ra-2 Rationales und irrationales Erkennen ReiningerRickert    
 
RICHARD MÜLLER-FREIENFELS
Grundzüge einer neuen Wertlehre
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"Dem Pragmatismus, der alle logischen Werte auf ihre praktische Bedeutung prüft, liegt eine biologische Wertsetzung zugrunde."

"Alles Suchen nach einem absoluten Wertprinzip müssen wir als falsch gestelltes Problem ablehnen wie den  Stein der Weisen." 

Kapitel IV
Wertrichtigkeit und Wertrang

1. Das Wertproblem birgt noch weitere Fragen, die sich allerdings angeblich der psychologischen Behandlung entziehen. Es besteht die Tatsache, daß überall die Werte als richtige oder falsche Werte beurteilt und ferner einander über- und untergeordnet werden. Nun ist gewiß zuzugeben, daß es eine Überschreitung der Methode des Psychologen wäre, wollte er freihändig ein Prinzip für jene Rangordnung oder für die Richtigkeit der Werte aufstellen, da der Psychologe nur beschreibt, zergliedert und erklärt. Indessen kann er auch mit diesen Methoden an jenen Tatbestand herantreten und zwar insofern, als er nachprüfen kann, nach welchen Prinzipien jene Urteile über Wertrichtigkeit und Wertrang, die er im Leben vorfindet, tatsächlich vorgenommen werden. Mit dieser Untersuchung bleibt er ganz in seinem Arbeitskreis. Er würde ihn erst überschreiten, wenn er, statt jene Prinzipien rein beschreibend festzustellen, sie selber wieder bewerten wollte. Das ist nicht unsere Absicht.  Wir betrachten auch die Wertungen nur als Tatsachen, die das Leben wie die Geschichte darbieten; so überschreitet die Psychologie keineswegs die ihr durch ihren Charakter als beschreibender und erklärender Tatsachenwissenschaft gesetzten Grenzen. 

2. Urteile über Richtigkeit und Rangordnung der Werte sind, genau besehen, eine  Bewertung der Werte  ergeben sich also unserer Analyse als  tertiäre Stellungnahmen,  d. h. Stellungnahmen zu Wertsetzungen, die, wie wir erkannten, sekundäre Stellungnahmen sind. Das ist psychologisch durchaus begreiflich und solche Bewertungen von Wertsetzungen finden wir in der Tat überall. Wir sehen zunächst von jenen ab, die sich mit philosophischer, "kritischer" Begründung als absolut geben; wir halten uns an die im Leben selber üblichen, mehr oder weniger unkritischen Richtigkeits- und Rangurteile und prüfen nach, ob ihnen ein einheitliches Prinzip zugrunde liegt, das ihnen eine höhere Berechtigung verleiht.

Wenn ich von "richtigen" und "falschen" Werten spreche, so denke ich dabei nicht an jene "unvollständigen" Wertungen, die ich oben behandelte, solche also, bei denen die Wertsetzung keine entsprechende Grundlage im Erlebnis hat. Hier stehen für uns jene Wertungen in Frage, die vollständig erlebt und dennoch, sei es von fremden Individuen, sei es von einem eigenen Subjektszustand aus, als "falsch" abgelehnt werden. Es sei z. B. ein Buch ein ästhetischer Wert, müßte doch vom religiösen Standpunkt aus als verderblich bezeichnet werden. Was ist da der Prüfstein?

Anders gewandt kann die Frage auch heißen: Kann ein Wert, der als solcher erlebt wird, zu gleicher Zeit ein Unwert sein? Abgesehen von der Tatsache, daß jede Wertgrundlage verschiedenen Wertsetzungen untergeordnet werden kann, kommt hier vor allem in Betracht, daß jedes Erlebnis nicht nur in sich ruht, sondern auch  Folgen  hat, sei es auch nur insofern, als es Gewöhnungen einleitet. Jede Wertgrundlage kann als Eigenwert oder als "Mittelwert" betrachtet werden; das heißt: Die Folgen können anderen Charakter haben, als das Erlebnis selbst. Dieser Fall ist überaus häufig und beeinfluß die Einschätzung der Wertungen selber. Es müssen dann der Eigenwert und der Wert der Folgen gegeneinander abgewogen werden, was aber sehr oft kaum möglich ist, da die Folgen nicht immer berechnet werden können.

Aber wir gehen hier nicht nur diesen Urteilen, die stets nur beschränkte Gültigkeit haben und unter den verschiedensten Gesichtspunkten gefällt werden können, nach. Wir möchten auch ermitteln, ob es doch vielleicht einen letzten Grundwert gibt, an dem sich jede andere Wertsetzung orientieren könnte, eine Voraussetzung also, von der alle übrigen Werte abhängen.

Neuerdings hat man, besonders für einzelne Wertsphären, versucht, das  Leben  als einen solchen Grundwert zu erweisen, das heißt, alle anderen Werte danach abzuschätzen, was sie für die Lebenserhaltung bedeuten. Mit anderen Worten, man hat versucht, alle Wertsetzungen letzten Endes als biologische zu erweisen. So liegt z. B. dem Pragmatismus, der alle logischen Werte auf ihre praktische Bedeutung prüft, die biologische Wertsetzung zugrunde. So hat man neuerdings vielfach in der Ethik, besonders seit NIETZSCHE, versucht, die ethischen Werte auf die Biologie zu gründen, so hat WILLIAM JAMES die religiösen Werte ähnlich fundieren wollen und manche Forscher, darunter ich selber, haben auch für das ästhetische Gebiet das biologische Wertprinzip nutzbar zu machen gesucht.

Ich möchte auch heute dieses Prinzip nicht geringschätzen. Denn in der Tat ist das LEben für fast alle Wertungen die stillschweigende Voraussetzung: In einer Welt, in der es kein Leben gäbe, hätte es keinen Sinn, von Werten zu sprechen. Das Lebensprinzip liegt selbst solchen Wertungen, die (wie das Christentum) das irdische Leben geringschätzen, zugrunde; denn auch die christlichen Wertungen geschehen doch im Hinblick auf ein höheres Leben. "Wer sein Leben hingibt, um meinetwillen, der wird es gewinnen."

Trotzdem glaube ich nicht, daß in der Praxis das Leben wirklich einen letzten Prüfstein für alle Einzelwerte abgeben kann. Viele Wertungen haben sich so weit von dieser Basis entfernt, daß sie unmöglich direkt mehr darauf zurückgeführt werden können. Unser tatsächliches Gefühls- und Willensleben ist so merkwürdig verflochten, so seltsam durchkreuzt von hunderterlei Tendenzen, daß es nicht möglich ist, sie alle unter einen einheitlichen Gesichtspunkt zu bringen. Gar oft würde man durch Ausschaltung eines Unwerts in einer Hinsicht andere Werte mit ausrotten. Man würde z. B. durch konsequente Durchführung ethischer Prinzipien, die allein das Ziel möglichster Lebenserhaltung und Lebensausbreitung im Auge hätten, sehr viele ästhetische Werte vernichten. Es kommt hinzu, daß nicht jede Lebensschädigung zugleich zur Vernichtung des Lebens führt; im Gegenteil, sie kann oft leicht ausgeglichen werden. Man kann z. B. die Extase, in die WAGNERs Tristan seine Verehrer zu versetzen pflegt, als "ungesund" und damit als biologisch schädlich bezeichnen. Aber sind nicht solche Lebensschädigungen oft zugleich wieder höchste Lebensstimulantia? Kann nicht ein Gift zur Gesundung führen? Würde nicht unser Leben verarmen durch Ausschaltung alles im biologischen Sinne Wertlosen und Schädlichen? Wir wissen es längst, daß ein stets ethischer Mensch im Leben unerträglich sein kann. Die Verwicklung der Wertprobleme ist so merkwürdig und unberechenbar, daß selbst Unwerte zu Werten werden können, wie gar mancher Mensch gerade durch seine Fehler liebenswert erscheint. Mag das biologische Prinzip als theoretisches Grundprinzip zu Recht bestehen, seine konsequente Durchführung ins Leben würde eine heillose Pedanterie und Verarmung des Daseins bedeuten.

Das biologische Prinzip ist jedoch keineswegs auf die Lebenserhaltung beschränkt. Wir pflegen allem Leben auch eine immanente  Entwicklungstendenz  zuzuschreiben: Leben bedeutet uns nicht nur Selbsterhaltung, sondern auch Selbstentfaltung, Steigerung des Lebens, Emporwachsen zu "höheren" Formen. Damit wäre also ein Wertprinzip gegeben? Und in der Tat sind die meisten biologischen Werttheorien zugleich Entwicklungswertungen.

