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GUSTAV von RÜMELIN
(1815-1889)
Eine Definition des Rechts
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"Vernunft ist doch dem gemeinen Sprachgebrauch nach, welchem sich Definitionen anzuschließen haben, das spezifisch menschliche, insbesondere das zwecksetzende und Zusammenhang suchende Denkvermögen und vernünftig ist ein Prädikat jedes Urteils und jeder Handlung, die aus Akten solch menschlicher Überlegung hervorgegangen sind. Alles Recht will und soll daher freilich vernünftig sein, ist es ja wohl auch im erwähnten rein formellen Sinn. Dieses Merkmal kann aber nicht als selbstverständlich hinzugedacht werden; man müßte es sonst in alle Definitionen von Wissenschaften mit aufnehmen, man müßte die Medizin als das Wissen von den vernünftigen Heilmitteln, die Politik als die Lehre von der vernünftigen Leitung des Staates bezeichnen usw. Sollte dagegen das Wort in einem prägnanten Sinn genommen sein für wahrhaft vernünftig, der Kritik in letzter Instanz standhaltend, dann ist es ja wohl ein großes Wort, nur hilft es uns nichts, wenn nicht zugleich auch der Maßstab geboten wir, das ganz Vernünftige vom weniger Vernünftigen zu unterscheiden, freilich eine Leistung, die gar niemand einfallen wird einer Definition zuzumuten."

Allein die Verschmelzung mit der Ethik geht nun nach der anderen Seite hin zu weit, so daß die spezifische Differenz, welche das Recht von Moral und Sitte scheidet, ganz verloren geht und wenigstens aus keiner dieser Definitionen zu entnehmen ist. Ja man muß sagen, nicht nur Moral und Sitte, sondern auch Religion, Kunst, Wissenschaft, die gesamte wirtschaftliche Tätigkeit gehören zum organischen Ganzen der von der Willenstätigkeit abhängigen Bedingungen zur Verwirklichung der menschlichen Gesamtbestimmung oder des Guten und aller Güterzwecke des Einzelnen und der Gesellschaft.

AHRENS kommt, wie KANT und KRAUSE, vom vagen und unbestimmten Begriff der Bedingungen nicht los; es will gesagt werden, das Recht könne die Verwirklichung des Guten nicht von sich aus zustande bringen, sondern ermögliche sie bloß; aber das gilt von den andern vorhin genannten Tätigkeitsgebieten ebenso und es wäre nur gerechtfertigt, das Recht eine dieser Bedingungen zu nennen, nicht deren Ganzes oder Inbegriff.

Gegenüber von dem in der KRAUSEschen Schule besonders beliebten Gebrauch des Wortes "organisch" will ich hier nur daran erinnern, daß die Logik verbietet, in Definitionen bildliche Ausdrücke zu verwenden, das Oranische aber, wenn es zur Bezeichnung psychischer und sozialer Vorgänge dienen soll, niemals mehr als eine nur bedingt und teilweise zutreffende Analogie bieten kann.

Es fehlt somit auch hier, wie bei KANT, das Merkmal des Rechts, ohne welches alles im Neben bleibt, daß es der Wille einer gesellschaftlichen Gewalt ist und von ihr zur positiven Norm und Tatsache gemacht wird.

In der Rechtsphilosophie von STAHL weichen die verschiedenen Auflagen nicht unerheblich gerade in Beziehung auf die Fassung des allgemeinen Rechtsbegriffs ab. Neben vielem Bedeutendem und Geistvollem, was er darüber zu sagen hat, gelingt es ihm doch nicht, die inneren Schwierigkeiten, die ihm seine religiösen Ausgangspunkte bereiten, zu überwinden. In der dritten und folgenden Auflage sagt er im Kapitel "Begriff des Rechts und sein Verhältnis zur Moral:
    "Das Recht ist die Lebensordnung des Volks (und bzw. der Gemeinschaft der Völker) zur Erhaltung von Gottes Weltordnung; es ist eine menschliche Ordnung, aber zum Dienst der göttlichen, bestimmt durch Gottes Gebote, gegründet auf Gottes Ermächtigung."
Es ist doch auch dies mehr nur eine Prädizierung des Rechts in einer bestimmten Richtung als eine Definition.

