ra-2J. C. BluntschliK. RodbertusC. Frantz    
 
JULIUS FRÖBEL
Theorie der Politik
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"Von der Politik wird die Natur nicht in Beziehung zur menschlichen Erkenntnis, sondern in Beziehung zum menschlichen Willen gesetzt und die Erkenntnis der Tatsachen und Gesetze kommt nur ins Spiel sofern sie dem Willen seinen Inhalt gibt und auf diese Weise die menschlichen Zwecke formen und ausführen hilft."

"Das Verhältnis von Recht und Macht bedarf in der öffentlichen Meinung von der das Staatsleben unserer Zeit beeinflußt wird, vielfach der Aufklärung. Wäre dies nicht bei uns in so hohem Grad der Fall, so würde es nicht möglich sein, daß es in Deutschland so viele unpolitische Narren gibt, welche bereit sind, die Machtinteressen der Nation dem vermeintlichen Recht zu opfern. Denn wenn auch in der inneren Politik eines Staates, soweit sie sich von Rücksichten der äußeren befreit denken läßt, die Macht in einem gewissen Sinne aus dem Recht folgen soll, so ist es wenigstens sicher, daß im Verhältnis der Nationen und Staaten untereinander das Recht immer nur aus der Macht hervorgeht und zwar nicht etwa infolge einer menschlichen Unvollkommenheit, sondern dem ewigen Wesen der Sache gemäß."

Zweites Kapitel
Natur und Kultur

Das Eingehen des Willens auf die Tatsache, womit die  Kultur  beginnt, ist in der  Natur  begründet. Im selben Augenblick in welchem dem Menschen die Natur als Bedürfnis und Notwendigkeit zu Bewußtsein kommt, erscheint in seinem Bewußtsein die Kultur als Absicht und Freiheit. Die Welt als Kulturbegriff und die Welt als Naturbegriff bedingen sich gegenseitig. So ist es im Bewußtsein und so im lebendigen Gang der Wirklichkeit. Ein rohes Bewußtsein, für das es keine Kultur gibt, kennt auch keine Natur. Darum hat sich auch erst mit den höheren Kulturstufen der höhere Natursinn der gebildeten Völker entwickelt. Mit dem Auseinanderfallen und der Gegenüberstellung von Natur und Kultur beginnt erst das eigentliche Bewußtsein im menschlichen Sinne, während selbst in den ausgebildetsten Kunsttrieben der Tiere Natur und Kultur eins und dasselbe sind. Aber während im menschlichen Leben die Kultur ewig daran arbeitet sich die Natur zu unterwerfen, ist es auch hier ewig die Natur welche die Antriebe zur Kultur enthält. Die Natur ist ein Kulturprozeß weil die Kultur ein Naturprozeß ist und umgekehrt.

Das heißt mit anderen Worten: die Gesamtheit der Tatsachen, verkettet durch das theoretische Verhältnis von Ursache und Wirkung, ist einerlei mit der Gesamtheit der Tatsachen verkettet durch das praktische Verhältnis von Mittel und Zweck.

Unter dem Verhältnis von Ursache und Wirkung ist das All im Begriff der  Natur  erschöpft.  Natürlich  ist, was im Verhältnis der Wirkung zu einer Ursache oder der Ursache zu einer Wirkung steht und selbst Gott als höchste Ursache gedacht, ist nicht in seinen Wirkungen, sondern nur darin, daß er selbst keine Ursache hat, ein übernatürlicher Gott. Der  Kultur angehörig  aber ist das oder  sittlich  im Gegensatz des natürlichen muß das genannt werden, was sich als Zweck zu einem Mittel oder als Mittel zu einem Zweck verhält. Innerhalb der Schranken des theoretischen Gedankens bleibt im All außer, über, unter oder neben der Natur nichts übrig. Aber das nämlich All, diese nämliche Gesamtheit der Tatsachen stellt sich dem praktischen, also dem sittlichen oder ethisch-technischen Gedanken in verschiedener Weise als ein anderes dar.

