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GUSTAV STÖRRING
Einführung in die Erkenntnistheorie
[Eine Auseinandersetzung mit dem Positivismus
und dem erkenntnistheoretischen Idealismus]

[ 2 / 4 ]

"Die Skepsis der Vernunft-Erkenntnis richtet sich zunächst gegen die Möglichkeit der Begriffsbildung: Durch Gattungsbegriffe, etwa den Begriff Baum, gewinnen wir keine Erkenntnis. Denn Gattungsbegriffe enthalten einen Widerspruch in sich. Die Gattung müßte alle Arten umfassen; enthielte die Gattung Baum etwa nicht Obstbäume und Tannenbäume, so wäre sie keine allgemeine Baumgattung. Aber die Gattung kann nicht alle Arten umfassen; sonst müßte der abstrakt-allgemeine Baum entsprechend den verschiedenen Arten der Bäume gezackte und ungezackte Blätter haben, groß und klein sein, nadeltragend und laubtragend. Und diese widersprechenden Eigenschaften müßten dann auch dem einzelnen zur Gattung gehörenden Exemplar zukommen. Das aber ist widersinnig."

"Bezüglich der Prämissen macht nun der Skeptiker geltend, daß auch sie erst wieder eines Beweises bedürfen. Dieser Beweis aber könnte nur in einem neuen Schluß gegeben werden, dessen Prämissen wieder des Beweises bedürfen und so ad infinitum. Jedes Schließen setzt also unendlich viele Schlüsse voraus, es läßt sich also kein wirklicher Schluß ziehen."


I. TEIL
Die erkenntnistheoretische Skepsis

Motto: Jeder tüchtige Anfänger in der
          Philosophie ist Skeptiker.
- Herbart


1. Abschnitt
Die Hauptpunkte der antiken Skepsis

Die Bedeutung der erkenntnistheoretischen Probleme kann durch eine Einführung in die Betrachtungsweisen der Skepsis auf erkenntnistheoretischem Gebiet in ein klares Licht gerückt werden. Aber auch die Lösung der erkenntnistheoretischen Probleme setzt die Verwertung skeptischer Betrachtungsweisen voraus. HERBART sagt nicht mit Unrecht, jeder tüchtige Anfänger in der Philosophie ist Skeptiker.

Deshalb will ich, bevor ich in die systematische Behandlung der erkenntnistheoretischen Probleme eintrete, in die Gedanken der erkenntnistheoretischen Skepsis einführen. Ich will dabei so vorgehen, daß ich aus der Skepsis alter und neuer Zeit charakteristische Betrachtungsweisen heraushebe. Über die wichtigsten Vorstellungsweisen der alten Skepsis werden wir orientiert durch SEXTUS EMPIRICUS. Die erkenntnistheoretische Skepsis desselben bezieht sich auf die sinnliche Erkenntnis und die auf Vernunft gegründete Erkenntnis.


§ 1. Die skeptische Behandlung der
sinnlichen Erkenntnis

Die skeptische Behandlung der sinnlichen Erkenntnis findet sich niedergelegt in der "Lehre von den verschiedenen Weisen der Skepsis".

Die "erste Weise der Skepsis" betont die Verschiedenheit der lebenden Wesen. Diese Verschiedenheit bedingt differente Wahrnehmungen. Das wird auf den verschiedenen Sinnesgebieten gezeigt, zunächst auf dem Gebiet des Gesichtssinnes.
    "Meinen doch die Gelbsüchtigen, es sei gelb, was uns weiß erscheint, und die, welche an blutunterlaufenen Augen leiden, es sei blutrot. Da nun auch von den lebenden Wesen einige die Augen gelb haben, andere blutunterlaufen, andere weißlich, andere andersgefärbt, so ist es, meine ich, wahrscheinlich, daß ihnen eine verschiedene Auffassung der Farben zuteil wird." (1)
Ähnliches wie von den Farbempfindungen gilt von den Gestaltwahrnehmungen und den Größenwahrnehmungen. Bezüglich der letzteren argumentiert er: indifferent gebogenen Hohlspiegeln erscheinen uns die gleichen Objekte different; da nun die verschiedenen Augen der einzelnen Lebewesen verschieden gewölbt sind, so müssen sich auch wohl die Größenwahrnehmungen von gleichen Objekten bei verschiedenen Tieren verschieden darstellen.