So sehr es berechtigt erscheint, dem Recht auch eine religiöse Weihe zu geben und seinen Platz in der Reihe der höchsten Ziele des Menschengeistes zu sichern, das Rechtsgefühlt gleich dem Gewissen eine Stimme Gottes und die menschliche Rechtsordnung ein Glied der göttlichen Weltordnung zu nennen, so können solche Sätze doch nur in einem Kapitel der Schlußbetrachtungen, nicht in den Ausgangspunkten einer Untersuchung über den Begriff des Rechts, in keinem Fall in einer Definition ihren Platz finden. Wir kennen die Weltordnung Gottes nicht und diejenigen, die sie zu kennen glauben, deuten sie jedenfalls in der allerverschiedensten Weise. Das Recht aus einer göttlichen Ordnung abzuleiten, heißt daher ignotum per ignotius [das Unbekannte durch etwas noch Unbekannteres - wp] erklären. Auf Offenbarung und Heilige Schrift kann man sich nicht berufen. Das alte Testament enthält zwar eine sehr ausgebildete Rechtsordnung; diese betrachten wir aber als in den wesentlichsten Punkten für uns unausführbar und unverbindlich. Das neue Testament bietet, abgesehen von vereinzelten, vieldeutigen Aussprüchen bei zufälligen Anlässen, keine Vorschriften über Staat und Recht. Aber selbst wenn sich das nicht so verhielte, wenn eine göttliche Autorität erkennbar und annehmbar wäre, würde sich der menschliche Forschungsgeist damit noch nicht abweisen lassen, sondern dann eben die weitere Frage zu stellen haben: warum Gott gerade diese und nicht eine andere Rechtsordnung gewollt haben möge. Es sind zwei sehr verschiedene Dinge, das wahre und erkannte Recht zu einem göttlichen Wollen und Walten in Beziehung zu setzen, als das unerkannte aus einem solchen abzuleiten und zu erweisen.

Daß die STAHLsche Formulierung auch in anderen Beziehungen den Anforderungen an eine Definition nicht genügt, vielleicht nicht einmal genügen wollte, bedarf wohl kaum eines näheren Nachweises.

TRENDELENBURG sagt:
    Das Recht ist im sittlichen Ganzen der Inbegriff derjenigen allgemeinen Bestimmungen des Handelns, durch welche es geschieht, daß das sittliche Ganze und seine Gliederung sich erhalten und weiter bilden kann.
Ich kann auch hierin nur eine Prädizierung des Rechts und keine Definition desselben erkennen, obgleich sich der Satz ausdrücklich als eine solche bezeichnet.

Es ist eine gerechte Forderung der Logik, daß sich eine Definition nur allgmein verständlicher und im gleichen Sinn verstandener Ausdrücke bediene. Einen solchen vermag ich im Begriff des sittlichen Ganzen nicht anzuerkennen. Er ist neu und keineswegs von einleuchtender Selbstverständlichkeit.

Versteht man darunter das Ganze der in der Gesellschaft vorhandenen, auf Sittliches bezüglichen Vorstellungen, Theorien, Gebräuche und Einrichtungen, so ist das ein sehr vager und schwer abgrenzbarer Begriff, der aber jedenfalls die rechtlichen Institutionen bereits in sich einschließen müßte. Wenn nun das Recht die Aufgabe haben soll, dieses sittliche Ganze zu erhalten und weiter zu bilden, so gerät man auf den tautologischen Satz, daß das Recht auch das Recht zu erhalten und weiter zu bilden habe. Man müßte sonst annehmen, das sittliche Ganze sei schon vor dem Recht vorhanden und ohne dasselbe denkbar, wenn dieses nur erhalten und fortbilden soll. In Wahrheit aber gehört das Recht schon zu den ersten Fundamenten eines sittlichen Ganzen, verhält sich also nicht bloß erhaltend, sondern gründend und bedingend zu demselben.