Allerdings muß die Politik, als die Ethik und Technik des Staatslebens, sich ebenfalls, und zwar viel, mit der Natur beschäftigen; aber indem sie die Kenntnis derselben von den empirisch-theoretischen Wissenschaften entlehnt, hat sie nur eine praktische Absicht und zwar eine doppelt-praktische Absicht, welche sich ethisch auf das System der menschlichen Zwecke und technisch auf das System der menschlichen Mittel bezieht. Aus der Kenntnis der Natur und ihrer Gesetze hat die Politik ihr Urteil über den Wert oder Unwert menschlicher Sitten, die Vernünftigkeit gesellschaftlicher Einrichtungen, die Ausführbarkeit gesellschaftlicher Zwecke und den Verstand oder Unverstand der Gesetze des Staates zu schöpfen, oder, wenn nicht zu schöpfen, doch mindestens zu berichtigen und zu vervollständigen. Und wo menschliche Zwecke als Zwecke des Staates festgestellt sind, hat sie in der Natur die Bedingungen der Verwirklichung aufzusuchen und ihr die Mittel der Ausführung zu entnehmen. Überall wo der sittliche Gedanke sich verwirklichen will, bedarf er des natürlichen Materials und der natürlichen Kräfte für seine Taten und Werke. Aber bei dieser Beschäftigung mit der Natur setzt doch immer die Politik das sittliche Verhältnis von Mittel und Zweck an die Stelle des natürlichen Verhältnisses von Ursache und Wirkung. Sie benutzt die Ursache als Mittel um die Wirkung als beabsichtigten Zweck zu erreichen. Sie macht also das naturmäßig höhere zum kulturmäßig niederen, - eine Umkehrung der Rangordnung, welche einen unendlich bedeutungsvollen aber wenig verstandenen Gegensatz zwischen der natürlichen und sittlichen Weltordnung, oder, was das nämliche sagt, zwischen der theoretischen und praktischen Weltansicht in sich schließt. Nur auf dem höheren Standpunkt der Religion findet dieser seine Versöhnung. Auf dem Standpunkt der Religion wird der Zweck, als im Wesen enthalten, wieder aus der Wirkung in die Ursache verlegt und damit allerdings auch die Natur wieder in ihrer eigenen Ordnung anerkannt. Wenn aber zuweilen gesagt wird, der wahre Staatsmann solle Naturforscher sein, so ist das dennoch ein Satz, welcher der Unwahrheit näher steht als der Wahrheit.

Die Kultur darf sich freilich nirgends von der Natur entfernen und wie auch der Künstler, überhaupt der Mensch welcher Kulturzwecke verfolgt, die Natur kennen und ihr mit seinem Gefühl und seinen Interessen nahe stehen muß, so unzweifelhaft auch der Politiker. Sowenig aber der Künstler schlechthin das natürliche brauchen kann, sowenig der Politiker. Beide können freilich in gleichem Grad auch das unnatürliche nicht brauchen und gerade so weit daß sie  dieses  vermeiden, geht bei beiden das Bedürfnis der Naturkenntnis und des Natursinnes. Aber wenn man uns den naturwüchsigen Staat mit allen seinen Brutalitäten, seien sie Brutalitäten der Freiheit oder Brutalitäten der Gewalt, - beides im Grunde einerlei - als Ideal vorstellt, ist man politisch auf dem nämlichen Irrweg auf welchem man künstlerisch mit dem Kopieren der gemeinen Natur ist. Auch für die Politik wie für die Kunst ist das natürliche ansich nur das gemeine, welches durch den menschlichen Geist erst geadelt werden muß, für die Kunst durch  Idealisierung,  für die Politik durch  Moralisierung.  Durch Verkennung dieses Verhältnisses haben wir die Politik in drei große Irrwege geraten sehen: einen Irrweg der Freiheit welcher dem staatlosen Zustand zuführt, - einen Irrweg der Gewalt, welcher das naturwüchsige im Staat als das wesentliche Element der Politik geltend macht und einen Irrweg der sozialistischen Lehre welche in der Natur die Gesetze des Staates  entdecken  will anstatt sie durch eine sittliche Arbeit  hervorzubringen.  Das Gesetz der Natur, allerdings, wird  entdeckt;  aber das Gesetz des Staates wird  gegeben.  Das erste ist der Ausdruck dessen, was  ist,  das letzte der Ausdruck dessen was  sein  soll. Für das erste hat die Sprache den  Indikativ,  für das letzte den  Imperativ  erfunden und man hat Gründe anzunehmen, daß der menschliche Geist auch diese Unterscheidung, wie andere, welche er in den Sprachformen niedergelegt hat, nicht umsonst gemacht hat. Hätten diejenigen Recht, welche sich einbilden, es könne jemals das Naturgesetz die Stelle des Sittengesetzes einnehmen, - wäre die Vernunft auf Seiten derer, welchen die Moral zu einer Frage statistischer Verhältniszahlen geworden ist, so würde man vor allem die Grammatik aller Sprachen von den Ausdrucksformen reinigen müssen in denen sich der bisherige moralische Aberglaube fortzupflanzen droht. Statt daß MOSES gesagt hat "Du  sollst  nicht töten!" - würden wir, auf das Naturgesetz gestützt, nur sagen dürfen "Du wirst töten" oder "Du wirst nicht töten," je nachdem es das statistische Kausalverhältnis lehren mag.

