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ALOIS RIEHL
Die kritische Philosophie
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"Der gewöhnlichen Anschauung nach unterscheiden wir körperliche und geistige Dinge als die beiden Arten von Substanzen, von denen wir glauben, Erfahrung zu haben."

Es ist nun gewiß sehr bezeichnend und merkwürdig, daß der Denker, der zuerst die leitenden Ideen der Aufklärung gefunden und damit so wirksamen Anteil an der Entwicklung jener Epoche genommen hat, der Sache nach zugleich der Urheber der kritischen Philosophie ist, wenn er sie auch nicht so nannte, sondern unter dem bescheidenen Namen eines  "Versuches über den menschlichen Verstand"  einführte. Und nicht minder charakteristisch ist der unmittelbare Anlaß, der dieser Philosophie die Entstehung gab. LOCKE liebte es, von Zeit zu Zeit einige seiner Freunde bei sich zu sehen, und sich mit ihnen über wissenschaftliche Dinge zu unterhalten.

Eines dieser Gespräche nun blieb trotz aller aufgewandten Bemühung und obgleich die Unterredner zu den gebildetsten und kenntnisreichsten Männern ihres Landes zählten, deren Namen zum Teil die Geschichte aufbewahrt hat, ohne jedes Ergebnis. Es soll sich dabei, nach dem späteren Zeugnis eines Teilnehmers an jener Unterhaltung, um Fragen der geoffenbarten Religion und der Moral gehandelt haben, von denen wir wenigstens die ersteren zu den metaphysischen zählen. Als die Schwierigkeiten und Zweifel sich immer mehr häuften und die Lösung ferner rückte, kam LOCKE plötzlich auf den Gedanken, daß man einen falschen Weg eingeschlagen und die Sache am unrechten Ende angefaßt habe: denn, ehe man sich auf Fragen solcher Art einlasse, müsse man zuvor die Fähigkeiten des menschlichen Verstandes prüfen, um zu erkennen, ob dieser für so entlegene Dinge auch eingerichtet sei. Damit war die Untersuchung des Verstandes als eines Erkenntnisvermögens, eines Vermögens, Wahrheit und Wirklichkeit zu erkennen, im Prinzip an die Spitze aller philosophischen Untersuchungen gestellt, die Frage nach dem Erkenntniswert der Wissenschaft aufgeworfen und in ihrer maßgebenden Bedeutung erfaßt.

LOCKE hatte von der Neuheit und Tragweite seiner Aufgabe, der Aufgabe der theoretischen Philosophie als solcher, das deutlichste Bewußtsein. "Wird das Vermögen unseres Verstandes richtig geschätzt," schreibt er in der Einleitung zum "Essay", "ist der Umfang unseres Erkennens einmal entdeckt und die Gesichtslinie bestimmt die den erleuchteten Teil der Dinge von dem dunkeln scheidet, so wird der Mensch sich vielleicht mit weniger Bedenken bei der eingesehenen Unwissenheit hinsichtlich des einen Teiles beruhigen und seine Nachforschungen mit um so größeren Gewinn auf den anderen Teil richten."

Auch nach LOCKE hat die kritische Philosophie die rechte Mitte zu treffen "zwischen der Einbildung eines alles umfassenden Wissens und der aus Enttäuschung entspringenden Verzweiflung, irgend etwas wissen zu können", - die rechte Mitte, wie dies KANT ausdrückte: zwischen Dogmatismus und Skeptizismus. Sie hat "den beständigen Streitigkeiten über Dinge, die unsere Fähigkeiten übersteigen, ein Ende zu machen", dadurch, daß sie die Grenze zieht zwischen Wissen und Meinen. Die Absicht LOCKEs mit seiner Kritik des Verstandes ist keine andere als die Absicht KANTs mit der Kritik der Vernunft.

