cr-4BaudlerWindelbandBaumannWillmannFischerSchwegler    
 
JULIUS GUTTMANN
Über den wissenschaftlichen
Standpunkt des Sokrates


"In der Philosophie schlugen die Sophisten eine besondere Richtung ein, die wir Skepsis nennen, und führen zu Sokrates hinüber. Sie zerstörten jene Unbefangenheit, mit welcher die Physiker in das Innerste der Natur eindringen zu können meinten, und wiesen auf die Schranken der menschlichen Erkenntnis hin, wandten also die Untersuchung von den uns umgebenden Objekten auf das dieselben betrachtende Subjekt."

"Das Empfinden und Denken der Dinge ist ebensowenig beharrlich wie diese selbst und einem fortwährenden Fluß und Wechsel unterworfen. Nur wie mir etwas im Moment erscheint, so ist es für mich; wie es aber und ob es überhaupt in Wirklichkeit ist, das kann ich nicht wissen; ich nehme ja niemals die Objekte selbst wahr, sondern nur gewisse auf mich hervorgebrachte Wirkungen, die aber sehr verschieden ausfallen können. Der Mensch ist also das Maß aller Dinge."

"Anaxagoras zog gleich den früheren Physikern alles andere z. B. Luft und Wasser usw. als Grund der Dinge heran, nur nicht den Geist. Es wäre gerade so, wie wenn jemand auf die Fragen: warum sitzt Sokrates hier mit gebogenen Beinen? warum unterhält er sich über solche Dinge? antworten wollte: weil er Knochen und Sehnen und eine Stimme und Gehör hat; den wahren Grund aber unbeachtet läßt, daß er nämlich immer, auch nachdem ihn die Athener zum Tod verurteilt haben, für rechtmäßig hält, sich dem Beschluß des Staates zu fügen. Denn es wären diese Knochen und Sehnen längst in Megara oder in Boötien, wenn er es nicht für gerechter und sittlicher gehalten hätte nicht zu entfliehen. Der Zweck, welcher notwendig den Geist als Urwesen voraussetzt, ist ihm das Uranfängliche und der Grund der Dinge; und irrtümlich geben die Physiker statt dessen die Mittel an, deren sich der Geist zur Erreichung dieses Zwecks bedient."

"Und wie die Kocherei, welche Angenehmes bereitet, das vom Unverstand der bitteren Arznei vorgezogen wird, sich zur Heilkunde verhält, so verhält sich die nur auf den Schein des Rechten ausgehende Rhetorik zur Rechtspflege. Macht übt die Redefertigkeit allerdings aus, aber nur über die Unwissenden und Unverständigen, die wirkliche Kraft aber und Herrschaft nämlich über sich selbst, verleiht sie ebensowenig, wie die Schminke und die durch sie erkünstelte Röte und Glätte der Haut Gesundheit verleiht."

Nicht des SOKRATES Persönlichkeit und Leben, viel besprochene und bekannte Dinge, will ich schildern, sondern die Entwicklung seiner Lehren und den Zusammenhang derselben mit denen seiner Vorgänger angeben, welchen er teils sich anschloß teils entgegen trat.

Die Philosophen vor SOKRATES waren Physiker und Sophisten.

Zuerst wandte sich der WIssenstrieb der Griechen auf die Natur hin. Mit hellen Augen betrachteten sie die Gegenstände und Erscheinungen, stellten ihre Untersuchungen an und machten manche sinnige und wertvolle Beobachtung, trieben auch Mathematik, Erd- und Himmelskunde ebenso erfolgreich wie eifrig. Vieles hiervon, vielleist das meiste, verdankten sie freilich den älteren Kulturvölkern; was sie aber von anderen mochten gelernt haben, das philosophische Denken brachten erst die Griechen hinzu. Sie suchten von allem, was da ist und geschieht, den Grund auf, und begnügten sich nicht mit einer äußerlichen, vielleicht zufälligen Veranlassung, sondern forschten nach dem notwendigen, in der Sache selbst liegenden und sie vollständig erklärenden Grund; und sie begnügten sich nicht mit einzelnen durch die Erfahrung gewonnenen Kenntnissen, sondern forschten nach dem Allgemeinen, unter dem sie die Einzelheiten zusammenfassen konnten. Die ganze Physis, Erzeugung, wollten sie ergründen und erklären. Das war kein kleines Unternehmen, aber mit unbefangener Kühnheit, ohne Mißtrauen in die Befähigung des Menschen zu solcher Erkenntnis traten sie an die Lösung der schwersten Rätsel des Daseins und fragten nach dem Urwesen, aus welchem, und nach der Art, wie aus demselben alles entstanden ist und entsteht.

Die Antworten lauteten sehr verschieden, und ich muß mich darauf beschränken, die drei Hauptrichtungen, in denen sie auseinandergingen, und ihre Hauptvertreter anzuführen.

Einige der alten Physiker, und besonders die ältesten, nahmen einen Stoff als das Urwesen an. THALES, welcher nach ARISTOTELES Angabe die Reihe der Philosophen eröffnet, sagte: "das Wasser ist der Anfang;" aber es ist nicht zu entscheiden, ob er meinte das Wasser (das Feuchte) sei das erste der gewordenen Dinge oder der Urgrund des Werdens selbst. Als solchen sahen dagegen unstreitig ANAXIMENES die Luft und HERAKLIT das Feuer (die Wärme) an, indem beide damit den Stoff bezeichneten, der ihnen als der dünnste und feinste, alles durchdringende, erschien, während ANAXIMANDROS, der früher lebte (er soll der Lehrer des ANAXIMENES gewesen sein) ihn unbestimmter das Unbegrenzte, Unendliche genannt hatte, das von Ewigkeit her und unvergänglich in allen Dingen wirkt und schafft.

