John DeweyC. S. PeirceL. Stein287 KB | ||||||
Der Pragmatismus Ein neuer Name für alte Denkmethoden Volkstümliche philosophische Vorlesungen 2. Was will der Pragmatismus? [ 3/4 ]
Vor einigen Jahren war ich mit einer Gesellschaft in den Bergen. Wie ich nun einmal von einem gemeinsamen Spaziergang zurückkomme, finde ich die ganze Gesellschaft in einem heftigen philosophischen Streit begriffen. Der Gegenstand des Streits war ein Eichhörnchen - ein lebendiges Eichhörnchen, von dem man annahm, daß es sich an eine Seite eines Baumstammes anlehne. Gegenüber, auf der anderen Seite des Baumes stand, so stellte man sich vor, ein Mann. Dieser Mann will das Eichhörnchen zu Gesicht bekommen und bewegt sich mit großer Geschwindigkeit um den Baum herum, aber wie schnell er auch geht, das Eichhörnchen bewegt sich ebenso schnell in der entgegengesetzten Richtung, der Baum bleibt immer zwischen beiden, so daß der Mann das Eichhörnchen nicht zu sehen bekommt. Das philosophische Problem, das sich aus der Situation ergab, war nun folgendes: Geht der Mann um das Eichhörnchen herum oder nicht? Zweifellos ist, daß er um den Baum herumgeht, aber geht er auch um das Eichhörnchen herum? In der unbeschränkten Muße des Landaufenthaltes waren die Gründe für und wider bald erschöpft. Jeder hatte Partei ergriffen und blieb hartnäckig bei seiner Ansicht; die Zahl der Streitenden war in beiden Parteien gleich groß und so appellierten, als ich kam, beide Parteien an mich, damit ich der einen oder der anderen zur Majorität verhelfe. Ich erinnerte mich nun an die alte scholastische Lehre, die uns anweist, wo wir einen Widerspruch finden, eine Unterscheidung zu machen, suchte nach einer und fand bald die folgende: "Welche von beiden Parteien recht hat," sagte ich, "das hängt davon ab, was Sie mit dem Ausdruck um das Eichhörnchen herumgehen, tatsächlich meinen. Wenn Herumgehen so viel heißt, als sich vom Norden des Eichhörnchens zum Osten, dann zum Süden, zum Westen und dann wieder zum Norden bewegen, dann geht der Mann um das Eichhörnchen herum, denn er nimmt tatsächlich alle diese Stellungen nacheinander ein. Wenn Sie aber unter Herumgehen eine Bewegung verstehen, infolge deren der Mann zuerst vor dem Eichhörnchen, dann rechts von ihm, dann hinter ihm, dann links von ihm und dann wieder vor ihm zu stehen kommt, dann ist es ebenso zweifellos, daß er nicht um das Eichhörnchen herumgeht, denn durch die kompensierenden Bewegungen des Eichhörnchens kehrt es dem Mann immer seinen Bauch zu und seinen Rücken ab. Machen Sie die Unterscheidung und es ist kein Grund mehr zu weiterem Streit. Sie haben beide recht oder unrecht, je nachdem sie Herumgehen in dem einen oder dem anderen Sinne auffassen." Obwohl einer oder zwei der leidenschaftlichen Streiter meine Darlegung ein Ausweichen nannten und meinten, sie bräuchten keine scholastischen Haarspaltereien, sondern verstünden unter Herumgehen eben das, was der einfache ehrliche Sprachgebrauch darunter verstünde, so war doch die Mehrzahl der Ansicht, daß durch meine Unterscheidung der Streit beigelegt sei. Ich erzähle diese triviale Anekdote, weil sie ein besonders einfaches Beispiel der pragmatischen Methode ist, von der ich jetzt sprechen will. Die pragmatische Methode ist zunächst eine Methode, um philosophische Streitigkeiten zu schlichten, die sonst endlos wären. Ist die Welt eine Einheit oder eine Vielheit? Herrscht ein Schicksal oder gibt es