Ebenso vieldeutig und unbestimmt sind die dem sittlichen Ganzen angefügten Wort: und seine Gliederung. Was sind diese Glieder? Soll man dabei wieder an Religion, Moral, Sitte, Kunst, Wissenschaft denken oder an Familie, Stamm und Nationalität, Stände und Berufsarten, Gemeinde und Nationalität, Stände und Berufsarten, Gemeinde und Staat? Enthalten Religion, Moral und Sitte nicht auch "allgemeine Bestimmungen des Handelns, durch welche es geschieht, daß das sittliche Ganze und seine Gliederung sich erhalten und weiterbilden kann?" Könnte man nicht insbesondere von jedem Lehrbuch der Moral sagen, daß es ein Inbegriff ebensolcher allgemeiner Bestimmungen des Handelns wäre? Ich vermisse so abermals die präzise Abgrenzung, den entscheidenden Punkt, daß das Recht befehlend auftritt.

Es wirkt umso erfreulicher, eben diesen entscheidenden Punkt endlich in dem kurzen, knappen aber vielsagenden Satz von JHERING:
    "Das Recht ist die Sicherung der Lebensbedingungen der Gesellschaft in Form von Zwang"
in aller wünschenswerten Klarheit zum Ausdruck gebracht zu sehen.

Ich ziehe diese JEHRINGsche Fassung nun zwar allen früher erwähnten Definitionen weit vor, weil sie dem Kern und Wesen der Sache einen klaren und prägnanten Ausdruck gibt, aber ganz billigen und für ausreichend halten kann ich sie doch auch nicht.

Die Worten "in Form von Zwang" gehen nund doch wieder nach der andern Richtung hin zu weit. Man kann nicht sagen: wo kein Zwang ist, ist auch kein Recht. Das Staatsgrundgesetz, das den Organen der obersten Staatsgewalt ihre Funktionen zuteilt, ist ohne Zweifel Recht und das höchste wichtigste Recht, das Fundament der ganzen Rechtsordnung. Aber dennoch fehlen gerade an der Spitze alle Zwangsmittel und wenigsten alle rechtlichen Formen dafür. Es liegt in der Natur der höchsten Gewalt, nicht selbst auch wieder gezwungen werden zu können. Wenn der Köngi keine Gesetze verkündet oder vollzieht, keine Minister ernennt, keine Dekrete unterzeichnet, wenn die Parlamente nicht zusammentreten oder die Vorlagen der Regierung nicht in Beratung ziehen, wenn die Staatsbürger keine Wahlen vornehmen, so ist keine Zwangsgewalt vorhanden, als die der Tatsachen und natürlichen Folgen, die hier nicht gemeint sein kann und außerhalb des Rechts steht. Eigentlicher Zwang wäre überhaupt nur die Exekution zu nennen. Im Straf- und Privatrecht ist vieles, was nicht erzwungen wird, wo die Nichtbeachtung nur gewisse Nachteile mit sich führt; ja die Befolgung der im Strafrecht selbst enthaltenen Normen ist nicht erzwingbar, da die Strafe nur der Verletzung nachfolgen kann; und das Privatrecht wird überhaupt nich von Amtswegen, sondern nur im Streitfall, nicht als solches und um seiner selbst willen, sondern nur nach dem Vorbringen der Parteien zum Vollzug gebracht.

Daß es überhaupt eine Rechtsordnung gibt, daß die gesamte Staatsmaschine nicht still steht, sondern geht, daß die Räder ineinander greifen, ist nicht etwas Erzwingbares, sondern etwas Tatsächliches.

Insoweit kann man sogar jener neuerlichen Theorie der "Anerkennung" beipflichten, daß das Recht nicht auf Zwang, sondern zusammen mit diesem Zwang und der Möglichkeit seiner Ausübung auf der Massenwirkung des in der Gesellschaft vorhandenen Gefühls der Notwendigkeit einer Rechtsordnung und der Bereitwilligkeit, sie gelten zu lassen, ruht.

