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RUDOLF EUCKEN
Der Realismus in der Neuzeit
[3/3]

"Nietzsche: die Entrüstung über eine schablonenhafte und schematische Kultur, über die moderne Verflachung und Entseelung des Lebens, der Widerstand gegen das übliche Aufgehen in das Getriebe der Zweckmäßigkeit und Nützlichkeit, die tiefe Abneigung gegen die Selbstgerechtigkeit des Spießbürgertums aller, auch der gelehrten Art, gegen jenes Sicheinspinnen in ein enges und ödes Philistertum, das der deutschen Natur so starr anhaftet, ein Widerwille endlich gegen moralische und religiöse Bindungen, deren innere Wahrheit verloren gegangen ist."


4. Der Rückschlag gegen den Realismus

Das 19. Jahrhundert brachte in der Wendung zum Realismus einen völligen Umschlag der Ideale, es brachte bei der Schleunigkeit des modernen Lebens auch schon einen Rückschlag gegen diesen Umschlag. Die Größe des Jahrhunderts lag vornehmlich in seiner Arbeit; soweit diese Arbeit den Menschen einnahm und befriedigte, mochte man sich auch sicherer und stolzer Höhe fühlen. Aber auch die Arbeit erfuhr bald jene innere Dialektik alles menschlichen Unternehmens, durch die eigene Entwicklung seine Grenzen zu erfahren und in das Gegenteil seiner Absicht zu wirken. Immer ausgedehnter wurden die Komplexe, immer feiner die Differenzierung, immer rascher der Verlauf der Arbeit. Zugleich aber verkümmerte immer mehr das Individuum zu einem unselbständigen Stück eines seelenlosen Getriebes, verringert sich das von ihm umspannte Gebiet, wurde es immer strenger an den rastlos fortschreitenden Prozeß gebunden. Immer fester umklammert die Arbeit den Menschen, sie fordert seine Kräfte für sich und schmiedet ihn an ihre Notwendigkeiten, sie droht ihm seine Seele zu rauben. Deutlich entwickelt sich damit ein Widerspruch, der dem innersten Wesen des Realismus anhaftet, wenn dieser das Ganze des Lebens bedeuten, sich nicht einem weiteren Ganzen einfügen will. Zum Realismus trieb vor allem ein Durst nach mehr Wirklichkeit, die Sehnsucht nach der Befreiung von einem als schattenhaft empfundenen Leben; in einem solchen Verlangen zog der Mensch die weite Welt an sich, schöpfte aus ihrer Unendlichkeit, suchte den engsten Anschluß an die Umgebung. Das alles aber nicht, um willenlos in die Dinge zu verschwinden, sondern aus einem glühenden Lebensaffekt heraus in freudiger Hoffnung, im eigenen Sein durch jene Wendung an Kraft und Wahrheit zu gewinnen. Nun aber beginnt die Wirklichkeit, die dem Menschen dienen sollte, sich gegen den Menschen zu wenden und über sein Vermögen hinauszuwachsen; jene Arbeit zerlegt seine Seele in lauter einzelne Kräfte, sie beraubt ihn damit mehr und mehr eines eigenen Lebens; immer weniger vermag er die Ereignisse auf einen beherrschenden Mittelpunkt zurückzubeziehen und dort in Erlebnisse zu verwandeln. Damit aber bricht das Ganze innerlich zusammen. Denn was soll jene Unterwerfung der Wirklichkeit, wenn sie niemandem zugute kommt, was soll eine Lebenssteigerung, die niemand erlebt? Ein Wahnbild scheint hier den Menschen zu äffen, seine eigenen Gebilde überwältigen und zerstören ihn, im Sieg selbst wird er besiegt.

So mußte gegen die Verwandlung des ganzen Lebens in Arbeit ein Rückschlag kommen, und er ist gekommen. So nahe er der Gegenwart liegt, so lassen sich doch schon deutlich genug dabei zwei Stufen unterscheiden: eine Zeit des Sturm und Drangs und ein Beginn der Klärung. Für die rechte Würdigung des modernen Lebens ist es wichtig, beides auseinanderzuhalten.


