p-3 Die Wende der PhilosophieHeinrich RickertAlois Riehl    
 
JULIUS von KIRCHMANN
Katechismus der Philosophie

"Die Philosophie hat zwar, wie alles Vortreffliche, auch einen Nutzen, und dieser Nutzen ist nicht bloß von einem unermeßlichen Umfang, sondern auch von der höchsten Bedeutung; allein gleich einem mächtigen Strom muß ihr wohltätiger Einfluß durch so viele, immer mehr sich verfeinernde Kanäle dem empfänglichen Boden zugeführt werden, daß Arme und Reiche, welche an diesem Segen täglich teilnehmen können, kaum die Quellen kennen, aus denen derselbe ihnen zufließt. Trotzdem ist dieser Nutzen nicht der Zweck der Philosophie; sie wäre dann nur ein Mittel von bedingtem Wert, während sie selbst in Wahrheit auch ihr Zweck ist und dieser Zweck nicht außer ihr liegt. Ihr Ziel ist die Wahrheit auf allen Gebieten, und indem sie dieses Ziel erreicht, ist sie selbst die Wahrheit und ihr eigenes Ziel. Aber wie erwähnt, hat sie auch ihren Nutzen; nur daß sie nicht um dieses Nutzens willen geschaffen worden ist und fortgebildet wird."

Einleitung
A. Begriff der Philosophie

Selbst innerhalb der gebildeten Kreise herrschen noch sehr verschiedene und unklare Ansichten über die Philosophie und ihre Bedeutung für die Wissenschaften wie für das Leben des Einzelnen und der Völker. Viele halten sie für ein bloßes Spielzeug der Stubengelehrten, von dem im Leben kein Gebrauch gemacht werden könne. Anderen gilt sie als eine Art von Geheimwissenschaft, die aber nur besonders Befähigten zugänglich sei. Die große Mehrheit schwankt zwischen diesen Ansichten hin und her und kennt im Grunde von der Philosophie wenig mehr als ihren Namen.

Ein Teil der Schuld an dieser Unklarheit trifft allerdings die Gelehrten selbst. Durch eine dunkle Darstellung haben sie diese ansich schon schwierige Wissenschaft noch dunkler und schwieriger gemacht. Indessen ist in neuerer Zeit auch für die Philosophie das Bedürfnis fühlbar geworden, ihren Inhalt in einer verständlicheren Sprache zu bieten und den gebildeten Kreisen den Eintritt in sie zu erleichtern.

Die Philosophie ist dazu auch wohl geeignet, da sie keine von den übrigen Wissenschaften völlig abgesonderte Stellung einnimmt; vielmehr sind bei ihr der Gegenstand, wie die Mittel, denselben zu erkennen und die Wahrheit zu erreichen, die nämlichen wie bei den anderen Wissenschaften. So wie diese die körperlichen und geistigen Gebiete des Universums zu ihrem Gegenstand haben, so gilt dies auch für die Philosophie; und so wie die ersteren für die Erkenntnis ihres Gebietes nur zwei Mittel besitzen, nämlich das Wahrnehmen, welches den Inhalt beschafft, und das Denken, welches diesen Inhalt von dem ihm anhängenden Falschen reinigt und das Allgemeine daraus heraushebt, so stehen auch der Philosophie nur diselben zwei Mittel für die Erreichung der Wahrheit zu Gebote.