So bestechend dieser Gedanke ist, so können wir ihn doch nicht ohne Bedenken hinnehmen. Ist wirklich allem Leben ein solches Entwicklungswertprinzip immanent, so ist es auch unabhängig von unserer Anerkennung oder Nichtanerkennung; dann wird es sich sowieso durchsetzen und wir brauchten nur einfach, ohne Wertsetzungen, darauf loszuleben, um den rechten Weg zu gehen. Vor einem solchen Naturalismus der Wertgebung könnte jedoch der größte Teil unserer Kulturwerte nicht bestehen; denn unsere ethischen, religiösen, ästhetischen Werte sind zum guten Teil antinaturalistisch, suchen die Natur zu meistern und umzubiegen. Sie alle müßten demnach fallen, eine Konsequenz, die man sicher ungern ziehen wird.

Ferner kann man das Bedenken haben, ob der Wertbegriff, den man der Entwicklung unterlegt, wirklich in ihr selber steckt, ob er nicht fälschlich in die Natur hineingetragen ist. Ist wirklich immer die  spätere  Entwicklungsstufe die  höhere?  Und wenn schon, unter welchem Gesichtspunkt ist sie das? Warum sollen die komplizierten Lebensgebilde die wertvolleren sein? Fällen wir da nicht sehr anthropozentrische Urteile, die aus der Natur selber nicht abgeleitet werden können? Außerdem zeigt ja die Beobachtung der Natur, daß die "niederen" Lebewesen keineswegs mit dem Auftreten der "höheren" verschwinden, sondern fortbestehen, ja oft "höhere" überdauern!

Des weiteren ist die "Entwicklung" in der Natur keineswegs so eindeutig, wie manche Forscher annehmen. Kann man nicht sehr verschiedene Entwicklungsreihen in der Natur nachweisen? Erscheinen einerseits die Ameise, die Biene, der Mensch z. B. als Höhepunkte einer auf soziales Leben gerichteten Entwicklung, so kann man den Löwen oder den Tiger als Endglieder einer anti-sozialen Entwicklungsreihe deuten, die in mancher Hinsicht "vollkommener" sind, als jene sozialen Wesen. So hat man auch, je nachdem man die soziale oder individualistische Entwicklungstendenz in den Vordergrund schob, zu gleicher Zeit den Sozialismus wie die NIETZSCHEsche Herrenmoral als Ziel der biologischen Entwicklungstendenz ansehen können. Erwägen wir diese Dinge, so muß es sehr zweifelhaft scheinen, ob wirklich "die Entwicklung" jenes Grundprinzip abgeben kann, an dem alle Einzelwertungen zu messen sind.

Vor allem aber steht allen derartigen "Grundprinzipien" eins entgegen. Selbst wenn man imstande wäre, daran die Richtigkeit der Werte abzumessen, so fehlte diesen Grundprinzipien doch die Macht, sich durchzusetzen. Denn sind nicht Wertungen, wie die des Buddhismus, ganz unbiologisch und haben sich doch bei Hunderten von Millionen Menschen durch Jahrtausende hindurch gehalten? Angesichts dieser Tatsachen wird man eingestehen müssen, daß vermutlich ein so abgeleitetes Urteil über die "Richtigkeit" der Werte sicher nur sehr schwer über theoretische Feststellungen hinausgelangen könnte. Es wäre somit der biologische Wert solcher biologischen Wertprinzipien recht gering. Es würde also von solchen Wertsetzungen gelten, was von jeder Rechtsprechung gilt, die nicht die Macht hat, sich durchzusetzen: sie würde unbeachtet bleiben.

Auch die biologischen Wertprinzipien sind daher nicht als absolute Kriterien für die Wertrichtigkeit anzusehen und wir kommen zu dem Schluß, daß es solche Kriterien überhaupt nicht gibt.

3. Gilt nun schon von den Urteilen über die Richtigkeit der Werte, daß sie ohne ein einheitliches Grundprinzip unter sehr wechselnden Gesichtspunkten gefällt werden, so gilt das noch mehr von jeder  Rangordnung der Werte,  die strenggenommen die Erkenntnis über die Richtigkeit voraussetzt.

Trotzdem begegnen wir überall solchen Ranggebungen. Wir nehmen auch sie als Tatsachen hin und prüfen auch hier nur die Prinzipien, unter denen sie vorgenommen werden. Und zwar vergleicht man sie teils in Rücksicht auf die  Werterlebnisse  selber, teils in Rücksicht auf die  Wertsubjekte,  teils in Rücksicht auf die Wertgegenstände.  Unter diesem Gesichtspunkt gewinnen wir zugleich ein Einteilungsprinzip für unsere Untersuchung.

Was zunächst die Rangordnung der  Wertungen,  d. h. der Wertgrundlagen, untereinander anlangt, so kann man wiederum zwei Gruppen unterscheiden, je nachdem Wertungen  derselben  Wertrichtung gegeneinander abgewogen oder Wertungen  verschiedener  Richtungen miteinander verglichen werden.

Für den Vergleich der Wertgrundlagen der gleichen Richtung, also etwa der ästhetischen Wertungen untereinander, scheint zunächst die  Intensität  des Werterlebnisses in Betracht zu kommen. Es scheint von zwei ästhetischen Genüssen oder zwei religiösen Erschütterungen die  stärkste  die wertvollste zu sein. Freilich melden sich hier Bedenken: Gibt es nicht mindestens  zwei  Steigerungsgrade des Gefühls? Neben der Stärke die Innigkeit? Ja, ist es nicht überhaupt mit den Intensitätsunterschieden der seelischen Erlebnisse eine zweifelhafte Sache? Hat nicht am Ende BERGSON recht, wenn er alle Quantitätsunterschiede bei seelischen Erlebnissen auf Qualitäten zurückführt? (1) Handelt es sich also, wenn ich sage, ein Quartett von BEETHOVEN verschaffe mir intensivere Lustgefühle als ein Quartett von HAYDN, nicht am Ende gar nicht um Quantitäts-, sondern nur um Qualitätsunterschiede, die sich der Einordnung in eine Reihe entziehen? Nach unserer oben skizzierten Gefühlstheorie ist diese qualitative Verschiedenheit sogar von größter Wichtigkeit, und wir können daher unmöglich eine abstrakte Quantitätsstufe zum Rangprinzip zulassen, mag auch oft genug schlechte Beobachtung die Qualitäten als Quantitäten ansprechen.

Ganz verkehrt wäre es, den Intensitätsbegriff dadurch quantitativ machen zu wollen, daß man etwa seinen  Gehalt an Lustgefühlen  zum Maßstab zu nehmen versucht. Wäre die Massenhaftigkeit der Lust maßgebend, so stünden die gröbsten, sinnlichen Werte hoch über den geistien. In der Tat zeigt jedoch die traditionelle Werthierarchie, etwa die der Kunstgeschichte, daß alle auf bloß quantitative Lusteffekte hinstrebende Kunst gering gewertet wird, daß vielmehr die höchsten Werte oft ganz leise, zarte Wirkungen erzielen, die "quantitativ" sicher zurückstehen. Für uns ist die ganze Frage schon darum nicht diskutierbar, weil wir - wie oben dargelegt - zwischen Lust und Lust Qualitätsunterschiede machen und daher die Quantitätsabschätzung von vornherein hinfällig ist.

Statt des Intensitätsprinzips habe ich früher (Psychologie der Kunst II) die  Extensität  in den Vordergrund geschoben. Und zwar habe ich dort die  inner individuelle Extensität (also Dauer und Wiederholbarkeit der Werterlebnisse im  gleichen  Individuum) mit der  zwischen individuelle Extensität (Majorität, Wiederholbarkeit bei  verschiedenen  Individuen) einander nebengeordnet. Ich möchte das hier nicht tun und spreche nur von der  inner individuellen Extensität, während ich die andere erst später, beim Vergleich der Wert subjekte,  behandle. Nun ist gewiß Dauer und Wiederholbarkeit des Werterlebnisses im gleichen Individuum für die Rangordnung sehr wichtig, kann jedoch nur eine Rangordnung für diesen EinzelmenschFen begründen und ist auch abhängig von der Dauer und der Wiederkehr derselben Subjektivität in dem betreffenden Individuum, kann also ebenfalls nicht als  allgemeines  Rangprinzip gelten. Denn wenn wir von Dauer und Wiederholbarkeit desselben Erlebnisses sprechen, so übersehen wir oft die Verschiedenheiten über einer gewissen Ähnlichkeit, d. h. auch hier gewinnen wir ein scheinbares Quantitätsprinzip auf Kosten von Qualitäten.

Zudem wird die Extensität durchkreuzt von einem entgegengesetzten Rangprinzip, die Einzigkeit oder  Exklusivität.  Manche Werterlebnisse werden gerade darum besonders hochgeschätzt, weil sie ganz selten sind, weil sie eben  nicht  wiederholbar sind. Die höchsten Ekstasen des Gefühls haben gerade diesen Einzigkeitscharakter, der natürlich dem Extensitätsprinzip strikt entgegengesetzt ist.