a. Der moderne Sturm und Drang. Nietzsche

Die nächste Art des Rückschlags ist die Flucht in das direkte Gegenteil, die schrankenlose Behauptung dieses Gegenteils. Den Gegenpol der Arbeit bildet aber nichts anderes als die von aller Bindung an die Dinge abgelöste Zuständlichkeit der Seele, die bei sich selbst befindliche, freischwebende Stimmung. Das Vermögen, sich darauf zurückzuziehen und sich hier gegen alles Störungen von außen her zu verschanzen, kann der Realismus bei allem siegreichen Vordringen dem Menschen nicht nehmen. So wird denn mit feurigem Eifer dieser Weg als die einzige Rettung vor drohender Vernichtung betreten, und es wird in seiner Verfolgung eine dem Realismus direkt widersprechende Lebensführung unternommen. Seinem Mühen um den Stand der Gesellschaft tritt die Sorge für das Befinden des Individuums entgegen, seinem Streben nach allgemeinen Ordnungen und nach einer Erreichung von Massenwirkungen die möglichste Hervorkehrung des Eigentümlichen, Unterscheidenden, Unvergleichlichen, eine Individualisierung des Daseins wie bei jedem Einzelnen, so auch in den verschiedenen Lebensgebieten. Statt der politisch-sozialen Tätigkeit wird wieder zur Hauptsache das künstlerische und literarische Schaffen, als das Hauptmittel, dem Subjekt seine Zuständlichkeit in vollen Besitz und Genuß zu verwandeln. Ohne die Verbindung mit der Kunst wäre jener Subjektivismus rasch ins Schattenhafte und Leere geraten. So zur Festhaltung und Verkörperung der Stimmung aufgeboten, muß aber die Kunst eine eigentümliche Art annehmen: nicht die klare Gestaltung des Gegenstandes, sondern die Erreichung eines starken Reflexes, einer kräftigen Resonanz in der Seele wird ihr zur Hauptsache, sie wird mehr mit breitem Pinsel malen als genau zeichnen, mehr empfinden als sehen lassen, mehr erregen als durchbilden. Für die Malerei, die in diesem Leben einen bedeutenden Platz einnimmt, besagt das die Vorherrschaft der Farbe, für die Literatur die des Lyrischen über das Dramatische. Auch die Dramen, welche die Zeit besonders stark aufregten, wirkten vornehmlich durch das Element der Stimmung. Auch was dabei realistisch heißt, wirkt keineswegs durch eine treue und reine Wiedergabe des Tatbestandes, sondern durch die krasse Schilderung seines unmittelbaren Eindrucks auf die Stimmung durch eine grelle Beleuchtung von der Stimmung aus; daher können die Gegenstände bei demselben Autor bunt wechseln und die Werke bald mehr realistisch bald mehr idealistisch anmuten, während in Wahrheit das Ganze bloße Stimmungskunst bleibt. Auch die Wendung zum vermeintlichen Gegenstück des Realismus, zum Symbolischen und Mystischen, kann hier nicht befremden; alle diese Verschiebungen und Wandlungen erfolgen in Wahrheit innerhalb eines gemeinsamen Raums. Eine Verwandtschaft mit der Romantik ist bei aller Veränderung der Lage unverkennbar, sowohl der Stärke als auch der Schwäche nach.

Eine Bewegung, die in so breiten Wogen durch die Zeit geht, mußte auch irgendeine Zusammenfassung in einer Lebensanschauung finden. Von hier aus erklärt sich zunächst das Zurückgreifen auf SCHOPENHAUER, aus dem so viel weiche Stimmung spricht und der einer tiefen Empfindung allen Leids, im Besonderen auch des Leids der modernen Kultur, einen hinreißenden Ausdruck gegeben hat, der zugleich das Selbstbewußtsein einer intellektuellen und künstlerischen Aristokratie gegenüber dem Durchschnittsgetriebe der Gesellschaft in hervorragender Weise verkörpert. Aber die neue Zeitlage wollte auch zur Selbständigkeit erhoben sein, und das geschah in NIETZSCHE. Wie verschieden dieser merkwürdige Denker und Künstler beurteilt werden mag, die Wirkung, die er ausübt, könnte er nicht üben, verhülfe er nicht dem, was in vielen Seelen dunkel aufstrebt, zu einem Ausdruck und durch die künstlerische Fassung zu einer Veredlung. Es ist die volle Souveränität des allein bei sich befindlichen Subjekts, es ist die stolze Befreiung von aller Bindung an ein Nichtich, es ist das unumschränkte Recht der vornehmen künstlerischen Individualität, die hier in einer glänzenden, für entgegenkommende Gemüter bezaubernden Art vertreten werden. Es schießen in dem Ganzen Stimmungen zusammen, in denen eine starke Unzufriedenheit mit vorwaltenden Zeitströmungen erscheint: die Entrüstung über eine schablonenhafte und schematische Kultur, über die moderne Verflachung und Entseelung des Lebens, der Widerstand gegen das übliche Aufgehen in das Getriebe der Zweckmäßigkeit und Nützlichkeit, die tiefe Abneigung gegen die Selbstgerechtigkeit des Spießbürgertums aller, auch der gelehrten Art, gegen jenes Sicheinspinnen in ein enges und ödes Philistertum, das der deutschen Natur so starr anhaftet, ein Widerwille endlich gegen moralische und religiöse Bindungen, deren innere Wahrheit verloren gegangen ist. Indem das Subjekt alle solche Bindungen abschüttelt, entwickelt sich mit hinreißender Kraft ein Verlangen nach einem größeren Leben, ein Durst nach Entfaltung allen Vermögens, ein Wille zur Macht. Überall wird dem Individuum eine Einschränkung, eine Entsagung geboten, Fremdem soll es sich unterordnen, Fremdem anpassen, Fremdem aufopfern. Aber weshalb und wofür? Und wie kann jene Bindung äußerlich bestehen bleiben, nachdem die Erschütterung aller Autoritäten sie innerlich zerstört hat? Vielmehr erhebe das Individuum sein eigenes Leben zum Absoluten Selbstzweck, es lasse den Durchschnitt tief unter sich und kehre die Distanz kräftig hervor, es strebe vor allem es selbst zu sein; nicht ein leidlicher Gesamtstand, sondern die Erreichung einzelner hervorragender Höhepunkte bildet den Hauptertrag der Kulturarbeit. Zugleich weiche die Hingebung an die bloße Vergangenheit der Aneignung der unmittelbaren Gegenwart, einer Erhöhung des Augenblicks.

