen (die Schädigung anderer), desto größer die Strafe. Wer andern die höchste Schädigung zufügt, nämlich mordet, muß zum Wohl der Gesellschaft ganz aus ihr entfernt werden, teils weil man, was ihn selbst betrifft, es nicht riskieren kann, ihn in dieselbe zurückkehren zu lassen, teils weil die übrigen Bürger von so großen Verbrechen durch so große Strafen abgeschreckt werden müssen. Ob als Form dieser Ausschließung aus der Gesellschaft die lebenslängliche Einsperrung oder die Todesstrafe anzuwenden ist, hat die Statistik zu entscheiden. Nämlich: wenn zum Schutz des allgemeinen Wohls die lebenslängliche Einsperrung der Mörder ebensoviel beiträgt, wie die Todesstrafe, d. h. wenn die Mordtaten durch eine Abschaffung der Todesstrafe nicht häufiger werden, so ist diese ungerechtfertigt. Wenn dagegen die Einsperrung weniger abschreckt, als die Todesstrafe, d. h. wenn die Mordtaten nach einer Abschaffung der Todesstrafe zahlreicher werden, so erfordert das Wohl aller ihre Beibehaltung. Es ist vernünftig, das Leben Einzelner zu vernichten, um das Leben vieler zu erhalten. [...]

Das Recht der Strafe beruth also nicht auf dem Gerechtigkeitsgefühl; vielmehr ist die Bestrafung jedes Missetäters nur im Hinblick auf das allgemeine Wohl gerechtfertigt. Der Zweck (das allgemeine Wohl) rechtfertig, heiligt die Mittel (die Strafe). Nun ist aber der Satz "der Zweck heiligt die Mittel" verpönt. Jedermann hält ihn für verwerflich. Selbst die Jesuiten erkennen ihn öffentlich nicht an.

Falls er wirklich verwerflich ist, muß auch die eben von ihm gemachte Anwendung verwerflich sein, und daher erscheint es nötig, ihn zu prüfen.

In dem Satz "der Zweck heiligt die Mittel" deutet das Wort "heiligen" darauf hin, daß ein moralisch guter Zweck gemeint ist. Einen solchen Zweck hat, dem Vorhergehenden zufolge, nur derjenige, der das Wohl anderer ihrer selbst wegen will.

Vorausgesetzt nun, jemand kann seinen guten Zweck nur durch eine Zufügung von Leid erreichen; dieses Leid aber sei geringer als dasjenige, welches ohne seine Anwendung eintreten würde. In einem solchen Fall ist z. B. derjenige, der das Wohl seiner Mitbürger ihrer selbst wegen will, diesen Zweck aber nur durch die Ermordung eines einzelnen Bürgers erreichen kann. Hier sind zwei Übel gegeben, von denen eines notwendig ist. Entweder ein ganzes Volk geht zugrunde oder ein Einzelner. Wenn jemand von diesen beiden Übeln das kleinere wählt und den einzelnen umbringt, so sind die Motive seines Handelns vernünftig, gut, lobenswert.

Aber, wird man vielleicht einwenden, der Täter kann nicht mit Sicherheit im Voraus wissen, ob die Ausführung seiner Tat wirklich so günstige, ihr Unterlassen so schlimme Folgen haben wird. Das ist richtig, aber bedeutungslos. Denn die Moral sieht nicht auf den Erfolg, sondern auf die Absicht des Handelnden, auf die Motive. Genug, wenn der Täter die Überzeugung hat, daß die angebene Alternative - entweder ein ganzes Volk oder ein Einzelner geht zugrunde - existiert.

Also: Wer den guten Zweck hat, das Unglück anderer zu verhüten oder zu entfernen, und diesen Zweck nur durch Erzeugung eines verhältnismäßig kleineren Unglücks erreichen kann (oder erreichen zu können glaubt), ist moralisch gerechtfertigt, wenn er zur Erreichung seines Zwecks dieses Mittel anwendet. Sein Zweck heiligt seine Mittel.