Dem entsprechend erklärten sie auch, wie aus dem Stoff die Mannigfaltigkeit der Dinge hervorgeht, ANAXIMENES durch Verdichtung und Verdünnung, HERAKLIT durch uranfängliche und unablässige Bewegung, denn eine Ruhe, ein Sein, gibt es gar nicht. Bekannt sind seine Aussprüche: "Alles fließt" und: "Kein Fuß ist zum zweitenmal in dieselbe Welle gestiegen", so daß man zweifeln kann, ob er aus der Bewegung das Feuer oder aus dem Feuer die Bewegung herleitete; zumindest konnte er für beides den Beweis der Erfahrung liefern. Nach ANAXIMANDROS aber erzeugte der Urstoff aus eigener Kraft die Mannigfaltigkeit der veränderlichen und vergänglichen Dinge durch Sonderung der in ihm liegenden Gegensätze und zwar zu immer vollkommenerer Entwicklung, (wobei das unvollkommenere oft ganz unterging), zuletzt den Menschen aus anderen Tieren, von denen die im Wasser lebenden die ersten waren.

Diese Männer nennt man nicht Materialisten, sondern Hylozoisten, weil sie zwischen Hyle und Zoe, Stoff und Leben, gar nicht unterschieden; ihnen war vielmehr beides dasselbe, alles und jedes in der Natur durch den Urstoff belebt und beseelt, worin sie mit der religiösen Anschauung ihres Volkes übereinstimmten, während dem Materialisten Leben, Seele gar nichts Ursprüngliches sind, sondern aus dem toten Stoff hervorgehen.

Aber auch die eigentlichen Materialisten fehlten den Griechen nicht; nur kamen sie viel später, fast 200 Jahre nach THALES, als das Zeitalter der Sophisten schon begonnen hatte. es waren dies die Abderiten LEUKIPP und DEMOKRIT, welche aus unendlich kleinen und unzerlegbaren, daher auch nicht sinnlich wahrzunehmenden, Urwesen, Atomen, die Mannigfaltigkeit der Dinge auf ganz mechanische Weise bloßt durch die Menge, Gestalt, Folge und Lage der Atome entstehen ließen, etwa wie aus 2, 3, 4 Strichelchen die Buchstaben Θ A, Δ T usw. entstehen. Die Ursache der Veränderungen aber setzten sie in den Unterschied des Vollen und des Leeren, des Sein und des Nichts (denn auch das Nichts existiert) und in den Übergang des einen in das andere, so daß also nur eine Raumverschiebung stattfindet.

Diese Philosophen richteten ihre Lehre gegen die Idealisten, welche nach den ersten der oben genannten Physiker aufgetreten waren, namentlich gegen den Eleaten PARMENIDES und gegen ANAXAGORAS. Ein Idealist kann zwar in vollem Sinn des Wortes erst PLATON heißen; ich nenne aber jene und, abgesehen von seinen sonst sehr praktischen Unternehmungen und seiner Sittenlehre, auch PYTHAGORAS, der älter ist (wahrscheinlich gleichzeitig mit ANAXIMENES), mit diesem Namen, weil sie einen Übergang zum Idealismus bilden und im Gegensatz zu denjenigen Physikern, denen ein Stoff der Urgrund der Dinge war, ihn in einem abstrakten Begriff oder im geraden Gegenteil des Stoffes erblickten. So PYTHAGORAS in der Zahl, dem Prinzip der Verhältnisse und der Harmonie, als welche ihm die Welt erschien, die er zuerst auch Kosmos, Ordnung, genannt haben soll. So PARMENIDES im Sein (dem Absoluten würde ein Neuer sagen), dem All-Einigen, Ewigen, Unveränderlichen, in dem allein die Wahrheit ist; denn ein Werden und ein Nichtsein gibt es nicht, und die vielen Erscheinungen und Sinneswahrnehmungen sind Schein und Täuschung. Gegen einen solchen Pantheismus also, der die Natur eigentlich ganz aufhebt und nicht mehr Physik, sondern Metaphysik zu nennen ist, traten die Atomisten auf.

Sie bekämpften aber auch die Lehre des Anaxagoras, der zuerst den Geist, die Vernunft, streng vom Stoff unterschied und den früheren monistischen Systemen ein dualistisches hinzufügte. Denn er sagte zwar: "Der Geist erzeugt die Welt", aber dieser Geist ist doch nicht Schöpfer aus sich allein durch seinen Willen und sein Wort: es werde! (wie die Bibel den Schöpfungsakt beschreibt) sondern neben ihm ist ebenso ursprünglich auch die Materie; nur war zuerst alles in ihr zusammen (mit welchen Worten das Werk des ANAXAGORAS anfing) und der Geist sonderte die unzähligen in diesem Chaos liegenden Urstoffe, ordnete sie und bildete auf diese Weise das Wunderwerk der Welt. Mithin ist er nur Werkmeister, Künstler. Wozu also mochte DEMOKRIT meinen, den Geist bemühen, da man mit einer Vermeidung des Dualismus die zureichenden Ursachen in den Urstoffen selbst finden kann? verwarf also den Geist und behielt nur die Atome bei.

Hoffentlich zeigt schon diese gedrängte Zusammenstellung der hauptsächlichsten Sätze der wichtigsten Philosophen aus der ersten Periode der Wissenschaft, daß wir hier bedeutende Männer vor uns haben. Die Behauptung wird kaum widerlegt werden können, daß jede selbst in neuer Zeit zur Beantwortung der Frage nach dem Ursprung und der ersten Entwicklung der Dinge aufgestellte Theorie (auch die DARWINs) schon bei einem jener Alten sich vorfindet. Daraus ist aber keineswegs der Schluß zu ziehen, daß die Wissenschaft in den fast dreieinhalbtausend Jahren nicht weiter gekommen ist. Das zu behaupten wäre ja die größte Torheit. Denn Physik und Chemie haben vielmehr einen ganz ungemeinen Aufschwung genommen, - aber nicht durch die Naturphilosophen, sondern durch anhaltende besonnene Arbeit der Forscher im Einzelnen, welche vom nächsten Grund zum folgenden schrittweise vorgehend und durch verständige Versuche zur Bestätigung oder Widerlegung ihrer Vermutungen immer mehr Eigenschaften und Kräfte entdeckten, die Dinge in ihre Bestandteile zerlegen und neue zusammensetzen lernten. So drangen sie allerdings ins Innere der Natur. Je tiefer sie aber dringen, eine desto größere Tiefe tut sich vor ihnen auf, und der letzte Grund (causa sui), ist noch nicht gefunden. Die alten Griechen aber gingen in ihrer Philosophie vornehmlich darauf aus; und, nachdem die geistreichsten Männer so verschiedene und einander widersprechende Lehren vorgetragen hatten, und man zu keiner Einigung gelangte, mußte der Rückschlag eintreten, die Ansicht, die wir bei den Sophisten finden, bis auf Weiteres durchdringen, daß man mit dem Streben nach dem Urgrund der Dinge ein unerreichbares Ziel verfolgt und die Philosophie mußte eine andere Bahn einschlagen.