Eher scheint es vielleicht möglich, Wertgrundlagen  verschiedener Richtung  abzustufen. man kann also die ästhetischen Wertungen den ethischen und diese wieder den religiösen unterordnen. Indessen, vergleicht man hier wirklich die Erlebnisse rein als solche? Hat es wirklich einen Sinn, zu sagen, die Versenkung in eine bedeutende Dichtung sei ein geringerer Wert, als die Freude an einer guten Handlung? Vergleicht man, wenn man diese Gefühle zu vergleichen meint, nicht in Wahrheit ganz andere Dinge, etwaige Folgen oder die Beziehungen jener Gefühle zu anderen Lebenssphären? Nachzuweisen ist derartiges natürlich sehr schwer, da all solche Rangstufen im einzelnen Fall kaum restlos auf ihren psychologischen Ursprung zurückzuführen sind. Zu denken gibt jedoch, daß die oben gekennzeichnete Abstufung keineswegs allgemein gilt, daß heute (im Gegensatz zum Mittelalter) vielfach das religiöse Gefühl sehr gering geschätzt und den ethischen, logischen und ästhetischen Erlebnissen weit untergeordnet wird.

So glauben wir, daß auch die "Werthöhe", die OESTERREICH (2) annimmt, keine primäre Qualität der Gefühle und Wollungen ist, sondern zusammenhängt mit Wertsetzungen, die nicht in diesen Wertgrundlagen selber wurzeln. Wenn z. B. ein Mystiker seinen Ekstasen eine besondere Werthöhe zuerkennt, so ist das mitbestimmt durch die Seltenheit, das Überraschende, das der Mehrzahl der Menschen Unbekannte des Erlebnisses, andererseits auch durch die traditionelle Wertsetzung des Wertgegenstandes, d. h. Gottes, der Welteinheit oder wie der Mystiker den Wertgegenstand seines Erlebnisses nennt. Begrifflich faßbar oder sonstwie deutlich wird die "Werthöhe" jedenfalls auch bei OESTERREICH nicht. Zumindest bedürfte es noch weiterer Untersuchungen, um die "Werthöhe", selbst  wenn  man sie prinzipiell nicht ablehnen mag, zu erläutern.

Nach alledem ist offenbar, daß ein einheitliches Rangprinzip im Werterlebnis (der Wertgrundlage) nicht gesucht werden kann. Es gibt kein quantitatives Prinzip für emotionale Erlebnisse, das ihre Anordnung in Reihen gestattete. Außerdem stehen die Wertgrundlagen in engster Beziehung zu den Wertsubjekten und Wertgegenständen, so daß vieles, was wir als Rangordnung der Werterlebnisse ansehen, in Wahrheit eine Rangordnung der Wertsubjekte oder der Wertgegenstände ist.

4. Vielleicht ist es jedoch möglich, in den  Wertsubjekten  ein Prinzip für die Rangordnung der Werte zu finden? Es ist offenbar, daß sich die landläufigen Wertstufungen vielfach so begründen. Wie der Einzelmensch die Wertungen seines "Idealsubjekts" den Wertungen flüchtiger Augenblick in der Regel überordnet, so pflegt man auch, wo es sich um mehrere Individuen handelt, die Wertungen "autoritativer" Personen, d. h. solcher, die im allgemeinen einen hohen Rang haben, höher einzuschätzen, als die irgendeiner anderen Person. Freilich ergibt eine Prüfung dieser "Autorität" sehr bald, daß sie keineswegs auf einem einheitlichen Wertprinzip beruth, sondern das Ergebnis vieler, sehr unsachlicher und sich kreuzender Wertsetzungen ist. Die Autorität der Wertsubjekte ist oft ein Produkt übernommener Wertsetzungen heterogenster Art ohne tatsächliche Grundlage. Vor allem die unberechtigte Übertragung eines Autoritätsgrades von einem Gebiet auf andere spielt da eine keineswegs sachlich begründete Rolle. So wirkt die Autorität von Fürsten oft auf Gebiete hinüber, von denen sie gar nichts verstehen. Selbst Künstler fühlen sich geschmeichelt, wenn ein Mächtiger, mag er noch so kunstfremd sein, ihr Werk lobt und durch Titel oder Orden belohnt. Aber auch abgesehen von solch groben Fällen ist Autorität keineswegs eine Bürgschaft für eine allgemeingültige Rangordnung der Werte. Bedenken wir, daß selbst GOETHE auf einem Gebiet, wo er, wenn je einer, Autorität war, dem der Dichtung, höchst merkwürdige Urteile gefällt hat (wenn er z. B. einen KLEIST ablehnte). Oder bedenken wir, wie oft große Autoritäten der Wissenschaft bedeutsame Entdeckungen verkannt haben! Ich erinnere an NEWTONs Stellung zu HUYGENS, an VIRCHOWs Stellung zur Hypnose. Rangordnung der Leistungsfähigkeit bedeutet noch nicht Rangorndung der Wertungsfähigkeit.

Vielfach, auch von Philosophen, ist die  Allgemeingültigkeit  der Wertungen als Rangprinzip angenommen worden, was, wie wir oben sahen, gleichbedeutend ist mit der  Allgemeinheit des Wertsubjekts.  Es wäre also diejenige Wertung höheren Ranges, die allgemeingültiger wäre, d. h. einer möglichst extensiven Subjektivität entspränge.

Wir kommen also wieder zum Begriff der Extensität zurück, die wir diesmal als Extensität des  Subjekt begriffs fassen. Danach wäre also die Extensität der Wertsubjektivität das Rangprinzip für die Wertungen.

Freilich müssen wir auch hier wieder eine doppelte Extensität unterscheiden, eine konkrete und eine abstrakte. Jene beruth auf der Zahl der Individuen, welche eine Wertung zu eigen haben; diese behauptet schlechthin allgemein zu sein, also auf einer gemeinsamen Anlage in allen Menschen zu beruhen.

Die konkrete Extensität muß zunächst als "Majorität" aufgefaßt werden. Daß eines solche jedoch nicht bindend ist, dürfte weithin zugestanden werden. Sonst wären z. B. die epidemisch sich ausbreitenden Gassenhauer die höchsten Kunstwerte der Musik. Vielleicht aber ist die Extensität in der Zeit, d. h. die Dauer, maßgebend? Gewiß ist die Dauer für die historische Wertgebung wichtig. Ein einheitliches Prinzip ist sie jedoch auch nicht. Die Dauer ist nicht die Ursache der Wertschätzung, sondern selber einen Wirkung sehr verschiedener Ursachen. Auch alle Dauer ist nur relativ und die Ursachen der Dauer sind es noch viel mehr. Wenn wir heute SHAKESPEARE schätzen, so liegt in der Tat eine ganz andere Wertung vor, als es diejenige war, die das 17. und auch das 18. Jahrhundert seinen Werken entgegenbrachte. Es handelt sich hier nur um eine Dauer des Wert trägers,  gar nicht umd die Extensität des Wert subjekts,  denn die Subjekte werten heute auf ganz andere Grundlagen hin, als jene früheren. Man kann aus der Zahl der Wertsubjekte schon darum kein einheitliches Wertprinzip machen, weil diese Wertsubjekte und damit auch die Wertungen selber außerordentlich verschieden sind undnur bei ganz oberflächlicher Beobachtung zusammengebracht werden können. Die dauernde Wertschätzung eines Gegenstandes beruth also weder auf der Extensität der Wertsubjektivität, noch auf der Extensität der Wertung. Die konkrete Extensität der Wertsubjektivität, die große Zahl der sie ergebenden Individuen ist also kein einheitliches Prinzip.

Es bliebe daher noch die auch von Philosophen oft betonte  abstrakte  Subjektsextensität. Danach wären diejenigen Werte die ranghöchsten, die sich an das allgemeine, in allen Menschen vorhandene Normalsubjekt wendeten und daher notwendig allen Menschen genugtun müßten. Das ist letzten Endes der Sinn all jener Wertbeurteilungen, die in der Allgemeingültigkeit einer Wertung den Erweis ihres hohen Ranges sehen. - Indessen sahen wir oben, daß dieses Normalsubjekt eine blasse Abstraktion und ganz ungeeignet ist, die konkreten Wertungen zu erklären. Es wäre ganz falsch, anzunehmen, die antike Poesie habe darum den verschiedensten Jahrhunderten genug getan, weil sie etwa der allen Menschen gemeinsamen Normalsubjektivität besonders entgegen kam. Nur grobe historische Unkenntnis kann das meinen. In Wahrheit hat jedes Jahrhundert nach seiner eigenen, besonderen Subjektivität gewertet, die oft der der anderen konträr entgegengesetzt war. Die abstrakte Extensität der Subjekte ist ein leeres Schema.