So ein energischer Rückschlag gegen die geschichtlich-gesellschaftliche Gestaltung der Kultur, wie solche die moderne Arbeit beherrscht; dieser Rückschlag läßt es nicht bei der bloßen Kritik, beim Aufweisen der Grenze des Gegners bewenden, er erhebt sich zu einer positiven Gestaltung; was immer das Denken erregt, das findet seinen Ausdruck in einer bewegten und bewegenden Darstellung; durch alle besondere Aussprache scheint hier eine reiche und weiche Seele durch und gibt dem Ganzen jene innere Wahrhaftigkeit, die einer tiefen Wirkung umso mehr fähig ist, je weniger eine solche erstrebt zu werden scheint.

Über das Ganze ein gerechtes Urteil zu gewinnen, ist überaus schwer. Was vornehmlich aus einer individuellen Stimmung entspringt und zu einer individuellen Stimmung spricht, das pflegt die einen ebenso stark anzuziehen, wie die anderen abzustoßen; was jenen groß und bewunderungswürdig scheint, gilt diesen als verkehrt und unsinnig. Eine einfache Ablehnung oder auch völlige Geringschätzung wird sich überall verbieten, wo im Ganzen ein begreiflicher Rückschlag und eine notwendige Gegenwirkung gegen eine Verflachung und Erstarrung des Kulturlebens erkannt wird. Wer die Schranken und Schäden einer bloß gesellschaftlichen Kultur nur einigermaßen empfindet, der wird es als etwas Bedeutendes begrüßen, daß bei NIETZSCHE das Leben von aller Verwicklung in die Umgebung zu sich selbst zurückgerufen und auf die eigene Kraft gestellt wird. Nicht bloß die freie Entfaltung des Individuums, auch die Selbständigkeit des Geisteslebens steht dabei in Frage. Das gesellschaftliche Leben hat die Tendenz, alle Betätigung geistigen Lebens als ein bloßes Mittel für seine greifbaren Zwecke, für soziale Wohlfahrt, politische Macht usw. zu behandeln und sie damit tief herabzudrücken, ja innerlich zu zerstören. Denn das ist gewiß: echtes geistiges Schaffen kann nur entstehen und nur gedeihen, wo es als absoluter Selbstzweck ergriffen und, in voller Unabhängigkeit von der Umgebung, lediglich durch seine eigenen Notwendigkeiten getrieben wird; die Frage, was daraus für die Gesellschaft, ja den Menschen überhaupt an Nutzen und Schaden erwächst, muß dabei völlig gleichgültig sein, da doch einmal nicht das Geistesleben dem Menschen dient, sondern das menschliche Dasein einen Sinn und einen Wert erst durch das in ihm durchbrechende Geistesleben gewinnt. Diese Souveränität des geistigen Lebens und Schaffens ist im modernen Kulturgetriebe arg verdunkelt und der Quell der Produktion droht damit zu versiegen; das allein genügt, NIETZSCHE weit über den Durchschnitt hinauszuheben, daß er die Kleinheit dieses bloßmenschlichen Getriebes auf das Stärkste empfand und in hinreißender Weise zum Ausdruck brachte; zugleich aber erfüllte ihn ein glühendes Verlangen nach einer Erhebung über dieses ganze Gebiet, nach mehr Größe, nach einem sich selbst angehörigen Leben.

In solchen Gedankengängen ist vor alllem die Eigentümlichkeit des künstlerischen und des philosophischen Schaffens wieder voll zur Anerkennung gelangt, die ihm notwendige Gleichgültigkeit gegen alles menschliche Urteil und alle menschlichen Zwecke, das ausschließliche Vertrauen auf die eigenen inneren Notwendigkeiten. Auch über das besondere Gebiet hinaus wird damit die künstlerische Seite des Kulturlebens voll zur Geltung gebracht; so ist es begreiflich, daß NIETZSCHE auf die Künstler und die künstlerisch Gesinnten eine besondere Anziehungskraft ausübt. Gewiß hat er dabei zu unmittelbar das künstlerische Schaffen zum Typus des gesamten Lebens erhoben, den Menschen zu ausschließlich als Künstler behandelt, aber auch eine solche Einseitigkeit verringert nicht die Bedeutung jenes Aufrüttelns aus innerer Erstarrung inmitten aller äußeren Lebensflut, jenes Aufrufes zu mehr Individualität, mehr Selbstleben, mehr Größe.

So seien fruchtbare Anregungen bereitwillig anerkannt; die Frage ist nur, ob der anregenden Kraft die ausführende und der Glut subjektiven Strebens der Gehalt geistigen Schaffens entspricht.