einen freien Willen? Ist die Welt materiell oder geistig? Hier liegen die Urteile über die Welt vor, die ebenso gut gelten, als nicht gelten können und die Streitigkeiten darüber sind endlos. Die pragmatische Methode besteht in solchen Fällen im Versuch, jedes dieser Urteile dadurch zu interpretieren, daß man seine praktischen Konsequenzen untersucht. Was für ein Unterschied würde sich praktisch für irgend jemanden ergeben, wenn das eine und nicht das andere Urteil wahr wäre? Wenn kein, wie immer gearteter, praktischer Unterschied sich nachweisen läßt, dann bedeuten die beiden entgegengesetzten Urteile praktisch dasselbe und jeder Streit ist müßig. Soll ein Streit wirklich von ernster Bedeutung sein, so müssen wir imstande sein, irgendeinen praktischen Unterschied aufzuzeigen, der sich ergibt, je nachdem die eine oder die andere Partei recht hat. Ein Blick auf die Geschichte dieses Gedankens wird noch besser zeigen, was der Pragmatismus will. Der Name kommt vom griechischen Wort "pragma", das "Handlung" bedeutet; vom selben Stamm, der unserem Wort "Praxis" und "praktisch" zugrunde liegt. In die Philosophie wurde er von CHARLES PEIRCE in einem Aufsatz eingeführt, der unter dem Titel, "Wie wir unsere Ideen klar machen können" in der Zeitschrift "Popular Science Monthly" (Januarheft 1878) erschien. (1) PEIRCE weist darauf hin, daß unsere Überzeugungen tatsächlich Regeln für unser Handeln sind, und sagt dann, daß wir, um den Sinn eines Gedankens herauszubekommen, nichts anderes tun müssen, als die Handlungsweise bestimmen, die dieser Gedanke hervorzurufen geeignet ist. Die Handlungsweise ist für uns die ganze Bedeutung dieses Gedankens. Die konkrete Tatsache, die allen unseren noch so subtilen Gedanken-Distinktionen zugrunde liegt, ist diese: Keine dieser Distinktionen ist so subtil, daß sie in irgend etwas anderem bestünde, als in einer Unterscheidung, die das Handeln beeinflußen kann. Um also vollkommene Klarheit in unsere Gedanken über einen Gegenstand zu bringen, müssen wir nur erwägen, welche praktischen Wirkungen dieser Gegenstand in sich enthält, was für Wahrnehmungen wir zu erwarten und was für Reaktionen wir vorzubereiten haben. Unsere Vorstellung von diesen Wirkungen, mögen sie unmittelbare oder mittelbare sein, macht dann für uns die ganze Vorstellung des Gegenstandes aus, insofern diese Vorstellung überhaupt positive Bedeutung hat. Das ist das Prinzip von PEIRCE, das Prinzip des Pragmatismus. Es blieb zwanzig Jahre hindurch unbemerkt, bis ich es in einem Vortrag vor Professor HOWISONs philosophischer Gesellschaft an der Universität von Kalifornien wieder aufnahm und auf die Religion anwendete. Von da an (1898) schien die Zeit reif für die Aufnahme dieses Prinzips. Das Wort Pragmatismus verbreitete sich und gegenwärtig füllt es die Seiten der philosophischen Zeitschriften. Man spricht überall von der pragmatischen Bewegung, bald mit Achtung, bald mit Geringschätzung, selten mit klarem Verständnis. Es ist zweifellos, daß auf eine Anzahl von Richtungen, die bisher eines gemeinsamen Namens ermangelten, der Ausdruck Pragmatismus entsprechende Anwendung findet und daß er sich bereits festgelegt hat. Um die Bedeutung des PEIRCEschen Prinzipes vollständig zu erfassen, muß man sich daran gewöhnen, es auf konkrete Fälle anzuwenden. Ich fand vor einigen Jahren, daß OSTWALD, der berühmte Leipziger Chemiker, in seinen Vorlesungen über Naturphilosophie das Prinzip des Pragmatismus in vollkommener Klarheit anwendet, obwohl er es nicht mit diesem Namen bezeichnet.