Die Gewißheit und den Umfang der Erkenntnis zu bestimmen ist das Ziel der Untersuchung LOCKEs; den Weg dazu schien ihm die Erforschung des Ursprungs und der Entwicklung des Erkennens zu eröffnen. Hier trifft er nun auf die Annahme angeborener Begriffe und Grundsätze, und wenn er diese Annahme in jeder Form, in der sie in der Philosophie aufgetreten ist, bekämpft und widerlegt, so treibt ihn dazu nicht lediglich und auch nicht vorzugsweise ein rein wissenschaftlicher Beweggrund. Der Glaube an angeborene Ideen beschränkt und unterdrückt das Selbstdenken des Menschen. Angeborene Idee wären unveränderliche Ideen. Sie würden den Geist fesseln und knechtisch machen; und es war "kein geringer Vorteil für alle die, welche sich zu Meistern und Lehrern aufwarfen, es zum Grundsatz der Grundsätze zu machen, daß Grundsätze nicht in Frage gezogen werden dürfen".

Vorstellungen scheinen angeboren zu sein, nur weil wir ihren Ursprung nicht kennen, nur weil unsere Erinnerung nicht in die Zeit zurückreicht, in welcher sie uns eingeprägt wurden. "Nichts ist gewöhnlicher, als daß Kinder Vorstellungen und Lehren, insbesondere in religiösen Dingen, von ihren Eltern, Wärterinnen und Lehrern in ihren Geist aufnehmen, so daß die Quelle dieser vermeintlich angeborenen und dadurch sanktionierten Vorstellungen in vielen Fällen der Aberglaube einer Amme oder das hohle Geschwätz eines Schulmeisters ist."

LOCKE verneint das Angeborensein irgendwelcher Vorstellungen und Grundsätze, weil er das Recht der Prüfung aller bejaht; auch hier redet der Geist des Selbstdenkers aus ihm. Vielleicht findet mancher diese Verwerfung des Angeborenen zu radikal. Ist nicht das Angeborene das Historische, durch Vererbung auf das Individuum Übertragene, - seine Verwerfung durch LOCKE als eine Unterschätzung des Historischen nach der Art der Aufklärung? Es war keineswegs die Meinung LOCKEs, alles Angeborene des Geistes zu leugnen, als er und gewiß mit Recht das Angeborensein von Vorstellungen leugnete.

Fähigkeiten oder Kräfte des Geistes lassen sich im Gegensatze zu angeborenen Ideen entwickeln und steigern, sie sind der Bildung zugänglich und durch Erfahrung zu verändern; sie also können auch im Sinne LOCKEs angeboren oder dem Geiste natürlich sein, ohne dessen Selbständigkeit zu hemmen, und daß sie es sind, ist die ausdrückliche Lehre LOCKEs. Er selbst zählt zu diesen angeborenen Fähigkeiten und Operationen des Geistes das Bemerken und Behalten, Unterscheiden und Vergleichen, das Abstrahieren; aber eben nur die Fähigkeit des Perzipierens, nicht Wahrnehmungen, die Fähigkeit des Abstrahierens, nicht Begriffe, geschweige den Grundsätze, theoretische oder praktische, sind angeboren.

Auch nach LOCKE ist der Geist in gewissem Sinne sich selbst angeboren und mit Unrecht zitiert man immer wieder jenen "intellectus ipse", den "Verstand selbst", um damit den Gegensatz zwischen LEIBNIZ und LOCKE zu kennzeichnen. LEIBNIZ selbst wußte dies besser und erklärte ausdrücklich, der Satz: "nichts sei im Verstande, was nicht zuvor in den Sinnen war, außer der Verstand selbst" sei auch im Sinne LOCKEs, der ja die eine der beiden Quellen der Ideen in der Wahrnehmung der Operationen des Geistes finde. Seit LOCKEs Angriff ist die Theorie der angeborenen Vorstellungen aus der Philosophie verbannt; kein Denker hätte sie auch erneuern können, so gründlich und entscheidend war jener Angriff.