Was hier gegen die drohende Mechanisierung des Lebens aufgeboten wird, ist im Grunde nichts anderes als die Stimmung, die künstlerisch verstärkte und veredelte Stimmung des Individuums. Ergibt aber eine solche Stimmung schon ein wahrhaftiges Selbstleben, einen substanziellen Lebensinhalt? Es wird eine Unabhängigkeit vom Menschen gefordert, mit Fug und Recht, aber läßt sich eine solche Unabhängigkeit erringen ohne unsichtbare Zusammenhänge eines Weltlebens, ohne die Gegenwart einer Welt, das Wirken einer Unendlichkeit und Ewigkeit im eigenen Inneren? Wer sich bloß in seiner Stimmung von der sozialen Umgebung ablöst und ihr gegenüberstellt, der wird leicht verneinen, bloß weil die Mehrzahl bejaht, bejahen, weil jene verneint, der hat weniger eine Unabhängigkeit gewonnen als die Art der Abhängigkeit verändert. In NIETZSCHEs Gedankenwelt ist zu viel bloßer Rückschlag; selbst über die Fassung ganzer Gebiete entscheidet viel zu sehr das Bild, in dem sie der besonderen Zeit oder vielmehr ihrer Oberfläche gegenwärtig sind. Die Moral könnte hier nicht so unfreundlich behandelt sein, wäre sie nicht als ein bloßes Wirken für fremde Menschen, als eine Unterordnung unter auferlegte Satzungen, als ein Sichschicken und Ducken, damit aber als eine Herabsetzung der Lebensenergie verstanden. Das aber war nur die Moral der Zeitoberfläche, nicht der Kern der Sache, nicht der Quell der Kraft, nicht das Bekenntnis großer Geister. Auch bei der Religion ist mehr ihre Entartung unter den Händen der Menschen als ihr echtes Wesen gegenwärtig. Denn sie wird getadelt wegen ihrer Herabdrückung des Daseins und ihrer Verneinung des Lebens, während überall, wo sie mit ursprünglicher Kraft aufstrebte, das Nein nur der Durchgang zu einem neuen, erhöhenden Ja war. Nicht der Zug zum Kleinen, sondern das Verlangen nach Größe beseelt alles schöpferische Wirken auf diesem Gebiet, wie denn die Helden der Religion inmitten allen tiefempfundenen Leides eine weltüberlegene Freudigkeit, Festigkeit, Tatkraft zu behaupten vermochten. NIETZSCHEs starke Empfindung der Kleinheit des Bloßmenschlichen, sein sehnliches Verlangen nach einer inneren Erhöhung des Menschen, dieses Tiefste in seiner Gedankenwelt, es hätte ihn auf den Weg der Religion führen müssen; die Abhängigkeit von Zeitvorstellungen hat ihn daran gehindert.

Es wäre keine große Mühe, das Unzulängliche der bloßen Stimmung, der freischwebenden Zuständlichkeit auch in anderen Beziehungen aufzuweisen. Daß bei einer solchen Stimmung der bunte Wechsel der Eindrücke die Gedankenwelt nicht zu einer gleichmäßigen Durchbildung gelangen läßt, macht starke Widersprüche, macht einen unlogischen Charakter des Ganzen unvermeidlich. Und zwar nicht bloß in einzelnen Dingen, sondern auch im Gesamtbild. Das namentlich ergibt einen durchgehenden Widerspruch, daß bei NIETZSCHE das antike Lebensideal ruhigen Beharrens und plastischer Schönheit und das moderne Ideal des fortschreitenden Lebens und unablässiger Kraftsteigerung fortwährend durcheinander laufen und ineinander spielen bis zu einer kaum mehr erträglichen Disharmonie. Sodann gestattet das Abschließen bei der bloßen Stimmung kein ruhiges Abwägen, keine Gerechtigkeit des Urteils. Es fehlt hier alles Vermögen, sich in das eigene Leben und Streben der andern hineinzuversetzen und sie auf ihren eigenen Zusammenhängen zu würdigen; die Entscheidung liegt lediglich bei der sympathischen oder antipathischen Erregung des Subjekts; so verzerrt sich, was nicht anspricht, leicht zu einer widerwärtigen Karikatur, es fehlen alle Zwischenstufen, alle Vermittlungen, alles zerfällt in ein schroffes Entweder - Oder. Der Wirkung nach außen muß freilich eine solche Beleuchtung in grellen Kontrasten förderlich sein. - Endlich ist von der bloßen Stimmung aus eine große Unklarheit über die eigenen Ziele nicht zu überwinden. Unablässig ist die Rede von einer Steigerung der Macht, ohne daß wir je Genaueres darüber erfahren, worin die Macht besteht und was zu ihrer Erreichung gehört. So verbleibt es weit mehr bei einer Hochschätzung der Kraft, einer Sehnsucht nach Größe, als daß es zu einem kräftigen und großen, sicher in sich selbst begründeten Leben käme. Alles Stimmung, auch die noch so feine und künstlerische Stimmung, erzeugt aus eigenem Vermögen keineswegs schon ein kräftiges Innenleben, eine Selbständigkeit der Persönlichkeit, eine gehaltvolle Innenwelt. Schließlich ergibt alle Opposition der bloßen Stimmung gegen die Flächenansicht des Realismus nur eine andere Flächenansicht, nicht die Eröffnung einer Tiefe mit eigenen Zusammenhängen, Problemen, Verwicklungen, aber auch einer Fort- und Umbildung des Menschen; so gewiß der Mensch mehr ist als seine Arbeit, so gewiß ist er auch mehr als seine Stimmung; dieses Mehr aber wird ebenso zwingend wie über die bloße Arbeit, auch über die bloße Stimmung hinaustreiben.