Was von den Gesichtsempfindungen gilt, muß wohl auch von den Berührungsempfindungen gelten: Sie werden als different anzunehmen sein bei bestachelten, befiederten und beschuppten Tieren.

Auch die Gehörempfindungen müssen wohl different bei verschiedenen Tieren sein, da das Gehörorgan verschiedene Gestaltungen aufweist.

In gleicher Weise die Geruchsempfindung, sie ist abhängig von den Zuständen des Organs, der Blutverteilung, der Schleimabsonderung. Alle diese Faktoren sind aber differen bei den verschiedenen Lebewesen. Also müssen auch die Geruchsempfindungen different sein. Bezüglich der Geschmacksempfindungen wird darauf hingewiesen, daß die Zunge der einen Tiere rauh und trocken ist, der anderen glatt und feucht. In der Fieberhitze bei trockener Zunge haben wir andere Geschmacksempfindungen als ohne Fieber. Also sind auch die Geschmacksempfindungen wohl bei verschiedenen Lebewesen verschieden.

Der generelle Schluß des SEXTUS EMPIRICUS aus den bis jetzt angeführten Tatbeständen lautet:
    "Wie der Hauch des Musikers als ein und derselbe in die Flöte geblasen, bald hell wird, bald tief, und derselbe Druck der Hand auf die Leier bald einen tiefen Ton bewirkt, bald einen hellen: so werden wahrscheinlich auch die außerhalb unterliegenden Dinge verschieden angeschaut nach dem verschiedenen Bau der die Erscheinungsbilder erleidenden lebenden Wesen." (2)
Eine "zweite Weise der Skepsis" zieht einen engeren Kreis. Sie betont den Unterschied zwischen den einzelnen Menschen. Der Körper des Skythen und des Inders hat differente "Säfte", also werden auch wohl die Wahrnehmungsbilder different sein.

Sodann wird aus der Verschiedenheit der Wahl bei den verschiedenen Menschen auf eine Verschiedenheit der Empfindungen geschlossen.

Eine "dritte Weise der Skepsis" hebt die Unterschiede der Wahrnehmungen bei demselben Menschen in Bezug auf ein Objekt hervor. HIer ist also der Kreis noch enger gezogen. Die verschiedenen Sinne geben zu widersprüchlichen Bestimmungen über die Dinge Anlaß. So z. B. scheinen die Gemälde für den Gesichtssinn Vertiefungen und Erhöhungen zu haben, nicht aber für den Tastsinn. Die Tatsache sodann, daß sich ein und dasselbe Ding verschiedenen Sinnen different darbietet, kann verschieden gedeutet werden. Ein Ding hat entweder nur die Beschaffenheiten, die es zu haben scheint, auch wirklich hat und nur diese. Daneben muß aber die Möglichkeit berücksichtigt werden, daß der Apfel in Wirklichkeit mehr Eigenschaften hat als er zu haben scheint. Stellen wir uns jemanden vor, dem von unseren Sinnen der Gesichtssinn und Gehörsinn fehlt, so würde dieser etwas Sichtbares und Hörbares nicht als existierend setzen. Diese Betrachtung führt uns auf die Bestimmung, daß es möglicherweise Eigenschaften oder Dinge gibt, für deren Perzeption uns die Sinneswerkzeuge fehlen (3). Zuletzt ist noch die dritte Möglichkeit zu berücksichtigen, daß die Dinge nicht soviele Eigenschaften besitzen, als sie uns zu besitzen scheinen. Es wäre ja möglich, daß der Apfel nur eine Beschaffenheit hätte, uns aber wegen der Verschiedenheit unserer Sinneswerkzeuge mehrere Eigenschaften zu haben scheint.

Diese verschiedenen Möglichkeiten müssen wir im Auge behalten. Da wir bezüglich derselben aber keine Entscheidung treffen können, so können wir aufgrund der Sinnesempfindungen nicht sagen, wie die unterliegenden Dinge beschaffen sind.