Dazu wird auch diese Extensität durch die Exklusivität der Wertung durchkreuzt, da manche Subjekte ihre Wertung gerade darum für besonders hohen Ranges halten, weil sie anders ist, als die der großen Zahl. Oft wird das Aparte, Absonderliche gerade darum hochgeschätzt, weil es auf Wertgrundlagen zurückgeht, die nicht allen zugänglich sind. Die Wertung der Esoteriker aller Gebiete geht auf dieses Prinzip der Exklusivität zurück, letzten Endes also auf die Qualität der Subjekte im bewußten Gegensatz zur quantitativen Extensität.

Alles in allem sehen wir, daß für die tatsächlich bestehende Rangordnung der Werte die Subjektivität schwer ins Gewicht fällt, daß aber keineswegs ein einheitliches Prinzip in ihr zu erkennen ist. Im Gegenteil, zahlenmäßige und qualitative, echte und übernommene Momente durchkreuzen sich; die Rangstufen der Werte, auch von der Subjektseite aus gesehen, ergeben sich als Produkte höchst heterogener Einflüsse.

5. Es blieben also nocht die  Wertgegenstände!  Vielleicht läßt sich in ihnen das gesuchte Rangordnungsprinzip entdecken? Man wird darauf hindeuten, daß es doch möglich sei, durch objektive Analyse zu erweisen, daß z. B. der "Faust" mehr wert sei, als "Uriel Akosta"! Indessen, dieser Beweis hält nicht stand; denn die Analyse, die Aufzählung der Einzelvorzüge, die den Wertrang rechtfertigen sollen, zerlegt nur den Gesamtwert in Teilwerte, die ihrerseits wieder dieselben Probleme bieten, wie der Gesamtwert, d. h. zurückgeführt werden müssen auf Wertsubjekte und Werterlebnisse. Wir sehen uns daher bei der Betrachtung der Wertgegenstände vor derselben Erscheinung, die wir oben hatten: daß nämlich das Wertproblem des Wertrangs von einer Instanz der anderen zugleitet, so daß wir uns im Kreis drehen, wenn wir die Begründung des Wertranges immer in den anderen Teilphänomenen als dem gerade aufgegriffenen suchen.

Das wird besonders offenbar, wenn wir den oben besprochenen Unterschied zwischen Wertgegenstand und Wertträger bedenken. Wir fanden dabei, daß der Wertgegenstand eine Variable ist, die in funktionaler Abhängigkeit von der ebenfalls variablen Wertsubjektivität steht. Man ordnet also, wenn man glaubt, objektive Wertgegenstände in Rangordnung zu bringen, nur die "Träger" ein. Sagt man also, die Bibel sei zu allen Zeiten ein Wert hohen Ranges gewesen, so übersieht man, daß sie niemals  ein  Wertgegenstand, sondern nur die Möglichkeit für sehr viele verschiedene  Wert gegenstände gewesen ist, je nach der Subjektivität der Wertenden. Der psychische Wertgegenstand ist daher "objektiv" gar nicht zu fassen, kann also auch nicht Grundlage einer "objektiven" Rangordnung werden, zumal er stets auf das Werterlebnis und das Wertsubjekt zurückweist, für die wir jene Unmöglichkeit schon nachgewiesen haben.

Wenn man nun darauf hinweist, daß in der Kunstgeschichte z. B. doch eine Wertordnung gelte, so ist zunächst zu erwidern, daß nur die "Wertträger", gar nicht die Wertgegenstände in unserem Sinne eingeordnet sind. Wenn z. B. der "Faust" höher rangiert als "Uriel Akosta", so liegt hier nicht ein einheitliches Wertprinzip zugrunde, sondern sehr verschiede. Neben ästhetischen Wertungen spielen ethische, religiöse, philosophische Momente mit, ferner rein historische Tatsachen, die mit dem Werk ansich gar nichts zu tun haben. Aber selbst die rein ästhetische Wertung ist nicht einheitlich. Unter dem Gesichtswinkel der traditionellen Dramaturgie ist der "Uriel Akosta" vielleicht sogar ein geschlosseneres Bühnenstück, als der "Faust". Die extensive Wirkung des "Faust" beruth zudem keineswegs allein auf der Gesamtwirkung der Dichtung, sondern zum Teil auf der Buntheit der Einzelheiten, weil er, wie es im "Vorspiel auf dem Theater" verraten wird, "Vieles bringt und darum manchem etwas bringt".

Der Wertrang der Kunstgeschichte kommt aufgrund der mannigfachsten Umstände zusammen. Die Kunstgeschichte registriert nur den Effekt, die Tatsache der Wirkung der Wertträger und nur zum Teil die Ursachen. Häufig liegt der Fall nicht so, daß bei der Nachwelt die Wertträger nicht darum hoch im Wert stehen, weil sie wirklich unmittelbare Werterlebnisse vermittelten, sondern umgekehrt, weil sie überlieferterweise hoch im Rang stehen, müht sich die Nachwelt darum, sich mit ihrem Erleben anzupassen.

Wir bestreiten also keineswegs, daß es eine historisch verwurzelte Rangordnung gibt; wir bestreiten nur, daß ihr ein einheitliches, überhistorisches Prinzip zugrunde liegt. Auch die objektivierten Rangordnungen der Wertträger sind durchaus relativ.

6. Die historisch aufzeigbaren Rangordnungen ergeben sich also bei genauerem Betrachten als Konglomerate der heterogensten Wertungen und sind weder logisch faßbar noch von realer Dauer, vielmehr beständigen Schwankungen unterworfen. Extensitäts- und Exklusivitätswertungen, Autoritäts- und Kuriositätswertungen durchkreuzen sich in der seltsamsten Weise. Vernunft wird Unsinn, Wohltat Plage! Warum im einzelnen Fall etwas zum Rang hohen Wertes erhoben worden ist, kann restlos selten festgestellt werden und unterliegt beständig weiterem Wechsel. Die Geschichte notiert die Werte, die zu den verschiedenen Zeiten gegolten haben und versucht, ein Verständnis für die Wertprinzipien zu vermitteln, ohne indessen selber von einheitlichen Wertprinzipien geleitet zu werden. Selbst dort, wo sie Entwicklungsreihen konstruiert, sind diese nur zum Teil durch Prinzipien zu erschöpfen, vielmehr oft durchkreuzt durch irrationale Einflüsse, die sich einer begrifflichen Schematisierung entziehen.

Sind nun die historisch gegebenen Rangordnungen deshalb zu verwerfen? Wir glauben: Nein! Als  fiktive Gebilde  können sie von hoher praktischer Bedeutung sein, obwohl oder vielleicht gerade  weil  ihre logische Unzugänglichkeit eingesehen wird. Sie erschließen keine Notwendigkeit der Wertwirkung, wohl aber die  Möglichkeit  der Wertwirkung. Indem sie, ohne es prinzipiell zu begründen, dartun, was zu hoher Wertwirkung gelangt ist, geben sie Hinweise für die Möglichkeit, Werterlebnisse zu finden. Daß der Glaube an die olympischen Götter ein religiöser Wert war, beweist nicht, daß er es noch heute sein muß; das Bekanntsein dieser Tatsache kann jedoch auch solchen Wertsubjekten, die nicht in jener Wertsphäre aufgewachsen sind, zum Hinweis werden, daß hier eine Wertmöglichkeit vorlag und wenigstens der ästhetische, wenn auch nicht der religiöse Zauber jener Götterwelt auch späteren Menschen noch nacherlebbar geworden ist. Überhaupt ist für das ästhetische Gebiet die Rangordnung der Werte, so fiktiv sie sein mag, doch von besonderer Bedeutung, weil sie die Aufforderung enthält, sich in fremde Wertungen einzuleben und so die eigene Wertsphäre gewaltig zu erweitern. Es ist ein Irrtum, zu glauben, daß die Werte DÜRERscher Griffelkunst oder BACHscher Fugenmusik jedem Heutigen sich mit elementarer Gewalt aufzwingen müßten. Aber der Umstand, daß sie in der fiktiven Rangordnung ästhetischer Werte hervorragende Stellen innehaben, bringt doch für sehr viele Menschen auch heute noch den Anreiz mit sich, sich einzuleben in die fremde Wertung und so das eigene Erleben zu bereichern.