So verbietet sich uns ein Anschluß an die eigentümliche Behauptung NIETZSCHEs. Aber wie jeder bedeutende Geist, so wirkt auch er weit über die spezifische Behauptung hinaus, und dieses Weiteren können auch wir andern uns erfreuen. In Wahrheit beschränkt sich die Wirkung NIETZSCHEs nicht auf den Kreis, der sich enger an ihn anschloß und geneigt war, auf die Worte und Formeln des Meisters zu schwören. Es konnte leicht etwas Unerfreuliches dabei herauskommen, wenn eine Gedankenwelt, die beim Urheber ganz und gar aus individueller Art und individueller Lebenserfahrung hervorging, zu einem formelhaften Bekenntnis erhoben und das Ergebnis einsamer Lebensarbeit auf den Jahrmarkt des Alltags gebracht wurde, wenn den Charakter einer Massenerscheinung annahm, was einem glühenden Haß gegen alle Massenerscheinungen sein Dasein verdankt. Aber NIETZSCHEs Wirkung reicht weit über diesen Kreise hinaus in das allgemeine Leben; die von ihm ausgehende Anregung und Befreiung, die Erschütterung einer selbstgerechten Kultur, das Flüssigmachen starr gewordener Größen, sie sind auch denen zugute gekommen, welche seine Lehren ablehnen müssen; die Bewegung des modernen Lebens ist ohne ihn nicht zu verstehen.


b. Der Beginn einer Klärung.
Das Aufsteigen eines neuen Idealismus.

Der Sturm und Drang der modernen Zeit mit seiner Ausschließlichkeit freischwebender Stimmung war unerläßlich zur Erweckung neuen Lebens und zur Freimachung neuer Bahnen. Aber er war kein Abschluß, sondern ein bloßer Durchgang; er war das schon deshalb, weil ihm gegenüber die Arbeit ihre Entfaltung, Verzweigung, Mechanisierung unablässig fortsetzte, die bloße Stimmung aber keinerlei Mittel hatte, sie einem umfassenden Lebensganzen einzufügen und zugleich ihren Gefahren zu widerstehen; er war es noch mehr, weil die auch sich selbst angewiesene und gegen sich selbst gekehrte Stimmung notwendig mehr und mehr an Inhalt einbüßt, sich mehr und mehr ins Künstliche, Überspannte, Wunderliche verliert. Das Leben bedurfte einer breiteren Grundlage und einer größeren Tiefe; so gewiß uns das ungestüme Wogen und Wallen der freischwebenden Stimmung noch heute umfängt, eine Beruhigung und Klärung ist unverkennbar im Gange, mehr und mehr geht das Verlangen über die bloße Stimmung hinaus auf ein Ganzes der Seele, nicht mehr genügt die bloße, wenn auch noch so leidenschaftliche Erregung, sondern es gilt eine innere Befestigung, einen wesenhaften Lebensinhalt zu finden und zugleich ein sicheres Verhältnis zur Welt der Arbeit. Damit beginnt ein neuer Idealismus aufzusteigen; so sehr die Sache noch unfertig und mitten im Suchen ist, ihr gehört zweifellos die nächste Zukunft, weil sie von einer immer mächtiger anschwellenden, immer unwiderstehlicheren Bewegung des allgemeinen Lebens getragen und getrieben wird. Daß hier mehr vorliegt als Meinungen und Wünsche bloßer Individuen, das erhellt sich deutlich genug aus der Tatsache, daß Kunst, Religion, Philosophie sich heute wieder weit stärker regen und von neuen großen Problemen bewegt werden.

Die Wendung der Zeit zur Kunst, im Besonderen zur bildenden Kunst, liegt vor aller Augen. Viel bloße Mode mag dabei mitspielen und oft mehr Unterhaltung als Lebenserhöhung gesucht werden. Aber im Schaffen selbst steckt weit mehr, es steckt darin das Verlangen nach einer durchgängigen Belebung des Daseins, nach einem innerlicheren Verhältnis zur Umgebung und zugleich nach mehr Individualisierung der Wirklichkeit. Ein beträchtlicher Unterschied von der Kunst unserer klassischen Zeit ist unverkennbar. Diese fand ihre Hauptaufgabe darin, gegenüber der gemeinen Wirklichkeit eine neue Welt der Phantasie und reinen Gestalt hervorzubringen, ein solcher Aufbau wurde getragen von unablässiger Gedankenarbeit, alles Wirken und Schaffen war durchtränkt von Ideen und erfüllt von Überzeugungen, das sichtbare Dasein umschlossen von einem Gedankenreich. Notwendig wurde hier die Literatur die Seele des Ganzen. Heute können wir uns weniger von der unmittelbaren Welt ablösen, die mit überwältigender Kraft auf uns eindringt; nun gilt es unsere menschliche Art mit Anspannung alles Vermögens gegen sie zu behaupten, die Umgebung direkt zu ergreifen, sie durch eine künstlerische Gestaltung zu veredeln und zu vergeistigen, unser Seelenleben und zugleich unsere Individualität über sie auszudehnen, in sie hineinzulegen. Das gibt der bildenden Kunst den Vorrang, auch das Kunstgewerbe gewinnt eine Bedeutung, die der klassischen Zeit durchaus fremd war. Ein solcher Kampf der Kunst für die Aufrechterhaltung eines seelischen Charakters unseres Lebens gegenüber einer feindlichen oder gleichgültigen Welt hat ein gutes Recht und eine siegreiche Kraft aber nur, wenn es in der Tat eine Seele zu erhalten gibt, wenn die Seele nicht einen gleichgültigen Anhang, sondern die Tiefe, das eigenste Leben der Wirklichkeit bildet; ohne das würde aller subjektive Eifer und alle technische Virtuosität die Bewegung nicht vor einem Verfallen in Tändelei, Unwahrheit, Leere behüten. Die Kunst bedarf der Fundierung in wahrhaftigen Überzeugungen und Gesinnungen genauso gut wie die Wissenschaft; damit teilt sie auch die großen Probleme des Lebens, damit hängt ihr eigenes Gelingen und Durchdringen an einer Vertiefung des Ganzen des Lebens, an einer Sicherung der Überlegenheit der Seele. Dies aber wird nirgends direkter in Angriff genommen als in der Religion; so sind heute im Kern des Strebens Religion und Kunst eng aufeinander angewiesen, mag die Gesinnung der Individuen sie noch so weit auseinander reißen und einander verfeinden.