Auch die Kategorien oder die "reinen Verstandesbegriffe" KANTs sind keine angeborenen Begriffe. Wer sie dafür nehmen wollte, versteht eben KANT nicht, der es LOCKE zu besonderem Verdienste rechnete, daß dieser auch die "intellectualia", die reinen Begriffe des Verstandes,  nicht  für angeboren hielt, sondern nach ihrem Ursprung suchte. Der Zeit LOCKEs erschien die Bestreitung der angeborenen Ideen wie ein Umsturz der Philosophie. Die Gegner griffen den "Essay" an diesem Punkte an; vielmehr sie verdammten das Buch um dieses Punktes willen, noch ehe sie es gelesen hatten. Hat die Seele keine angeborenen Ideen, so scheint ihr Begriff völlig leer und sie selbst ohne Wesen zu sein; sie scheint beinahe nichts zu sein; wie leicht also ist es dann zu behaupten, daß sie nicht sei!

Wir urteilen heute anders. Eine falsche Theorie ist beseitigtund ihre Wertlosigkeit für die Frage nach der Gewißheit der Erkenntnis dargetan, das genügt uns, und wir halten uns dabei nicht länger auf. Für uns wie für LOCKE selbst liegt das Schwergewicht seiner Untersuchung nicht in dem ersten Buche des Essays gegen die angeborenen Ideen und Grundsätze, sondern im zweiten, das von dem Ursprung der Ideen handelt, und im vierten, das den Begriff der Erkenntnis entwickelt und ihre Grenzen bestimmt.

Was immer Inhalt oder Gegenstand des Bewußtseins ist oder sein kann, alles, womit der Geist sich beschäftigt, wenn wer wahrnimmt und denkt, nennt LOCKE  Idee.  Dieser Ausdruck kann also ebensogut die bloße Empfindung eines Sinneseindrucks bedeuten wie den abstraktesten Gedanken, und man muß sich dies gegenwärtig halten, um LOCKEs Lehre vom Ursprung der Ideen richtig zu erfassen. Nur von den "einfachen Ideen", den Elementen der zusammengesetzten, gilt sein Satz von ihrem Ursprung aus der doppelseitigen Erfahrung, aus  Sensation  und  Reflexion,  oder äußerem und innerem Sinn.

Nur auf den Inhalt, das Material unseres Denkens, bezieht sich das  Prinzip des Empirismus,  das LOCKE mit den Worten ausspricht: auf Erfahrung ist alle unsere Erkenntnis gegründet und von ihr im letzten Grunde herzuleiten. LOCKE weiß und er selber lehrt es, daß alle zusammengesetzten "Ideen" durch die Operationen des Geistes, die dieser an den Sinneseindrücken oder den einfachen Ideen vornimmt, entstehen oder doch durch sie entdeckt werden. Sind die Sinne die Quelle der einfachen Ideen, so sind die Tätigkeitsweisen des Geistes die Quelle der zusammengesetzten; aus dieser Quelle stammen jene unendlich vielen, aus Modifikationen der einfachen Ideen von Ausdehnung, Dauer, Einheit entspringenden mathematischen Anschauungen und Begriffe, aus ihr die Vorstellungen der Verhältnisse und alle abstrakten oder allgemeinen Ideen, einschließlich des allgemeinen Begriffs der  Substanz. 

Was also LOCKE über den Ursprung der Erkenntnis wirklich lehrte, ist nur dies: äußere und innere Wahrnehmung liefern den Stoff zu allen Ideen, auch zu jenen, die der Geist selbst bildet, wie sie auch die Veranlassung zu ihrer Entwicklung geben. Wir müssen diese Lehre als Voraussetzung nehmen, um die wichtigste Leistung der Verstandeskritik LOCKEs in seinem Sinne zu verstehen. Diese aber ist seine Kritik eines Hauptbegriffes aller metaphysischen Philosophie, - ich habe ihn schon genannt: des Begriffes der  Substanz. 