Die "vierte Weise der Skepsis" zieht den Kreis noch enger. Während die erste die Verschiedenheit der lebenden Wesen betont, die zweite die Verschiedenheit der Menschen, die dritte die Verschiedenheit der Auffassung desselben Menschen in Bezug auf ein Objekt bei Funktion verschiedener Sinneswerkzeuge, weist die vierte Weise der Skepsis auf die Verschiedenheit der Aussagen eines Menschen bei Funktion desselben Sinnesorgans unter verschiedenen Umständen hin. "Dasselbe Wasser scheint, auf entzündete Stellen gegossen, siedend zu sein, uns aber lau." "Und derselbe Honig erscheint uns süß, dem Gelbsüchtigen aber bitter." Den kranken Säften aber eine ändernde Kraft beizulegen, den gesunden aber nicht, wäre widersinnig. Und was ist überhaupt normal? Das Verhalten des Kranken im kranken Zustand ist jedenfalls auch der Natur gemäß.

Außer der verschiedenen Auffassung der Dinge, die durch "pathologische" Modifikationen der Organe des Beurteilenden (4) bedingt ist, wird die differente Auffassung im Wachzustand und Traumzustand, beim Hungern und Gesättigtsein, bei Trunken- und bei Nüchternsein, sodann die differente Auffassung infolge verschiedener Vorzustände (5) geltend gemacht:
    "Derselbe Wein erscheint denen, welche vorher Datteln gegessen haben, säuerlich, denen aber, welche Walnüsse und Kichererbsen zu sich genommen haben, angenehm zu sein, und die (lauwarme) Mittelhalle des Badehauses erwärmt die von außen Eintretenden, kühlt aber die Hinausgehenden ab, wenn sie darin verweilen."
Auch an den Einfluß differenter emotionaler Zustände auf die Auffassung wird gedacht, wobei allerdings nicht die intellektuelle, sondern die emotionale Seite der Auffassung betont wird (6).

Die hier bei der vierten Weise der Skepsis beigebrachten Tatbestände führen zu folgender allgemeiner Konsequenz:
    "Zu sagen, daß der die Eigenschaft der Dinge auffassende Mensch durchaus in keiner Vorstellungsweise ist, z. B. weder gesund ist noch krank, weder sich bewegt noch ruht, noch in irgendeinem Lebensalter steht, frei ist aber auch von jeder Verhaltensweise, ist völlig ungereimt. Wenn er aber, während er in irgendeiner Verhaltensweise ist, die Erscheinungsbilder beurteilen wird, so wird er ein Teil des Widerspruchs sein, und außerdem ist er kein lauterer Beurteiler der außen unterliegenden Dinge, weil er getrübt ist durch die Verhaltensweisen, in welchen er sich befindet." (7)
Während die ersten vier Weisen der Skepsis aus der variablen Natur der Subjekte auf die Subjektivität der Wahrnehmungsinhalte schließen, wird in der folgenden Weise der Skepsis von einem variablen Verhalten der Objekte auf die Unmöglichkeit einer Erkenntnis der Dinge durch die Sinne geschlossen.

Den Einfluß des Subjekts auf die Auffassung der Dinge bei der sinnlichen Erkenntnis charakterisiert SEXTUS EMPIRICUS gelegentlich dahin, daß wir in der sinnlichen Erkenntnis die Mischung zwischen den unterliegenden Dingen und der Beschaffenheit des Subjekts erfassen.
    "Unsere Augen haben in sich sowohl Häute als auch Flüssiges. Das Sichtbare nun wird, da es nicht ohne diese geschaut wird, nicht mit Genauigkeit erfaßt werden; denn die Mischung erfassen wir und deswegen sehen die Gelbsüchtigen alles gelb, die mit blutunterlaufenen Augen blutig." (8)
Die "fünfte Weise der Skepsis" behandelt den Einfluß differenter Abstände, differenter Stellungen der Dinge auf die Wahrnehmung derselben. Nun wird aber alles Wahrgenommene in irgendeinen Abstand vom Subjekt, in irgendeiner Stellung wahrgenommen; also sind unsere Bestimmungen über die Dinge aufgrund der Sinneserkenntnis subjektiv. Wir vermögen nicht zu sagen, wie die Dinge "von Natur" aus beschaffen sind.