Die Sophisten stehen, abgesehen von der Lehre, noch in mehrfacher Hinsicht, nämlich in der Zeit, der Beschäftigung und im Wirkungskreis, in einem merkwürdigen Gegensatz zu den Physikern. Die Physiker füllen die Glanzepoche des zur höchsten Kraft emporstrebenden Griechentums aus; die Sophisten treffen in die Periode des gerade durch die gewonnene Macht herbeigeführten Verfalls der Sitten und infolge dessen auch des Staatswesens. Die Physiker waren hochangesehene Männer, von denen die meisten in die Verwaltung und Gesetzgebung ihrer Staaten, welchen sie sich ganz widmeten, tätig eingriffen, dabei aber für ihre wissenschaftlichen, und nur im Interesse für die Wissenschaft unternommenen, Arbeiten noch Muße genug übrig behielten; den Sophisten diente die Wissenschaft zum einträglichen Gewerbe, indem sie herumwandernd in ganz Hellas für Geld lehrten, und ihr Einfluß bestand darin, daß sie reiche und vornehme Jünglinge zur staatsmännischen Laufbahn auszubilden suchten, welche aber nimmermehr selbst hätten Sophisten werden oder auch nur heißen wollen. Denn ihr Ehrgeiz steckte sich ein höheres Ziel als das, Lehrer der Weisheit zu werden. Dies nämlich bezeichnete der Name Sophist, der erst durch PLATONs Einfluß und nach des ARISTOTELES Definition die üble Bedeutung eines Mannes erhielt, welcher mit einer scheinbaren, nicht wirklichen und auch nicht als wirklich angesehenen, Weisheit ein, mithin unredliches, Geldgeschäft treibt. Welche Bewandtnis es nun mit der Weisheit derjenigen Sophisten gehabt hat, von denen hier die Rede ist, so bald untersucht werden; daraus aber wollen wir ihnen keine Vorwurf machen, daß sie sich ihren Unterricht bezahlen ließen, wenngleich dies dem SOKRATES widerstrebte, der einerseits bei seiner Bedürfnislosigkeit nicht auf Gelderwerb ausging und andererseits gegen niemand eine bindende Verpflichtung eingehen, sondern diejenigen allein belehren wollte, welche sich zu ihm hingezogen fühlten und als Freunde ausschlossen. Großes Unrecht wäre es ferner, den Sophisten die Schuld der einreißenden Sittenverderbnis anzulasten, während sie vielleicht das schon vorhandene Übel weniger als solches erkannten oder dagegen einzuschreiten sich nicht für stark genug oder nicht für berufen erachteten. Ihren Beruf fanden sie vielmehr darin, jungen Männern, die es wünschten, die Kunst der Rede beizubringen. Alles Übrige, was der Staatsmann bedurfte, Kenntnis der Verfassung, der Gesetze, des Rechtsverfahrens usw. konnte jeder, da alles öffentlich betrieben wurde, und keines freien Bürgers Sohn durch anderweitige Geschäfte behindert war, sich leicht aneignen; wohl aber hing sein Einfluß vom Grad der Fähigkeit ab, vor Gericht als Ankläger oder zu seiner Verteidigung, so wie in der Volksversammlung oder im Senat zu sprechen und andere für seine Meinung zu gewinnen, ihr zum Sieg zu verhelfen oder, wie man sich ausdrückte: die schwächere Sache zur stärkeren zu machen. Jene war allerdings nicht notwendig die ungerechte Sache, aber es kam ja schließlich überhaupt nicht darauf an, das Recht zu ermitteln, sondern nur den Schein desselben zu erzeugen. In dieser Kunst also, welche sie sowohl theoretisch ausbildeten als auch selbst in besonderen Vorträgen ausübten, unterwiesen die Sophisten. Sie waren wesentlich Rhetoren. So GORGIAS, der die Redekunst aus Sizilien, woselbst sie sich schon lange großer Pflege erfreut hatte, nach Athen brachte und als Gesandter und dann bei den hohen Festen durch seine Staatsreden die Zuhörer entzückte. Rhetorik ist aber undenkbar ohne sprachliche und logische Studien; und auch diese ließen sich die Sophisten sehr und mit Erfolg angelegen sein, wie dies außer von vielen anderen bei PLATON usw. besonders von PROTAGORAS und PRODIKOS bezeugt ist. Sie bewegten sich also in nützlicher Tätigkeit und verbreiteten Wissenswürdiges unter das Volk. In der Philosophie aber schlugen sie eine besondere Richtung ein, die wir Skepsis nennen, und führen zu SOKRATES hinüber. Sie zerstörten jene Unbefangenheit, mit welcher die Physiker in das Innerste der Natur eindringen zu können meinten, und wiesen auf die Schranken der menschlichen Erkenntnis hin, wandten also die Untersuchung von den uns umgebenden Objekten auf das dieselben betrachtende Subjekt. Sie gehen zur Anthropologie, zu einer Philosophie des Geistes über. Vom Geist hatte zwar auch ANAXAGORAS gesprochen, aber vom außer- und überweltlichen Geist, der die Welt geformt, PROTAGORAS dagegen und GORGIAS, - denn diese allein kommen hier von den Sophisten in Betracht - kennen nur den Menschengeist. Nach dessen Erkenntnisvermögen fragen sie und bezweifeln oder vielmehr bestreiten es. Auf entgegengesetzten Wegen gelangten sie zu demselben Ergebnis, der eine von den Physikern, der andere von den Metaphysikern aus.