"Das Gesetz" - hat uns PROUDHON gelehrt - "ist die Regel, nach der die sozialen Bedürfnisse zufriedengestellt werden müssen; es wird nicht vom Volk gewählt, noch vom Gesetzgeber beschlossen, sondern die Wissenschaft muß es entdecken." In wenigen Zeilen und guter Sprache eine größere Summe von philosophischem Unverstand auszusprechen ist nicht denkbar. Und dennoch hat ein englischer Schriftsteller, welcher mit großen philosophischen Ansprüchen aufgetreten ist, mit diesem Unverstand erfolgreich gewetteifert, denn es ist nicht leicht möglich mit einer Dreschmaschine nach dem neuesten Induktionsmodell in kürzerer Zeit mehr leeres Stroh zu dreschen als Mister HENRY THOMAS BUCKLE im ersten Kapitel seiner "History of Civilization in England" gedroschen hat. Seine Untersuchung über Willensfreiheit, Prädestination und Naturnotwendigkeit, welche das genannte erste Kapitel füllt, geht darauf aus eine Philosophie der Geschichte auf das Verhältnis von Ursache und Wirkung zu gründen, ohne daß es dem englischen Philosophen in den Sinn kommt, daß auf diesem Weg im günstigsten Fall eine  Physik  der Geschichte oder wenn man lieber will, eine  Physiologie  der Geschichte geschaffen werden kann, während die wahrhaft  philosophische  Beurteilung aller menschlichen Entwicklungsvorgänge ein  ethisches Problem  ist, bei dessen Lösung die ganze Natur mit allen ihren Tatsachen, also auch der ganzen Laster- und Verbrechensstatistik, vor den sittlichen Richterstuhl zitiert wird. Wenn es Naturgesetze gibt, die den Menschen zum Verbrechen zwingen, so beweist dies nur daß die ganze Natur vor dem Sittengesetz nicht Stich hält. "Du sollst nicht töten!" - das steht nach dem Sittengesetz fest. Kannst du es auf  natürliche  Weise nicht zustande bringen dich zu enthalten, so muß es auf  unnatürliche  oder  übernatürliche  Weise zustande gebracht werden. Darum ist in einem gewissen Sinne die  Kultur  in der Tat unnatürlich und alle Kulturanläufe der Menschen fangen mit Handlungen und Gebräuchen an, die man in diesem bestimmten Sinne  unnatürlich  nennen kann. Der menschliche Geist, in der Tat, schafft sich in der Kultur einen Apparat von Organen  gegen  die Natur und wenn man daher glaubt über menschliche Einrichtungen, damit daß man sie als  naturwidrige  bezeichnet, den Stab gebrochen zu haben, so ist man in einem sehr großen Irrtum befangen. Denn wenn auch, in einem anderen Sinn, die Kultur selbst nur ein Erzeugnis oder eine höhere Form der Natur ist, insofern sie selbst sich nach dem Verhältnis von Ursache und Wirkung betrachten läßt, so ist es, auch in diesem Sinne, eben die gegen sich selbst gekehrte Natur, welche in der Kultur auftritt. Du klagst über soviele gesellschaftliche Einrichtungen welche Du als unnatürliche bezeichnest. - Sehr wohl! - Die Bezeichnung sei angenommen! - Aber die menschliche Gesellschaft ist gar nicht dazu bestimmt, sich als eine bloß natürliche Vielheit zu fühlen. Sie  soll  es empfinden und  soll  es wissen, daß sie mit der bloßen Natürlichkeit Krieg führt. Es  soll  ihr immer vor Augen gehalten sein, daß sie das Verhältnis von Zweck und Mittel, als das Grundverhältnis der Sittlichkeit, an die Stelle des Verhältnisses von Ursache und Wirkung, als das Grundverhältnis der Natürlichkeit, zu setzen hat und dies wird auf gewissen Kulturstufen eben nur dadurch erreicht, daß Gesetze und Sitten sich ganz ausdrücklich mit der Natur in Widerspruch setzen. Aus diesem tiefen sittlichen Beweggrund gehen die oft grausamen Verunstaltungen hervor welche rohe Völker mit dem eigenen Körper vornehmen und die äußersten Geschmacklosigkeiten unserer gesellschaftlichen Formen, Moden und Trachten müssen auf die nämliche Quelle zurückgeführt werden, auf das sittliche Grundbedürfnis des Menschen, an die Stelle natürlicher Kausalität absichtliches und willkürliches Handeln zu setzen. Hier ist dann auch der Punkt, wo Sitte und Sittlichkeit zusammenhängen.