Aber neben dieser Gleichheit besteht auch ein Unterschied. Die besonderen Wissenschaften teilen sich in die einzelnen Gebiete; jede behandelt das ihrige, ohne viel Notiz von dem zu nehmen, was die Wissenschaften auf anderem Gebiet erreichen und  wie  sie es erreichen. So kann es nicht fehlen, daß in diesen besonderen Wissenschaften sowohl die Methoden der Erforschung, wie die Ergebnisse vielfach voneinander abweichen, ja daß selbst das Entgegengesetzte in ihnen als die Wahrheit verkündet wird. Die Philosophie ist dagegen neben jenen  vielen  Wissenschaften nur  eine,  und während von jenen jede nur einen  Teil  der Welt sich zu ihrem Gegenstand nimmt und dadurch zu  besonderen  Wissenschaft wird, umfaßt die  eine  Philosophie das ganze Gebiet des Seienden und erhebt sich dadurch zur  einen allgemeinen  Wissenschaft. Während ferner die besonderen Wissenschaften von jenen beiden Mitteln der Erkenntnis das erstere, die Wahrnehmung in Form von Beobachtung und Versuchen, überwiegend benutzen, geschieht in der Philosophie das Entgegengesetzte, indem sie überwiegend das Denken zur Erreichung der Wahrheit benutzt. So erklärt es sich auch, daß die besonderen Wissenschaften den Vorstellungen des täglichen Lebens näher bleiben und deshalb verständlicher sind, während die Philosophie mehr und mehr zu den höheren Begriffen und Gesetzen aufsteigen muß und damit dem Verständnis größere Schwierigkeiten bereitet. Die besonderen Wissenschaften haben ihre Entwicklung früher begonnen als die Philosophie. Wenn auch jene mit der bloßen Erfahrung des täglichen Lebens begannen und lange Zeit nur aus Stückwerk und mangelhaften Begriffen und Gesetzen bestanden, so waren sie es doch, welche zunächst der Philosophie vorarbeiten, den Stoff herbeischaffen, ihn in eine notdürftige Ordnung bringen und auf allgemeine Begriffe zurückführen mußten, ehe die Philosophie ihr Werk wahrhaft beginnen konnte. Die Philosophie nahm die Arbeit da auf, wo die einzelnen Wissenschaften mit der ihrigen geschlossen hatten. Indem die letzteren durch ihre Isolierung innerhalb eines besonderen Gebietes genötigt waren, mit der Entwicklung der allgemeinen Begriffe zurückführen mußten, ehe die Philosophie nahm die Arbeit da auf, wo die einzelnen Wissenschaften mit der ihrigen geschlossen hatten. Indem die letzteren durch ihre Isolierung innerhalb eines besonderen Gebietes genötigt waren, mit der Entwicklung der allgemeinen Begriffe und Gesetze da aufzuhören, wo diese auch in andere Gebiete hinüberreichten, war ihnen damit die Grenze gesetzt, welche sie nicht gut überschreiten konnten, und indem alle besonderen Wissenschaften diese Grenze einhalten mußten, blieb damit ein inneres Gebiet frei und unbebaut, welches nur von  einer,  die Resultate aller besonderen Wissenschaften in sich aufnehmenden Wissenschaft weiter bearbeitet und erforscht werden konnte. Diese  eine  Wissenschaft wurde damit zur Philosophie. Ihr griechischer Name, welcher wörtlich Liebe zur Weisheit und Wahrheit bedeutet, stammt aus den Zeiten, wo der Besitz dieser Wissenschaft noch nicht erlangt war, sondern erst erstrebt wurde.

Damit war nun der Philosophie ihre Aufgabe gestellt; sie hatte das Allgemeine, die Begriffe und Gesetze von dem Punkt aus, wo die besonderen Wissenschaften ihre Arbeit beschlossen hatten, weiter zu führen und dieses innere, von allen besonderen Wissenschaften umschlossene Gebiet zum Gegenstand ihrer Tätigkeit sich zu nehmen. Damit ergibt sich auch der  Begriff  der Philosophie. Sie ist  diejenige Wissenschaft, welche die höchsten Begriffe und Gesetze des Seins und des Wissens zu ihrem Gegenstand hat.  Man kann die menschliche Erkenntnis mit einer Pyramide vergleichen, welche auf einer breiten, dem Einzelnen unmittelbar zugewandten Basis ruht und von da ab allmählich durch Abscheidung des Besonderen und Entwicklung des Allgemeinen immer engere Dimensionen annimmt, bis sie zuletzt mit ihren höchsten Begriffen und Prinzipien in eine Spitze ausläuft. Von dieser Pyramide fällt den besonderen Wissenschaften der untere Teil zu, während die Philosophie die Spitze einnimmt. So wie aber bei dieser Pyramide das Oben und Unten schwankende Bestimmungen sind, so verhält es sich auch mit der Grenze der Philosophie gegen die besonderen Wissenschaften. Da beide die gleichen Mittel der Erkenntnis benutzen, so greift je nach der Eigenheit der Bearbeiter die Philosophie bald tief in das Gebiet der besonderen Wissenschaften. Da beide die gleichen Mittel der Erkenntnis benutzen, so greift je nach der Eigenheit der Bearbeiter die Philosophie bald tief in das Gebiet der besonderen Wissenschaften, bald diese in das Gebiet der besonderen Wissenschaften, bald diese in das Gebiet jener über, ohne daß man dies als Grenzverletzung rügen könnte, da die Gebiete beider unmerklich und stetig ineinander verlaufen. So erklärt es sich auch, wie mit dem steigenden Fortschritt der besonderen Wissenschaften diese immer weiter in das Gebiet der Philosophie einrücken und letztere sich immer weiter nach der Spitze zurückzieht. Wenn man die Handbücher der einzelnen Wissenschaften aus den letzten Jahrhunderten miteinander vergleicht, so bemerkt man leicht, wie der allgemeine Teil derselben immer mehr an Inhalt und Umfang zugenommen hat, während der besondere im Gegensatz dazu sich gemindert hat. Die geschicktere Bildung der Begriffe und Regeln hat es ermöglicht, das Besondere kürzer zu fassen, die Glieder der Gesetze treffender zu bestimmen und damit eine Unzahl von früheren Ausnahmen zu beseitigen. Ebenso hat die gestiegene Bildung es gestattet, die oberen Begriffe der besonderen Wissenschaften zu höheren fortzuführen, die bisher der Philosophie angehörig waren, und damit das von diesen ausströmende Licht auch den niederen Stufen zuzuwenden.