Es ist erstaunlich, zu sehen, wie viele philosophische Kontroversen in dem Augenblick zur Bedeutungslosigkeit herabsinken, wo Sie dieselben dieser einfachen Probe unterwerfen, indem Sie nach den konkreten Konsequenzen fragen. Es kann unmöglich eine Differenz in einem Punkt geben, die nicht eine Differenz in einem anderen Punkt zur Folge hat, keine Unterscheidung im Abstrakten, die nicht in einem Unterschied im Konkreten, im Tatsächlichen und in der daraus sich ergebenden Handlungsweise zum Ausdruck käme, für irgend jemand, irgendwie, irgendwo und irgendwann. Die ganze Aufgabe der Philosophie sollte darin bestehen, herauszufinden, welchen bestimmten Unterschied es für Sie und für mich in bestimmten Momenten des Lebens ausmacht, ob diese oder jene Weltformel die wahre ist. Die pragmatische Methode ist nichts absolut Neues. SOKRATES war ein Anhänger derselben. ARISTOTELES machte methodischen Gebrauch von ihr. LOCKE, BERKELEY und HUME schufen mit ihrer Hilfe bedeutsame Beiträge zur Wahrheit. Aber diese Vorläufer des Pragmatismus machten davon nur fragmentarischen Gebrauch, sie waren nur ein Vorspiel. Erst in unserer Zeit hat sich die Methode verallgemeinert, ist sich ihrer universellen Aufgabe bewußt geworden und erhebt den Anspruch auf eine sieghafte Mission. Ich glaube an diese Mission und hoffe, am Ende auch Sie mit meinem Glauben zu erfüllen. Der Pragmatismus repräsentiert eine uns durchaus vertraute Richtung in der Philosophie, nämlich die empirische Richtung, allein er repräsentiert sie in einer radikaleren und zugleich einwandfreieren Form, als die war, die sie bisher angenommen hatte. Ein Pragmatist wendet einem ganzen Haufen veralteter Gewohnheiten, die den Fachphilosophen liebgeworden sind, ein für allemal entschlossen den Rücken. Er wendet sich weg von den Abstraktionen und Unzulänglichkeiten, weg von Problemlösungen, die nur Worte sind, weg von schlechten a priori-Begründungen, von festgelegten Prinzipien, von geschlossenen Systemen, weg vom Absoluten und den Ursprüngen. Er wendet sich vielmehr zur Wirklichkeit und zur Angemessenheit, zu den Tatsachen, zum Handeln und zur Macht. Das bedeutet so viel als Herrschaft der empirischen Stimmung und ehrliches Aufgeben des rationalistischen Temperaments. Es bedeutet die freie Luft und die mannigfachen Gestaltungen der Natur, entgegengehalten dem Dogma, der Künstelei, dem Anspruch auf endgültige Wahrheit. Dabei stellt der Pragmatismus keineswegs bestimmte Ergebnisse fest. Er ist nur eine Methode. Aber der allgemeine Sieg dieser Methode würde eine große Veränderung dessen herbeiführen, was ich in meiner ersten Vorlesung das Temperament der Philosophie genannt habe. Die Anhänger des extrem rationalistischen Typus würden kalt gestellt werden, ebenso wie der Höflingstypus in Republiken und der Typus des ultramontanen Priesters in protestantischen Ländern kalt gestellt werden. Wissenschaft und Metaphysik würden einander näher kommen und könnten tatsächlich Hand in Hand miteinander arbeiten. Die Metaphysik hat in der Regel eine recht primitive Art der Untersuchung zur Anwendung gebracht. Sie wissen, welche Vorliebe die Menschen immer für verbotene Magie hatten, und Sie wissen, welche große Rolle in der Magie immer die Worte gespielt haben. Sie können den Geist, den Dämon, oder wie immer die Macht