Die "sechste Weise der Skepsis" ist die wegen der sogenannten Beimischungen. Unsere Körperteile werden anders in heißer Luft gesehen als in kalter. Derselbe Ton erscheint anders in weit geöffneten Räumen als in engen und gewundenen, anders in reiner Luft als in verunreinigter. Deshalb ist es wahrscheinlich, daß wir den Ton "nicht unverfälscht" erfassen. Ähnliches läßt sich für alle Sinnesgebiete nachweisen.

Die "siebte Weise der Skepsis" behandelt Widersprüche in der Auffassung der Objekte, welche durch verschiedene qualitative Verhältnisse der Objekte bedingt sind.
    "So erscheint uns z. B. eine Abschabung vom Horn der Ziege, schlechthin und ohne Zusammensetzung angeschaut, weiß, zusammengesetzt aber, im Ganzen des Horns, wird es als schwarz angeschaut. Und vom Silber erscheinen die Feilspäne, wenn sie für sich sind, schwarz, mit dem Ganzen zusammen aber stellen sie sich wie weiß dar."
Die "achte Weise der Skepsis" hat allgemeinen Charakter. Sie ist die Weise von dem "in-Bezug-auf-etwas". Alles ist in Bezug auf Etwas. Es ist keine absolute Bestimmung über die Beschaffenheit der Dinge möglich.

Das sind die wichtigsten Betrachtungsweisen, die der alte Skeptiker bezüglich der sinnlichen Erkenntnis anstellt.


§ 2. Die skeptische Behandlung der sich
auf Vernunft gründenen Erkenntnis

Wir können uns nunmehr zur Behandlung der Skepsis der Vernunft-Erkenntnis wenden. Sie richtet sich zunächst gegen die Möglichkeit der Begriffsbildung.

Durch Gattungsbegriffe, etwa den Begriff "Baum", gewinnen wir keine Erkenntnis. Denn Gattungsbegriffe enthalten einen Widerspruch in sich. Die Gattung müßte alle Arten umfassen; enthielte die Gattung "Baum" etwa nicht Obstbäume und Tannenbäume, so wäre sie keine allgemeine Baumgattung. Aber die Gattung kann nicht alle Arten umfassen; sonst müßte der abstrakt-allgemeine Baum entsprechend den verschiedenen Arten der Bäume gezackte und ungezackte Blätter haben, groß und klein sein, nadeltragend und laubtragend. Und diese widersprechenden Eigenschaften müßten dann auch dem einzelnen zur Gattung gehörenden Exemplar zukommen. Das aber ist widersinnig.

Man könnte vielleicht auf die Ausflucht verfallen, die Gattung Baum sei nur der Möglichkeit nach ein Apfelbaum, Tannenbaum etc. Doch wenn jemand etwas der Möglichkeit nach ist, so ein Baumeister, so muß er auch etwas der Wirklichkeit nach sein. Was ist dann aber die Gattung der Wirklichkeit nach? (9)

Weit wichtiger sind die skeptischen Betrachtungen bezüglich der Möglichkeit der Schlußfolgerungen. Es werden Schlüsse einfachster Form ins Auge gefaßt:
    Kein Mensch ist vierfüßig.
    Sokrates ist ein Mensch.

    Also ist Sokrates nicht vierfüßig.
An ihnen unterscheidet man zwischen Prämissen und dem aus ihnen entwickelten Schlußsatz. Bezüglich der Prämissen macht nun der Skeptiker geltend, daß sie auch erst wieder eines Beweises bedürfen. Dieser Beweis aber könnte nur in einem neuen Schluß gegeben werden, dessen Prämissen wieder des Beweises bedürfen und so ad infinitum. Jedes Schließen setzt also unendlich viele Schlüsse voraus, es läßt sich also kein wirklicher Schluß ziehen.

Meist begnügt man sich mit einem einmaligen oder mehrmaligen Rückzug auf allgemeine Voraussetzungen. Das Stehenbleiben bei bestimmten Voraussetzungen ist aber als ein ganz willkürliches Verfahren zu charakterisieren.