Es ist deshalb ein Irrtum, wenn man meint, daß die Philosophie nur von den Männern bearbeitet werde, welche direkt als Lehrer der Philosophie auftreten oder ihren Schriften philosophische Titel geben; vielmehr ist vieles Philosophie, was nicht diesen Namen führt, und anderes ist trotz seines Namens keine Philosophie. Alle jene bedeutenden Männer, welche als die vordersten unter den Bearbeitern der besonderen Wissenschaften hervortreten, nehmen heutzutage an der Fortbildung der Philosophie einen wesentlichen Anteil, und sie verdankt gerade ihnen einen großen Teil ihrer wichtigsten neueren Begriffe.

Der bedeutendste Unterschied der Philosophie von den besonderen Wissenschaften besteht jedoch in dem, was man die  Voraussetzungslosigkeit  der Philosophie nennen kann. Alle besonderen Wissenschaften beginnen mit einer Anzahl von Begriffen und Grundsätzen, welche jeder, der in sie eintreten will, ohne weiteres anerkennen muß; ebenso haben alle ihre bestimmte Methode für die Untersuchung ihres Gebietes und die Ermittlung der Wahrheit, ohne daß beides weiter gerechtfertigt würde. So beginnt die Mathematik mit einer Reihe von Definitionen und Axiomen, die nicht weiter begründet werden und auf denen als selbstverständlich sie ihr mächtiges Gebäude aufführt. So gehen die Naturwissenschaften von der Wirklichkeit des Raums und der Zeit aus; das Wahrgenommene gilt ihnen als seiend, sie setzen Atome und Kräfte und nehmen eine durchgehende Gesetzlichkeit innerhalb der Natur an, ohne daß für alle diese Annahmen ein Beweis versucht würde. Das Gleiche geschieht von den Wissenschaften des Rechtes. Was die Begriffe "Recht" und "Pflicht" bedeuten, wird nicht definiert, und wenn man Definitionen davon bietet, so sind es nur Nominaldefinitionen. Die Grundsätze, daß Verträge erfüllt werden müssen, daß die Macht das Recht nicht brechen kann, und viele andere werden ohne weiteres vorausgesetzt. Ähnliches läßt sich für jede andere besondere Wissenschaft nachweisen. Die Philosohie hält sich dagegen von jeder Voraussetzung frei. Sie beginnt mit dem Zweifel an Allem, selbst am Gewissesten, und wenn sie später von einem sachlichen Prinzip ausgeht, so geschieht es doch nur nach der sorgfältigsten Voruntersuchung, und kein späteres System ist an dieses Prinzip gebunden; ein jedes kann von neuem beginnen und sich eine andere, tiefere Grundlage geben.

In dieser Voraussetzungslosigkeit liegt die unendliche  Freiheit  der Philosophie. Für sie besteht keine Schranke; weder die Heiligkeit der religiösen Lehren, noch die Macht der allgemeinen Volksstimme, noch das Gebot der Gesetze vermag ihr in der Verfolgung der Wahrheit Halt zu gebieten. In dieser Voraussetzungslosigkeit liegt allein die Möglichkeit, den rechten Weg zur Wahrheit zu finden und die Pfade des Irrtums zu verlassen, selbst wenn auch ein tausendjähriger Gebrauch sie geheiligt hätte. Aber in dieser Voraussetzungslosigkeit ist auch ein Folge enthalten, welche von jeher der Philosophie zum größten Vorwurf gemacht worden ist, nämlich ihr Zerfallen in  verschiedene Systeme,  von denen eines das andere bekämpft und jedes die Wahrheit für sich allein in Anspruch nimmt, ohne daß bis jetzt ein Friede und eine Einigung über die Wahrheit zwischen ihnen hätte erreicht werden können. Man hält der Philosophie vor, daß die Wahrheit nur  eine  sein kann; man weist auf das Beispiel der Mathematik hin und stellt ihr diese mit ihrer höchsten Gewißheit und unterschütterlichen Festigkeit als das Muster hin, dem sie nachstreben habe. Man erklärt sich bereit, die Philosophie zu studieren; allein man wolle zuvor wissen, welches von den vielen Systemen die Wahrheit enthalte, und vergebens suche man auf diese Frage eine zuverlässige Antwort.

