ra-2 Jonas Friedmann Nathanael Dransfeld    
 
ANTON ÖLZELT-NEWIN
Die Unlösbarkeit
der ethischen Probleme

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"Ich glaube an die Gewalt ethischer Gefühle und an das Glück, dessen die Menschen dadurch teilhaftig sind; glaube an die Übereinstimmung, mit der sie im Herzen der Menschen begründet liegen und an den Wert ethischer Urteile im Leben: und wenn ich dennoch dem Egoismus oft zum Wort zu verhelfen trachten werde, so geschieht dies nur für jene Gegner, die, um ihre Gründe wahr zu machen, die Menschen unwahr und beständig besser machen, als sie sind. Ich kämpfe nicht gegen das sittliche Urteil, gegen Gefühle und Glauben, ich kämpfe nur gegen eine Wissenschaft, die die Triebfedern menschlicher Handlungen in Systemen abhandeln und nachschlagegerecht kodifizieren will."

Die Ethik als praktische
Disziplin ist ohne Resultat

Alle Bemühungen, welche seit den ältesten Zeiten von den hervorragendsten Geistern unternommen wurden, den Menschen eine Richtschnur zur Leitung ihres ethischen Handelns zu geben, sind bis heute ohne Resultat geblieben. Niemand, der unter ernsten Gewissenszweifeln leidet, dem es ernstlich um sein oder anderer Menschen Glück zu tun ist, hat jemals bei der Ethik Rat gesucht oder gefunden. Die Ethik, d. h. immer nur die rationale - religiöse Systeme fallen nicht unter ihren Begriff und sind sowohl mit ihren Sanktionen als ihren jeweiligen Glaubensprinzipien außerhalb des Bereichs wissenschaftlicher Argumente - war bis jetzt auch nur eine Geschichte von Irrtümern und Streitigkeiten, ein Gewirr sich widersprechender Meinungen von Forschern, die, allem Leben und aller Sünde fern, in der Beschäftigung mit Ethik ausschließlich ein Befriedigungsmittel ihres wissenschaftlichen Tätigkeitsdrangs fanden. Einigkeit ist höchstens in jenen Gebieten erlangt worden, die nur scheinbar der Ethik, tatsächlich aber ganz anderen Wissenszweigen angehörig sind. Es waren von ARISTOTELES bis auf KANT ausschließlich psychologische und Fragen erkenntnistheoretischer Art, in denen die ethische Polemik zu Resultaten führte; aber es kam nie ein System zustande, daß von den vorhergehenden mehr als Ruinen vorgefunden, das von ihnen auch nur einen Stein zu seinem Aufbau hätten verwenden können. ARISTOTELES bleibendes Verdienst ist psychologischer, KANTs hauptsächlichste Forschungen sind metaphysischer Natur; immer sind es Untersuchungen über die Lust, das Handeln, den Willen, über Freiheit, über moralische Gefühle, über das Gewissen, seinen Ursprung und seine Entwicklung, was das Wort "gut" bedeutet, über das apriorische Moment in der Sittlichkeit. Definitionen moralischer Affekte, Anleitungen, wie ethische Gefühle geweckt oder geleitet werden können und in allen diesen Punkten ist man zu mehr oder weniger Übereinstimmung gekommen, - im eigentliche Gebiet der Ethik aber, in den Fragen über das höchste Gut und die objektive Norm, die das sittliche Handeln bestimmen soll, ist man seit ARISTOTELES, dessen kontemplatives Lebensideal von den späteren Ethikern ebenso als eine subjektive Spekulation verworfen wurde, als der jeder Objektivität ermangelnde und zu jeder Entscheidung unbrauchbare kategorische Imperativ KANTs - nicht einen Schritt weiter gekommen.

Und dennoch gibt es noch eine Ethik!