Nach HERAKLIT ist nichts in der Natur auch nur einen Augenblick von Dauer; alles wird nur, nichts ist, läßt sich also auch nicht als Seiendes erfassen; und die Weisheit des Menschen besteht darin, im ewigen Fluß das bleibende Gesetz, die innewohnende Vernunft durch seine Vernunft, sein Denken, zu finden. PROTAGORAS kann sich dabei nicht beruhigen. Wer sagt mir, daß das Denken verschieden ist von der sinnlichen Empfindung? ist es nicht jedenfalls von dieser, so wie diese hinwiederum vom empfangenen äußeren Eindruck abhängig? Das Empfinden und Denken der Dinge ist daher ebensowenig beharrlich wie diese selbst und einem fortwährenden Fluß und Wechsel unterworfen. Nur wie mir etwas im Moment erscheint, so ist es für mich; wie es aber und ob es überhaupt in Wirklichkeit ist, das kann ich nicht wissen; ich nehme ja niemals die Objekte selbst wahr, sondern nur gewisse auf mich hervorgebrachte Wirkungen, die aber sehr verschieden ausfallen können. Der Mensch ist also das Maß aller Dinge, und natürlich ebenfalls ein wechselndes, das sie bald so bald anders bemißt; eine objektive Wahrheit ist nicht vorhanden, und man sagt immer nur seine momentane Meinung und Stimmung aus.

An eben dasselbe Ziel und noch darüber hinaus gelangte GORGIAS von einem ganz anderen Ausgangspunkt her. PARMENIDES, der Gegner des HERAKLIT, hatte das Werden und die Menge der Dinge in Abrede gestellt und die Welt für ein Trugbild erklärt, und sein Nachfolger ZENON die Nichtigkeit der Bewegung und der Vielheit durch sogenannte Dilemmata, d. h. durch einander widersprechende disjunktive [unterschiedliche - wp] Annahmen, die sich aber beide als unmöglich herausstellen, zu beweisen gesucht. Diese Beweisart wendet auch GORGIAS an, - wie sie überhaupt bei den Sophisten sehr beliebt ist - kehrt aber den Beweis gegen das Sein selbst. Es ist nichts. Denn wenn etwas wäre, müßte es entweder 1. entstanden oder 2. nicht entstanden sein. Wäre es (2.) nicht entstanden, so hätte es keinen Anfange und wäre unendlich. Das Unendliche ist aber nirgends. Denn es müßte entweder a) in einem andern oder b) in sich selbst sein. In jenem Fall (a) wäre es endlich, und in sich selbst (b) kann es auch auch nicht sein, da das Umfassende etwas anderes ist als das Umfaßte. Also nicht entstanden kann das Sein nicht sein. Ebensowenig aber (1.) entstanden. Denn es müßte ja entweder α aus dem Seienden oder β aus dem Nichtseienden entstanden sein. Das letztere (β) ist unmöglich, denn das Nichtseiende ist nichts, und aus nichts wird nichts; und aus dem Seienden (α) kann es auch nicht geworden sein, da es dann schon vorher dagewesen wäre. GORGIAS geht also weiter als PROTAGORAS. Denn während dieser behauptet, das Sein außerhalb von uns selbst lasse sich nicht beweisen, und sei daher für uns nicht vorhanden, beweist jener sein Nichtsein. Er fügt aber noch zwei andere Sätze hinzu, nämlich 1. daß, wenn dennoch etwas wäre, man es nicht erkennen könnte, und 2. daß, wenn man auch dies als unmöglich annimmt, man nicht imstande wäre, es durch die Sprache mitzuteilen. Und die Beweise führt er in ähnlicher Art.

Wie steht es nun mit der Wissenschaft der Sophisten? Wer dem Menschen die Möglichkeit der Erkenntnis abspricht, für wen keine Wahrheit und Wirklichkeit existiert, der kann auch keine bestimmte, auf festem Grund auferbaute Wissenschaft lehren. Streng genommen wollten dies die Sophisten auch gar nicht. Sie machten sich nur daran, die Geschicklichkeit oder sagen wir Kunstfertigkeit des Überredens zu zeigen und mitzuteilen. So tratt HIPPIAS an verschiedenen Orten, auch auf den großen Festversammlungen der hellenischen Stämme, mit der Forderung auf, ihm ein beliebiges Thema zu stellen, über das er sofort aus dem Stegreif seine Prunkrede hielt; und er hatte sich großen Beifalls zu erfreuen und war stolz auf seine Vielwisserei. Der Vortrag konnte natürlich auch ein moralischer sein; und so ehrenwerte und sittenreine Männer, wie PROTAGORAS und GORGIAS nach PLATONs, in diesem Fall gewiß zuverlässigen, Zeugnis waren, mögen auch manchen schönen Grundsatz ausgesprochen haben, wie öfter auch die früheren Philosophen; jedoch zu einer wissenschaftlichen Ethik oder Politik konnten sie es aus den angeführten Gründen nicht bringen. GORGIAS meint in dem nach ihm genannten Gespräch des PLATON, daß seine Schüler auch das von ihm lernen können, was gerecht und sittlich ist, jedoch kann seine Kunst auch ungerecht gebraucht werden, und das ist eben das Bedeutende an ihr, daß sie alles vermag.

Noch bleibt, ein Wort über die religiösen Ansichten der Sophisten zu sagen. Sie harmonierten nicht mit der Volksreligion. Es muß jedoch bemerkt werden, daß dies auch bei keiner vorherigen Philosophie der Fall war. Zwar sagte ich, daß die Hylozoisten sich den religiösen Anschauungen des griechischen Volkes anschlossen, indem auch ihnen alles in der Natur beseelt war; allein es fand der Unterschied statt, daß sie in einem Grundstoff allein die eine beseelende Kraft erblickten, das Volk aber sie in eine unendliche Menge von Kräften zersplitterte, diese personifizierte und vergötterte. Noch weniger ist der Pantheismus der Eleaten mit einem Polytheismus zu verwechseln, da jener eine Vielheit überhaupt nicht anerkannte. Die antiken Materialisten endlich waren aufrichtiger als manche modernen und schrieben sich keine Religiösität zu, sondern Gott war ihnen nur eine Naturnotwendigkeit. Ebensowenig machten die Sophisten ein Hehl aus ihrem Unglauben. Nur drückte sich PROTAGORAS vorsichtig dahin aus "er wisse nicht, ob es Götter gibt oder nicht, die Sache sei zu schwierig, und das Menschenleben zu kurz", was die keineswegs toleranten Athener nicht hinderte, ihn als Atheisten zu verbannen. PRODIKOS aber scheute sich nicht auszusprechen, daß die Götter eine Erfindung der Menschen sind, indem diese das, was ihnen nützlich ist, vergöttern; daher DEMETER, die Göttin des Getreides, DIONYSOS, der Gott des Weines usw. Der Satz klingt auch lästerlicher als er ist. Denn in der Tat kamen die Menschen zur natürlichen Religion dadurch, daß sie im Gefühl ihrer Abhängigkeit nach den Mächten suchten, von denen sie abhängig sind, und diese als ihre Götter um all das anflehten, worin sie ihr Glück setzten, oder es ihnen auch abzuschmeicheln oder abzuzwingen suchten.