heißt, beherrschen, wenn Sie nur seinen Namen und die Zauberformel kennen, die ihn bindet. SALOMO kannte die Namen der Geister und da er die Namen hatte, so waren sie alle seinem Willen unterworfen. So erschien das Universum dem natürlichen Geist immer wie ein Rätsel, dessen Lösung in der Gestalt eines erleuchteten, Macht bringenden Wortes oder Namens gesucht wurde. Dieses Wort gibt dem Weltprinzip einen Namen und dieses Wort besitzen, heißt in gewissem Sinne so viel, als die Welt besitzen. "Gott", "Materie", "Vernunft", "das Absolute", "Energie", das alles sind solche rätsellösende Namen. Wir können uns beruhigen, wenn wir sie haben. Wir sind am Ende unserer metaphysischen Untersuchung angelangt. Wenn Sie aber der pragmatischen Methode folgen, dann können Sie solch ein Wort niemals als den Abschluß Ihrer Untersuchung ansehen. Sie müssen aus jedem solchen Wort seinen praktischen Kassenwert herausbringen, müssen es innerhalb des Stromes Ihrer Erfahrung arbeiten lassen. Dann erscheint es nicht mehr als Lösung, sondern vielmehr als ein Programm für neue Arbeit, und, genauer gesagt, als ein Hinweis auf die Mittel, durch welche existierende Realitäten verändert werden können. Theorien sind dann nicht mehr Antworten auf Rätselfragen, Antworten, bei denen wir uns beruhigen können; Theorien werden vielmehr zu Werkzeugen. Wir liegen nicht ruhig auf dem Faulbett der Theorien, wir dringen vorwärts und bearbeiten mit ihrer Hilfe wiederholt die Natur. Der Pragmatismus nimmt allen Theorien ihre Steifheit, macht sie geschmeidig und läßt jede arbeiten. Da er nichts wesentlich Neues ist, so harmoniert er mit vielen alten philosophischen Richtungen. So stimmt er mit dem Nominalismus darin überein, daß er sich überall an das Einzelne hält, mit dem Utilitarismus darin, daß er überall den praktischen Standpunkt betont, mit dem Positivismus in der Verachtung, die er den bloß sprachlichen Problemlösungen, überflüssigen Fragestellungen und metaphysischen Abstraktionen entgegenbringt. All das sind, wie Sie sehen, anti-intellektualistische Tendenzen. Gegen die Ansprüche und gegen die Methode des Rationalismus ist der Pragmatismus in voller Rüstung und steter Kriegsbereitschaft. Aber er tritt, wenigstens im Ausgangspunkt, für keine bestimmten Ergebnisse ein. Er hat keine Dogmen und keine Lehre außer seiner Methode. Der Pragmatismus liegt, wie der junge italienische Pragmatist PAPINI treffend gesagt hat, in der Mitte unserer Theorien wie ein Korridor in einem Hotel. Unzählige Zimmer gehen auf diesen Korridor. In einem dieser Zimmer finden Sie vielleicht einen Mann, er an einer atheistischen Schrift arbeitet, im nächsten einen anderen, der auf seinen Knien um Glauben und Kraft betet, in einem dritten einen Chemiker, der die Eigenschaften eines Körpers untersucht. In einem vierten wird ein System idealistischer Metaphysik entworfen und in einem fünften wird die Unmöglichkeit jeder Metaphysik bewiesen. Ihnen allen aber gehört der Korridor zu eigen. Alle müssen ihn passieren, wenn sie einen praktikablen Weg in ihre Zimmer oder aus denselben brauchen. Die pragmatische Methode bedeutet also keineswegs bestimmte Ergebnisse, sondern nur eine orientierende Stellungnahme. Und zwar eine Stellungnahme, die uns absehen macht von ersten Dingen, von Prinzipien, von Kategorien, von vorausgesetzten Notwendigkeiten; und eine Stellungnahme, die uns hinblicken läßt auf letzte Dinge, auf Früchte, auf