Das tägliche Leben bietet uns zahllose Beispiele, in welchen dieser Grundsatz als richtig anerkannt und befolgt wird. Der Arzt bereitet dem Kranken heilsame Schmerzen; auch kann er oft nicht umhin, ihn zu belügen. Ebenso kommt der Erzieher manchmal in die Lage, seine Zöglinge in einem Fall, da der Zweck ein guter ist, zu einem Staatsgesetz seines Idealstaates (Politik V, 8).

Nur dies vergesse man nicht, daß es sich hierbei, wie gesagt, nie um diejenigen Folgen handelt, welche tatsächlich aus der Anwendung an und für sich verwerlicher Mittel hervorgehen. Der Handelnde ist moralisch gerechtfertigt, wenn seinem Wissen und Gewissen nach die von ihm angewandten Mittel das kleinere von zwei Übeln sind.

Anders freilich, wie mit dieser Rechtfertigung vor der Moral, steht es mit der Rechtfertigung vor dem Gesetz: Selbst dann, wenn jemand nicht nur in guter Absicht an und für sich verwerfliche Mittel anwendet, sondern durch dieselben das größere Übel auch wirklich verhütet oder entfernt, darf ihn der Staat, falls er ein Staatsgesetz übertritt, nicht unbestraft lassen. Denn sonst würde die Autorität des Gesetzes leiden. Der große Haufen würde bei jenem nicht die gute Absicht, sondern nur die Straflosigkeit sehen, und demnach ermutigt werden, ja sich berechtigt glauben, gleichfalls dem Gesetz entgegen zu handeln. Auf diese Weise würde der nur durch die Furcht vor Strafe erhaltene Frieden aller gefährdet werden. Demnach kann der Staat wohl mildernde Umstände, nicht aber Straflosigkeit zugeben.

Derselbe Grundsatz,  der die vom Einzelnen angewandten Mittel rechtfertigt, berechtigt den Staat, ihn zu bestrafen: in beiden Fällen ist  der Zweck (Verhütung eines größeren Übels), der die Mittel (Erzeugung eines verhältnismäßig kleineren Übels) heiligt, rechtfertigt.

Der Satz "der Zweck heiligt die Mittel" ist also gültig, - sobald nur die noch einmal zu erwähnenden Bedingungen erfüllt sind:
    1) Der Zweck muß ein guter sein.

    2) Wenn der Zweck ein guter ist, so heiligt er leiderregende Mittel doch nur, wenn er auf keine andere Weise erreicht werden kann. Es ist z. B. denkbar, daß jemand, der das Wohl anderer ihretwegen will zur Verwirklichung dieses Zwecks, sei es aus Bequemlichkeit, sei es aus anderen Ursachen, leiderregende Mittel anwendet, obgleich ihm, wie er selbst weiß, andere Mittel zu Gebote stehen.

    3) Wenn der gute Zweck durch die Anwendung leiderregender Mittel erreicht wird, so ist doch nur die, den Umständen nach, kleinstmögliche Erregung von Leid gerechtfertigt; das vorige Beispiel paßt  mutatis mutandis [unter vergleichbaren Bedingungen - wp] auch hier. Ferner ist nach diesem Grundsatz die Todesstrafe in denjenigen Staaten ungerechtfertigt, in denen die lebenslängliche Einsperrung ebensosehr von Mordtaten abschreckt.

    4) Das Leid, welches angewendet wird, muß geringer sein, als dasjenige, welches ohne seine Anwendung eintreten würde. Es ist z. B. ungerechtfertigt, das Leben vieler Menschen zu vernichten, um das Leben eines Menschen zu erhalten; während es gerechtfertigt ist, das Leben eines Menschen zu vernichten, wenn nur so das Leben vieler erhalten werden kann.
Es sind jetzt noch die Gründe anzugeben, aus denen unser Satz verpönt ist, - gemäß der Vorschrift des ARISTOTELES, man solle nicht bloß die Wahrheit, sondern auch die Gründe des der Wahrheit entgegenstehenden Irrtums aufdecken.