Und selbst Philosophen, die, wie SCHOPENHAUER, der Ethik ihre imperative Form und jeden Einfluß auf menschliches Handeln absprechen wollen, indem sie sagen, daß es ihr, wie "aller Philosophie, wesentlich sei, bloß zu erklären, nicht aber vorzuschreiben", wollen doch den Begriff einer Ethik aufrechterhalten. SCHOPENHAUER nennt in seinen beiden Preisschriften die Fragen nach der Freiheit des Willens und nach der Grundlage der Moral die beiden Grundprobleme der Ethik. Er meint aber damit doch nur, daß diese psychologischen Probleme die Grundlage für eine darauf sich stützende Ethik seien; denn allgemein wird zugegeben, daß die erste der beiden Fragen eine rein psychologische und nur von ethischem Wert sei, sofern es außer ihr noch andere ethische Fragen gäbe. Welche sind also diese ethischen Fragen? Die zweite Frage, die nach der Grundlage der Moral, d. h. die Begriffsbestimmung dessen, was die Menschen moralische Gefühle und Urteile nennen, ist eine Frage, die in jeder Psychologie abgehandelt wird und abermals rein theoretischer Natur, deren Entscheidung einer Disziplin, die unsere Handlungen leiten soll, unentbehrlich sein mag, selbst aber keine ethische, sondern einfach eine psychologische ist. Was eigentlich ethischer Natur bei SCHOPENHAUER ist, das ist sein Prinzip, das er dem von ihm erfolgreich bekämpften KANTschen kategorischen Imperativ gegenüber aufstellt: Neminem laede; immo, omnes quantum potes iuva [Verletze niemanden, vielmehr hilf allen, soweit du kannst. - wp] Er hat selbst nicht großen Wert auf diese Norm gelegt, wenigstens hat er, was andere getan und z. B. die Utilitarier wieder tun, es unterlassen, aus diesem obersten Prinzip ein System für unser ganzes Handeln, unsere einzelnen Pflichten, die gegen uns selbst und gegen andere, ihre Klassifikation und die Lösung ihres Widerstreits, die Aufstellung von sekundären Normen usf. zu deduzieren. Damit würde aber erst die ethische Arbeit, wenn Ethik nicht bloß ein Teil der Psychologie, sondern eine praktische Disziplin sein will, anfangen. Denn daß der Satz: Du sollst niemanden schädigen, vielmehr jedem, soviel du kannst nützen, für das Leben ohne weiteres nicht nutzbar gemacht werden kann, ist für jeden Zweifelnden klar. Ich muß unter Umständen schädigen und wieviel ich nützen kann, wenn mein Können irgendeine Grenze in dem Schaden, den ich selbst erfahren muß, finden soll, ist eben die zu beantwortende Frage. Ich glaube, in diesem Beispiel auch die Beantwortung der Frage vorbereitet zu haben, was Ethik sei. Niemand berücksichtigt es, obwohl es jedermann weiß; denn im Punkt der Definition hat unter ihren Anhängern immer das beste Einvernehmen geherrscht. Man konnte immer hören, daß Ethik keine Wissenschaft sei, sondern eine praktische Disziplin, d. h. sie soll nicht durch Einheit des Gegenstandes, sondern durch Einheit ihres Zweckes gebildet werden. Welcher ist nun der Zweck? Die Handlungen der Menschen zu leiten, d. h. ihnen Mittel zur Erreichung von bestimmten Zwecken zu geben. Um aber Mittel zu geben, muß man zuerst die Zwecke kennen. Welche sind diese Zwecke? Es kann nicht Aufgabe der Ethik sein, dem Schuhmacher die Mittel zur Verfertigung der besten Schuhe an die Hand zu geben. Also nicht alle Zwecke: Die Ethik soll, und so faßt ARISTOTELES und das Altertum ihre Aufgabe, den höchsten Zweck, das summum bonum, und die Mittel zu seiner Erreichung geben. Welcher Art ist nun der höchste Zweck? Ist er für alle Menschen ein und derselbe? Gibt es überhaupt einen höchsten Zweck?

Andere, die modernen Moralphilosophen, faßten die Aufgabe der Ethik enger oder wenigstens legten sie das Hauptgewicht ihrer Forschungen auf das Handeln, das sich auf den Nächsten bezieht, auf unser sittliches Handeln und ihr Zweck ist, die Mittel zu finden, die Menschen im guten Handeln leiten. Die Pflichten gegen uns selbst wurden dabei einer ebenso mangelhaften Kontrolle unterworfen, wie früher die gegen andere und die Grenze für beide, wie weit für andere gehandelt werden soll, wie weit für uns gehandelt werden darf, blieb unerörtert.