Aber ebenso entschieden muß man dieser Theorie entgegentreten, wenn sie, eine conditio sine qua non [Grundvoraussetzung - wp] in eine causa efficiens [wirkende Ursache - wp] umsetzend, die Anerkennung dann zum Grund und Prinzip des Rechts erheben und überall Recht sehen will, wo eine Anerkennung von Normen von Seiten einer Genossenschaft vorhanden ist, also in den Statuten jedes Vereins, folgerichtig auch eines verbotenen oder verbrecherischen; wonach also die Normen, welche für die Staatsgenossen als Regeln des staatlichen Lebens anerkannt werden, nicht das Recht überhaupt, sondern nur das staatliche Recht wären. Von diesem Standpunkt aus kann man nur zu einem rein formalen und empirischen Rechtsbegriff gelangen, dem jeder innere sittliche Wert abgeht, mit dessen Definition sich zu befassen nicht das geringste Interesse mehr bietet, bei dem auch jeder Unterschied des Rechts von der Sitte, die doch unzweifelhaft nur auf Anerkennung ruht, verloren gehen muß.

Nicht in der Mitte zwischen diesen Theorien des Zwangs und der Anerkennung, sondern der ersteren weit näher stehend und sie nur modifizierend und im Ausdruck berichtigend, muß ich die schon oben erwähnte Fassung festhalten, wonach es ein durchaus wesentliches und spezifisches Merkmal des Rechts ist, Wille und Staatsgewalt zu sein und von ihr praktisch realisiert zu werden und zwar, da wo die Natur der Sache es zuläßt und fordert, in der Form des Zwangs, wo diese Voraussetzung nicht zutrifft, auch in anderen und nur indirekt und unsicher wirksamen Formen. Niemals aber ist das Recht ein bloßes Postulat, ein Vereinsstatut, eine auf subjektive Anerkennung zu verweisende Adhortation [Ermahnung - wp]. Jede Unterscheidung von Recht und Sitte wird unmöglich, wenn dieses Kennzeichen des Positiven und von der Staatsgewalt Geforderten wegfällt.

Allein ich habe gegen die JEHRINGsche Formulierung doch auch noch einige weitere Einwendungen zu erheben.

Man sollte nicht erwarten: Das Recht ist Sicherung, sondern nur etwa, der Zweck, das Prinzip des Rechtes ist Sicherung. Denn die Sicherung selbst ist ein Erfolg, den das Recht erstreben, aber nicht verbürgen kann.

Sodann heißt es: Sicherung der Lebensbedingungen der Gesellschaft. Wir haben hier wieder wie bei KANT und KRAUSE den Begriff der Bedingungen. Die Bedingungen, um überhaupt zu existieren, trägt die Gesellschaft in sich selbst. Nach des Dichters Wort erhält die Natur das Getriebe der Welt schon durch Hunger und durch Liebe. Es fragt sich um das Wie, nicht um das Daß des Lebens der Gesellschaft. Schon ARISTOTELES hat gesagt, der Staat bestehe nicht  für etwas  und fügt bei: Der Staat ist um des Lebens willen entstanden, besteht aber um des vollkommenen Lebens willen. JHERING hat es wohl auch so gemeint; die Definition durfte das aber nicht als selbstverständlich unausgesprochen lassen und wenn sie einmal versucht hätte namhaft zu machen, um welche Güter das Leben der Gesellschaft über den bloßen Kampf ums Dasein hinaus durch das Recht bereichert, erhöht und geschmückt wird, so hätte sich vielleicht das Prinzip der Utilität [des Nutzens - wp], der sozialen Mechanik des Egoismus, der spontanen Selbstregulierung der Gesellschaft doch schon an dieser Stelle als nicht ausreichend für die Konstruktion des Rechts erwiesen.

Endlich durfte eine Definitioin auch nicht unberührt lassen, daß es kein Recht für die Gesellschaft im Allgemeinen, sondern nur für bestimmte Gruppen derselben, die Völker gibt, daß das Recht auch das Produkt eines Volks- und Zeitgeistes, nicht eines bloßen gesellschaftlichen Mechanismus ist.