Zunächst: Fast alle, welche den Satz "der Zweck heiligt die Mittel" verabscheuen, haben nie über ihn nachgedacht. Sie verwerfen denselben, weil man ihnen von Jugend an oft und eindringlich gesagt hat, daß er verwerflich ist. Ihre Verurteilung ist ein  Vor urteil, insofern sie nicht auf eine Prüfung, sondern auf einer  vor  jeder Prüfung vorausgegangenen Gewohnheit beruth.

Demnach haben sie ihre Meinung nicht, weil sie dieselbe für richtig halten, sondern sie halten dieselbe für richtig, weil sie sie haben.

Wenn aber die Gewohnheit - die ja die Begründerin fast aller Meinungen, zumal der religiösen ist - mit der Vorstellung des Satzes "der Zweck heiligt die Mittel" die Vorstellung der Verwerflichkeit fest verknüpft hat, stutzen sie, sobald ihnen jemand aufstößt, der mit der Vorstellung dieses Satzes nicht die der Verwerflichkeit verbindet.

Von ihrem Staunen zurückgekommen, geben sie sich nicht einem Zweifel an der Richtigkeit ihrer eigenen Meinung hin, teils weil ein Nachdenken erforderlich ist, um solche Zweifel zu lösen, weil weil sie nicht zugeben mögen, daß des andern Meinung die richtige ist, daß er Recht, sie selbst aber Unrecht haben und schon so lange gehabt haben sollten. Deshalb gehen sie von ihrem Erstaunen unmittelbar zu der Versicherung über, daß sie Recht hätten und er Unrecht.

Zugegeben, wird man vielleicht sagen, daß die Meinung, unser Satz sei verwerflich, so von vielen erworben und behauptet werden mag, wodurch aber ist derselbe ursprünglich in Verruf gekommen?

Durch zweierlei:
    1) dadurch, daß man ihn mißverstanden,
    2) dadurch, daß man ihn mißbraucht hat.
Es mißverstehen ihn die, welche auf ihn sich auch in solchen Fällen berufen, in denen jene vier Bedingungen nicht erfüllt sind. Besonders bleibt die erste Bedingung oft unberücksichtigt: mancher, der keinen guten, sondern einen egoistischen Zweck hat, und zur Erreichung desselben schlechte (das Wohl anderer schädigende) Mittel anwendet, bringt zu seiner Rechtfertigung vor "der Zweck heiligt die Mittel". Offenbar widerstreitet eine solche Interpretation dem Sinn des Satzes, da, wie gesagt, das Wort "heiligen" deutlich zeigt, daß ein guter Zweck gemeint ist.

Mißbraucht ist unser Satz von Jesuiten und Inquisitoren, welche so taten, als ob sie einen guten Zweck hätten, während ihr Zweck wahrlich ein schlechter war. Sie versicherten nämlich, die Ketzer müßten verbrannt werden, damit nicht die ganze übrige Menschheit, von diesen angesteckt, der ewigen Verdammnis anheimfällt.

Angenommen, sie hätten Recht: dann würde ihre Handlungsweise Lob verdienen: denn es ist vernünftig, einen Teil der Menschheit im Diesseits zu verbrennen, damit nicht die ganze Menschheit ewig im Jenseits brennt. Oder nehmen wir an, sie hätten wenigstens geglaubt, Recht zu haben: dann wäre ihr Motiv ein gutes gewesen, und demnach ihr Betragen moralisch gerechtfertigt. Nun aber hatten sie weder Recht, noch glaubten sie Recht zu haben: Nur angeblich handelten sie aus Liebe zu Gott und der Menschheit, in Wahrheit aus Liebe zu sich selbst, indem sie, wie jedermann weiß, aus Herrschsucht und Habsucht diejenigen verbrannten, welche sich durch die Annahme eines neuen Bekenntnisses ihrer Herrschaft entzogen. Ihr Zweck heiligt also ihre Mittel nicht. Da sie sich aber trotzdem auf den Satz "der Zweck heiligt die Mittel" beriefen, so bekam derselbe einen unangenehm üblen Beigeschmack: man denkt, sobald man ihn nur aussprechen hört, unwillkürlich an Ketzerverbrennungen.