Die Philosophie kann darauf nur entgegnen, daß es mit ihrem Grundprinzip der völligen Freiheit und Voraussetzungslosigkeit unvereinbar sei, daß  ein  System für Alle und für immer das alleingültige ist und bleibt. Es sei kein Verdienst der besonderen Wissenschaften, wenn bei ihnen der Streit schneller zu einer Vereinigung führe; sie gleichen gebahnten und gut eingehegten Pfaden, wo es kein Verdienst ist, den rechten Weg einzuhalten, während sich die Philosophie in einem Urwald bewegt, wo sich nur vereinzelte Spuren der Forscher finden, die gar leicht verloren werden, und von denen es immer ungewiß bleibt, ob sie zum Ziel führen.

Die Wahrheit ist für die Philosophie allerdings das Ziel, aber zugleich auch ein Problem. Näher betrachtet ist in dem Bestreben, dieses Problem zu lösen, das Ziel selbst schon enthalten, und was die Gegensätze der verschiedenen Systeme anlangt, so erscheinen sie nur für den Draußenstehenden von einer abschreckenden Größe; der Kenner weiß, daß diese Gegensätze des Anfangs sich immer mehr abstumpfen, je weiter zu dem konkreteren Inhalt fortgeschritten wird.


B. Der Nutzen der Philosophie

Es ist verzeihlich, wenn vom Laien auch nach dem  Nutzen  der Philosophie gefragt wird. Je größere geistige Anlagen die Wissenschaft verlangt, je umfassendere Vorkenntnisse sie erfordert, je beharrlicher das Studium auf ihrem Gebiet vordringen muß, umso natürlicher erscheint es, daß diese Wissenschaft alle anderen auch an Nutzen und Lohn überragen muß. Dessenungeachtet muß die Philosohie diese Forderung von sich ablehnen. Sie hat zwar, wie alles Vortreffliche, auch einen Nutzen, und dieser Nutzen ist nicht bloß von einem unermeßlichen Umfang, sondern auch von der höchsten Bedeutung; allein gleich einem mächtigen Strom muß ihr wohltätiger Einfluß durch so viele, immer mehr sich verfeinernde Kanäle dem empfänglichen Boden zugeführt werden, daß Arme und Reiche, welche an diesem Segen täglich teilnehmen können, kaum die Quellen kennen, aus denen derselbe ihnen zufließt. Trotzdem ist dieser Nutzen nicht der Zweck der Philosophie; sie wäre dann nur ein Mittel von bedingtem Wert, während sie selbst in Wahrheit auch ihr Zweck ist und dieser Zweck nicht außer ihr liegt. Ihr Ziel ist die Wahrheit auf allen Gebieten, und indem sie dieses Ziel erreicht, ist sie selbst die Wahrheit und ihr eigenes Ziel. Aber wie erwähnt, hat sie auch ihren Nutzen; nur daß sie nicht um dieses Nutzens willen geschaffen worden ist und fortgebildet wird.

Alle besonderen Wissenschaften erhalten erst durch sie ihre Vollendung. Die Grundlagen, auf denen diese Wissenschaften sich aufbauen, gewinnen erst durch die Philosophie ihre volle Sicherheit. Ebenso kann die Methode, nach der sie verfahren, nur aus der Philosophie ihre Rechtfertigung entnehmen; die Gegensätze, in welche die besonderen Wissenschaften geragen, ihre Widersprüche können nur durch die Philosophie ihren Ausgleich erhalten, und sie ist das Band, welches alle umschließt und die innere Einheit aller vermittelt.