Unter diesem Gesichtspunkt mag die Geschichte fortfahren, die Wertungen der verschiedenen Zeiten und Völker zu sammeln und zu vergleichen. Zu absoluten Werten wird sie niemals vordringen. Sie mag auch Entwicklungsreihen aufzeigen, Höhe- und Tiefpunkte unterscheiden, auch diese Wertungen jedoch werden stets relativ bleiben. Es ist nicht richtig, wenn von neueren Philosophen behauptet wird, Geschichte sei nur Wissenschaft, wenn sie unter absoluten Wertgesichtspunkten betrieben wird. Im Gegenteil:  Alle wahre Geschichtsforschung ist gerade Feststellung der Relativität der Wertungen.  Nur dann, wenn der Geschichtsforscher sich in die verschiedenartigsten Erlebnisweisen und Subjekte hineindenken kann, wird er den Geist der Geschichte erfassen. Wenn die Geschichte der Künste, der Religionen, der ethischen Anschauungen "objektive" Urteile über Richtigkeit und Rangordnung der Werte fällt, so mag das als fiktives Verfahren seine Berechtigung haben, aber diese Fiktionen haben selber nur praktischen Wert, keine tiefere philosophische Bedeutung. Die philosophische Erkenntnis beginnt vielmehr erst dort, wo jene Fiktionen durchschaut werden.

Wir ständen also der Tatsache gegenüber, daß es weder für die Richtigkeit noch für die Rangordnung der Werte ein einheitliches Prinzip gibt, daß die "tertiären" Stellungnahmen genauso relativ bleiben müssen, wie die sekundären und primären. Alles Suchen nach einem solchen absoluten Wertprinzip müssen wir als falsch gestelltes Problem ablehnen wie den "Stein der Weisen".

Heißt das nun nicht, uns in ewige Dunkelheit hinauszustoßen? Heißt das nicht, das Chaos zu proklamieren? Wir antworten: Nicht mehr und nicht weniger, als das Leben selber Chaos und Dunkelheit ist! Solange es Menschen gibt, wird es verschiedene Wertungen und Kampf der Wertungen geben! Immer wieder werden sich Wertsetzungen mit dem Anspruch auf absolute Gültigkeit erheben, immer wieder aber werden sie als verkappte Relativitäten entlarvt werden. Das scheint uns kein Grund zur Trauer; im Gegenteil, wir glauben, daß aller Reiz des Lebens aus dem Widerstreit der Werte kommt. Eine Welt, in der alle Werte über denselben Leisten geschuster würden, müßte unerträglich langweilig und öde sein, ein Ideal für Schulfüchse und enge Dogmatiker, aber für jeden lebendigen Menschen qualvollste Enge. Es setzte nicht nur, wie wir gezeigt haben, völlige Gleichheit der Individuen voraus, es setzte auch voraus, daß jedes Individuum sich selber stets gleich wäre. Über Ideale ist schwer zu streiten! Man möge sich aber ein Forum vorstellen, das die Macht hätte, seine Werte und wären es wirklich die "ewigen" und "absoluten" Werte, durchzusetzen: Welcher lebendige Mensch würde im Ernst geneigt sein, sich dem unterzuordnen?


Kapitel V
Die absolutistischen Werttheorien

1. Es besteht nun neben der psychologischen Wertlehre eine Wertphilosophie, die aufs entschiedenste die psychologische Verwurzelung der Werte bestreitet, dagegen für deren  Absolutheit  eintritt. Im Gegensatz also zum Sprachgebrauch behauptet diese Lehre, es gäbe Werte ansich, Werte, die nicht abhängig seien von ihrer Anerkennung durch dieses oder jenes Subjekt, die vielmehr "absolut" gälten. Bezeichnen wir die bisher von uns besprochenen psychologischen Erte als "bedingte" Werte, so stünde ihnen ein Reich "unbedingter" oder "absoluter" Werte gegenüber.

In die Terminologie unserer bisherigen Ausführungen übertragen, würde diese Lehre bedeuten, daß es Wertsetzungen gäbe, die jenseits aller Wertgrundlagen in unserem Sinn stünden, vielmehr a priori in der Seele vorgebildet wären. Während wir die Wertsetzungen (auch die abstrakten und übertragenen) genetisch ableiteten, wird von den Absolutisten gerade diese psychologische Genesis bestritten, ja meist verächtlich zu machen gesucht. Ob sich der Mensch psychologisch in solchen absoluten Wertsetzungen einzuleben vermag, ist für diese Lehre Nebensache. Als Hauptsache gilt durchaus die Ermittlung der unbedingten, apriorischen Wertsetzungen.

Nehmen wir zunächst an, es gäbe neben den von uns aufgezeigten Bedingten Werten eine Welt der unbedingten, so hätten wir nebeneinander  zwei  unvereinbare Welten, die nur künstlich und recht mangelhaft einander nahegebracht werden können. Es wird also, wenn man diesen Dualismus vermeiden will, notwendig sein, eine der beiden Welten in ihrer Selbständigkeit auszuscheiden. In der Tat haben fast alle Anhänger der absoluten Wertlehre diesen Schritt getan, und zwar so, daß sie die Welt ihrer absoluten Werte den bedingten überordneten und diese letzteren mehr oder weniger beiseite ließen, wobei man sich, da sie in ihrer derben Tatsächlichkeit nicht einfach wegzuretuschieren waren, des Verfahrens bediente, sie als verächtlich, armselig und lächerlich hinzustellen, ein Verfahren, dessen Wissenschaftlichkeit an sich nicht sehr imponierend ist.

In der äußeren Erfahrung aufzeigbar sind nur relative Werte. Wo immer Wertungen mit dem Anspruch auf Absolutheit aufgetreten sind, sind sie längst durch die Geschichte als relativ erwiesen. Ein Daseinsgrund kann also für eine absolute Wertung nicht erbracht werden. Man konstituiert daher auch eine besondere Kategorie für die Werte, die der Geltung. Absolute Werte existieren nicht, sie "gelten". Statt aus der äußeren Erfahrung leitet man sie aus der inneren Erfahrung ab. Man entdeckt in sich die Forderung nach absoluten Werten und aus dieser Forderung leitet man ihre Notwendigkeit ab.

Man hat also, um diese "absoluten" Werte zu verstehen, eine besondere Erkenntnistheorie oder Metaphysik nötig und zwar eine solche, die im Grunde eine Welt außerhalb des Bewußtseins nicht anerkennen kann. Das Bewußtsein hat durch seine eigenen Bedingungen möglicher Erfahrung ihre wirklichen Formen im voraus bestimmt. Das System der Werte erschließt ein Reich des Transzendenten, aber nicht eines transzendent "Seienden". Das Wesen des Wertes aber, das also vom Sein unabhängig gedacht wird, sucht man in einem absoluten Sollen oder einem absoluten Wollen.

Es ist offensichtlich, daß wir hier nicht in Kürze eine Kritik eines so ausgedehnten und geistvollen Systems, wie es das hier gemeinte ist, unternehmen können. Das könnte nur in einer Auseinandersetzung geschehen, die weit über den Rahmen dieser Abhandlung hinausgreifen müßte. (3)

Der Gesichtspunkt, unter dem wir die absolutistische Werttheorie prüfen, wird also nicht der sein, daß wir ihre Fundamente oder Wurzeln auf ihre Tragfähigkeit untersuchen: Wir versuchen umgekehrt, das System nach seinen Früchten zu beurteilen. Wir stellen die Frage nach den letzten Ergebnissen jener Lehre, d. . wir fragen, welche Werte denn auf solchem Wege ermittelt worden sind? Indem wir die so gefundenen, angeblich überempirischen, absoluten Werte mit den in der Erfahrung geltenden, von uns erörterten relativen Werten vergleichen, muß sich uns - so können wir annehmen - die Möglichkeit eröffnen, die angeblich armselige und beschränkte Wertung des Lebens nach einer unfehlbaren Norm zu korrigieren. Vertrauen wir uns also den Absolutisten an, glauben wir ihnen, daß sie wirklich eine Methode haben, die ewigen Werte zu ermitteln und sehen wir zu, was sich uns an überlegener Erkenntnis erschließt!

Nun ist es von vornherein eine bedenkliche Tatsache, daß viele dieser wertphilosophischen Untersuchungen bei allgemeinen Betrachtungen über die Absolutheit der Werte stehen bleiben, ohne mit der Durchführung des Prinzips im einzelnen Ernst zu machen. Wir werden uns daher an MÜNSTERBERG halten, der zwar nicht der originellst dieser Denkergruppe ist, auch in wesentlichen Punkten in der Grundfassung des Wertprinzips von seinen Geistesverwandten abweicht, der jedoch das geschlossenste System der absoluten Werte ausgearbeitet hat und daher für unsere Zwecke am brauchbarsten ist.