Da unser Satz nichts dafür kann, daß man ihn teils mißverstanden, teils mißbraucht hat, so werden wir, unbekümmert um Beides, seine Richtigkeit anerkennen.

Unter diesen Satz fällt die Berechtigung des Staates, zu strafen. Denn der Staat ist wie eine Person, die das Wohl des Volkes will, diesen guten Zweck aber nur durch die Anwendung leiderregender Mittel erreichen kann, nämlich durch die Bestrafung derer, welche gegen das Gesetz handeln. Das so erregte Leid ist geringer als dasjenige, welches ohne seine Anwendung eintreten würde. Denn die Strafe trifft nur das Wohl der Einzelnen, welche Verbrechen begehen, während ohne eine Anwendung von Strafen das Wohl aller leiden, das  bellum omnium contra omnes [Krieger aller gegen alle. - wp] eintreten würde.

In diesem Paragraphen haben wir gesehen, daß das Strafen ursprünglich eingeführt worden ist, um von schlechten Handlungen abzuschrecken; daß danach das Gefühl entstand, nicht nur um von schlechten Handlungen abzuschrecken, sondern um sie zu vergelten, müsse gestraft werden. Wir sahen weiter, daß dieses Gefühl, weil es irrtümlicherweise entstanden ist, nicht berücksichtigt werden, daß kein Verbrecher um seiner Verbrechen willen bestraft werden darf.

Diese Wahrheit, daß niemand seiner schlechten Handlungen selbst wegen Tadel oder Strafe verdient, wollen wir jetzt noch von einem anderen und im höchsten Grade wichtigen Gesichtspunkt aus betrachten.

Der Mensch findet sich inmitten einer Welt einzelner Dinge, die ihm zum Teil nützlich, zum Teil nutzlos oder schädlich sind.

Die ihm nütlichen Dinge nennt er häufig gut, die nutzlosen und die schädlichen schlecht, z. B. gute Nahrungsmittel sind dem Menschen zuträgliche Nahrungsmittel; guter Boden ist ein dem Menschen genießbare und reichliche Früchte tragender Boden; gute Pferde sind nützliche Pferde. Desgleichen sind schlechte Nahrungsmittel unzuträgliche Nahrungsmittel usw.

Man kann allgemein sagen: Wer auch immer die Bezeichnung gut (oder schlecht) mit einem Gegenstandswort verbindet, will ausdrücken, daß dieser Gegenstand nutzen- (oder schaden-) bringend ist. Dies wird besonders klar, sobald man den Versuch macht, die Wörter gut oder schlecht zu solchen Gegenständen zu setzen, die zu unserem Nutzen oder Schaden nicht in Beziehung stehen. "Guter Fixstern" klingt z. B. sinnlos, weil die Fixsterne nicht in solche zerfallen, die uns nützlich, und in solche die uns nutzlos oder schädlich sind. Ebenso klingt "guter Staub" für denjenigen sinnlos, der nicht weiß, daß der Chausseestaub gebraucht, nämlich zur Fabrikation künstlichen Marmors verwendet wird. Die Fabrikanten hingegen werden als guten Staub den bezeichnen, der zur Fabrikation gut geeignet ist, und umgekehrt. - Also, gut ist gleich nützlich, schlecht gleich nutzlos oder schädlich.

Demnach dürfte man eigentlich nicht sagen: "dieser Gegenstand ist gut", sondern nur: "dieser Gegenstand ist für mich gut". Selbst dann, wenn ein Gegenstand, wie z. B. die gemäßigte Wärme, allen Menschen zuträglich ist, dürfte eigentlich nicht gesagt werden: "die gemäßigte Wärme ist eine gute Temperatur" sondern "die gemäßigte Wärme ist eine den Menschen gute Temperatur."