Folgen, auf Tatsachen. So viel über die pragmatische Methode. Sie werden sagen, daß ich Ihnen diese Methode mehr angepriesen, als erklärt habe, allein ich werde sie jetzt ausführlich genug erklären, indem ich an einigen gut bekannten Problemen zeige, wie sie wirkt. Nun hat aber das Wort Pragmatismus auch noch eine weitere Bedeutung bekommen, indem man darunter auch eine bestimmte Wahrheitstheorie versteht. Ich werde, wenn ich erst den Weg gebahnt habe, der Darstellung dieser Theorie eine ganze Vorlesung widmen und kann mich deshalb jetzt kurz fassen. Kurzen Darstellungen ist aber schwer zu folgen und so erbitte ich mir für eine Viertelstunde Ihre doppelte Aufmerksamkeit. Wenn manches dunkel bleibt, so hoffe ich, es in den nächsten Vorlesungen klarer zu machen. Der Teil der Philosophie, der in unserer Zeit mit dem größten Erfolg bearbeitet wird, ist die sogenannte induktive Logik, d. h. die Erforschung der Bedingungen, unter denen sich unsere Wissenschaften entwickelt haben. Alle, die darüber schreiben, sind zu einer sehr bemerkenswerten Übereinstimmung gelangt über die Bedeutung der Naturgesetze und Elementartatsachen, wenn diese von Mathematikern, Physikern und Chemikern in Formeln gebracht werden. Als die ersten mathematischen, logischen und naturwissenschaftlichen Gleichförmigkeiten, die ersten Gesetze, entdeckt wurden, da waren die Menschen von der Klarheit, Schönheit und Einfachheit, die darin waltete, so hingerissen, daß sie überzeugt waren, sie häten die ewigen Gedanken des Allmächtigen authentisch entziffert. Sein Geist war es, der in Syllogismen donnerte und erdröhnte. Er dachte in Kegelschnitten, in Quadraten, Wurzeln und Verhältnissen. Er trieb Geometrie wie EUKLID. Er machte KEPLERs Gesetze, auf daß ihnen die Planeten folgen. Er ließ bei fallenden Körpern die Geschwindigkeit im Verhältnis zur Zeit zunehmen. Er schuf das Sinusgesetz für die Brechung des Lichts. Er schuf die Klassen, Ordnungen, Familien und Arten der Pflanzen und Tiere und stellte ihre Unterschiede fest. Er hatte die Urformen aller Dinge gedacht und ihre Variation geregelt. Und wenn wir eine seiner wunderbaren Einrichtungen wieder entdecken, dann erfassen wir ganz die Intention seines Geistes. Aber wie die Wissenschaften sich weiter entwickelt haben, hat der Gedanke Boden gewonnen, daß die meisten Gesetze, vielleicht alle, nur Annäherungsformeln sind. Die Gesetze selbst sind so zahlreich geworden, daß man sie nicht mehr zählen kann. Dabei werden in allen Wissenschaften so verschiedene Formulierungen ausgesprochen, daß die Forscher sich an den Gedanken gewöhnt haben, keine Theorie sei eine genaue Kopie der Wirklichkeit, sondern jede von ihnen könnte von einem bestimmten Standpunkt aus brauchbar sein. Der große Nutzen der Theorien besteht darin, daß sie alte Tatsachen zusammenfassen und zu neuen hinzuführen. Sie sind nur eine von Menschen geschaffene Sprache, eine Art begrifflicher Kurzschrift, wie jemand sie genannt hat, in der wir unsere Berichte über die Natur niederschreiben. Jede Sprache aber läßt bekanntlich Mannigfaltigkeit in der Wahl des Ausdrucks zu und es gibt da immer verschiedene Dialekte. So ist aus der wissenschaftlichen Logik die göttliche Notwendigkeit vertrieben worden und menschliche Willkür an ihre Stelle getreten. Wenn ich die Namen SIGWART, MACH, OSTWALD, PEARSON, MILHAUD, POINCARÉ, DUHEM, HEYMANNS nenne, so werden die Fachmänner unter Ihnen leicht die