Bekannter und noch bedeutungsvoller ist eine zweite skeptische Betrachtung gegen die Möglichkeit des Schließens. Der Skeptiker sagt: Der Obersatz eines Schlusses setzt stets die Gültigkeit des Schlußsatzes voraus, stellt also im Grunde eine petitio principii [Es wird vorausgesetzt, was erst zu beweisen wäre. - wp]. Nehme ich den Schluß:
    Alle Menschen sind sterblich.
    Cajus ist ein Mensch.

    Also ist Cajus sterblich.
so ist dem Obersatz die Gültigkeit des Schlußsatzes vorausgesetzt. Denn wenn der Schlußsatz: "Cajus ist sterblich." nicht richtig wäre, dann wäre auch der Obersatz "alle Menschen sind sterblich" nicht richtig. Mit dem Obersatz setze ich also die Gültigkeit des Schlußsatzes voraus. Es liegt also in jedem Schluß eine leibhaftige petitio principii vor (10).

Somit scheint die logische Berechtigung unserer ganzen Schlußfolgerungen hinfällig zu werden. Der Skeptiker polemisiert sodann gegen die Möglichkeit eines Kriteriums, eines Urteilsmittels der Wahrheit (11). Hier kommen drei Fragen in Betracht:
    1. wer ist das urteilende Subjekt?, welches ist das Wovon?

    2. durch welche Tätigkeit wird die Wahrheit gefunden? welches ist das Wodurch?

    3. welches ist die Norm, nach welcher sich das Subjekt bei dieser Tätigkeit richtet? welches ist das Wonach?
Zunächst wird also nach dem urteilenden Subjekt gefragt. Auf diese Frage pflegen, sagt der Skeptiker, die Lehrphilosophen zu antworten, der Mensch. Sieht man sich nun aber nach einer Definition dieses Subjekts um, so findet man, daß keine Übereinstimmung in der Definition des Menschen besteht. Die Definition von DEMOKRIT, PLATO und EPIKUR weichen sehr voneinander ab. Angenommen aber, man einigte sich über eine Definition des Menschen, so wäre weiter zu fragen: welcher Mensch ist das Subjekt, das die Wahrheit erkennt? Etwa der Weise? Wer ist der Weise? Oder die große Masse?

Der Skeptiker kommt so zu dem Resultat, daß sich keine gültigen Bestimmungen über das urteilende Subjekt machen zu lassen scheinen.

Angenommen jedoch, das wäre möglich, welches ist dann die Erkenntnisfunktion, durch welche die Wahrheit gefunden wird? (12) Wird sie durch die Sinne gefunden oder durch die Vernunft? Nun, durch die Sinne kann sie wohl nicht gefunden werden. Die Untersuchung der sinnlichen Erkenntnis hat uns ja gezeigt, daß wir auf diesem Gebiet zur Zurückhaltung jeden Urteils gezwungen sind. Durch die Vernunft aber kann die Wahrheit auch nicht gefunden werden. Denn es hat sich uns ja gezeigt, daß die Geltungsbegriffe einen Widerspruch in sich schließen und daß Schlußfolgerungen nicht möglich erscheinen. Also scheint keine Bestimmung darüber möglich zu sein, durch welche Funktion die Wahrheit gefunden werden kann.

Es bleibt also die Frage nach der Norm, nach der das Subjekt sich bei der Erkenntnisfunktion richtet, die Frage nach dem "Wonach" (13).