Der Sprachgebrauch legt, vermöge einer ungenauen Ausdrucksweise, Beziehungen, welche die Dinge zu uns haben, den Dingen selbst als Prädikate bei.

Ähnlich wie mit den Prädikaten  gut  und  schlecht  verhält es sich ja mit den Prädikaten schön und häßlich, hart und weich, heiß und kalt, weiß und schwarz und den übrigen, von LOCKE so genannten sekundären Qualitäten. Niemand wird z. B. meinen, der Zinnober habe auch an und für sich, unabhängig von gerade mit solchen Sehnerven ausgestatteten Wesen eine rote Farbe. "Ein Rotblinder wird den Zinnober schwarz oder dunkelgraugelb sehen; auch dies ist die richtige Reaktion für sein besonders geartetes Auge. Er muß nur wissen, daß sein Auge eben anders geartet ist, als das anderer Menschen. Ansich ist die eine Empfindung nicht richtiger und nicht falscher, als die andere, wenn auch die Rotsehenden eine große Majorität für sich haben. Überhaupt existiert die rote Farbe des Zinnober nur, sofern es Augen gibt, die denen der Majorität der Menschen ähnlich beschaffen sind. Genau mit demselben Recht ist es eine Eigenschaft des Zinnobers schwarz zu sein, nämlich für den rotblinden" (HELMHOLTZ, Physiologische Optik, Seite 445). Trotzdem sagt man: "der Zinnober ist rot" statt: "der Zinnober ist für uns rot", gleichwie man sagt: "die gemäßigte Wärme ist eine gute Temperatur" statt: "die gemäßigte Wärme ist eine für uns gute Temperatur."

Also: einen Gegenstand in sich betrachtet gut zu nennen, ist so vollkommen unsinning, wie den Zinnober, in sich betrachtet rot zu nennen: Für gerade mit solchen Empfindungsnerven ausgestattete Wesen ist der Zinnober rot, und ein Gegenstand wie die gemäßigte Temperatur gut. Für etwa mit anderen Empfindungsnerven ausgestattete Wesen würde der Zinnober gelb, und die gemäßigte Temperatur oder sonst irgendein Gegenstand, den wir jetzt gut nennen, schlecht sein. [...]

Kehren wir nach dieser vorbereitenden Betrachtung zum moralisch Guten und Schlechten zurück, so behält das Gesagte Gültigkeit. Erinnern wir uns zunächst an den Ursprung der Begriffe  gut  und  böse,  wie er im ersten Paragraphen angegeben ist.

Anfangs wurde derjenige gut genannt, der Anderen (derselben Gemeinschaft Angehörenden) nützte, und derjenige schlecht, der ihnen schadete. Später sah man nicht bloß darauf, daß jemand tatsächlich nützte, sondern die Motive seiner Handlungen untersuchend, nannte man nur die Anderen nützenden Handlungen gut, welche aus unegoistischen Motiven (um der Anderen selbst willen) getan werden. Zu dieser Berücksichtigung der Motive kam man ursprünglich deshalb, weil, wenn die Menschen sich aus egoistischen Motiven (wie Eigennutz und Furcht vor Strafe) helfen oder nicht schaden, ihre Eintracht zufällig, unsicher, von außen her erzwungen ist, während, wenn sie aus unegoistischen Motiven einander helfen oder nicht schaden, ihre Eintracht sicher, solide ist, von innen heraus kommt.

Das unegoistische Handeln ist also gut genannt, weil es (zur Einträchtigkeit) nützt, und das egoistische Handeln ist schlecht genannt, weil es schadet.