Die Philosophie bietet gleich der Religion die Lösung für die höchsten Fragen, welche die Menschheit seit Jahrtausenden bewegt haben. Die Fragen, ob ein Gott ist, welches Verhältnis zwischen ihm und der Welt besteht, welches die letzten Grundlagen der Moral und des Rechts sind, welches die Bestimmung des menschlichen Geschlechts und des Einzelnen ist, ob es ein jenseitiges Leben für ihn gibt, ob da ein Ausgleich zwischen Glück und Gerechtigkeit erfolgen wird; ferner die Fragen, ob die Welt nach Raum und Zeit unendlich oder begrenzt ist, welches die wahren Elemente derselben sind, ob Leib und Seele eines oder verschiedene sind, ob der Mensch das Seiende zu erkennen vermag oder in seine Vorstellungen eingeschlossen ist; weiter die Fragen, was das Wesen des Schönen und der Kunst ist, welche Bedeutung das Schöne und das Kunstwerk innerhalb der menschlichen Gesellscaft einnimmt; die Fragen, welchen Anfang das Leben auf dieser Erde genommen hat, wie sich das Organische neben dem toten Stoff entwickelt; die Fragen nach dem Wesen des Staates, nach seiner besten Form, nach dem Gang der Geschichte, ob eine Freiheit neben der Notwendigkeit besteht, ob ein ewiger Friede zu hoffen und ob die Welt, wie sie besteht und sich entwickelt, die beste ist, oder ob es nicht besser sei, sie wäre gar nicht entstanden: diese Fragen des Optimismus und Pessimismus, wie alle jene anderen, die sich jedem denkenden Menschen aufdrängen, wenn er aus dem Gewühl der täglichen Geschäfte einmal zu sich selbst kommt und frägt, wozu all diese Mühen, diese Sorgen, dieses Jagen von Arbeit zur Lust und von der Lust zur Arbeit? alle diese Fragen finden in der Philosophie ihre Lösung, und wo sie dieselbe nicht zu geben vermag, stellt sie das Hemmnis klar vor Augen und hält Geist und Gemüt wenigstens von wüsten Träumereien zurück. Auch die Religion gibt auf viele dieser Fragen eine Antwort und vielfach eine tröstlichere, als die Philosophie; allein die Fundamente, auf denen der Glaube ruht, sind durch die besonderen Wissenschaften und ihre mächtigen Erfolge in den letzten Jahrhunderten allmählich so erschüttert worden, daß die Kraft des Glaubens bei einem großen Teil der Menschheit gebrochen ist. Die Beruhigung, der Trost, die Seelenruhe, nach der auch in diesem Teil der Menschheit ein jeder verlangt, der über den nächsten Tag hinausblickt, kann nur in der Philosophie gefunden werden.

Aber freilich ist, um diese Seelenruhe, diese Ataraxie, wie sie schon die Alten als die Frucht der Philosophie bezeichneten, zu erreichen, ein ernstes und anhaltendes Studium nötig. Der Philosoph im vollen Sinn des Wortes bleibt ebenso wie die vollendete Philosophie ein  Ideal,  das selbst von den größten Männern, welche in dieser Wissenschaft aufgetreten sind, nicht erreicht worden ist. Guter Wille, Fleiß, Ausdauer genügen hier nicht; es sind Vorbedingungen nötig, welche nicht in der Macht des Einzelnen liegen. Zu einem Philosophen im vollen Sinn gehört als  erste  Vorbedingung ein langes und reiches Leben; er muß das Große und das Kleine in der Natur und in der menschlichen Gesellschaft selbst gesehen haben, er muß auf Reisen fremde Länder und Sitten kennen gelernt, er muß mit allen Klassen der Gesellschaft verkehrt, muß die großen und kleinen Freuden und Schmerzen des Lebens selbst empfunden, Unglück und Glück selbst erfahren, Gutes und Böses selbst getan haben; er muß die Ruhe des Gewissens nicht minder wie die Gewalt der Leidenschaften, die Reue und den Trost, welchen Buße und Strafe bieten,  selbst  empfunden haben. Nur wenn er dies alles  selbst  gesehen,  selbst  gefühlt,  selbst  verlangt und verabscheut hat, hat er sich den Inhalt, mit dem die Philosophie sich beschäftigt, in jener Tiefe und Innigkeit angeeignet, durch die allein man diesen Inhalt denkend zu behandeln, denkend seine innerste Natur zu erfassen und in klaren Worten darzulegen vermag.

Eine  zweite  Vorbedingung ist die genaue, bis ins Detail hinabreichende Kenntnis der besonderen Wissenschaften. Diese bieten der Philosophie den Stoff und zwar in einer bereits geordneten Form. Die nächsten Begriffe und Gesetze sind hier bereits gefunden; die Arbeit von Jahrtausenden ist für den Philosophen hier bereits vorgemacht; sie sind die Grundlage, auf welcher allein die Philosophie weiterschreiten kann. Es ist daher nichts verkehrter, als die Meinung, Philosophie könne für sich studiert und betrieben werden, und schon die notdürftigsten Kenntnisse aus einigen der besonderen Wissenschaften seien dafür genügend.

Eine  dritte  Vorbedingung ist schließlich, daß der Philosoph von der Natur mit den trefflichsten Anlagen ausgestattet worden ist. Mit einer festen, zähen Gesundheit müssen sich bei ihm scharfe Sinne, eine feine Beobachtungsgabe, ein immenses Gedächtnis, ein scharfes Urteil und eine Divinationsgabe verbinden, welche aus dem verworrenen Haufen der einzelnen Tatsachen das sie alle beherrschende Gesetz mit glücklichem Griff erfaßt.