Es ist nun meine Meinung, daß diese Fragen mit Rücksicht auf die großen Komplikationen, zu denen konkrete Entscheidungen immer führen und die Unmöglichkeit, bei der Verschiedenheit menschlicher Anlagen und Entwicklungen eine bis in's Einzelne gehende Objektivität zu erlangen, sämtlich außerhalb des Bereiches wissenschaftlicher Forschung liegen und ich werde mich bemühen, dies in dieser Schrift im einzelnen nachzuweisen.

Da ich aber diesen Nachweis nicht induktiv, anhand aller Systeme seit ARISTOTELES führen will, was eine ebenso unvollkommene wie unerquickliche Methode wäre, so befürchte ich, daß mich der allgemeinere Weg, den ich einzuschlagen gedenke, nicht zu ebenso allgemein überzeugenden Resultaten führen wird. Ich bin der Meinung, daß Beweise auf diesen Gebieten nicht mit derselben Stringenz, wie das in der Mathematik geschieht, geführt werden können; diese kann den Satz, daß Gleichungen von einem höheren als vom vierten Grad allgemein nicht mehr lösbar seien, zu absoluter Evidenz bringen. Das ist wenigstens im vorliegenden Fall nicht möglich und so muß ich mich mit dem Gedanken vertraut machen, daß ich jedenfalls alle jene Gegner werde unüberzeugt lassen müssen, die von einem solchen Beweis mehr erwarten, als er überhaupt leisten kann. Es werden dies insbesondere, fürchte ich, die Moralphilosophen sein, deren Langmut sie ja immer noch von der Ethik, vom menschlichen Erkenntnisvermögen überhaupt Offenbarungen erhoffen läßt, zu denen beide ihrer natur nach uns bisher nicht das geringste Anrecht gegeben haben. Unserem Erkenntnisvermögen sind innerhalb der Sinnenwelt ebenso unüberschreitbare Grenzen gesetzt, wie außer ihr, und wer, wie unsere ganze Zeit, alle Befriedigung in den höchsten Dingen von der Wissenschaft erwartet, scheint mir in ihr ein Gebiet für Subjektivität und Glauben offen lassen zu müssen. Es ist möglich, an Gott zu glauben, ohne daß es möglich ist, über ihn methodisch zu reden. sein Dasein oder Nichtsein zu erweisen. Ich räume also auch gerne das Recht eines vernünftigen Glaubens ein und glaube, niemanden mit meinen Beweisen überzeugen zu müssen. Alles, was ich tun kann, ist zu zeign, wie hochgradig die Komplikationen in jeder ethischen Entscheidung sind, wenn sie nicht so allgemein sein will, wie das Gebot "Handle der Natur gemäß". Dem Unbefangenen, den das Leben und nicht die Lehrkanzel zu moralischen Betrachtungen drängte, kann damit genützt werden. Wenn aber die Philosophen an die Möglichkeit allgemeiner und wissenschaftlicher Entscheidungen der Ethik, wie dies viele betreffs der Unsterblichkeitsfrage noch tun, zu glauben und weiter ethische Systeme zu begründen fortfahren wollen, so wird diese Schrift das gewiß nicht verhindern können; sie wird dann der ethischen Kontroverse nur neue Nahrung zur Frischung ihres Daseins gegeben haben.

Der zweite Punkt meiner Befürchtung betrifft den Vorwurf, gegen den ich mich verwahren möchte, als sei ich ein Skeptiker, der an ethischen Gefühlen und ethischen Entscheidungen zweifelt: Ich glaube an beides, nur an Ethik und ethische Systeme glaube ich nicht. Ich glaube an die Gewalt ethischer Gefühle und an das Glück, dessen die Menschen dadurch teilhaftig sind; glaube an die Übereinstimmung, mit der sie im Herzen der Menschen begründet liegen und an den Wert ethischer Urteile im Leben: und wenn ich dennoch dem Egoismus oft zum Wort zu verhelfen trachten werde, so geschieht dies nur für jene Gegner, die, um ihre Gründe wahr zu machen, die Menschen unwahr und beständig besser machen, als sie sind. Ich kämpfe nicht gegen das sittliche Urteil, gegen Gefühle und Glauben, ich kämpfe nur gegen eine Wissenschaft, die die Triebfedern menschlicher Handlungen in Systemen abhandeln und nachschlagegerecht kodifizieren will.
LITERATUR - Anton Ölzelt-Newin, Die Unlösbarkeit der ethischen Probleme, Wien 1883