Ich erwähne endlich noch die von FELIX DAHN zuerst in BLUNTSCHLIs Staatswörterbuch erschienene und jetzt auch in die "Vernunft im Recht" aufgenommene Definition:
    "Das Recht ist die vernünftige Friedensordnung einer Menschengenossenschaft in den äußeren Beziehungen ihrer Glieder zueinander und zu den Sachen."
Sie hat das Verdienst, viele der bisher erörterten Mängel zu vermeiden, gibt aber wieder zu Ausstellungen anderer Art Anlaß.

Bei einer Friedensordnung kann man doch wohl nur an die  eine  Funktion des Rechts denken, den Streit zu hindern und zu schlichten, an das richterliche Recht und nicht einmal an dieses ganz. Die andere, auf Kulturzwecke und Wohlfahrtspflege gerichtete Seite der Aufgabe des Rechts, die mehr als bloßen Frieden zu bieten hat, gelangt dabei gar nicht zum Ausdruck.

Im beigefügten Prädikat "vernünftig" bedaure ich nicht mehr als ein Epitheton ornans [rhetorische Figur - wp] erblicken zu können, das niemand vermissen würde, wenn es fehlte und das niemand in der Erkenntnis des Rechts fördert, wenn es da steht. Vernunft ist doch dem gemeinen Sprachgebrauch nach, welchem sich Definitionen anzuschließen haben, das spezifisch menschliche, insbesondere das zwecksetzende und Zusammenhang suchende Denkvermögen und vernünftig ist ein Prädikat jedes Urteils und jeder Handlung, die aus Akten solch menschlicher Überlegung hervorgegangen sind. Alles Recht will und soll daher freilich vernünftig sein, ist es ja wohl auch im erwähnten rein formellen Sinn. Dieses Merkmal kann aber nicht als selbstverständlich hinzugedacht werden; man müßte es sonst in alle Definitionen von Wissenschaften mit aufnehmen, man müßte die Medizin als das Wissen von den vernünftigen Heilmitteln, die Politik als die Lehre von der vernünftigen Leitung des Staates bezeichnen usw. Sollte dagegen das Wort in einem prägnanten Sinn genommen sein für wahrhaft vernünftig, der Kritik in letzter Instanz standhaltend, dann ist es ja wohl ein großes Wort, nur hilft es uns nichts, wenn nicht zugleich auch der Maßstab geboten wir, das ganz Vernünftige vom weniger Vernünftigen zu unterscheiden, freilich eine Leistung, die gar niemand einfallen wird einer Definition zuzumuten. Sollte endlich Vernünftig hier irgendetwas Drittes bedeuten, das dem Ganzen der menschlichen Vernunfttriebe Entsprechende, das allgemein oder in weitesten Kreisen als vernünftigt angesehene, sollte insbesondere das Sittliche im Vernünftigen schon mitenthalten sein, so ist ein solcher Gebrauch des Wortes nicht weniger als rezipiert und selbstverständlich und darum in einer Definition nicht ohne genauer Erläuterung zulässig und er leidet überdies auch noch an der gleichen Unbestimmtheit und Inhaltslosigkeit, wie jener gewöhnliche und allgemein verständliche Sinn des Ausdrucks.

"Einer Menschengenossenschaft" ist zu unbestimmt; es müßte heißen: einer durch Staatsverband zu einem Volk geeinigten Menschengenossenschaft. Eine Genossenschaft bilden auch diejenigen, welche die Sprache oder die Religion, den Beruf, die Parteirichtung teilen, ohne darum auch das Recht gemeinsam zu haben.
    "In den äußeren Beziehungen ihrer Glieder zueinander und zu den Sachen."
Kann man denn aber die vom Recht geregelten Verhältnisse zwischen den Ehegatten, den Eltern und Kindern, dem Vormund und Mündel, dem öffentlichen Diener und dem Staatsoberhaupt, dem Bürger zu Gemeinde und Staat nur als  äußere  Beziehungen der Glieder der Genossenschaft zueinander bezeichnen? Ja man möchte schließlich frage: was soll man sich überhaupt bei äußeren Beziehungen zwischen Personen denken? Sind nicht Beziehungen immer nur etwas Gedachtes und kann man das zutage treten innerer Beziehungen in sinnlich wahrnehmbarer Handlung mit dem Ausdruck "äußere Beziehung" richtig bezeichnen?