Das mächtige Wiederauferstehen des religiösen Problems aber ist eine handgreifliche Tatsache; schon die Leidenschaftlichkeit, mit der heute kirchliche und religiöse Fragen die Gemüter erregen und bewegen, bekundet zur Genüge, wie weit wir uns von jenen Zeiten entfernt haben, wo die Religion als ein veraltetes Erbstück früherer Zeiten galt und daher mit kühler Gleichgültigkeit behandelt wurde. Die rasche Überwindung dieser Gleichgültigkeit ist merkwürdig genug. Denn der Strom der intellektuellen Arbeit des 19. Jahrhunderts ging direkt gegen die Religion. Die Philosophie hat ihr gegenüber volle Selbständigkeit gewonnen und sich oft genug mit zerstörender Schärfe gegen sie gewandt; die Naturwissenschaften haben nun erst das volle Selbstbewußtsein gefunden und ein eigenes durchaus innerweltliches Gedankenreich aufgebracht, sie widerstehen der religiösen Denkweise mit unvergleichlich größerer Energie als je zuvor; endlich ist die Religion selbst in ihrem überkommenen Bestand von den verschiedensten Seiten her, am meisten aber durch die historische Kritik, so unterwühlt und erschüttert, daß die größte Unsicherheit über alles Nähere ihrer Behauptung waltet. Auch sehen wir, wie der Abfall der Individuen von ihr unablässig fortdauert, wie eine seichte Aufklärung erst jetzt recht in die Massen dringt. Wenn trotz alledem das religiöse Problem im geistigen Leben wieder mit überwältigender Kraft hervorbricht und alle anderen Fragen zurückzudrängen beginnt, so sind augenscheinlich andere Interessen als die des bloßen Intellekts wirksam; in Wahrheit ist es ein Bestehen auf einem Gehalt und Sinn des Lebens, ein Verlangen nach geistiger Selbsterhaltung gegenüber drohender Vernichtung, ein Kämpfen um ein geistiges Dasein, was die alte und ewige Frage neu aufzunehmen zwingt. Zugleich ist klar, daß die Gegenwart von der Religion etwas ganz anderes verlangt als ihr geneigte Gemüter in der Blütezeit unserer Literatur verlangten. Denn damals suchte man bei ihr eine Vertiefung der Wirklichkeit, es galt die Vernunft der Welt deutlich herauszustellen und dem Menschen zu vollem Besitz zu bringen, eine pantheistische Denkweise beseelte die Besten. Nichts ist bezeichnender für den Wandel der Zeiten als das völlige Verblassen und Verschwinden dieser pantheistischen Denkweise; was damals die Gemüter unwiderstehlich anzog und vollauf befriedigte, das dünkt uns heute leicht eine Unwahrheit, eine leere Phrase. Warum wohl? Weil uns das Weltgetriebe und selbst der Kreis menschlichen Zusammenlebens weit mehr als ein seelenloser Mechanismus vor Augen steht, weil wir in dem unablässigen Wechsel und Wandel, in dem hastigen Drängen von Augenblick zu Augenblick einen Mangel an festem Bestand und ewiger Wahrheit empfinden, weil uns das schrankenlose Aufwuchern selbstischer Interessen, die wilde Lebensgiert des Kampfes ums Dasein einen erschreckenden Mangel an Teilnahme und Liebe zeigt, und weil wir doch ohne eine innere Zerstörung unseres Daseins, ohne ein Sinnloswerden allen Strebens nicht auf eine ewige Wahrheit und selbstlose Liebe verzichten können. So entsteht das Verlangen nach einer neuen Ordnung der Dinge, die uns die Möglichkeit einer geistigen Existenz gewährt; dieses Verlangen ist es, was die Menschen übermächtig zur Religion treibt und zugleich ihr selbst eine neue Aufgabe stellt. Es liegt darin eine Annäherung an die ältere Fassung der Religion, die ihr eine Selbständigkeit gegenüber allem Kulturleben zuerkannte. Aber inzwischen hat sich überaus viel verändert, ja sind wir andere Menschen geworden, so verbietet sich durchaus eine einfache Wiederaufnahme der älteren Art; auch was sie an Ewigem enthält, läßt sich nicht einfach übertragen, sondern bedarf einer selbständigen Aneignung. Daher steht auch die Religion vor neuen Aufgaben.