Das Denken kommt nicht durch sich selbst auf die Feststellung des Vorhandenseins von Dingen außerhalb des Bewußtseins, sondern höchstens durch die Sinne. Durch die Sinne aber erfassen wir nicht "das außerhalb Unterliegende", sondern höchstens die eigenen Zustände. Unser Empfindungsgegenstand muß aber natürlich scharf geschieden werden von den Dingen selbst:
    "Es ist der Honig nicht dasselbe, wie daß ich süß empfinde (meine Empfindung des Süßen) und der Wermut, wie daß ich Bitteres empfinde, sondern es unterscheidet sich (davon). Wenn aber dieser Zustand sich unterscheidet von dem außerhalb Unterliegenden, so wird das Erscheinungsbild folglich das des außerhalb Unterliegenden sein, sondern irgendeines anderen Dings, das von ihm verschieden ist. Wenn also das Denken nach diesem (dem Erscheinungsbild) urteilt, so urteilt es schlecht und nicht nach dem Unterliegenden. Deshalb ist es töricht zu sagen, daß nach dem Erscheinungsbild die Dinge außerhalb beurteilt werden." (14)
Nun könnte man vielleich sagen: wenn auch dieses Erscheinungsbild, der Wahrnehmungsinhalt und die Dinge selbst verschieden sind, so wäre doch eine Erkenntnis der Dinge mittels des Erscheinungsbildes möglich, die Wahrnehmungsinhalte sind also als den Dingen selbst zumindest ähnlich anzusetzen. Darauf antwortet der Skeptiker: wie kann man in aller Welt die Behauptung rechtfertigen, daß die Dinge unseren Wahrnehmungen ähnlich sind, die Dinge selbst können wir ja nicht erfahren.
    "Gleichwie, wer den Sokrates nicht kennt, ein Bild aber von diesem angeschaut hat, nicht weiß, ob das Bild dem Sokrates ähnlich ist, so wird auch das Denken, indem es die Zustände der Sinne erblickt, nicht wissen, ob die Zustände der Sinne dem außerhalb Unterliegenden ähnlich sind." (15)
Das Gesamtergebnis des Skeptikers auf diesem Gebiet ist also dies: wir müssen uns jeder Behauptung in Bezug auf das Kriterium der Wahrheit enthalten.

Soviel von der skeptischen Behandlung des "logischen Teils" der Philosophie.

Aus der skeptischen Behandlung der Prinzipien der Naturerkenntnis (16) nehmen wir die Skepsis der Gültigkeit unserer Vorstellung vom Ursächlichen und unserer Vorstellung von der Bewegung heraus.

Was die Frage anlangt, "ob es ein Ursächliches von Etwas gibt", so werden vom Skeptiker zunächst Entwicklungen für die Annahme gemacht und sodann Entwicklungen gegen diese Annahme.

Wenn jemand sagen wollte, es gebe kein Ursächliches, so meint er dies entweder ohne irgendeine Ursache oder aus irgendeiner Ursache. Meint er dies ohne irgendeine Ursache, so wird er unglaubwürdig sein. Meint er es aber aus irgendeiner Ursache, so setzt er ja selbst das Ursächliche als gültig, dessen Gültigkeit er doch zu widerlegen glaubt. Somit ist es glaubhaft, daß es ein Ursächliches gibt.

Es ergibt sich dem Skeptiker, aber auch andererseits, daß es von Nichts etwas Ursächliches geben kann. Hier werden zwei Betrachtungsweisen angestellt: Die Auffassung des Ursächlichen setzt die Auffassung der Wirkung desselben als Wirkung voraus. Die Auffassung der Wirkung als Wirkung setzt aber die Auffassung des Ursächlichen als eines solchen voraus. Folglich ist die Auffassung eines Ursächlichen unvollziehbar.
    "Da jedes von ihnen beiden der Beglaubigung vom andern her bedarf, so werden wir nicht wissen, mit welchem von ihnen wir die Vorstellung beginnen sollen." (17)
Deshalb werden wir nicht sagen können, daß es ein Ursächliches von Etwas gibt. Die zweite Argumentation gegen die Annahme eines Ursächlichen ist folgendermaßen gestaltet: Das Ursächliche müßte doch entweder vor oder mit oder nach der Wirkung sein. Es kann nun aber zunächst nicht vor der Wirkung sein. Die Ursache wäre nicht Ursache, solange nichts da ist, dessen Ursache sie ist. Es kann sodann aber auch nicht gleichzeitig mit der Wirkung sein.
    "Denn wenn es sie bewirkend ist, das Werdende aber durch ein schon Seiendes werden muß, so muß das Ursächliche vorher Ursächliches werden, und dann so die Wirkung machen." (18)
Die dritte Möglichkeit kann für diesen Fall nicht in Betracht kommen; die Annahme, daß die Ursache nach der Wirkung kommt, wäre "lächerlich".