"Und zu den Sachen"? Ich möchte glauben, die äußeren Beziehungen der Menschen zu den Sachen seien, sofern man den Ausdruck einmal zulassen will, etwas rein der Empirie Angehöriges und aus den Naturwissenschaften, der Physiologie, der Technik zu ersehen, aber dem ordnenden Eingreifen des Rechts völlig unzugänglich. Rechtsverhältnisse sind doch nur zwischen Personen, niemals zwischen Person und Sache denkbar. Man soll wohl an das sogenannte Sachenrecht, an die dinglichen Rechte denken. Aber auch diese sind nur Verhältnisse zwischen Personen, die auf eine Sache Bezug haben, nicht zwischen Personen und der Sache selbst. Über die Sache hat der Eigentümer als solcher nicht mehr Gewalt und Herrschaft als der Nichteigentümer; der Knecht wird in der Regel über das Pferd seines Herrn mehr Gewalt und Herrschaft haben, als dieser selbst. Jedenfalls aber wäre, selbst wenn man es hiermit nicht so genau nehmen wollte, das Eigentumsrecht nicht als eine äußere, sondern als eine innere Beziehung zwischen Person und Sache zu bezeichnen.

Schließlich fehlt aber auch hier wieder das oft vermißte Unterscheidungsmerkmal des Rechts von Sitte und Moral, die Realisierung, um es kurz zu sagen, durch Zwangsnormen.

Nach dieser, wie ich hoffe, nicht fruchtlosen kritischen Übersicht über vorhandene Definitionen des Rechts will ich es nun auf die Gefahr hin, einer ähnlichen oder noch ungünstigeren Kritik zu verfallen, versuchen, mich der Aufgabe selbst zu unterziehen, keineswegs mit dem Anspruch, das schwierige Problem nun fertig zu bringen, aber mit dem Wunsch und der Hoffnung, auf dem durch die Vorgänger gelegten Grund dessen Lösung wenigstens um einen Schritt weiter zu führen.

Die erste Frage für jede Definition wird immer sein: welches ist der allgemeinere Prädikatsbegriff, dem das zu Definierende zu unterstellen ist? Die meisten Definitionen nannten das Recht ein Ganzes, einen Inbegriff von Bedingungen, Bestimmungen, Normen. Ich halte (mit STAHL und DAHN) den Oberbegriff der Orndung für den allein richtigen, in dem Sinne, daß darunter nicht die Handlung als solche, sondern das Produkt des Ordnens zu verstehen ist. Ordnung aber ist einer der Stammbegriffe des Menschengeistes, da es die erste Funktion allen Denkens ist, die Vielheit des Wahrgenommenen, das isoliert und zerstreut neben und nacheinander Stehende in eine logische Reihe zu bringen und das Zusammenseiende als ein Zusammengehöriges zu begreifen.

Es gibt aber zwei Arten von Ordnung, eine theoretische, welche nur Gedanken ordnet, wie ein System, eine Betrachtung, ein Buch etc. und eine praktische, welche in die Außenwelt, sei es die der Sachen oder die der menschlichen Handlungen, faktisch eingreift und das Einzelne an den durch den leitenden Grundgedanken geforderten Platz stellt. Das Recht ist eine praktische Ordnung dieser letzteren Art.

Alles Ordnen setzt eine gegebene Substanz voraus, die zu ordnen und deren Natur das Prinzip des Ordnens zu entnehmen ist. Dieses gegebene Objekt ist für das Recht die Gesellschaft, das menschliche Zusammenleben, der soziale Mensch mit den physiologisch und psychologisch bestimmten Merkmalen seines Gattungscharakters.