Richtung erkennen, von der ich spreche und es werden Ihnen dabei noch weitere Namen einfallen. Getragen von dieser Bewegung erscheinen nun SCHILLER und DEWEY mit ihrer pragmatischen Erklärung dessen, was Wahrheit überall bedeutet. Wahrheit, so lehren diese Männer, in unseren Gedanken und Überzeugungen bedeutet genau dasselbe, was Wahrheit in der Wissenschaft ist. Diese Bedeutung besteht einzig und allein darin, daß Gedanken, die ja selbst nur Teile der Erfahrung sind, genau in dem Umfang wahr sind, als sie uns behilflich sind, uns in zweckentsprechende Beziehungen zu anderen Teilen unserer Erfahrung zu setzen, diese Erfahrungen zusammenzufassen und, anstatt der unendlichen Reihe der einzelnen Phänomene nachzugehen, es uns möglich machen, uns mit Hilfe begrifflicher Abkürzungen innerhalb unserer Erfahrungen zu bewegen. Jeder Gedanke, der uns sozusagen als Vehikel dient, jeder Gedanke, der uns glücklich von irgendeinem Teil unserer Erfahrung zu irgendeinem anderen Teil hinführt, indem er die Dinge zweckentsprechend verknüpft, sicher arbeitet, vereinfacht, Arbeit erspart, ist genau in dem Umfang, genau in dem Grad wahr, als er dies alles tut. Jede solche Idee ist wahr als Denkmittel. Dies ist die "instrumentale" Theorie der Wahrheit, die so erfolgreich in Chicago gelehrt wird, dies die Theorie, wonach Wahrheit unserer Ideen soviel bedeutet, als ihr Arbeitswert, die so geistvoll in Oxford vorgetragen wird. (3) DEWEY, SCHILLER und ihre Anhänger sind zu diesem allgemeinen Begriff der Wahrheit gelangt, indem sie einfach dem Beispiel der Geologen, Biologen und Philologen folgten. (3) Beim Aufbau dieser Wissenschaften bestand die erfolgreiche Operation immer darin, daß man einen einfachen Vorgang hernahm, den man tatsächlich beobachten konnte, z. B. Denudation [Abtragung der Oberfläche - wp] durch die Witterung, Abweichung vom elterlichen Typus, eine Änderung der Sprache durch Einverleibung neuer Wörter und neuer Arten der Aussprache - diesen Vorgang dann verallgemeinerte, ihn auf alle Zeiten anwendete und große Ergebnisse gewann, indem man die sich summierenden Wirkungen desselben durch alle Perioden verfolgte. Der beobachtbare Vorgang, den SCHILLER und DEWEY zur Verallgemeinerung herausgriffen, ist der bekannte, den jeder einzelne Mensch erlebt, wenn er sich neuen Ansichten anpaßt. Der Vorgang ist immer derselbe. Der einzelne Mensch hat bereits einen Vorrat an alten Ansichten. Jetzt stößt er auf eine neue Erfahrung und dies setzt die alten Meinungen in Bewegung. Jemand widerspricht ihnen oder wir entdecken in einem Augenblick des Nachdenkens, daß sie einander widersprechen; oder wir hören von Tatsachen, mit denen sie unvereinbar sind. Oder es entsteht in uns ein Verlangen, das durch die alten Meinungen nicht befriedigt wird. Das Resultat ist eine Verwirrung in unserem Inneren, die unserem Geist bis jetzt fremd war, von der wir uns nur befreien wollen, indem wir unsere früheren Meinungen modifizieren. Wir retten davon, so viel wir können, denn in solchen Glaubenssachen sind wir alle extrem konservativ. Wir versuchen also zuerst diese, dann jene Meinung zu ändern (sie leisten nämlich der Änderung in sehr verschiedenem Grad Widerstand), bis endlich eine neue Idee kommt, die wir dem alten Vorrat mit einem Minimum von Störung einverleiben können, eine Idee, die zwischen dem alten Vorrat und der neuen Erfahrung vermittelt und beide miteinander in sehr glücklicher