Nur ein Bedenken prinzipieller Natur, mit dem man uns kommen könnte, sei kurz berührt. Man könnte uns, die wir das Material für unsere Wertuntersuchungen der äußeren Erfahrung entnommen haben, einwenden, daß die Absolutheit der Werte eben eine  innere  Erfahrung sei. Gibt es nicht in der Tat in der Seele jedes Menschen Wertsetzungen, die a priori sind, deren absolute Geltung uns eine innere Gewißheit verbürgt? Wir antworten: Nein! Wenn wir Wertsetzungen in uns vorfinden, deren psychologische Verwurzelung uns nicht bewußt ist, so ist noch keineswegs erwiesen, daß eine solche niemals vorhanden gewesen wäre. Wir übernehmen auch als Erwachsene sehr leicht fremde Wertungen, ohne daß wir uns des Prozesses dieser Übernahme immer bewußt würden. (Man denke an die Modewertungen, denen wir uns meist unbewußt anpassen!)

Die meisten allgemeinen Wertsetzungen religiöser, ethischer, auch ästhetischer Art gehen jedoch bis in die Kindheit zurück, wo uns der Übertragungsprozeß naturgemäß noch weniger zu Bewußtsein kam. Aus dem Fehlen der Bewußtheit ist daher der Schluß auf das Nichtvorhandensein einer Übertragung nicht von anderen her abzuleiten. Wohl aber läßt sich historisch und psychologisch fast jede Wertung, die mit dem Anspruch auf Absolutheit aufgetreten ist, als nicht apriori vorhanden erweisen. Darauf, daß das Beiseiteschieben der psychologischen Begründung selber ein Wert sein kann, werde ich weiter unten zu sprechen kommen.

2. In seiner  Philosophie der Werte  legt MÜNSTERBERG ein sehr ausgeführtes System der Werte vor, das sich mit der Regelmäßigkeit einer militärischen Formation gruppiert. Man wird gern den Geist und den Scharfsinn anerkennen, mit dem das alles durchgeführt ist. Aber die übersichtliche Anordnung der 24 Wertgruppen ist nicht (ebensowenig wie es die Zwölfzahl von KANTs Kategorientafel war) ein Beweis für ihre innere Notwendigkeit. Derartige ästhetische Vorzüge der Systematik werdn meist durch Gewaltsamkeit erzielt und in der Tat ergibt sich denn auch bei genauerem Hinsehen vieles in MÜNSTERBERGs Wertetafel als gekünstelt.

So sind z. B. die ästhetischen "Einheitswerte": Harmonie, Liebe, Glück, offenbar nur dem mathematischen Grundschema zuliebe so formuliert worden und daß z. B. von den Schönheitswerten, welche "Gegenstand der Hingebung" sind, die bildende Kunst der Außenwelt, die Dichtung der Mitwelt, die Musik der Innenwelt entspricht, ist nur als eine sehr schematische Geistreichelei anzusprechen, zergeht jedoch wie Nebel, sobald man fester zugreift.

Dasjenige nun, worauf MÜNSTERBERG besonders stolz ist, und worin er auch einen Vorzug seiner Wertlehre gegenüber der RICKERTschen erblickt, ist die Ermöglichung einer  einheitlichen Zusammenfassung aller Werte.  Und zwar findet MÜNSTERBERG diese im  Prinzip der Identität.  Der absolute Wille, der auf die absoluten Werte gerichtet ist, zielt nämlich auf die Bejahung einer unabhängigen Welt ab, die notwendig alle anderen Werte einschließt. Schlechthin wertvoll aber sei die Beziehung der Identität zwischen den wechselnden Erlebnissen. Nur insofern, als sich solche Identität darbietet, sei die Welt schlechthin wertvoll.

Aus diesem Grundprinzip leitet MÜNSTERBERG alle einzelnen Werte ab. Sie teilen sich in Werte der Erhaltung, Werte der Übereinstimmung, Werte der Betätigung und Werte der Vollendung. Jeder dieser Begriffe wird oft recht sophistisch aus dem Grundprinzip der Identität deduziert. So wird die Betätigung z. B. als "Identität im Anderswerden" und darunter unter anderem die Werte des Fortschritts, der Wirtschaft, des Rechts einbegriffen! Daß es bei all diesen Dingen keineswegs immer in erster Linie auf Identität ankommt, daß das Wesen des Fortschritts oder der Sittlichkeit nicht im geringsten durch den Begriff der Identität erschöpft wird, braucht kaum bewiesen zu werden.

Es obliegt uns hier nicht, die MÜNSTERBERGschen Deduktionen im einzelnen zu kritisiern. Es kommt uns nur auf das Grundprinzip an, das sich eben als nichtabsolut, vielmehr durchaus als relativ erweist. Wie gesagt, geht MÜNSTERBERG davon aus, daß eine wirkliche Welt und damit eine Weltanschauung nur möglich seien, wenn absolute Werte angenommen würden. Die Welt des Relativismus, der bedingten Werte, ist für MÜNSTERBERG überhaupt keine Welt, nur ein wertloses, sinnloses Zufallsgewirr. MÜNSTERBERG behauptet, daß sich jeder Zweifel an absoluten Werten schließlich selbst vernichtet, als Gedanke sich selbst widerspräche, als Tat sich selbst vereitle, sich als Glaube schließlich selbst aufgäbe. "Kein Weg führt von dot zur Wirklichkeit der anderen Wesen; ja, nicht einmal zu Anerkennung des eigenen Selbst jenseits des einen augenblicklichen Aktes. Alles Streben und Streiten hat dann sein Ziel verloren." (4)

Man sieht leicht ein, daß die Wahl, vor die MÜNSTERBERG seinen Leser stellt oder vielmehr schon nicht mehr stellt, nicht logisch entschieden werden soll, sondern durch einen Akt des Glaubens und zwar erklärt MÜNSTERBERG gleich jeden andersartigen Glauben für unmöglich und Schlimmeres! Strenggenommen ist da nicht zu diskutieren. Aber dennoch möchten wir wenigstens für jeden Leser, der sich nicht selbst jeden anderen Weg verrammelt, die Behauptung wagen, daß doch auch andere Überzeugungen möglich sind, ja, wir behaupten sogar, daß es sehr viele Menschen gibt, die in dieser anderen Welt leben und sich auch eine daran orientierte Weltanschauung bilden.

MÜNSTERBERGs Forderung stellt sich nämlich als Auswirkung eines  ganz individuellen Temperaments  dar, eines psychologischen Typus, den ich an anderer Stelle als den des "Statikers" bezeichnet habe. Ein solcher denkt gemäß seiner psychologischen Veranlagung die ganze Welt als fest, ruhend, identisch. Nur Identitäten sind für ihn Wirklichkeiten. Für MÜNSTERBERG ist das Wiederkehren des Identischen die grundsätzliche Bedingung jeder Bewertung.

Es beweist aber die Geschichte der Philosophie und des menschlichen Geisteslebens überhaupt, daß der Typus des Statikers nicht der einzige ist, daß es vielmehr von HERAKLIT an bis BERGSON stets auch "Dynamiker" gegeben hat, die die Welt nicht als ruhendes Gerüst unverrückbarer Identitäten empfunden haben; vielmehr erschien sie ihnen als ein lebendiges Fließen, ein unaufhörlicher Wechsel, eine bewegte Unendlichkeit und gerade dieses Erleben bejahten sie. Solche Denker bestreiten den Wert der Identität und kommen trotzdem nicht bei einem Chaos an. Wenn MÜNSTERBERG glaubt, diesen Denktypus mit verächtlicher Geste abschieben zu können, so irrt er. Selbst die Würde, die Größe und Erhabenheit, die der Absolutismus gern für sich allein in Anspruch nimmt, fehlt dieser Weltanschauung nicht. Oder sind wirklich die Mannigfaltigkeit, die Bewegtheit, die Unendlichkeit so viel geringer, als die starre Identität, die Ruhe, die Einheit? Mag die dynamische Weltanschauung auch nur auf einem Glauben, einer Überzeugung, auf individueller psychologischer Anlage beruhen, so ist sie damit doch nur in derselben Lage, wie die statische. Und ihre Fruchtbarkeit für das Leben ist darum nicht geringer; denn es läßt sich dartun, daß die moderne Physik, die moderne Entwicklungswissenschaft, die moderne Geschichte und fast alle anderen Kulturgebiete auf einer dynamischen Weltanschauung beruhen und daß sich alle diese Tendenzen immer weiter von der allein seligmachenden Identität entfernen. Das ist keine subjektive Annahme, das ist eine nachweisbare Tatsache. (5)

Damit aber, daß wir neben der Identität noch andere Grundwerte anerkennen und indem wir nachweisen, daß es Weltanschauungen gibt, die sich nicht in erster Linie auf jenem Prinzip aufbauen, ist bereits MÜNSTERBERGs Grundposition erschüttert. Seine Wertung ist nicht absolut, sondern nur relativ und in einer durchaus persönlichen Erlebnisweise verwurzelt.