Diese Vorbedingungen sind derart, daß kein Sterblicher sie je in sich vereinigen wird, und deshalb war schon bei den  Stoikern  und  Epikureern  der Weise ein Ideal; und nicht minder bleibt deshalb auch die vollendete Philosophie ein Ideal. Daher leiden selbst die Werke der größten Philosophen, welche im Lauf der Jahrhunderte seit den Griechen aufgetreten sind, an Mängeln, welche sich leicht aus dem Mangel einzelner dieser Vorbedingungen erklären. Allein deshalb darf der Einzelne sich nicht vom Studium dieser Wissenschaften abschrecken lassen. Ein bloßes Spiel mit philosophischen Schriften zur Unterhaltung ist allerdings völlig nutzlos; Ernst und Übung im abstrakten Denken muß dazu mitgebracht werden. Aber dann werden bei einiger Ausdauer jene segensreichen Folgen für Geist und Herz in demselben Maß sich einfinden, als man in diesem Studium aushält und sich von einem schweren Anfang nicht abschrecken läßt.


C. Einteilung der Philosophie

Obgleich die Philosophie nur  eine  ist und in jedem ihrer Systeme  ein  Prinzip und  eine  Methode sich durch alle Teile hindurchziehen muß, so führt doch die Mannigfaltigkeit der Gebiete, welche sie befaßt, zu Abteilungen innerhalb derselben. Schon bei den Griechen bestand eine Einteilung derselben in  Logik, Physik  und  Ethik,  welche ziemlich allgemein von allen Philosophenschulen festgehalten wurde. In neuerer Zeit sind die Ästhetik, die Religionsphilosophie und die Philosophie der Geschichte als weitere Abteilngen hinzugetreten, und man hat danach in verschiedener Weise eine umfassende und logisch gegliederte Einteilung aufzustellen versucht, die meist durch die obersten Prinzipien der einzelnen Systeme bedingt ist. In der hier folgenden Darstellung stützt sich die Einteilung ebenfalls auf den sachlichen Unterschied der Gebiete. Insofern dem  Seienden  das  Wissen  gegenübersteht, zerfällt danach die Philosophie in zwei Hauptteile, in die  Philosophie des Wissens  und die  Philosophie des Seienden.  Jene sondert sich in die Lehre vom  Vorstellen  und vom Erkennen; bei ersterer werden die Vorstellungen nur als solche betrachtet und deren Arten und Gesetze dargelegt; bei dieser wird die Frage nach der  Wahrheit  dieser Vorstellungen und nach dem Gegensatz zwischen dem Gegenstand und der Vorstellung desselben behandelt; der Begriff der Wahrheit und die Mittel des menschlichen Geistes, dieselbe zu erreichen, werden hier untersucht. Daran schließt sich die Untersuchung über die Natur der Begriffe, der Definitionen und der Methode der Wissenschaften.

 Die Philosophie des Seienden  zerfällt zunächst in  drei  Hauptteile:
    1) die Philosophie des körperlich-Seienden, oder die  Naturphilosophie; 

    2) die des geistig-Seienden, oder die  Psychologie und

    3) die des  menschlichen Handelns  und der menschlichen Werke, als der Verbindung von körperlich und geistig Seiendem.
Dieser letzte Teil befaßt die  Ethik,  die  Ästhetik  und die  Religionsphilosophie.  Derselben können dann noch weitere Teile beigefügt werden, wie z. B. die Philosophie der  wirtschaftlichen Tätigkeit,  die der  Sprache  und die der  Geschichte;  diese Abteilungen lassen sich aber auch ebenso zweckmäßig und zwar die zweite mit der Philosophie des Wissens und die erste und dritte mit der Ethik oder Rechtsphilosophie verbinden. Letzteres wird hier geschehen, da der beschränkte Raum eine ausführlichere und selbständigere Behandlung derselben nicht gestattet.

Vergleicht man diese Einteilung mit der den Griechen geläufigen, so umfaßt die Philosophie des Wissens die alte Logik und das, was bei ARISTOTELES "erste Philosophie" genannt wird, die Lehre von den obersten Prinzipien, wofür dann der Name Metaphysik aufkam. Die Philosophie der Natur fällt mit der Physik, ebenso die Ethik oder Rechtsphilosophie mit der Ethik der Griechen zusammen. Die Ästhetik oder die Philosophie des Schönen und der Kunst war zwar schon von den Griechen, namentlich von ARISTOTELES, behandelt worden, aber sie tritt erst seit der Mitte des vorigen Jahrhunderts in selbständiger Behandlung auf. Die Religionsphilosophie im modernen Sinne war den Griechen unbekannt; die Lehre der positiven Religionen galt vielen griechischen Philosophen nur als ein Volksglaube, der auf Wahrheit keinen Anspruch hat; das, was über die Götter von Philosophie gelehrt werden konnte, wurde in der Metaphysik mit vorgetragen. Auch die Philosophie der Sprache und der Geschichte ist erst in neuerer Zeit hinzugetreten. Die Griechen haben es hier nicht über unscheinbare Anfänge hinaus gebracht, weil ihnen die betreffenden Gebiete noch zu wenig bekannt waren.