Die Frage nach der "Substanz" der Dinge ist die Grundfrage des siebzehnten Jahrhunderts; an dieser Frage entwickelte, mit ihr befaßte sich der ganze spekulative Teil jener Systeme. Diese Frage in ihrer metaphysischen Gestalt hat LOCKE aus der Wissenschaft verbannt, diesen Begriff kritisch zerlegt, man möchte sagen, ihn so zersetzt, daß gerade dadurch erst seine wahre Bedeutung und das wirklich mit ihm verbundene Problem hervortreten konnten. Wir zählen seit LOCKEs Kritik die Substanz nicht mehr zu den inhaltlichen Begriffen unseres Erkennens; die Beseitigung ihrer materialen Auffassung, das Werk LOCKEs, hat unmittelbar ihre formale vorbereitet.

Der gewöhnlichen Anschauung nach unterscheiden wir körperliche und geistige Dinge als die beiden Arten von Substanzen, von denen wir glauben, Erfahrung zu haben. An diese Unterscheidung knüpft LOCKE an und zeigt, daß weder das allgemeine Wesen einer Substanz zu erkennen ist, noch die besondere Natur ihrer Arten, des Körpers und des Geistes. Die Substanz im allgemeinen, der Begriff, der den körperlichen und geistigen Dingen gemeinsam ist, sofern sie als Substanzen gedacht werden, ist leer an Inhalt, eine Idee, und zwar nach LOCKE die einzige Idee, welche weder aus der äußeren noch aus der inneren Wahrnehmung stammt, als nicht gleich den übrigen Ideen auf einem dieser Wege in unseren Geist gelangt sein kann.

Sie muß also ihren Ursprung in einer gewissen Auffassung des durch Erfahrung Gegebenen haben. Dies ist auch die Meinung LOCKEs, da er sie aus einer gewohnheitsmäßigen Beurteilung der Eindrücke der Sinne hervorgehen läßt. "Weil wir keine Vorstellung davon haben, erklärt er, wie diese einfachen Ideen an sich selbst bestehen können, gewöhnen wir uns, ihnen irgend etwas unterzulegen, in welchem und durch welches sie bestehen, und dies nennen wir dann ihre Substanz." So ist die Substanz "nichts als eine unbestimmten Annahme von etwas, wovon wir nicht wissen, was es sei"; von etwas, wovon wir keine besondere, bestimmte und positive Vorstellung haben, die uns zeigte, was es ist, sondern nur eine dunkle von dem, was es zu leisten hat: nämlich Träger der sinnlichen Erscheinungen zu sein, die dadurch zu seinen Eigenschaften oder Akzidenzien werden.

Oder, wie dies LOCKE durch ein Gleichnis darstellt, das mehr als ein Scherz sein sollte: jener arme indische Philosoph, der die Erde von einem Elefanten und den Elefanten von einer Schildkröte getragen sein ließ, wußte, durch die weitere Frage nach dem Träger der Schildkröte in Verlegenheit gebracht, nur zu erwidern: irgend etwas, er wisse aber nicht, was es sei. Ein europäischer Metaphysiker hätte dies, ohne verlegen zu werden, und bequemer mit einem einzigen Worte ausgedrückt: die Substanz. "Denn eben wo Begriffe fehlen, da stellt ein Wort zur rechten Zeit sich ein", - und besonders, wenn es ein gelehrtes Wort ist, ein Wort von vornehmen Klange gilt es ohne weiteres für eine echte Münze und von gediegenem Gehalte.