Endlich sind auch in der Philosophie Bewegungen einer verwandten Richtung unverkennbar. Die Philosophie hatte im 19. Jahrhundert nach der Zurückdrängung der großen spekulativen Systeme einen schweren Stand. Aus dem Mittelpunkt des Lebens wurde sie in die Peripherie gedrängt; statt mit ihrer Denkweise das Leben zu führen und zu erhöhen, wurde sie nun geheißen, sich an andere Wissenschaften, sei es an die Geschichte, sei es an die Naturwissenschaften, gehorsam anzuschließen, weit mehr zu empfangen als zu geben. So wurde sie aus Aufbietung und schöpferischer Tätigkeit des ganzen Menschen mehr und mehr zu gelehrter Arbeit, zu einer bloßen Umsäumung wissenschaftlicher Forschung. Sie hat in dieser Arbeit Tüchtiges geleistet, aber einen tieferen Einfluß auf das Ganze des Lebens und auf die Richtung des gemeinsamen Strebens gewann sie damit nicht. Man könnte jene gelehrte Philosophie völlig streichen, ohne daß die Menschheit einen großen Verlust empfinden würde. Auch hier aber sind Veränderungen im Gange, zu gewaltig werden die inneren Spannungen des Lebens, zu mächtig drängt es nach einer umfassenden und befestigenden Gedankenwelt und nach dem Aufbaue einer solchen Gedankenwelt von innen her, als daß nicht auch wieder in der Philosophie ein Streben nach einem inneren Ganzen, eine Bewegung zu geistiger Konzentration, zur Klärung unseres Grundverhältnisses zur Wirklichkeit, zu einem das menschliche Leben erhöhenden Schaffen aufkommen müßte. Aber auch für die Philosophie hat sich viel zu viel verändert, und ist eine viel zu eigentümliche Lage entstanden, als daß sich ältere Gedankenmassen, z. B. die Spekulation zu Beginn des 19. Jahrhunderts, einfach aufnehmen oder mit einiger Veränderung fortführen lassen. Wie bei den anderen Gebieten, so gilt es auch hier an erster Stelle eine eigene Kraft einzusetzen.

So verstärkt sich von allen Seiten die Überzeugung, daß wir uns in einer durchaus neuen und eigentümlichen Lage befinden, die keinen einfachen Anschluß an frühere Zeiten gestattet, sondern die Sache an erster Stelle auf unser eigenes Tun stellt. Alle direkte Vergleichung mit früheren Epochen bestätigt das. Wie weit uns die Erfahrungen und Erschütterungen des 19. Jahrhunderts von der Zeit unserer Klassiker entfernt haben, das wurde Punkt für Punkt ersichtlich; aber auch der Grundaffekt der gesamten Neuzeit: ihr unbedingtes Verlangen nach Tätigkeit, ihr Trieb nach Lebenssteigerung, ihre freudige Bejahung des Daseins, sie haben keine volle Wahrheit mehr für uns, die wir nicht nur mehr Verwicklungen und Schranken vor Augen haben, sondern denen das Leben selbst zum Problem geworden ist; vielfach sind wir innerlich schon aus der Neuzeit herausgetreten, der wir uns äußerlich noch zurechnen, und beginnen sie als eine Vergangenheit zu empfinden. Zugleich aber können wir unmöglich hinter die Neuzeit, etwa zum alten Christentum, zurückflüchten. Daran hindert uns nicht nur die völlige Wandlung der Gedankenwelt, sondern mehr noch, daß damit die Menschheit von einer starken Müdigkeit an geistiger Arbeit ergriffen war und keine Hoffnung auf eine weltliche Zukunft hegte, während unsere Zeit in einem gewaltigen Aufstreben steht und sich durch alle Verwicklungen den Mut der Arbeit und die Hoffnung eines Weiterkommens nicht rauben läßt. Je deutlicher die historische Forschung, dieses Hauptstück der modernen Wissenschaft, mit ihrer sorgfältigen Ermittlung der Vergangenheit das Eigentümliche der Zeiten herausstellt, desto mehr erhellt sich die unvergleichliche Art der Gegenwart, desto weniger läßt sich von irgendeinem Anschluß an die Vergangenheit eine wesentliche Hilfe erwarten.