3. Aber vielleicht ergibt das absolutistische Verfahren, wenn auch die Systematik im ganzen nicht hält, in seinen Einzelergebnissen eine wesentliche Förderung? Gibt MÜNSTERBERG uns Klarheit in den Konflikten der Wertung, lehrt er die echten von den falschen Werten zu sondern, erschließt er neue Werte?

Betrachten wir also die Resultate der apriorischen Grundanschauung! Vermutlich werden sie ganz andere sein, als die psychologisch bedingten (verächtlichen) Werte des Lebens? So sollte man meinen! Man wird jedoch nicht wenig erstaunt sein, wenn man, nachdem man die Spekulationen über Ewigkeit und Absolutheit hinter sich hat, sich plötzlich wieder in der Welt der bedingten Werte befindet, die nur ein wenig maskiert sind. Das einzige nämlich, wodurch sich die Werte MÜNSTERBERGs von den bedingten Werten des Lebens unterscheiden, sind die neuen Namen, die sie bekommen haben. Im übrigen haben sie nur noch die Besonderheit, daß sie zu grauen, leeren Schemen verwandelt sind, zu Abstraktionen aus der bunten Welt der Wirklichkeit, die - weil sie jeder Mannigfaltigkeit gerecht werden sollen - für keinen Einzelfall mehr etwas bedeuten.

Was die neuen Formeln für die alten Tatsachen angeht, so wird man auch hier MÜNSTERBERGs starker systematischer Begabung alle Bewunderung zollen. Es liegt viel Bestechendes darin, daß die scheinbar so verworrene Problematik, der wir uns sonst in Natur wie Kultur gegenüberfinden, hier auf ganz einfache Formeln gebracht ist. So definiert MÜNSTERBERG mit glänzender Dialektik die logischen Werte als Daseinswerte einerseits und (soweit sie Kulturwerte, d. h. zielbewußt geschaffene Werte sind) Zusammenhangswerte andererseits. So gliedern sich ihm, um nur das als Beispiel zu erwähnen, die ethischen Werte in Entwicklungswerte einerseits und Leistungswerte andererseits. Jede dieser Gruppen unterliegt wieder einer Dreiteilung, je nachdem ihre Werte sich auf Außenwelt, Mitwelt oder Innenwelt erstrecken. Sehr geistreich, aber doch ein Netz, dessen groben Maschen die tausendfältige Wirklichkeit überall entschlüpft! Denn so bequem trennbar, wie es hier scheinen will, sind die Wertgebiete im Leben nicht. So verblüffend einfach manches bei MÜNSTERBERG zunächst wirkt, so gewaltsam und erzwungen stellt sich diese Einfachheit bei näherem Betrachten dar. Man liest da z. B., daß die "Leistungswerte", soweit sie auf die Außenwelt bezogen sind, die Wirtschaft ergeben, soweit sie auf die Mitwelt bezogen werden, das Recht und soweit sie auf die Innenwelt bezogen werden, die Sittlichkeit. Aber hat es wirklich das Recht nur mit der Mitwelt, die Sittlichkeit nur mit der Innenwelt zu tun? Gibt es nicht unzählige Übergangs- und Zwischenwerte, die die Bedeutung einer solchen Parzellierung der Welt als leeren Schematismus erscheinen lassen? Und gerade solche Übergangs- und Zwischenwerte geben die schwierigsten Probleme auf, die allerdings durch derartige pauschale Grenztrennung nicht im geringsten gefördert werden. Aber auch die neuen Formeln für die alten Wertungen sagen teils nichts Neues, teils sind sie schief. So ist die Erklärung des "Glückes" als Einheitswert der Innenwelt zum mindesten sehr dürftig. Die Deutung der Schönheitswerte als "Gegenstand der Hingebung" ist geradezu falsch.

Abgesehen von der Namensgebung kennzeichnet, wie gesagt, noch die ins Extrem getriebene Verallgemeinerung die MÜNSTERBERGschen Werte. Wir begegnen dabei dem schon oben aufgedeckten Denkfehler wieder, daß man das tiefste Wesen der Einzelwertungen dadurch finden könne, daß man das allen Gemeinsame daraus loslöst. Als ob nicht das Wesen der Einzelwerte meist gerade in ihrer Verschiedenheit beruhte! Gewiß weist MÜNSTERBERG ausdrücklich die Absicht von sich, daß er etwa - wenn er von der bildenden Kunst spricht - eine wirkliche Ästhetik geben wolle. Aber ist eine solche beabsichtigte und durch die Problemstellung bedingte Beschränkung nicht das Eingeständnis der Lebensfremdheit und Leerheit jener absolutistischen Wertformeln? Was helfen uns die prachtvollsten Formulierungen, wenn wir sie nicht anwenden können? Heißt das nicht Nektar und Ambrosia bieten für menschliche Organismen, die sie nicht verarbeiten können? Die bedingte Wertung der Psychologie kann uns die interessantesten Aufschlüsse darüber geben, aufgrund welcher spezifischen Einstellungen die monumentale Kunst der alten Ägypter, die zierliche Anmut des Rokoko, der Überschwang und die abstrakte Ekstase der Hochgotik und die nervöse Mystik des Symbolismus entstehen und wirken konnten. Die absoluten Werte, die MÜNSTERBERG liefert, versagen allen solchen Problemen gegenüber. Und selbst wenn er behauptet, daß es gar nicht auf die Varietäten, sondern nur auf die innerste Einheit der Kunst ankäme (was man sehr energisch bestreiten kann), so geben die absolutistischen Abstraktionen recht wenig, um sie zu erhellen. Denn daß in der Kunst diese letzte Gemeinsamkeit, nicht die vielgestaltige Verschiedenheit das Wesentliche ist, wird nicht bewiesen; wohl aber beweist die Wirklichkeit und die Geschichte der Kunst das Gegenteil.

Und ist es in der Ethik, in der Religion anders? Finden wir nicht, daß jede Lehre, die mit dem Anspruch auf absolute Gültigkeit auftrat, stets den besonderen Bedingungen der Völker und Individuen angepaßt werden mußte, um zu einem wirklichen Wert zu werden? Was ist irgendeinem lebendigen Menschen mit abstrakten Formeln geholfen, sei es in der Ethik, sei es im Recht oder sonstwo, wenn sie nicht seinen spezifischen Bedingungen Rechnung tragen? Ein Wert, der nicht in Beziehung zu setzen ist mit den konkreten Einzelsubjekten, ist für diese überhaupt kein Wert.

Dabei ist MÜNSTERBERG konsequent genug, um einzusehen, daß diese abstrakten Werte nicht für konkrete Subjekte, sondern nur für ein abstraktes Übersubjekt Geltung haben. In der Tat gipfeln in einem solchen MÜNSTERBERGs Entwicklungen. Aber ist dieses Überich wirklich so absolut, wie er meint? Haften nicht auch diesem sehr bedenkliche anthropomorphe Züge an? Denn der absolute Weltwille, "verwirklicht seine Aufgabe durch die Menschheit." (6) Dieses tiefer Wollen kann das Einzelich als Überzeugung in seinem eigenen Erlebnis finden. "Durch eigene Tat erweitert es sich zum Überich!" Alles das ist weit davon entfernt, wirklich absolute Erkenntnis zu sein! Es ist ein etwas abstrakter, aber unverkennbarer Anthropomorphismus und schon darum schwer verträglich mit unseren sonstigen Erkenntnissen, die dem Menschen längst jene zentrale Stellung in der Welt genommen haben, die hier unter abstrakter Verkappung wieder eingeführt wird.

Nein, betrachten wir die Werte MÜNSTERBERGs bei Tageslicht, so ergibt sich, daß sie gar nichts anderes sind, als die psychologisch ebenfalls verständlichen Werte des Lebens, nur so verallgemeinert, daß alle individuellen Züge davon abgestreift sind. Einem solchen Verfahren gegenüber muß man doch die Frage aufwerfen, ob es, wenn man durch ganz einfache Abstraktion von den Gegebenheiten zum gleichen Resultat gelangen kann, nicht ein unnützes Bemühen ist, auf dem Umweg über eine sehr vage Ewigkeit zum gleichen Resultat zu kommen. Ist dieses Verfahren nicht am Ende dem jener Alchimisten gleich, die ihr Gold aus solchen Substanzen gewannen, die vorher Gold enthielten, aber dennoch behauptet wurde, daß es sich um eine Neuschöpfung handelt?