und bequemer Weise verschmilzt. Dieser neue Gedanke wird dann als wahr angenommen. Er läßt den alten Vorrat von Wahrheiten mit einem Minimum der Modifikation bestehen, dehnt die alten Überzeugungen nur so weit aus, daß sie die neue Erscheinung in sich aufnehmen können, bewegt sich aber dabei auf so vertrauten Gedankenbahnen, als es der Fall nur immer zuläßt. Eine zu weit gehende Erklärung, die alle unsere Vorurteile zerstört, würde niemals für eine wahre Erklärung der neuen Erscheinung gelten können. Wir würden uns den Kopf zerbrechen, bis wir etwas weniger Exzentrisches gefunden hätten. Die gewaltsamste Umwälzung in den Überzeugungen eines Menschen läßt noch immer das meiste vom alten Vorrat bestehen. Zeit und Raum, Ursache und Wirkung, Natur und Geschichte, unsere persönliche Lebensentwicklung bleiben von solchen Revolutionen unangetastet. Jede neue Wahrheit ist ein Vermitteln, ein Mildern von Übergängen. Sie vermählt die alte Meinung mit der neuen Tatsache, mit einem Minimum von Erschütterung und einem Maximum von Kontinuität. Wir halten eine Theorie in dem Maße für wahr, als sie dieses Problem der Maxima und Minima erfolgreich zu lösen vermag. Diese Lösung ist freilich immer nur eine approximative. Wir sagen: Diese Theorie löst dieses Problem in befriedigenderer Weise, als jene; aber "befriedigender" heißt befriedigender für uns und jeder wird dabei auf einen anderen Punkt mehr Gewicht legen. Bis zu einem gewissen Grad ist hier alles im Fluß. Der Punkt nun, den ich Sie besonders zu beachten bitte, ist die Rolle, die die alten Wahrheiten dabei spielen. Die Nichtberücksichtigung dieser Rolle hat zum großen Teil die ungerechte Kritik verursacht, die gegen den Pragmatismus aufgeboten wurde. Der Einfluß dieser alten Wahrheiten ist unbedingt maßgebend. Ehrliche Rücksicht auf denselben ist der erste Grundsatz, oft sogar der einzige Grundsatz. Denn in den meisten Fällen, wo Phänomene behandelt werden, die so neu sind, daß sie eine ernstliche Neugestaltung unserer früheren Auffassung verlangen, pflegt man die Vor-Urteile zu ignorieren oder diejenigen schlecht zu behandeln, die auf ihr Vorhandensein hinweisen. Sie wünschen gewiß Beispiele für diesen Entwicklungsprozeß der Wahrheit und die einzige Schwierigkeit ist hier die Überfülle. Der einfachste Fall einer neuen Wahrheit ist dann gegeben, wenn wir neue Arten von Tatsachen oder neue Einzeltatsachen alter Art einfach zu unserer Erfahrung zahlenmäßig hinzu addieren, eine Addition, die keine Änderung in den alten Überzeugungen zur Folge hat. Ein Tag folgt dem anderen und der Inhalt des nächsten wird einfach zu dem früheren dazu addiert. Die neuen Inhalte sind an sich nicht wahr, sie kommen und sind da. Wahrheit liegt nur in dem, was wir von ihnen aussagen und wenn wir sagen, daß sie gekommen sind, so besteht die Wahrheit hier in der einfachen Additionsformel. Oft aber zwingt der Inhalt des Tages zu Umgestaltungen. Wenn ich jetzt durchdringende Schreie ausstieße und mich auf der Rednerbühne wie ein Wahnsinniger gebärdete, so würde dies viele von Ihnen dazu veranlassen, Ihre Gedanken über den wahrscheinlichen Wert meiner Philosophie zu ändern. Eines Tages stellte sich das Radium als Tageserlebnis ein und schien für einen Augenblick unseren Ansichten über die Natur zu widersprechen, da die Ordnung der Natur auf das Gesetz der Erhaltung der Energie gestellt war. Wenn man sah, wie das Radium gleichsam aus