Es ist hiermit von selbst klar, daß der Begriff der Politik als einer bloßen Physiologie oder Naturlehre des Staates ein unzulänglicher ist. Daß der Staat, wie jedes Kulturgebilde, aus natürlichen Bedingungen hervorgeht, - daß natürliche Bedingungen immer die Grundlage seines Daseins und seiner Entwicklungsformen sind, weiß jeder Mensch oder es konnte höchstens nur in Augenblicken eines ideologischen Schwindels vergessen werden. Gegen einen solchen Schwindel die Rechte der Wirklichkeit geltend zu machen, unter denen die der Naturbedingungen eine wesentliche Rolle spielen müssen, ist bei uns in Deutschland unstrittig ein Verdienst der sogenannten "Realpolitik" gewesen und ganz richtig ist es, wenn von dieser, wie es z. B. durch ROCHAU (1) geschehen, die Macht an die Spitze ihres Systems gestellt worden ist. Schon hier muß aber darauf aufmerksam gemacht werden, daß die Macht keineswegs ein physikalischer oder physiologischer Begriff ist. Die Natur als solche hat  Kräfte  aber keine  Mächte  und wenn demungeachtet einmal von  Mächten der Natur  gesprochen wird, so ist das nur die poetische Übertragung eines sittlichen Begriffs auf das natürliche Gebiet, wenn es nicht etwa gar ein ernsthaft gemeinter dämonologischer Aberglaube ist der aus dem Dunkel des religiösen Vorstellungskreises irrwischartig auf beide, - das sittlich und das natürliche Gebiet zugleich, herüberspielt. Es hat einen ernsthaften Sinn von "Mächten des Schicksals" oder von "historischen Mächten" zu reden, aber nicht von "Mächten der Natur", weil im Begriff des Schicksals wie in dem der Geschichte die Natur, soweit sie als wirkend in Betracht kommen mag, schon wieder unter den sittlichen Gesichtspunkt gestellt ist, der für die Natur an sich keinen Sinn hat. SCHLEIERMACHER, welcher soviel mir bekannt zuerst die Politik eine "Physiologie des Staates" genannt hat, ist bei den interessanten Blicken, die er aus dem natürlichen Gebiet in das sittliche und aus dem sittlichen in das natürliche tut, über das Verhältnis beider gerade ganz besonders unklar. (2) Seine Ethik ist nicht sowohl das was sie zu sein vorgibt, als vielmehr der Versuch einer Philosophie des Kulturprozesses, welcher natürlich durchweg aus einer Mischung ethischer und physischer Vorgänge bestehen muß. Auf dem Feld dieser Mischung bewegt sich aber eben der Staat, so daß eine Physiologie oder Naturlehre des Staates jedenfalls nur das eine der beiden wesentlichen Elemente der Politik enthalten kann und zwar nur das Element welches, wie mächtig es auch im Ganzen des Staatslebens sein mag, dennoch, sowohl im Gedanken wie in der Wirklichkeit, dem anderen, welches aus dem System der menschlichen Zwecke und Zweckwirkungen besteht, untergeordnet ist. Dadurch, daß natürliche Vorgänge den Staat begründen helfen und fortdauernd beeinflussen, sind sie noch nicht politische Vorgänge, sondern politische Vorgänge werden sie wenn der Mensch sich ihrer mit bewußter Absicht zu politischen Zwecken bedient. Ein Erdbeben kann einen entscheidenden politischen Einfluß ausüben. Neuerdings z. B. hat ein solches in Venezuela eine Revolution vereitelt. Die Verschworenen waren in einer Stadt versammelt um die Waffen zu ergreifen, als die Häuser über ihren Köpfen zu wanken und zusammenzustürzen begannen. Ist darum ein Erdbeben eine politische Begebenheit oder ist auch nur jenes bestimmte Erdbeben eine solche gewesen? - Keineswegs. Um eine gewesen zu sein, hätte es absichtlich zu diesem Zweck erregt werden müssen. Die Absichtlichkeit, die Beteiligung des zweckbewußten Willens ist es, was den politischen Charakter verleiht. Der zweckbewußte Wille ist es, welcher die bloße Kraft zur Macht erhebt und zwar dadurch, daß er mit dem Zweckgedanken zugleich den von diesem unzertrennlichen Rechtsgedanken hineinträgt, wie wir sogleich näher sehen werden.