4. Trotz aller Bedenken, die wir gegen den Absolutismus als Basis der gesamten Weltanschauung vorgebracht haben und die sich leicht noch sehr vermehren ließen, wollen wir die Verabsolutierung der Werte nicht ganz verwerfen. Wir erkennen an, daß die Absolutsetzung bedingter Werte auf den verschiedensten Kulturgebieten oft von hoher Bedeutung gewesen ist. Wir haben auf dem Gebiet der Religion, der Sittlichkeit, der Ästhetik, der Wissenschaften, kurz, fast überall als historisches Faktum die Tatsache zu buchen, daß relative Werte für absolut angesehen wurden und daß für viele Menschen, denen der Sinn für die Würde und Größe einer "dynamischen" Welt abging, die relativen Werte durch diese Absolutsetzung an Würde und Größe gewannen. Wie wir schon oben darlegten, ist es stets ein Irrtum, wenn man bedingte Werte (denn um solche handelt es sich immer) zu absoluten macht. Aber auch ein logischer Irrtum kann, wie neuerdings VAIHINGER ausführlich dargetan hat, von Wert sein und in VAIHINGERs Sinne sehen wir im Begriff des absoluten Wertes eine Fiktion, allerdings eine Fiktion von hoher praktischer Bedeutung. (7)

Wir kommen also zu der scheinbar paradoxen Formulierung: Die Absolutsetzung der Werte ist selber ein relativer Wert, der eben darin besteht, daß sie zwar mit der Wirklichkeit im Widerspruch steht, also fiktiv ist, daß diese Fiktion aber praktische Bedeutung hat, zweckmäßig unter den verschiedensten Gesichtspunkten ist. Der Charakter der Absolutierung als Fiktion kann und muß von der Wissenschaft eingesehen werden; denn ein Irrtum kann wohl eine Zeit lang nützlich sein, er muß auf die Dauer jedoch durchschaut werden, wenn der Schaden nicht den Nutzen überwiegen soll. Die Absolutsetzung ist kein Eigenwert, nur ein Mittelwert, um die Würde derjenigen Werte, die absolut gesetzt werden, zu steigern. Sie hört aber auf, ein Wert zu sein, sobald diese anderen Werte außer Kurs geraten. In einem solchen Fall ist es eine notwendige Arbeit der Philosophie, den Nimbus der Absolutheit zu zerstören und deren fiktiven Charakter darzutun.

Nur ganz kurz sei der relative Wert der fiktiven Verabsolutierung auf den verschiedenen Kulturgebieten dargelegt. Es sei jedoch gleich bemerkt, daß meist nur für Ungebildete die Absolutheit der Wertungen notwendig ist, um an diese zu glauben.

Zunächst in der  Religion!  Es ist nicht ganz leicht einzusehen, daß alle Vorstellungen und Begriffe, die sich der Mensch vom Transzendenten, von der Gottheit oder wie man auch immer die letzte religiöse Wesenheit nennen will, bildet, notwendig nur symbolisch sind, daß sie also niemals buchstäblich wahr sein können. Erst eine gewisse historische und psychologische Bildung läßt das einsehen, obwohl diese Überzeugung keineswegs den religiösen Sinn und das religiöse Gefühl aufzuheben braucht; im Gegenteil, sie ist vielleicht der beste Weg, die Religiösität mit der Erkenntnis zu vereinen. Der gemeine Mann jedoch will in der Religion die absolute Wahrheit und so mag man es verstehen, wenn die Priester fast aller Religionsformen, um das Volk beim Glauben zu erhalten, ihre religiösen Lehren als absolut wahr und gut hingehalten und ihre religiösen Lehren als absolut wahr und gut hingestellt haben.

Ähnlich wie in der Religion steht es in der  Ethik.  Auch hier braucht der gemeine Mann den Nimbus von Würde, den in seinen Augen die Absolutheit dem ethischen Wert gibt. Infolgedessen sind die meisten ethischen Forderungen als absolute aufgetreten und zwar die allerverschiedensten! Es gibt keine ethische Wertung, für die sich nicht eine kontradiktorisch entgegengesetzte finden ließe. Mag es bei den meisten Völkern als absolute Forderung gelten, das Alter zu ehren, so steht dem entgegen, daß es bei den Fidschi-Insulanern eine ebenso absolute Forderung für Greise ist, daß sie sich lebendig begraben lassen, um den Söhnen Platz zu machen. Mag bei den meisten Kulturvölkern die Jungfräulichkeit der in die Ehe tretenden Frau ethischer Wert höchsten Ranges sein, so steht dem entgegen, daß bei vielen Kulturvölkern des Altertums die Tempelprostitution mit der höchsten religiösen und ethischen Würde umkleidet war.

Es gibt keine ethische Wertung, die ansich den Charakter der Absolutheit hätte, wohl aber pflegen alle ethischen Wertungen, welcher Art sie auch seien, sich in den Nimbus der Absolutheit zu hüllen. Diese ist nach unserer Lehre eine Fiktion, aber eine sehr nützliche. Denn eine gewisse Einheit der Wertungen ist Voraussetzung für jedes soziale Zusammenleben und nur dadurch kann sich eine Wertung durchsetzen, daß sie sich als absolute gibt. So triumphiert sie über die ihr entgegengesetzten Wertungen, die sich notwendig überall geltend machen. Allerdings muß dieser Triumph nie so völlig sein (und ist es in der Tat auch nie), daß er alle anderen Wertungen unterdrückte.

Auch für  ästhetische  Werte kann die Fiktion ihrer Absolutheit Erfordernis sein. Dem schaffenden Künstler leiht der Glaube, daß er ewige und allgemeingültige Wert hervorbrächte, eine erhöhte Kraft. Daher finden wir gerade bei Künstlern oft diese Blindheit gegen die Relativität ihrer Schöpfungen. Ein RICHARD WAGNER war überzeugt, daß er nicht nur "ein" Kunstwerk schaffe, nein, für ihn war sein Musikdrama "das" Kunstwerk und aus dieser Überzeugung zog er jene übermenschliche Kraft, sein Werk zuende zu führen. Fast jede Kunstrichtung tritt mit der Überzeugung auf, die wahre und richtige Kunst zu bringen. Liest man die Manifeste der "klassischen", der "romantischen", der "naturalistischen" Schulen, überall blitzt das Bewußtsein durch, daß man die "wahre" Kunst vertrete. Daher rührt auch der Glaube der Künstler an ihre "Sendung", an ihre göttliche Berufung. Mag auch sehr bald die Geschichte diesen Nimbus zerstören, sein praktischer Erfolg wird dadurch nicht geschmälert.

Und auch der Kunstgenießende unterliegt dem Zauber solcher Ansprüche. Auch ihm wird der Wert seines Genusses erhöht, wenn er die Überzeugung hat, es sei nicht eine beliebige, se sei eine ewige Schönheit, die sich ihm da erschließt. Mit einem gewissen Recht hat man daher darauf hingewiesen, daß die Kunstgeschichte, mit ihrer Aufdeckung der Relativität aller Schönheitsbegriffe, die naive Genußfähigkeit herabmindern könnte.

Natürlich gilt von all diesen Absolutsetzungen, daß sie auch zu schweren Schädigungen werden können, sobald sich die Bedingungen ihrer Wertwirkung ändern. Vernunft wird Unsinn, Wohltat Plage! Mag die Absolutsetzung geltender Werte zuweilen ein relativer Wert sein, so ist die Zerstörung dieses Nimbus unter anderen Verhältnissen oft ein ebenso großer Wert. Davon haben wir oben gesprochen. Die Aufgabe einer wissenschaftlichen Philosophie kann es nicht sein, mit dialektischen Künsten ein unmögliches System absoluter Werte aufzubauen! Ihre wahre Aufgabe liegt in der Erkenntnis gerade der Relativität der Wertungen und eine solche Erkenntnis braucht an Würde nicht zurückzustehen hinter jenen trügerischen Gebilden, die eine trügerische Ewigkeit für sich in Anspruch nehmen!

LITERATUR: Richard Müller-Freienfels, "Grundzüge einer neuen Wertlehre" in Annalen der Philosophie, Bd. 1, Leipzig 1919
    Anmerkungen
    1) HENRI BERGSON, Les données immédiates de la conscience, Kap. I
    2) TRAUGOTT KONSTANTIN OESTERREICH, Die religiöse Erfahrung als philosophisches Problem, 1915, Seite 20
    3) Ich verweise unter den zahlreichen Ablehnungen, die die absolutistische Wertlehre gefunden hat, z. B. auf die von FRISCHEISEN-KÖHLER (Wissenschaft und Wirklichkeit, 1910), der ich weitgehend zustimmen kann.
    4) HUGO MÜNSTERBERG, Philosophie der Werte, Seite 38
    5) Genauere Analysen der Typen des "Statikers" und des "Dynamikers" findet man in meinem demnächst erscheinenden Buch: Persönlichkeit und Weltanschauung.
    6) HUGO MÜNSTERBERG, Philosophie der Werte, Seite 471
    7) Vgl. HANS VAIHINGER, Philosophie des Als-Ob, 1911