Wie nun die gemäßigte Temperatur, wenngleich sie von den Menschen, als gerade ihren Empfindungsnerven zuträglich, gut genannt wird, doch ansich betrachtet weder gut noch schlecht, sondern eine Temperatur von bestimmter Beschaffenheit ist, so ist es auch der Unegoistische, wenngleich er von den Menschen als gerade ihnen nützlich gut genannt worden ist, doch, für sich betrachtet, kein guter Mensch, sondern ein Mensch von bestimmter Beschaffenheit. Den Unegoistischen, für sich betrachtet, gut zu nennen, würde keinen Sinn haben, gleichwie es sinnlos ist, die gemäßigte Temperatur, ansich betrachtet, gut, oder den Zinnober, ansich betrachtet, rot zu nennen.

Ebenso ist der egoistische Mensch, z. B. der Grausame, wenngleich er von seinen Mitmenschen, als ihnen schädlich, schlecht genannt worden ist, doch, für sich betrachtet, kein schlechter Mensch, sondern ein Mensch von bestimmter Beschaffenheit. Den Grausamen, ansich betrachtet,  schlecht  zu nennen, würde sinnlos sein.

Nehmen wir noch eine andere Analogie: der gute Mensch ist ein nützliches Tier, der schlechte Mensch ist ein schädliches Tier.

Wie nun irgendein anderes schädliches Tier, z. B. ein bissiger Hund, darum weil er für die Menschen schlecht ist, nicht ansich betrachtet schlecht, sondern ansich betrachtet ein Tier von bestimmter Beschaffenheit ist, so ist auch der Grausame darum, weil er für die Menschen schlecht ist, doch nicht ansich betrachtet schlecht, sondern ansich betrachtet ein Mensch von bestimmter Beschaffenheit.

Diese Analogie, welche tatsächliche eine vollkommene ist, scheint unvollkommen. Denn der bissige Hund wird wirklich wegen seiner Schädlichkeit, nicht seiner inneren Beschaffenheit nach als schlecht empfunden. Der Grausame hingegen wird, unabhängig davon daß andere Schaden durch ihn haben, gerade seiner inneren Beschaffenheit nach, also an und für sich als schlecht empfunden.

Diese Verschiedenheit beruth auf Folgendem: Wenngleich Grausamkeit und ähnliche Handlungsweisen ursprünglich schlecht genannt worden sind, weil sie schlecht für andere sind, so hat sich doch in den späteren Generationen nicht dieser Grund ihrer Kennzeichnung, sondern nur ihre Kennzeichnung selbst, und zwar durch Gewohnheit, erhalten. Man frage z. B. jemanden, warum Grausamkeit schlecht ist. Er wird erwidern: weil er fühlt, daß sie schlecht ist. Forscht man nach der Entstehung dieses Gefühls, so findet man die Gewohnheit, vermöge deren ihm durch Alles, was er von Jugend an gehört, gesehen, gelesen hat, die Grausamkeit an und für sich als schlecht dargestellt worden ist. Forscht man weiter, woher diese Kennzeichnung der genannten Handlungsweise ursprünglich stammt, so stößt man auf eine fern liegende Kulturstufe, in welcher sie und ähnliche Handlungen zuerst als schlecht bezeichnet wurden, nicht, weil sie in sich betrachtet schlecht, sondern weil sie für andere schlecht sind. Dieser Grund aber wurde, wie gesagt, in den späteren Generationen, da man ihnen ebenso wie uns schlechthin (d. h. ohne den Grund dafür anzugeben) lehrte, daß Grausamkeit und Ähnliches schlecht sind, vergessen, und so entstand der erwähnte Schein, als ob die Grausamkeit an und für sich schlecht, nicht nur, wie die Bissigkeit des Hundes, insofern schlecht ist, als sie anderen schädlich ist.

In Wahrheit also ist die obige Analogie vollkommen: Gleichwie der bissige Hund in sich betrachtet nicht schlecht, sondern ein Tier von bestimmter Beschaffenheit ist, ebenso ist der Grausame in sich betrachtet nicht schlecht, sondern ein Tier von bestimmter Beschaffenheit. Die Grausamkeit in sich betrachtet schlecht zu nennen ist sinnlos, gleichwie es sinnlos ist, die extreme Temperatur oder sonst irgendetwas, das gerade für die Menschen schlecht ist, in sich betrachtet schlecht zu nennen.