Ein solches Angewiesensein der Zeit auf sich selbst bringt ebenso eine allgemeine Wahrheit zu Bewußtsein wie es das Eigentümliche der besonderen Lage aufdeckt. Jene Wahrheit ist die, daß die Vernunft keiner Werk der bloßen Geschichte ist; sie wächst uns nicht einfach aus der Geschichte entgegen und fällt uns ohne Mühe in den Schoß, sondern sie ist immer von Neuem zu erringen, sie wird immer von Neuem zur Frage und Aufgabe. Auch die Zeiten, welche im engen Anschluß an frühere arbeiten, enthalten eine Entscheidung, der Anschluß selbst ist auf geistigem Gebiet immer auch eine eigene Tat, geistiges Leben erhält sich nie durch das bloße Dasein, es will immer von Neuem erzeugt werden. Aber es bleibt ein großer Unterschied, ob ein solcher Anschluß an Früheres möglich ist und damit das Wirken die Wege bereitet findet, das eine mit dem anderen sich leicht zu einer gemeinsamen Leistung verbindet, oder ob das Bewußtsein von einem Gegensatz zu allen früheren Gestaltungen erfüllt und ihm selbst das Ewige in ihnen verdunkelt ist, daher das Streben an erster Stelle auf sich selbst verwiesen wird. Das sind kritische Zeiten, Zeiten, die deutlich zur Empfindung bringen, daß die Kulturarbeit nicht auf gegebenen Grundlagen ruht und auf ihnen sich weiterbaut, sondern daß der Zweifel immer wieder auf die Grundlagen zurückgreifen und auch das in ein Problem verwandeln kann, was durchaus als gefestigter Besitz erscheint. Und wie in solchen Zeitläufen nicht nur die nähere Gestaltung, sondern alle und jede geistige Existenz des Menschen ins Wanken gerät, so wird auch klar, daß die Kultur nicht mit einem sicheren Wirken die ganze Breite des menschlichen Daseins durchdringt, daß vielmehr der Boden für sie stets niederen Kräften erst abzuringen war, daß diese Kräfte zu wirken nie aufhören und mit ihrem Vordringen immer neue Gefahren, immer neue Krisen heraufbeschwören.

Zeiten, denen in solcher Weise aller äußere Halt verschwindet, haben ein zweifaches Antlitz. Sie sind harte und unbequeme Zeiten, Zeiten der Zersplitterung und Zerrüttung, des Abfalls und der Verneinung, Zeiten, welche die Kleinheit des Menschen und die Unsicherheit seiner Lebenslage deutlichst zur Empfindung bringen. Diese Verneinung wäre der letzte Abschluß, wenn im menschlichen Streben und der weltgeschichtlichen Bewegung nichts anderes vorläge als eine Gewebe subjektiver Meinungen und selbstischer Interessen, wenn alles Unternehmen und Erfahren nur eine Sache des von der Welt abgelösten Menschen wäre und sich lediglich auf der Oberfläche des Bewußtseins abspielen würde, nirgends mit tieferen Wurzeln in den Grund der Wirklichkeit zurückreicht. Völlig anders hingegen erscheint die Sache, wenn der menschliche Lebenskreis als ein Stück des Weltlebens erfaßt und in seiner Bewegung das Aufsteigen einer neuen Stufe jenes Lebens, die Entfaltung einer geistigen Wirklichkeit erkannt wird. Dann wird eben die Kleinheit dessen, was der Mensch in seiner nächsten Erscheinung vermag, zu einem Zeugnis für die Größe dessen, was im Grunde seines Wesens vorgeht; dann treten auch jene kritischen Epochen in eine andere Beleuchtung. Denn dann dürfen wir uns ihrer freuen als solcher Zeiten, die den Menschen treiben den Problemen unmittelbar und unerschrocken ins Auge zu sehen und ohne alle äußere Stütze auf sich selbst zu stehen, Zeiten, die ihn aufrufen, sein geistiges Leben in Selbstätigkeit zu begründen und den Aufbau der geistigen Welt auf dem Boden der Menschheit selbst mit zu tragen. Gewiß zerbricht in solchen Zeiten vieles, aber es zerbricht schließlich nur, was von Haus aus zerbrechlich war, was keine volle Wahrheit hatte oder sie doch dem Menschen nicht mitzuteilen vermochte. So muß durch Erschütterung und Vernichtung alles Morschen und Welken hindurch eine Verjüngung des Lebens erfolgen, durch Läuterung und Scheidung hindurch die Wahrhaftigkeit des Daseins wachsen; Zweifel und Verneinung selbst müssen dahin wirken, die Unzerstörbarkeit unseres geistigen Wesens und die innere Gegenwart überlegener Mächte neu zu bekräftigen und zu einem unmittelbaren Erlebnis zu machen als in ruhigen Zeiten.

Aber eine solche Größe liegt keineswegs fertig vor, sie will errungen und entwickelt sein. Was die Zeit entgegenbringt, sind bloße Möglichkeiten; sie in Wirklichkeiten zu verwandeln, bleibt immer eine Sache eigener Entscheidung, erhöhender Tat. Aber in der Gegenwart liegen große Möglichkeiten; sollte das wachsende geistige Verlangen, das die Menschheit durchdringt, nicht zur Hoffnung berechtigen, daß trotz aller Wirren und Hemmungen das Ja über das Nein siegen und neue Lebensgestaltungen heraufführen wird? Dann wäre auch die jahrtausendelange Arbeit der Geschichte uns nicht verloren, dann würde wieder deutlicher aus allem Wechsel und Wanden ein unvergänglicher Wahrheitsgehalt hervorscheinen.
LITERATUR - Rudolf Eucken, Die Lebensanschauungen der großen Denker, Leipzig 1905