Der allgemeine Begriff der Substanz ist überall derselbe, mag er auf den Körper oder auf den Geist angewandt werden. Die Vorstellung der Substanz des Körpers ist daher um nichts klarer als die der Substanz der Geistes; beide sind gleich klar, das heißt gleich dunkel und ebensoweit von allem, was wir begreifen, entfernt. Und wie die allgemeine Natur der Substanz, ist auch die spezifische der Substanzen oder der Dinge der Erfahrung der Erkenntnis entzogen. Gegeben von diesen Dingen ist nur das erfahrungsgemäße Zusammenbestehen, die Koexistenz von Teilen und Eigenschaften; das Band, das die Teile zur Einheit eines Dinges verknüpft, wird hinzugedacht. Wir nennen Wasser eine Substanz, weil wir beständig eine gleiche Gruppe sinnlicher Eigenschaften vorfinden oder durch Versuche entdecken: ein bestimmtes spezifisches Gewicht, flüssigen Aggregatzustand innerhalb gewisser Grenzen der Temperatur, Farblosigkeit, Durchsichtigkeit, größte Dichte bei 4° des hundertteiligen Thermometers, Verwandlung in einen festen Körper beim Nullpunkt der Wärmeskala usw.

Alle diese Eigenschaften treten miteinander auf, so daß es möglich ist, aus der einen die andere zu folgern; wir bezeichnen daher ihre Gruppe mit einem und demselben Namen: Wasser. Vergebens aber würden wir die Natur der Verbindung der Eigenschaften dieser oder irgendeiner anderen körperlichen Substanz über den erfahrungsgemäßen Zusammenhang hinaus zu erforschen suchen; ist doch auch der Zusammenhang der Tätigkeiten unseres Geistes nur durch innere Wahrnehmung gegeben und das Wesen der Seele, und wie sie denkt und will, unbekannt.

So sind unsere Vorstellungen von Substanzen nichts als Vorstellungen einer bestimmten Verbindung einfacher Ideen, die wir von den Dingen erlangen, und welche nur dadurch die Einheit eines Gegenstandes ausmachen, daß sie miteinander existieren, und diese Koexistenz selbst wird nicht weiter erkannt, als sie wahrgenommen wird. Die Substanz ist nicht die Vorstellung des Wesens eines Dinges, sondern der Beständigkeit eines Dinges und des Zusammenseins seiner Eigenschaften, die Vorstellung der Beständigkeit eines Verhältnisses.

Selbst die Kohäsion der Teile eines Körpers entzieht sich dem genaueren Verständnis. Zwar sollen wir, wie LOCKE mit der Wissenschaft seiner Zeit annimmt, die allgemeinen Eigenschaften der Körper: Lage, Gestalt, Bewegung, auf adäquate Weise erkennen, das heißt so, wie sie im Körper selbst sind; damit ist aber nicht auch schon die Erkenntnis ihres Zusammenhanges im Körper als Körper gegeben. Ein Körper nimmt einen bestimmten Raum ein und kann in Teile zerlegt, in Einheiten gespalten werden, in physikalische oder Moleküle, in chemische oder Atome.

Wie aber werden die Teile zusammengehalten, was ist der Kitt, frägt LOCKE, der sie aneinanderheftet? Antworten wir: der Druck des umgebenden Mediums oder Stoffes, so entsteht nur die neue Frage, was die Teile dieses Mediums zusammendrückt, und abermals die Teile des nächsten Mediums und so immer weiter, ins Unendliche. Durch diese Annahme, könnte man meinen, ließe sich die Kohäsion der Teile erklären; wäre nicht die Ausflucht ins Unendliche die Ausflucht zu dem, was wir nicht erfassen, nicht einheitlich zusammenfassen können.

Sprechen wir aber von anziehenden Kräften zwischen den Molekülen, so bleiben wir so klug wie zuvor; wir machen es wie MOLIÉREs Gelehrter, der die einschläfernde Wirkung des Opiums aus der einschläfernden Kraft dieser Substanz erklären wollte. Wir möchten den Zusammenhang der Teile erklären und führen ihn auf anziehende, das heißt den Zusammenhang bewirkende Kräfte zurück. Zwischen den mechanischen Eigenschaften der Teile eines Körpers und der Körper unter sich und ihren Wirkungen ist bis zu einem gewissen Grade ein Zusammenhang noch erkennbar. Daß Lage, Gestalt und Bewegung eines anderen bewirken, scheint nicht über unser Verständnis zu gehen.