Wie verhielt sich nun SOKRATES zu den Physikern? Und wie zu den Sophisten und Rhetoren? denn dadurch wird meines Erachtens sein wissenschaftlicher Standpunkt bestimmt. Daß er seine Vorgänger alle studiert hat, läßt sich voraussetzen, wird aber auch von XENOPHON in seinen Denkwürdigkeiten und von PLATON im Phädon ausdrücklich bestätigt. Bei jenem erzählt SOKRATES dem ANTIPHON:
    "Die Schätze, welche die weisen Männer der Vorzeit in Büchern geschrieben hinterlassen haben, aufrollend gehe ich gemeinsam mit den Freunden durch; und wenn wir etwas Gutes sehen, wählen wir es aus und halten es für einen großen Gewinn, einander nützlich zu werden."
Nur ihren Untersuchungen über den Ursprung aller Dinge legt er keinen Wert bei.
    "Manche von ihnen halten alles, was da ist, für ein einziges Wesen, andere für unendlich an Menge; die einen meinen, daß sich alles immerfort bewegt, die andern, daß niemals etwas bewegt worden ist; die einen, daß alles wird und vergeht, die andern, daß niemals etwas geworden noch untergegangen ist."
Wer sie zusammen hört, sagt er, muß glauben, in eine Gesellschaft wahnsinniger Leute geraten zu sein. Auch wundert er sich, daß sie nicht einsehen, wie sie Dinge suchen, welche dem Menschen zu finden unmöglich ist; er erblick also hier eine für unser Erkenntnisvermögen unüberwindbare Schranke. Und dann tadelte er solche Grübeleien als vorzeitig, solange der Mensch noch nicht sich selbst und sein eigenes Wesen erkannt hat, wollte also an die Stelle der Physik eine Anthropologie setzen. So weit steht er demnach ganz auf dem Standpunkt der Sophisten. Einen Verächter der Mathematik und Naturwissenschaft dürfen wir ihn übrigens schon darum nicht nennen, weil er nach XENOPHONs Versicherung im Lösen auch schwerer geometrischer Aufgaben nicht unbewandert war und von dem, was über die Entfernung der Planeten von der Erde, ihre Umläufe und deren Ursachen geredet wurde, sich hatte unterrichten lassen. Aber seinen Schülern riet er doch dringend ab, sich in solcherlei Wissen so weit zu vertiefen und damit ihre Kräfte zu vergeuden; vielmehr sollten sie sich, was weit wichtiger wäre, über das aufklären, was sittlich gut ist, zu ihrer eigenen Vervollkommnung führt und zu einem rechten und ersprießlichen Wandel tüchtig macht. Die Anthropologie wird zur Ethik: aus dem Wissen vom Wesen und von der Bestimmung des Menschen muß sich ergeben, was er zu tun hat, um diese zu erreichen. Woher kommt aber SOKRATES zu jenem Wissen? Darüber belehrt er uns im Phädon des PLATON, wo er den Freunden, die in seinen letzten Stunden um ihn versammelt sind, ausführlicher und gründlicher als dem ANTIPHON Auskunft über den Gang seiner Bildung gibt.
    "Als Jüngling", sagt er, "war ich von ungemeiner Begierde nach jener Weisheit ergriffen, welche man Naturkunde nennt; denn gar herrlich schien es mir, zu wissen, wodurch Jegliches entsteht und wodurch es vergeht und wodurch es ist",
und nun führt er verschiedene Theorien an; aber weit gefehlt, daß ihn eine befriedigt hätte, zeigte sich vielmehr, daß er zu solchen Betrachtungen gar keine Anlage besitzt, und es wurde ihm zuletzt so wirr im Kopf, daß er den ihm und aller Welt vorher ganz unzweifelhaft erschienenen und alltäglichen Wahrheiten z. B. betreffend das natürliche Wachstum des Menschen durch Speis und Trank nicht mehr traute. Da hörte er vom Werk des ANAXAGORAS und seiner Lehre, daß der Geist der Urheber und Ordner des Alls ist. Und über diesen Urgrund der Dinge war er hocherfreut. Denn der Geist, die Vernunft, muß doch Alles so einrichten, wie es am Besten ist; also obliegt der Wissenschaft nichts anderes, als von allem nachzuweisen, wie sein Dasein, Tun, Befinden das zweckmäßige sein soll. Dies nun, hoffte er, werde ihm ANAXAGORAS Buch leisten und z. B. von der Gestalt der Erde zeigen, daß sie also, wie er behauptet, daß sie ist, - ob rund oder platt - auch wirklich sein muß, um ihrer Bestimmung zu entsprechen; und so von allen Dingen. In dieser Hoffnung fand er sich aber arg getäuscht; denn ANAXAGORAS zog gleich den früheren Physikern alles andere z. B. Luft und Wasser usw. als Grund der Dinge heran, nur nicht den Geist.
    "Es wäre gerade so, wie wenn jemand auf die Fragen: warum sitzt Sokrates hier mit gebogenen Beinen? warum unterhält er sich über solche Dinge? antworten wollte: weil er Knochen und Sehnen hat; und: weil er Stimme und Gehör hat, und wer weiß wie viele andere Dinge noch, den wahren Grund aber unbeachtet läßt, daß ich nämlich immer, auch nachdem mich die Athener zum Tod verurteilt haben, für rechtmäßig halte, mich dem Beschluß des Staates zu fügen. Denn es wären diese Knochen und Sehnen längst in Megara oder in Boötien, wenn ich es nicht für gerechter und sittlicher gehalten hätte nicht zu entfliehen und zu entlaufen, sondern mich der Strafe zu unterwerfen, welche das Gericht mir auferlegt hat." (Wofür er die Gründe in einer prächtigen Unterhaltung mit Kriton angibt).
Der Zweck, welcher notwendig den Geist als Urwesen voraussetzt, ist ihm das Uranfängliche und der Grund der Dinge; und irrtümlich geben die Physiker statt dessen die Mittel an, deren sich der Geist zur Erreichung dieses Zwecks bedient. Also erkennt SOKRATES wohl eine Physik als berechtigte Wissenschaft an, aber eine teleologische, und keineswegs in der Beschränkung, wie man nach XENOPHONs Darstellung im Gespräch mit ARISTODEMOS geneigt sein könnte anzunehmen, als wäre bei allen Werken Gottes nur des Menschen Wohlsein beabsichtigt, sondern, wie das obige von ihm gewählte Beispiel bei PLATON zeigt, so daß jedes Ding den Zweck seines Wesens und Daseins auch in sich selbst haben muß. Diesen zu suchen ist die Aufgabe der Wissenschaft; und versteht man unter Philosophie überhaupt die Erforschung des letzten Grundes der Dinge, so ist der Philosophie des SOKRATES eigentümlich, daß sie als diesen den Zweck erkennt, aber von der übrigen Natur absieht und die Physik also aufgebend nur nach dem Zweck des menschlichen Daseins frägt und denselben in der Erkenntnis Gottes und in der Erkenntnis des Menschengeistes und seiner Bestimmung findet.