Wenn nun die Grausamkeit und überhaupt das egoistische Handeln in sich betrachtet nicht schlecht, sondern ein Handeln von bestimmter Beschaffenheit ist, so kann dasselbe auch, in sich betrachtet, nicht tadelnswert, nicht strafwürdig, nicht ein zu vergeltendes sein. Vielmehr, wie man bissige Hunde einsperrt oder tötet, obgleich sie keine Strafe verdienen, so wird man auch den Menschen schädliche Individuen (Diebe, Mörder), obgleich sie keine Strafe verdienen, tadeln, einsperren (und zuweilen töten), damit die Furcht vor Strafe ihnen selbst und allen Übrigen zum Motiv wird, nicht wieder zu schädigen.

Auch von diesem Gesichtspunkt aus ist die Strafe keine Vergeltung, sondern Abschreckung.

Rekapitulieren wir den bisherigen Inhalt des Paragraphen durch ein Beispiel:  Wenn jemand einen Raubmord begeht, so sagt der naive Zuschauer: Seine Handlung ist an und für sich betrachtet schlecht, und sie verdient (fügt das Gerechtigkeitsgefühl hinzu) durch Strafe vergolten zu werden. Überhaupt verantwortlich (bemerkt die Unüberlegtheit) ist er deshalb, weil er, da sein Wille frei ist, anders hätte handeln können.

Der denkende Zuschauer hingegen sagt:
    1) Jene Handlung an und für sich betrachtet schlecht zu nennen, ist sinnlos; sie ist an und für sich betrachtet eine Handlung von bestimmter Beschaffenheit. Dieselbe erscheint uns deshalb an und für sich schlecht, weil wir von Jugend auf daran gewöhnt worden sind, solche Handlungen an und für sich schlecht zu finden.

    2) Die Handlung verdient keine vergeltende Strafe, teils weil sie an und für sich betrachtet nicht schlecht ist, teils weil das Gefühl, vermöge dessen wir Vergeltung fordern, durch Irrtümer entstanden ist. Nur abschreckenshalber, und zwar aufgrund des Satzes "der Zweck heiligt die Mittel" ist zu strafen.

    3) Der Mörder ist überhaupt nicht verantwortlich; denn seine Handlung folgt mit Notwendigkeit aus seinem angeborenen Charakter und denjenigen Eindrücken, welche von der Geburt bis zum Augenblick des Handelns auf diesen gewirkt haben.
Wer nur zu einer dieser drei Einsichten gelangt ist, macht Niemanden verantwortlich; da die meisten Menschen aber zu keiner dieser drei Einsichten gelangen, so machen sie jeden verantwortlich.

Unzulässig erscheint, zumal nach diesen Betrachtungen, die schon erwähnte Annahme einer gar ewigen Vergeltung. Denn
    1) setzt sie die Existenze eines Gottes voraus. Die Unstatthaftigkeit dieser Voraussetzung hat KANT entscheidend dargetan.

    2) Die Existenz Gottes selbst zugegeben, dürfen ihm doch nicht Prädikate wie  gut  oder  schlecht  beigelegt werden. "Gott ist gut" würde heißen: Gott tut der Welt und ihren Bewohnern Gutes, "Gott ist schlecht", Gott tut der Welt und ihren Bewohnern Schlechtes. Da wir von der Welt aber nur die kleine Erde und von Gott nichts kennen, so ist es unbegründet, ihn gut oder schlecht zu nennen.