Ursachen und Wirkung sind hier gleicher Art, und dies ist auch der Grund, weshalb wir der Erklärung der Naturvorgänge aus mechanisch wirkenden Ursachen den Vorzug vor jeder anderen Erklärungsart einräumen. Völlig begreiflich ist uns freilich auch das Wesen des mechanischen Wirkens nicht. "Die Bewegung bewegt", wodurch sie aber bewegt, durch Stoß, Fernwirkung oder aus irgendeiner Ursache sonst, warum sie hier aufhört, dort erscheint, für dieses innere Prinzip haben wir zwar ein Wort: Mitteilung der Bewegung; die Sache selbst ist aber dadurch nicht eingesehen.

Unsere Hoffnung, das Verständnis der natürlichen Verknüpfung der Dinge noch weiter auszudehnen, verschwindet jedoch gänzlich, wenn wir von dem Verhältnis der mechanischen Affektionen untereinander zu ihrem Verhältnis zu den spezifischen Eigenschaften der Sinneseindrücke, zu LOCKEs Ideen der "sekundären Qualitäten" übergehen. "Unser Geist ist nicht fähig, irgendeinen begreiflichen Zusammenhang zu entdecken zwischen den primären Qualitäten der körperlichen Dinge und den Empfindungen, welche durch sie in uns hervorgerufen werden; auf keine Weise läßt es sich verstehen, wie irgendeine Lage, Gestalt oder Bewegung irgendwelcher Partikeln der Materie in uns die Empfindung einer Farbe, eines Geschmackes, eines Tones erzeugen kann; es besteht keinerlei Verwandtschaft zwischen jenen mechanischen Vorgängen und irgendeiner dieser Vorstellungen in uns."

Diese  Grenze des Naturerkennens hätte du BOIS-REYMOND nicht zu entdecken gebraucht; bei LOCKE konnte er sie finden. Da wir sonach zwischen den Empfindungen und den voraussetzenden Eigenschaften der äußeren Dinge selbst eine Übereinstimmung, die uns ihr Verhältnis begreiflich machte, nicht aufzufinden vermögen, werden wir dann zweifeln können, daß die Wechselwirkung zwischen Körper und Geist noch um vieles unbegreiflicher sein muß? "Wie ein Gedanke den Körper bewegen soll, liegt dem Vermögen unseres Begreifens so fern, wie daß irgendeine Bewegung des Körpers im Geiste einen Gedanken erzeugen soll."

Die Betrachtung der Ideen selbst von Körper und Geist würde uns dies niemals zeigen können, nur die Erfahrung überführt uns davon, daß es so ist, meint LOCKE. - Die Beseitigung des hier vorliegenden Problems durch SPINOZA war ihm entweder nicht bekannt, oder sie erschien ihm zu metaphysisch.

In zwei Hauptsätze ist das Ergebnis der LOCKEschen Kritik des Substanzbegriffes zusammenzufassen. Das Wesen der Substanz als solcher ist unbekannt, denn die Substanz ist die Annahme von etwas Unbekanntem: Das Wesen des Zusammenhanges der Eigenschaften in einer Substanz ist nicht zu verstehen, denn die Erfahrung gibt uns nur Zusammenbestehen, nicht Abhängigkeit oder notwendige Verknüpfung der Eigenschaften zu erkennen. Aber trotz ihrer Unerkennbarkeit ist die Voraussetzung einer Substanz für die Erfahrung nicht zu entbehren. Das Problem, das damit gestellt wird, hat erst KANT gelöst.