So war SOKRATES durch die Naturphilosophie hindurch und indem er in der Lehre des ANAXAGORAS, dessen Schüler ARCHELAOS sein Lehrer gewesen sein soll, den tiefen Gehalt entdeckte, zu seiner erhabenen Vorstellung von Gott gekommen. Daß der Geist die Welt geschaffen hat, stand ihm unerschütterlich fest, und er spricht bei XENOPHON zu EUTHYDEMOS von demjenigen Gott, welcher die ganze Welt, den Inbegriff alles Schönen und Guten, ordnet und zusammenhält und immer unversehrt, in ewiger Jugendfrische zur Benutzung darreicht und welcher darin, daß er das Allergrößte bewirkt, gesehen wird, in seinem Walten aber selbst, wie der Menschengeist, unsichtbar bleibt. Daß SOKRATES Monotheist gewesen ist, können wir freilich nicht behaupten. Denn er sprach auch von den anderen Göttern und entzog sich auch nicht ihrer Verehrung, sondern hielt sich, nach XENOPHON, ohne Vorwitz und Grübelei an den Ausspruch der PYTHIA, welche den Fragenden, wie sie beim Opfern und dergleichen zu handeln hätten, antwortete: Der handle fromm, welcher dem Gesetz des Staates folgt. Er steht eben mit seiner Theologie unter den Zeitgenossen einzig da, einerseits dem allgemeinen Glauben sich anschließend, andererseits im entschiedenen Gegensatz wie zu den früheren Philosophen wie auch zum Aberglauben des Volkes. Er rügte, daß es meint, die Götter wissen manches, anderes aber nicht, da sie doch zugleich alles sehen, alles hören, alles wissen, was man redet und tut und im Stillen denkt, und überall gegenwärtig sind und den Menschen über alle menschlichen Dinge Auskunft erteilen. Er rügte ferner die reichen Opfer, mit denen es sich den Göttern angenehm zu machen wähnt, und die Gebete, in denen die Götter um vermeintliche Güter angegangen werden, von welchen niemand weiß, ob sie ihm wirklich gut sind; daher er sie einfach anfleht, ihm das Gute zu geben und überzeugt war, daß ihnen sein geringes Opfer wohl gefällt, da sie sich sicherlich an den Ehrenbezeugungen der Frömmsten am meisten erfreuen. Diese Religiösität bildet den Grundzug seines Charakters. Sie bestimmt die Art seiner Wirksamkeit. Denn seine Überzeugung sich und anderen klar zu machen, zur Auffindung der Wahrheit und dadurch zur Tugend zu leiten, dazu hält er sich unmittelbar von Gott berufen, was man Schwärmerei genannt hat, und dies nennt er seinen Gottesdienst, den er niemals aufgeben darf, und der ihn also, und kostet es ihm auch das Leben, zum unablässigen Kampf zwingt.
    "Wenn ihr mich", sagt er seinen Richtern in der Verteidigungsrede, "nur unter der Bedingung freisprechen wollt, daß ich niemals mehr mit dieser Untersuchung mich beschäftige und philosophiere, sobald ich aber dabei ertappt werden, sterben muß, so würde ich sprechen: ich ehre und liebe euch, ihr Athener, gehorchen aber werde ich dem Gott mehr mehr als euch, und, solange ich atme und imstande bin, nicht aufhören die Weisheit zu lieben und wen ich von euch treffe zu ermahnen und ihm vorzuhalten, ob er sich nicht schämt, nach möglichst viel Geld und Ehre und Ansehn zu trachten, um Erkenntnis aber der Wahrheit und um die Seele, daß sie möglichst gut werde, nicht zu sorgen und sich nicht zu kümmern?" usw.
Die Richtigkeit seiner Gottesidee ist ihm durch den Menschengeist erwiesen, der selbst göttlichen Wesens ist. Davon ist SOKRATES ebenfalls fest überzeugt, auch dessen ganz sicher, daß seine Seele nach dem Tod zu guten Göttern kommen und ein ewiges göttliches Leben führen wird; - daß er dann auch mit den besten Menschen der früheren Zeiten zusammentreffen wird, hofft er, wagt es jedoch nicht so bestimmt zu behaupten. Der Unterschied aber des göttlichen und menschlichen Geistes besteht darin, daß jener rein und vollkommen, durch nichts ihm Fremdes beschränkt und daher bedürfnislos und nur geistig beschäftigt ist, dieser dagegen in den Leib, wie in einen Kerker oder ein Grab, versenkt, überall von ihm gehemmt und gestört und sich selbst entfremdet wird. Dies führt er einzeln bei PLATON im Phädon aus und hebt hervor, wie die Seele durch den Körper unfähig gemacht wird zur Anschauung der Wahrheit, namentlich sei es ganz unmöglich, daß sie durch das Leibliche und durch die von demselben hervorgebrachten Eindrücke zu den wichtigsten Begriffen, den allgemeinen, gelangt. Dies ist ausschließlich eine Tat der Seele. Daher muß sie wünschen und danach trachten, sich in sich selbst zurückzuziehen und das Leibliche so viel wie möglich abzustreifen. Hier zeigt sich recht der Gegensatz zu PROTAGORAS. Denn nach SOKRATES ist das vernünftige Denken ganz und gar verschieden von der wechselnden sinnlichen Empfindung und bleibt sich immer gleich. So kommt SOKRATES auch auf HERAKLIT zurück, nach welchem die menschliche Vernunft das Gesetz und Wesen der im Fluß der Dinge beharrenden göttlichen Vernunft zu finden hat und sie auch finden und zur Wahrheit gelangen kann.