Aber nicht die Gesellschaft im Allgemeinen, nicht die Menschheit im Ganzen oder ein beliebiger Teil derselben ist dieses Objekt des rechtlichen Ordnens, sondern nur je ein besonderes Glied derselben, das durch geschichtliche Tatsachen gemeinsamer Abstammung oder Schicksale eine zusammenlebende, unter sich näher verbundene und nach Außen abgegrenzte Gruppe, d. h. ein Volk, bildet. Zu einem wirksam ordnenden Eingreifen in dieses Zusammenleben ist eine öffentliche Gewalt, ein gesellschaftliches Herrschaftsinstitut erforderlich, das Staat heißt, von welchem die Rechtsordnung geschaffen und gehandhabt wird, wo es nötig und zulässig ist, mit äußerem Zwang, ohne dessen Rückhalt und Willensmacht die rechtliche Ordnung zu einem auf den bloßen guten Willen angewiesenen Rat und Postulat herabsinkt, außerhalb dessen daher nur ein Ansatz, eine unvollkommene Vorstufe von Recht denkbar ist.

Die Aufgabe der Rechtsordnung ist hierdurch naturgemäß eine doppelte; sie hat einmal dieses gesellschaftliche Herrschafts institut  selbst in seinen Organen und Funktionen seinem Zweck und dem Volksgeist entsprechend zu ordnen und einzurichten und tut das im Staatsrecht; sodann hat sie diesen so geordneten Herrschaftsapparat im Dienst der Interessen der Gesellschaft anzuwenden, wofür der Gebrauch des Namens Gesellschaftsrecht zutreffend sein würde, so daß sich alles Recht in Staats- und Gesellschaftsrecht gliederte.

Zweck und Ziel dieser Herrschaft und der von ihr ausgehenden und getragenen Rechtsordnung kann nur eudämonistisch, nur das Wohl der Gesellschaft selbst sein. Dieses ist aber untrennbar mit dem Wohl der Einzelnen, soweit es nicht unter Beeinträchtigung fremden Wohles erstrebt wird, verbunden.

Das Wohl und die Glückseligkeit der Einzelnen besteht in der erfolgreichen Betätigung der durch die eigentümliche Ausstattung der menschlichen Gattung gesetzten Kräfte und Triebe. Nur sind diese Triebe unter sich selbst nicht homogen und übereinstimmend und die ihnen entsprechenden Lebensgüter sind von einem ungleichen Gefühl ihres inneren Wertes begleitet. Den auf rücksichtslose Selbstbehauptung bedachten Neigungen stellen sich die geselligen, auf Gruppierung, friedliches Zusammenwirken, auf Teilnahme und Wohlwollen gerichteten Triebe, den Sinnenreizen treten die von einem Gefühl ihres höheren Wertes begleiteten geistigen Güter der Vernunfttriebe gegenüber. Die Ordnung und Harmonie dieser verschiedenen Triebe nach dem in uns gelegten Maßstab ihres inneren Wertes ist Sittlichkeit. Die gesellschaftliche Rechtsordnung steht auf dem Boden dieser Sittlichkeit, sofern sie die auf Glückseligkeit gerichteten Bestrebungen der Einzlnen nur insoweit anerkennt und gelten läßt, als sie für sittlich zulässig zu erkennen sind.

Diese Bemühung um das Wohl der Gesellschaft erfolgt nun aber in zwei verschiedenen Formen, durch Schutz und durch Förderung. Dem Einzelnen Schutz gegen den störenden oder verletzenden Eingriff eines fremden Willens in die ihm zukommenden Lebensgüter zu gewähren, ist die prinzipiellste und unerläßlichste Aufgabe der Rechtsordnung. Die zweite, einen weiten Spielraum nach Maß und Umfang der Ausführung zulassende, Funktion besteht darin, da, wo die vereinzelten Kräfte zur Erreichung der Lebenszwecke unzureichend sind, die aus dem Zusammenwirken fließende Verstärkung und Hilfe eintreten zu lassen.