D. Die verschiedenen Systeme der Philosophie

Seitdem die Griechen um 600 v. Chr. die Grundlagen zur Philosophie legten, haben sich die geistig hervorragendsten Männer jedes Jahrhunderts und aller kultivierten Nationen dieser Wissenschaft zugewendet, und selbst in den dunkelsten Zeiten der Völkerwanderung und des Mittelalters hat das Studium und die Fortbildung der Philosophie nicht völlig aufgehört, nur der Grad dieser Fortbildung hat geschwankt. Beinahe alle diese hervorragenden Männer haben auch Schriften hinterlassen, und selbst wenn man von der Unzahl der unbedeutenderen philosophischen Schriften absieht, sind schon die Werke jener hervorragenden Männer im Laufe der Jahrhunderte zu einer Bibliothek für sich angewachsen, deren vollständige und dabei gründliches Studium auch dem begabtesten Kopf kaum noch möglich ist. Nicht minder groß ist die Verschiedenheit der in diesen Werken niedergelegten Ansichten. Man hat deshalb seit längerer Zeit begonnen, diesen Stoff zu einer zusammenhängenden Geschichte der Philosophie zu verarbeiten. Insbesondere ist von HEGEL als Prinzip hierbei aufgestellt worden, daß die Geschichte der Philosophie in sich selbst eine  zeitliche  Entwicklung ebenderselben philosophischen Grundbegriffe darstellt, welche in der reinen Logik als eine  zeitlose  Entwicklung auftritt, und daß diese Entwicklung in beiden genau parallel erfolgt. So geistreich dieser Gedanke ist, so erweist er sich doch schon von der Zeit des PLATON und ARISTOTELES ab als nicht mehr durchführbar; vielmehr zeigen sich schon bei diesen beiden ihren nächsten Nachfolgern sämtliche Begriffe, wie sie in der späteren Philosophie bis auf die neueste Zeit aufgetreten sind, mit wenig Ausnahmen entwickelt, und der Fortschritt der Philosophie bestand seit jener Zeit weniger in der Aufsuchung neuer Begriffe, als in einer mannigfaltigen Modifikation und Verbindung derselben zu neuen Prinzipien.

Dessenungeachtet läßt sich eine Übersicht und Einteilung dieser mannigfachen, zum großen Teil einander bekämpfenden System nach  zwei  Gesichtspunkten gewinnen, je nachdem der eine Teil die Wahrheit für erreichbar, der andere sie für nicht erreichbar erklärt, und je nachdem ein Teil der Systeme die Wahrheit, namentlich auf übersinnlichem Gebiet, rein durch das Denken für erreichbar hält, und der andere Teil daran festhält, daß der Inhalt des körperlich- und geistig-Seienden nur durch das Wahrnehmen gewonnen werden kann und dem Denken nur die Reinigung dieses Stoffes, seine Ordnung und die Aussonderung des Allgemeinen als des Inhaltes der Wissenschaften zufällt. Nach diesem letzteren Gesichtspunkt zerfallen die Systeme in die des  Idealismus  und des  Realismus,  nach dem ersteren in die  dogmatischen  und  skeptischen  Systeme.

Die idealistischen Systeme waren in den alten und mittleren Zeiten die überwiegenden. Als ein freies, durch religiöse Vorstellungen nicht mehr eingeengtes Denken sich bei den Griechen entwickelte, erschienen die damit erlangten Resultate für jene Zeit so überrasched und wunderbar, daß man die Macht des Denkens überschätzte und die Beobachtung des Seienden dagegen zurückstellte. Dieser Charakter blieb der vorherrschende in der Philosophie bis zum Ende des Mittelalters, und der Realismus kam nur in den Systemen der Stoiker und Epikureer zu höherer Geltung. Erst mit den großen Entdeckungen in der Geographie und Naturwissenschaft, seit dem 15. und 16. Jahrhundert, erhoben sich in England und Frankreich realistische Systeme, welchen seit dem letzten Jahrhundert auch ähnliche in Deutschland gefolgt sind. Beide Systeme sonderten sich wieder in verschiedene Arten. Der Idealismus durchlief die Phasen des objektiven, des kritischen, des subjektiven und des absoluten Idealismus; der Realismus begann mit dem Sensualismus, und setzte sich demnächst in Empirismus und Materialismus fort, aus welchem sich dann ein Realismus in reinerem Sinn herausgebildet hat.