Aus dieser Vorstellung vom Geist des Menschen ergibt sich unmittelbar auch seine Bestimmung. Er ist von Gott in die Leiblichkeit versetzt, um sich selbst, - nicht gewaltsam, denn das wäre Empörung gegen den Willen seines Herrn, sondern - allmählich von ihrer Gemeinschaft zu lösen und also gereinigt in die volle Freiheit des künftigen Lebens einzutreten. Wem dies gelingt, der ist wahrhaft weise. Und er ist zugleich wahrhaft tapfer: er fürchtet den Tod nicht, weil er ihn als ein Gut erkennt, nach welchem er sich daher vielmehr sehnt. Er ist auch wahrhaft besonnen und mäßig: er beherrscht sich selbst, verschmäht die Begierden und Lüste und weist sie von sich, weil sie ihn von seinem Ziel abführen. Wer dagegen den Tod fürchtet, weil er ihn für ein Übel ansieht, und sich ihm dennoch unterzieht, kann dies nur tun aus Furcht vor größeren Übeln, denen er entgehen will, und ist also tapfer aus Feigheit, so wie der, welcher die Lust als ein Gut ansieht und sich ihrer dennoch enthält, dies nur tun kann, um einen daraus hervorgehenden Schmerz zu vermeiden oder um sich eine größere Lust zu verschaffen, und er ist mäßig aus Unmäßigkeit. Auf diese Weise Lust gegen Lust, Schmerz gegen Schmerz, Furcht gegen Furcht, Größeres gegen Kleineres einzutauschen und zu wechseln, gleichsam wie Münzen, kann nicht Tugend heißen, sondern die einzig richtige Münze, für welche man alles andere hingeben muß, ist die vernünftige Einsicht. Nicht in allen sokratischen Gesprächen erscheint der Begriff der Tugend und ihrer Arten so hoch gefaßt, aber er liegt doch überall zugrunde. Denn wenn auch öfter das Gewicht auf die nützliche Folge der Tugend, auf die Glückseligkeit, gelegt wird, so wird diese doch als das auf die Erkenntnis des Guten sich gründende Handeln bezeichnet. Manchmal freilich scheidet SOKRATES das Gute vom Angenehmen nicht genügend, aber das erklärt sich teils aus den verschiedenen Veranlassungen zu den Gesprächen teils aus den verschiedenen Personen, an die er sich wendet, so wie wohl auch aus seiner eigenen Entwicklung, in welcher er doch gewiß mehrere Stufen durchschritten hat. Auch wird der Unterschied an anderen Stellen gründlich durchgeführt. Am glänzendsten im Gorgias des PLATON. Er geht aus der Beurteilung der Rhetorik, welche der dialektischen, Wissen und Überzeugung schaffenden, Kunst der Belehrung gegenübersteht als die Fertigkeit der Überredung, welche Glauben, den Schein des Wissens, erzeugt. Künste, die das Wohlsein bezwecken, gibt es zwei für den Körper und zwei für die Seele. Kraft und Gesundheit verleiht jenem die Gymnastik, und das gestörte Wohlbefinden stellt die Heilkunde wieder her. Eben so bildet die Gesetzgebung die Seele der Bürger und das verletzte Gesetz wird durch die Rechtspflege wieder hergestellt. Diesen vier Künsten treten ebenso viele den Menschen schmeichelnde Fertigkeiten zur Seite, die nicht das Gute, sondern eine gewisse Annehmlichkeit und Lust bezwecken und den täuschenden Schein des Guten annehmen. So gibt die Putzkunst dem Körper den Schein der Kraft und Gesundheit und tritt bei den Unvernünftigen an die Stelle der Gymnastik, wie in Bezug auf die Seele die Sophistik an die Stelle der Gesetzgebung und Sittenlehre. Und wie die Kocherei, welche Angenehmes bereitet, das vom Unverstand der bitteren Arznei vorgezogen wird, sich zur Heilkunde verhält, so verhält sich die nur auf den Schein des Rechten ausgehende Rhetorik zur Rechtspflege. Macht übt die Redefertigkeit allerdings aus, aber nur über die Unwissenden und Unverständigen, die wirkliche Kraft aber und Herrschaft nämlich über sich selbst, verleiht sie ebensowenig, wie die Schminke und die durch sie erkünstelte Röte und Glätte der Haut Gesundheit verleiht. Und von da aus gelangt SOKRATES zu seiner Politik, welche der frechen, egoistischen Politik der Sophisten, eines POLOS und KALLIKLES, entgegentritt. Diese stellen als Ziel des tüchtigen Mannes die Befriedigung der Lust und Herrschsucht und jene schrankenlose Freiheit der Person hin, die für sich kein positives Gesetz mehr anerkennt, sondern das bewirkt und gegen jeden andern mit Gewalt durchsetzt, was ihr beliebt. Dagegen lautet die Moral des SOKRATES, daß man niemand Böses mit Bösem vergelten darf, - während bei den Griechen der Grundsatz gilt, die Freunde durch Wohltun und die Feinde durch Übeltun zu übertreffen, - und daß das Unrechttun ein größeres Übel ist als das Unrechtleiden, und für das getane Unrecht nicht bestraft werden ein weit größeres Übel ist als straflos bleiben, wie es auch für den Leib das größte Übel ist, von seiner Krankheit nicht zu genesen. Der Zweck der Strafe wird also als die Reinigung von der Ungerechtigkeit, die Heilung der durch die böse Tat erkrankten Seele erfaßt. Aber freilich einer solchen Wiederherstellung gar nicht bedürfen, das wäre der herrlichste, seligste Zustand. Das sind nun nicht bloße Behauptungen, sondern sie werden auch sehr schön erwiesen, was aber hier zu wiederholen zu weitläufig würde.