Wie für das Zusammensein oder die Koexistenz der Eigenschaften, fehlt auch für die Aufeinanderfolge der Wirkungen der Dinge die Einsicht in die Notwendigkeit der Verknüpfung. Auch das Problem der ursächlichen Verknüpfung, das Problem HUMEs, hat bereits LOCKE berührt. Die Erfahrung, erklärt er, zeigt in dem gewöhnlichen Verlauf der Dinge zwar Beständigkeit und Regelmäßigkeit der Folge; aus den Vorstellungen der Dinge, die sich folgen, läßt sich aber die Notwendigkeit der Folge nicht herleiten. Finden wir, daß Dinge, soweit unsere Beobachtung reicht, beständig einander folgen, so mögen wir schließen, daß sie nach einem Gesetze wirken, nach einem Gesetze aber, das wir nicht kennen.

Ziehen wir die Summe. Ohne einfache Ideen, die durch die Einlaßpforten der Sinne in den Geist gebracht werden, keine zusammengesetzten Ideen; ohne Erfassung der Übereinstimmung der Ideen keine Erkenntnis. Der Umfang der Erkenntnis kann also sicher nicht weiter sein als der Umfang der Ideen; er muß sogar enger sein als dieser, denn Erkenntnis beruht auf der Vergleichung und Verbindung der Ideen. Wo die Übereinstimmung der Ideen nicht unmittelbar oder intuitiv zu erkennen ist, muß sie, falls Erkenntnis möglich sein soll, mittelbar oder demonstrativ erkannt werden. Fehlt es also an vermittelten Ideen, so fehlt es an Beweisgründen.

Bei der Verknüpfung der sinnlichen Eigenschaften und der Wirkung der Dinge fehlt es aber an vermittelnden Ideen; also, erklärte LOCKE, kann die Naturwissenschaft keine demonstrierte Wissenschaft sein. Sie ist auf beständig erneute Erfahrung angewiesen und Sache der Induktion und daraus zu gewinnender praktischer Beurteilung. Gewißheit und Beweis darf sie für ihre Gegenstände nicht beanspruchen, Nicht bloß die Metaphysik, von der sich dies von selbst versteht, da ihre Objekte, wenn sie existieren, den Sinnen nicht gegeben sind, auch die Physik ist nach LOCKE keine Wissenschaft im strengen Sinne des Wortes.

Doch enthält diese Behauptung des "Essay" einen ungeprüften Punkt. Von der einzigen Methode, den Zusammenhang der Erscheinungen über die Grenzen der reinen Erfahrung hinaus zu verfolgen, der Methode GALILEIs und NEWTONs, durch mathematische Analyse der Erscheinungen sichere und gewisse Gesetze der Natur abzuleiten, hatte LOCKE, als er den Essay schrieb, keine ausreichende Kenntnis. Er war zuwenig mit der Mathematik vertraut, um NEWTONs Werk eher zu verstehen, als bis ihm dieser einen Auszug daraus angefertigt hatte; sein "Versuch über den menschlichen Verstand" war aber lange vollendet, als er so von NEWTON in die wahre Methode des Naturerkennens eingeführt wurde.

Jetzt sah er, daß es noch andere Erklärungsgründe der physischen Vorgänge geben könne als Stoß und Bewegung durch Stoß, die einzigen, die er früher bei der "Schwäche unseres Verstandes" für begreiflich gehalten hatte. Jetzt erkannte er, daß durch die Anwendung der Mathematik auf die Naturerscheinungen die Grenzen des Naturerkennens doch viel weiter vorgeschoben werden können, als es der bloßen Empirie für möglich erscheint. Er wollte den Essay in diesem Punkte verbessern, konnte aber diese Arbeit nicht mehr ausführen.

Ich erwähne dies, um schon hier auf die so viel tiefere Kritik KANTs hinzuweisen, die auf vollständiger Kenntnis und Durchdringung der Wissenschaft NEWTONs aufgebaut ist. - Der Weg aber von LOCKE zu KANT führt vorerst zu HUME.
LITERATUR - Alois Riehl, Zur Einführung in die Philosophie der Gegenwart - Acht Vorträge, Leipzig 1919