Von der Politik wird die Natur nicht in Beziehung zur menschlichen Erkenntnis, sondern in Beziehung zum menschlichen Willen gesetzt und die Erkenntnis der Tatsachen und Gesetze kommt nur ins Spiel sofern sie dem Willen seinen Inhalt gibt und auf diese Weise die menschlichen Zwecke formen und ausführen hilft. So aufgefaßt ist die Natur nicht mehr das in sich selbst lebendige All in dessen Zusammenhang der Forscher einzudringen sucht oder dessen inneres Leben vom pantheistischen Gemüt geahndet wird, sondern sie wird zu einem einzelnen Element in einem sittlich-praktisch Ganzen, welches wir in verschiedenem Sinne die Welt, das Schicksal, die Geschichte nennen. Das Verhältnis ist dabei nicht so zu verstehen, als ob bis hierher die Natur reiche und da die Geschichte oder das Schicksal oder die politische Welt beginne, sondern Welt, Schicksal und Geschichte sind selbst Natur sobald wir in ihren Erscheinungen dem Verhältnis von Ursache und Wirkung nachspüren, während umgekehrt die Natur in den Begriffen der Welt, des Schicksals und der Geschichte aufgeht, sowie wir sie in verschiedenem Sinne unter die Herrschaft des Zweckbewußtseins stellen. Als Welt ist für das praktisch-sittliche Interesse die Natur nichts als das Vorratshaus nutzbarer Kräfte und Stoffe, in denen das ganze Verhältnis von Ursache und Wirkung dem Zweckgedanken als ein Apparat von Mitteln unterworfen ist. Es ist wie schon gesagt nicht mehr die Natur des Forschers, so wenig wie die des poetischen oder pantheistischen Gemüts, - es ist die Natur des Mechanikers, Fabrikanten und Landwirts, welche nach Pferdekräften, Nahrungsstoff, Ertragsfähigkeit, Düngekraft usw. geschätzt wird. Es ist  die  Natur, deren Kräfte einem abergläubischen Zeitalter als hilfreiche oder schadenstiftende Geister erschienen und deren technische Behandlung für Geisterzwang oder Zauberei galt. Mit vollem Recht verwahrt sich der wissenschaftliche Forscher gegen die Zweckmäßigkeitslehre des Physikotheologen. Wenn aihm aber, dem Forscher, das ganze All als Natur erscheint, so darf mit gleichem Recht dem Ethiker und Politiker das gleiche All als Kultur: - als Welt, als Schicksal und Geschichte erscheinen. Wir haben es nun nicht mehr mit physikalischen Theorien, sondern mit ethischer Praxis zu tun und aus  Naturerklärung  ist  Kulturarbeit  geworden. Die Aufgabe für die Erkenntnis welche gelöst werden soll, hat sich in eine Aufgabe für den Willen verwandelt die vollbracht werden muß.