Die Kardinaltugenden definieren sich also folgendermaßen: Die Gerechtigkeit besteht darin, jedem das Nützliche (denn das ist das Seinige, ihm Gebührende) zukommen zu lassen, und daher die Staatskunde, welche das Gemeinwohl befördern will, darin, allen Bürger zur Erkenntnis und Besitz des höchsten Gutes der Bildung und Gesittung zu verhelfen, Tapferkeit aber und Besonnenheit bewähren sich im Kampf gegen die jenem Gut feindlichen Mächte, und zwar die Tapferkeit gegen die äußeren und die Besonnenheit gegen die inneren. Der Inbegriff endlich aller Tugenden ist die deshalb auch immer an die Spitze gestellte Weisheit. Statt Weisheit wird auch Wissenschaft, Einsicht, Erkenntnis gesagt. Denn dies ist die dem SOKRATES ganz eigentümliche und besonders auffällige Lehre, daß, wer das Gute und Schöne kennt, es auch ausübt, so daß die Sittlichkeit lediglich auf dem Wissen, dem Verstand beruth, - was wir doch nur für den Fall zugeben könnten, daß das Wissen ein absolut vollkommenes und in jedem Moment gegenwärtiges, durch nichts getrübtes, auch in alle Folgen der Handlungen eindringendes wäre. Und welcher Mensch könnte sich dessen rühmen? und welcher bedürfte nicht noch anderer Unterstützungen seines Willens? SOKRATES konnte sich selbst nicht so hoch stellen; sonst hätte er nicht so sehr über die Leiblichkeit klagen, sich so sehr nach der Erlösung aus dieser Welt sehnen können. Ist aber die Tugend ein Wissen, so folgt unmittelbar, daß sie lehrbar ist, ein Satz, welchen SOKRATES mehrfach, unter anderem in PLATONs Protagoras, aber nicht besonders siegreich, zu beweisen sucht.

Großes Gewicht legt er auf die Lehrart und, wie wir schon gesehen haben, verwirft er die Rhetorik, als unfähig, Überzeugung zu geben, was nur Sache der Dialektik ist. Diese bedeutet dem Wortlaut nach die Kunst der Unterredung und sie beruth bei SOKRATES hauptsächlich auf Definition und Induktion. Immer stellt er sich anfangs an, nicht zu wissen und sich belehren lassen zu wollen, - seine berühmte Ironie, obschon er auch sonst ein Meister in ironischen Wendungen ist, - beginnt mit unbestreitbaren Sätzen, oft sogar, damit sie ja niemand bestreiten kann, mit identischen, geht darauf aus, mit der Heranziehung von Beispielen des Ähnlichen sowohl als des Verschiedenen, die Begriffe scharf gegen alle anderen zu begrenzen, und vom Einzelnen zum Allgemeinen zu gelangen, dann aber auch - syllogistisch - wieder auf ein Einzelnes anzuwenden. Wenn nun ARISTOTELES erklärt, daß vor SOKRATES - mit Ausnahme des DEMOKRIT und der Pythagoreer in einigen Fällen - sich niemand bemüht hat, allgemeine Bestimmungen aufzustellen, so scheint er mir doch zu weit zu gehen, denn die Sophisten haben, wie schon oben bemerkt wurde, dies sicherlich auch getan; wie wären sonst z. B. ihre grammatischen Unterscheidungen möglich gewesen? und von den Sophisten hat SOKRATES gelernt. Aber daß die genannten logischen Operationen in einer solchen Ausdehnung vor ihm nicht angewendet wurden, und er seinen ganzen Unterricht darauf baute, ist gewiß richtig, wenn auch nicht alle seine Beweise stichhaltig und unanfechtbar sind; ficht doch auch ARISTOTELES z. B. den Satz an, daß alle Tugend Wissen ist.

In der streng wissenschaftlichen Methode liegt ein Hauptverdienst des SOKRATES um die Philosophie, aber nicht das einzige. Dem kann ich nicht zustimmen, was nach SCHLEIERMACHER von manchen angenommen wird, daß es ihm nur darum zu tun gewesen, an verschiedenen Dingen das Verfahren zu zeigen, mittels dessen man allein die Wahrheit findet, der Inhalt selbst aber ihm Nebensache gewesen ist. Ich meine vielmehr, der moralische und religiöse Inhalt war ihm die Hauptsache, um sich selbst aber in seiner Überzeugung zu befestigen und sie andern beizubringen, bedurfte er einer sicheren Behandlungsweise der Probleme als der vorher unter den Philosophen üblichen; und mag er es auch zu einem abgerundeten System der Ethik noch nicht gebracht haben, die herrlichen von PLATON mitgeteilten Grundsätze können wir doch für ihn in Anspruch nehmen und ihn nicht bloß den ersten Dialektiker, sondern den größten Moralphilosophen des Altertums nennen, der, ein Vorbild und Muster für alle Zeiten, seine Lehren auch selbst befolgte. Um seiner Logik willen würden ihn die Athener auch nicht verurteilt haben; aber gefährlich erschien ihnen die Verbreitung seiner religiösen und politischen Ansichten. Denn jene rüttelten am Volksglauben, auf welchen die Athener sehr eifersüchtig waren; und in der Meinung, daß ein Abfall von ihm den Staat zerstört, verdammten sie jede Abweichung als Atheismus. SOKRATES Politik aber richtete sich offen gegen die demokratische Verfassung, die eben erst wiederhergestellt worden war. Und seine Schüler und Freunde, welche fast alle zu den Aristokraten zählten, rühmen ihn freilich ganz besonders als Denker, aber nicht weniger und mit ebenso gutem Grund als den besten und gerechtesten Mann, den sie kennen gelernt haben.

LITERATUR - Julius Guttmann, Über den wissenschaftlichen Standpunkt des Sokrates, Programm des königlichen Gymnasiums zu Brieg für das Schuljahr 1880-1881, Brieg 1880