    3) Wenn man der Gottheit trotzdem von den Prädikaten  gut  oder  schlecht  eines beilegen will, so kommt ihr offenbar, da alle uns bekannten Wesen (besonders die Menschen) viel Leid und wenig Freude haben, das Prädikat  schlecht  zu. Dem entsprechend ist die Gottheit der Wilden, die, noch unbeirrt durch theologische Spitzfindigkeiten, für die zahlreichen Übel, die sie empfinden, eine übelwollende Ursache annehmen, ein böser Dämon.

    4) Wenn Gott auch diesem zum Trotz für durch und durch gütig zu halten ist, so kann er nicht zugleich grausam sein, geschweige grausamer, als der hartherzigste unter den Sterblichen. Dieser nämlich würde durch die ununterbrochen fortgesetzten Qualen seines Opfers dann doch endlich besänftigt werden; hingegen verhängt der Allgültige Höllenqualen ohne Ende, und dies, obgleich er selbst die letzte Ursache alles Existierenden, also auch der schlechten Handlungen ist.

    5) Setzt jene Annahme die Existenz einer Seele voraus. Aber die Unterschiede zwischen den höheren Tieren und dem Menschen sind nicht so große, daß man dem Menschen eine besondere Seele zuschreiben müßte.

    6) Die Existenz einer Seele selbst zugegeben, so kann dieselbe, da sie immateriell ist, doch nicht gepeinigt werden.

    7) Verdienen die Handlungen, welche Gott auf diese Weise vergilt, überhaupt gar keine Vergeltung (siehe das Vorhergehende).
Es ist nicht schwer, den Ursprung dieser Annahmen aufzufinden: Die Existenz Gottes wurde, nachdem die Personifikation der Naturkräfte abgekommen war, durch das (von KANT widerlegte) kosmologische und das teleologische Argument erschlossen. Einmal supponiert, statteten unsere Theologen ihn mit dem Prädikat der Vollkommenheit, wozu die vollkommene Güte gehört, aus. Aber die Allgüte kann uns nicht von schlechten Handlungen zurückschrecken; ja, wir möchten wohl gar, im Vertrauen auf dieselbe, jede Angst und jeden Respekt vor der Gottheit selbst und besonders vor ihren Vertretern auf Erden verlieren. Teils aus diesem Grund, teils weil wir, wie gesagt, vermöge des Gerechtigkeitsgefühls für schlechte und in diesem Leben unbestraft gebliebene Handlungen eine vergeltende Strafe im Jenseits fordern, ist der allgütige Gott außerdem noch grausam, - ein ewiger Vergelter. Die Annahme endlich einer vom Leib trennbaren Seele ist ursprünglich durch die Träume entstanden (vergleiche die Werke von TYLOR und LUBBOCK). Die Wilden glauben nämlich, das Geträumte wirklich erlebt, z. B. eine Person, die sie im Traum besuchen, wirklich besucht zu haben. Da ihr Körper nun aber, wie sie beim Aufwachen sehen und ihnen von Andern bestätigt wird, seinen Platz nicht verlassen hat, so muß wohl ein vom Körper trennbares Ding jene Wanderung unternommen haben. Im Tod löst sich die Seele ganz vom Körper los, gleichwie sie im Schlaf zeitweise von ihm getrennt ist.

So hat der Glaube an eine Vergeltung nach dem Tod entstehen können. Daß dieselbe auch jetzt noch von den Theologen geglaubt wird, ist so zu erklären, daß dieselben dasjenige, was in ihrer Kirche einmal Gültigkeit hat, selten noch weiter zu prüfen pflegen. Es liegt nicht in der menschlichen Natur, wie sie gewöhnlich ist, wegen einer rücksichtslosen Erkenntnis der Wahrheit (1) seine Gemütsruhe zu riskieren (die bei einem blinden Glauben sehr groß zu sein pflegt), oder gar durch ein Bekenntnis der Wahrheit seine Stelle und sein Einkommen aufs Spiel zu setzen.
LITERATUR - Paul Rée, Der Ursprung der moralischen Empfindungen, Chemnitz 1877
    Anmerkungen
    1) Die Rücksichtslosigkeit ist die Tugend der Philosophen.