Wenn es sich nun aber um die Mittel handelt, durch welche die Rechtsordnung ihre Zwecke ins Werk setzt, so ist einleuchtend, daß sie das Wohl der Gesellschaft und der Einzelnen nicht im Detail und durch ein von Fall zu Fall wechselndes Eingreifen erwirken kann, sondern nur mittels generalisierender Anordnungen oder Normen, d. h. durch allgemeine Regeln von befehlendem Charakter, welche für Fälle, die gewisse als maßgebend angesehene Merkmale gemeinsam haben, das gleiche Verfahren vorschreiben, auch wenn in den sonstigen Nebenumständen Ungleichheiten stattfinden. Diese das in bestimmten Beziehungen Gleiche gleich setzende Allgemeinheit ist das formale Grundmerkmal der Rechtsnorm. Nur das, was seiner Natur nach befehlbar und dessen Befolgung äußerlich erkennbar und kontrollierbar ist, kann den Inhalt einer Rechtsnorm bilden, also nur Handlungen, nicht innere psychische Vorgänge. In diesen beiden Momenten der Generalisierung rechtlicher Ordnungen, sowie in der geforderten äußerlichen Wahrnehmbarkeit der maßgebenden Merkmale liegt der vom Begriff des Rechts unablösbare Charakter des Formalismus, der zugleich die Schranke und Unvollkommenheit des Rechts bildet und dessen Ergänzung durch die sittliche Gesinnung und Bildung der Gesellschaftsglieder, die sich weder kontrollieren noch erzwingen läßt, erfordert und voraussetzt. Der Unterschied des Rechts von der Moral liegt darin, daß diese, im Gewissen wurzelnd, als Pflichten und Tugendlehre die sittliche Vollkommenheit des Individuums nach Gesinnung und Tat, für sich allein und als Glied der Gesellschaft im Auge hat, daß sie nicht generalisierend nach äußeren Merkmalen eine gleichmäßig bestimmte Handlungsweise, sondern, unbefriedigt von bloßer Legalität, von Fall zu Fall ein aus einem sittlich gebildeten Gemüt und Willen mit innerer Nötigung hervorgehendes Verhalten vorschreibt, darum aber auch mit dem positiven, an Formeln gebundenen, möglicherweise ungerechten Recht in Kollision geraten kann. Der Unterschied des Rechts von der Sitte aber ist leicht daran zu erkennen, daß diese zwar auch allgemeine Regeln des Verhaltens für ganze Gattungen von Fällen aufstellt, aber nicht in befehlender und zwingender Form, daß sie nur das Nichtunerläßliche ordnet und der Willkür freieren Spielraum läßt, was freilich nur auf die vorgerückteren Kulturstufen anwendbar ist, wo Recht und Sitte nicht mehr unausscheidbar ineinander fließen.

Soweit nun im Vorstehenden die einfachen und entscheidenden Grundmerkmale des Rechts richtig aneinander gereiht sein sollten, dürfte auch der nachstehende Versuch einer sie zusammenfassenden Definition auf Zustimmung rechnen können.

Das Recht ist für eine durch geschichtliche Tatsachen abgegrenzte und verbundene Gruppe der Menschheit eine durch das Institut einer gemeinsam herrschenden Gewalt befohlene und auszuführende Ordnung des Zusammenlebens, welche den Zweck hat, die Glieder der Gesellschaft in der Erlangung der sittlich zulässigen, durch den menschlichen Gattungscharakter geforderten Güter des individuellen und genossenschaftlichen Lebens, soweit es durch allgemeine, für das Gleiche gleiche Regeln von befehlendem Charakter geschehen kann und soweit die Kräfte der Einzelnen hierfür der Verstärkung durch Zusammenwirken bedürfen, zu schützen und zu fördern.

Nicht als Definition aber als eine die Kernpunkte kürzer hervorhebende Formel ließe sich der Satz bezeichnen:
    Die Rechtsordnung hat die Aufgabe, einem Volk denjenigen Teil des Guten zu sichern, der dazu geeignet ist, von einer gesellschaftlichen Gewalt nach allgemeinen Normen verwirklicht zu werden.
LITERATUR Gustav von Rümelin - Eine Definition des Rechts, Reden und Aufsätze, Freiburg/Br. und Tübingen, 1881