Somit sieht sich der Skeptiker veranlaßt, in Bezug auf die Frage, ob es ein Ursächliches von Etwas gibt, sein Urteil zurückzuhalten.

Bei der skeptischen Behandlung der Frage der Realität der Bewegung werden zunächst wieder Argumente für (19) diese Annahme vorgebracht, dann mit größter Energie Argumente gegen diese Annahme. Ich gebe hier nur Argumente gegen die Annahme der Bewegung. Das allmähliche Durchlaufen einer endlichen Strecke setzt das Durchlaufen unendlich vieler Teilstrecken voraus: in einer endlichen Zeit können aber nicht unendlich viele Raumstrecken durchlaufen werden. Hier wird operiert mit einem sehr bekannten Beispiel. Achilles kann die Schildkröte nicht einholen, die einen Vorsprung vor ihm hat; es besteht dieser Vorsprung in einem bestimmten Zeitmoment. Ist dann in einem späteren Zeitmoment Achilles an den Ort gelangt, wo die Schildkröte im erstbetrachteten Moment war, so ist die Schildkröte schon etwas weiter usw. (20) - Eine weitere Argumentation gegen die Annahme der Realität der Bewegung ist folgende: Wenn etwas bewegt wird, so wird es entweder in dem Ort bewegt, wo es ist oder wo es nicht ist.
    "Aber wenn es im ersten Ort ist, geht es nicht in den zweiten über; noch ist es ja im ersten; wenn es aber nicht in diesem ist, so geht es nicht über von ihm aus." (21)
So veranlaßt auch die Untersuchung der Frage über die Realität der Bewegung den Skeptiker zur Zurückhalten seines Urteils.

Diese Betrachtungsweisen der alten Skeptiker sind, wie man sieht, zwar zum Teil solche, daß sie skeptischen Spielereien nicht unähnlich sind, aber der Hauptsache nach sind sie doch so gestaltet, daß sie auf die Entwicklung der skeptisch behandelten Disziplin sehr anregend gewirkt haben, zu einem Teil sind sie ja ganz berechtigt. So die negative Stellungnahme zur sinnlichen Erkenntnis. Von bleibender Bedeutung für die Erkenntnistheorie ist die Anregung, die die Skepsis gibt zur Einnahme des Standpunktes des methodischen Zweifels, eines Standpunktes der schon mit dem Namen einigermaßen angedeutet ist, über den ich später näher handeln werde.

In einem Punkt ist übrigens der alte Skeptiker nicht Skeptiker. Man wird das schon in der Einzeldarstellung beachtet haben: er anerkennt die Realität der Erscheinungsbilder.

Wir brauchen hier nicht die Bedeutung der alten Skepsis für die Einführung in der gegenwärtigen Erkenntnistheorie im Einzelnen nachzuweisen; diese Bedeutung wird sich uns schon fühlbar machen.
LITERATUR - Gustav Störring, Einführung in die Erkenntnistheorie, Leipzig 1909
    Anmerkungen
    1) Sextus Empiricus, Pyrrhoneische Grundzüge, Philosophische Bibliothek, Bd. 89, 1877 (übersetzt von Eugen Pappenheim) Seite 34
    2) a. a. O. Seite 36 und 37.
    3) a. a. O. Seite 46 und 47.
    4) a. a. O. Seite 47f
    5) a. a. O. Seite 49 und 50
    6) a. a. O. Seite 50
    7) a. a. O. Seite 53
    8) a. a. O. Seite 53 und 54.
    9) a. a. O. Seite 147f.
    10) a. a. O. Seite 140
    11) a. a. O. Seite 94f
    12) a. a. O. Seite 102f
    13) a. a. O. Seite 107f
    14) a. a. O. Seite 108
    15) a. a. O. Seite 104
    16) a. a. O. Seite 163f
    17) a. a. O. Seite 169
    18) a. a. O. Seite 170
    19) a. a. O. Seite 182f.
    20) a. a. O. Seite 185
    21) a. a. O. Seite 184