Die Kühnheit, mit welcher das Denken im Altertum auch auf den übersinnlichen Gebieten vorgegangen war, rief als Gegengewicht gegen diese dogmatischen Systeme den  Skeptizismus  hervor, welcher bei den Griechen eine große Zahl von Anhängern fand und eine sehr vollständige systematische Ausbildung erhielt. In der neueren Philosophie macht sich der Skeptizismus weniger als ein selbständiges System geltend; dagegen wird er von einzelnen, meist geistreichen Männern gefördert, indem sie, mit keinem der positiven Ergebnisse zufrieden, überall ein noch tieferes Eindringen verlangen, oder überhaupt durch keines der dogmatischen Systeme sich befriedigt fühlen, ohne doch selbst Hand zur Besserung anzulegen.

Infolge der eigentümlichen Natur der Philosohie kann nicht erwartet werden, daß diese beiden großen Gegensätze innerhalb der Philosophie jemals verschwinden werden; sie beruhen im letzten Grund nicht mehr auf der Natur des menschlichen Erkennens und Wissens, sondern auf dem Unterschied der  Gefühle Man kann die Anhänger des Idealismus als die Poeten und die des Realismus als die Prosaiker in der Philosophie ansehen. Das Denken ist seiner Natur nach freier als das Wahrnehmen und vermag deshalb allein dem Verlangen jener poetischen Gemüter nach Totalität, nach Einheit, nach durchgehender Erkennbarkeit, Vernünftigkeit und Zweckmäßigkeit des Universums die genügenede Befriedigung zu gewähren, der Realismus, welcher die Wahrnehmung und Beobachtung als die Brücke anerkennt, auf der allein man ein Wissen vom Seienden erlangen kann, ist dadurch in seinen Mitteln weit beschränkter. Das jenseits aller Wahrnehmung liegende Gebiet gilt ihm für unerreichbar; dafür entschädigt ihn die Sicherheit und Klarheit seines Wissens innerhalb des der Wahrnehmung zugänglichen Gebietes.

So wie diese beiden großen Gegensätze des Idealismus und Realismus nicht aus einem Unterschied in den Erkenntnismitteln, des Menschen, sondern aus Gegensätzen innerhalb des Gemütes und der Gefühle hervorgegangen sind, so entscheide auch für den Einzelnen, welcher sich zur Philosophie wendet, weniger die Natur seiner erkennenden Fähigkeiten als seine Gefühlsstimmung darüber, welches von diesen beiden Systemen er als das wahre ergreifen und festhalten wird. Was aber die Frage anlangt, mit welchem System der Einzelne zu beginnen hat, so hat dieselbe durchaus nicht die Wichtigkeit, welche der Anfänger wohl in ihr suchen mag. Die eigene Gefühlsstimmung wird einen jeden bald das System finden lassen, welches ihn befriedigt und in welchem er die Wahrheit zu empfangen glauben darf.

Wenn endlich die Philosophie die schwierigste der Wissenschaften ist, so ist sie auf der anderen Seite auch wieder die zugänglichste, indem es bei ihr durchaus gleichgültig ist, mit welchem von den Werken der großen Philosophen man beginnen will. Die Philosophie gleicht einem Tempel mit hundert Eingängen, die alle gleich sicher zum Innern führen, sofern man sich nur nicht durch die Schwierigkeiten abschrecken läßt, die sich zu Beginn dem Eintritt entgegenstellen. Es bleibt hier nur vor  zweierlei  zu warnen: einmal, daß man nicht meine, methodisch verfahren und deshalb mit der Logik beginnen zu müssen; vielmehr ist jeder Teil der Philosophie und jedes Werk eines bedeutenden Philosophen aus alter oder neuer Zeit gleich gut geeignet, um den gelehrigen Schüler in diese Wissenschaft einzuführen; und zweitens hüte man sich, mit Handbüchern der Philosophie und mit Darstellungen der Geschichte der Philosophie das Studium derselben zu beginnen. Alle Vermittlung ist hier von Übel; nur wenn man unmittelbar aus den Quellen schöpft, wird man sich am reinsten Trank der Weisheit laben.

Der hier folgenden Darstellung ist das  realistische  System der Philosophie zugrunde gelegt worden, weil es den natürlichsten Übergang aus den besonderen Wissenschaften zur Philosophie bildet, weil es für den Anfänger das verständlichste ist, und weil die Kenntnis dieses Systems den Übergang zu den idealistischen Systemen und deren Verständnis am leichtesten ermöglicht.
LITERATUR stopper Julius von Kirchmann - Katechismus der Philosophie, Leipzig 1897