Zweites Kapitel
Recht und Macht

Das Verhältnis von Recht und Macht bedarf in der öffentlichen Meinung von der das Staatsleben unserer Zeit beeinflußt wird, vielfach der Aufklärung. Wäre dies nicht bei uns in so hohem Grad der Fall, so würde es nicht möglich sein, daß es in Deutschland so viele unpolitische Narren gibt, welche bereit sind, die Machtinteressen der Nation dem vermeintlichen Recht zu opfern. Denn wenn auch in der inneren Politik eines Staates, soweit sie sich von Rücksichten der äußeren befreit denken läßt, die Macht in einem gewissen Sinne aus dem Recht folgen soll, so ist es wenigstens sicher, daß im Verhältnis der Nationen und Staaten untereinander das Recht immer nur aus der Macht hervorgeht und zwar nicht etwa infolge einer menschlichen Unvollkommenheit, sondern dem ewigen Wesen der Sache gemäß.

Macht und Recht stehen sich keineswegs wie Natur und Kultur oder wie rohe Gewalt und Sittlichkeit gegenüber, sondern die Macht ist selbst schon eine kulturmäßige und sittliche Tatsache welche mit dem Recht im innigsten Zusammenhang steht. Die Macht ist als Tatsache was das Recht als Prinzip ist; oder die Macht ist tatsächliches Recht, das Recht ist prinzipielle Macht. Beide aber - Macht und Recht - haben das Wesentliche miteinander gemein, daß sie in der Herrschaft des Zwecks über das Mittel bestehen, nur ist diese Herrschaft für die Macht eine bloß tatsächliche, für das Recht aber eine prinzipmäßige. Es kann freilich eine rechtlose Macht geben, so gut wie ein machtloses Recht; aber nicht ohne, daß die Macht das Recht und das Recht die Macht in Anspruch nähme. Recht und Macht also gehören nicht zufällig, sondern ihrem Wesen nach zusammen. Das, was ihnen in ihrem getrennten, als in verschiedenem Sinne nur gedachten Dasein fehlt, und was sie allein zum wirklichen lebendigen Dasein verbindet, ist die  Anerkennung,  - die Anerkennung nach der daher beide in gleichem Grad streben und die beiden in gleichem Grad unentbehrlich ist. Indem aber die Macht anerkannt wird, verwandelt sie sich in Recht und indem das Recht anerkannt wird, verwandelt es sich in Macht; denn in der ersten Anerkennung wird die Tatsache zum Prinzip, in der zweiten das Prinzip zur Tatsache. So ist es klar, daß in der vollen Macht das Recht schon enthalten ist, wie im vollen Recht die Macht. Ein geistvoller politischer Schriftsteller, CONSTANTIN FRANTZ, sagt in seiner  "Vorschule zur Physiologie der Staaten"  daß das Recht auch nicht einmal die Hauptsache und insbesondere nicht das Fundament des Staates ausmache und diese Bemerkung kann man als wahr gelten lassen, aber nur in dem Sinne in welchem man auch sagen darf, daß das Bewußtsein nicht "die Hauptsache" und namentlich nicht "das Fundament" des Menschen ausmache. Das Recht ist allerdings nicht der Leib, aber es ist dafür die Seele des Staates, die sich mit dem Leib, nämlich der Macht, zugleich entwickelt. Und wenn die Realpolitiker und Staatsphysiologen uns insbesonders zeigen, daß der Staat nicht durch das Recht geschaffen werden kann, so ist das freilich ebenfalls wahr, so wahr wie der Satz, daß der Mensch nicht anders als leiblich erzeugt werden kann. Der Gedanke den Staat nach ROUSSEAUscher Methode aus dem Vertrag entstehen zu lassen, ist gewiß so ingeniös wie das Unernehmen einen Menschen auf chemischem Wege in der Retorte zu machen. Aber ebenso sicher, wie in der leiblichen Erzeugung schon die Seele des Menschen gepflanzt wird, ebenso sicher ist mit dem ersten Keim der politischen Macht, auf wie gewaltsame Weise sich dieselbe auch bilden mag, zugleich der Anfang des Rechts gegeben und mit der Macht geht auch wieder das Recht zu Ende. Wie Leib und Seele sind Recht und Macht untrennbar und wie durch eine Schädigung des Leibes unvermeidlich die Seele benachteiligt wird, so ist für den Staat kein Machtverlust möglich der nicht einen Rechtsverlust in sich schließt.

Der Begriff der Macht darf weder mit dem der bloßen Kraft noch mit dem der Gewalt verwechselt werden. Die Kraft, dem Reich der Natur und nicht dem der Kultur angehörig, ist nichts als die Herrschaft der Ursache über die Wirkung. Auch eine  sittliche Kraft  ist nur ein naturmäßiger Begriff, in das sittliche Gebiet übertragen. Eine  sittliche Macht  dagegen entsteht erst wenn die sittliche Wirkung als Zweck und ihre Ursache als Mittel gedacht wird, wobei die Kraft, auch die sittliche, in eine dienende Stellung zur Macht tritt. Die Kraft ist das Mittel, dessen sich die Macht für ihre Zwecke bedient. Die  Militärkraft  des Staates ist dessen Kriegsheer insofern es von der Staatsregierung benutzt wird, die  Militärmacht  ist der Staat selbst insofern er militärisch wirksam ist. Endlich ist der Begriff der  Gewalt  ein dritter, welcher weder mit dem der Kraft noch mit dem der Macht übereinstimmt. Die Gewalt ist das, was im Zusammenstoß des Naturgebiets mit dem Kulturgebiet die Herrschaft übt, sie es, daß die Naturkraft den menschlichen Willen oder der menschliche Wille den Lauf eines natürlichen Vorgangs bricht. Weder in der einen noch in der anderen Beziehung ist hierbei von einem Rechtsverhältnis zwischen den zusammenstoßenden Lebensformen die Rede. Weder die Staatsgewalt als Ganzes, noch die einzelnen Gewalten in welche sich die Souveränität des Staates in ihren Verrichtungen zerlegt, stehen mit den ihnen unterworfenen Elementen in einem Verhältnis des Rechts. Ihr Verhältnis ist vielmehr das der Herrschaft, welche vom Recht im Allgemeinen - theoretisch von der Gesetzgebung, kritisch von der richterlichen Gewalt und praktisch von der Vollziehungsgewalt - ausgeübt wird. Wo aber umgekehrt die bloße brutale Gewalt des physisch Stärkeren oder des tyrannischen Herrschers dem Recht Hohn spricht, da ist es in entgegengesetzter Richtung die Empörung der naturmäßigen Willkür gegen den ganzen Geltungskreis der Kultur und des Rechts. Unter allen Umständen ist die  Gewalt  ein Zusammenstoß von Natur und Kultur, während die  Kraft  einzig der Natur, die  Macht  aber einzig der Kultur angehört.
LITERATUR: Julius Fröbel - Theorie der Politik als Ergebnis einer erneuten Prüfung demokratischer Lehrmeinungen, Wien 1861
    Anmerkungen
    1) LUDWIG von ROCHAU, Grundsätze der Realpolitik, 1853
    2) Sehr treffende und aufklärende Bemerkungen hierüber gibt J. H. FICHTE in seinem System der Ethik I, Seite 301