der eigenen Tasche ins Unendliche Wärme ausstrahlte, so schien das Energiegesetz verletzt. Was sollte man da denken? Wenn die Ausstrahlungen nichts anderes wären, als eine Entladung potentieller Energie, die im Innern der Atome vorhanden war, so wäre das Prinzip der Erhaltung gerettet. Die Entdeckung des Heliums, als Ergebnis der Strahlung, öffnete einen Weg zu dieser Überzeugung. Deshalb wird RAMSAYs Ansicht, obgleich sie unseren Begriff der Energie erweitert, doch allgemein für wahr gehalten, weil sie nur ein Minimum von Veränderung der alten Auffassung bewirkt. Ich brauche die Beispiele nicht zu häufen. Eine neue Meinung gilt in dem Maße für wahr, als sie unser Bedürfnis, das Neue der Erfahrung mit den alten Überzeugungen zu assimilieren, zu befriedigen vermag. Die neue Ansicht muß sich sowohl an die alte Wahrheit anlehnen, als auch neue Tatsachen in sich begreifen und der Erfolg ist dabei, wie ich eben sagte, von unserer subjektiven Bewertung mitbedingt. Wenn also alte Wahrheiten sich durch Hinzufügung neuer weiter entwickeln, so spielen dabei subjektive Gründe mit. Wir sind selbst in den Vorgang eingeschaltet und lassen uns durch diese subjektiven Gründe bestimmen. Der neue Gedanke ist dann am wahrsten, wenn er unserer doppelten Forderung am glücklichsten gerecht wird. Die Art, wie der Gedanke wirkt, macht ihn wahr und läßt ihn als wahr anerkannt werden. Er pfropft sich gleichsam selbst auf den alten Stamm von Wahrheiten, der dann ebenso weiter wächst, wie ein Baum durch die Wirkung eines neuen Kambiumringes. DEWEY und SCHILLER gehen nun weiter, verallgemeinern diese Beobachtung und wenden sie auf die ältesten Wahrheiten an. Auch diese waren einst im Fluß. Auch sie vermittelten zwischen noch älteren Wahrheiten und dem, was damals neue Beobachtungen waren. Rein objektive Wahrheit, die nicht frühere Teile der Erfahrung mit neuer Erfahrung vermählte, eine Wahrheit, bei deren Befestigung die subjektive Befriedigung über diese Vermittlung keine Rolle gespielt hätte, ist nirgends zu finden. Wir nennen die Dinge wahr, weil sie wahr sind, denn wahr-sein heißt nichts anderes, als eben diesen Vermählungsakt vollziehen. Der Schlangenschweif des Menschlichen haftet an jeglichem Ding. Unabhängige Wahrheit, Wahrheit, die wir bloß finden, Wahrheit, die nicht zur Befriedigung menschlicher Bedürfnisse verwendet wird, unabänderliche Wahrheit, ja die gibt es in der Tat in überreichem Maß - oder wird wenigstens von rationalistisch gestimmten Denkern als existierend angenommen. Aber dann bedeutet sie nur das tote Herz des lebendigen Baumes und ihr Vorhandensein will nur sagen, daß auch die Wahrheit ihre Paläontologie und ihre Verjährungsfrist hat, daß auch die Wahrheit nach vielen Dienstjahren steife Glieder bekommt und in den Meinungen der Menschen vor lauter Alter versteinert. Aber wie plastisch selbst die ältesten Wahrheiten trotzdem tatsächlich sind, das hat sich in unseren Tagen in der Umgestaltung der logischen und mathematischen Ideen gezeigt, einer Umgestaltung, die jetzt auch in die Physik einzudringen scheint. Die alten Formeln werden umgedeutet und als Spezialfälle weit umfassenderer Prinzipien aufgefaßt, Prinzipien, von deren heutiger Gestaltung und Formulierung unsere Vorfahren keine Ahnung hatten. SCHILLER gibt dieser Wahrheitstheorie den Namen Humanismus. Aber auch für diese Lehre scheint der Name Pragmatismus sich immer mehr zu verbreiten und so will ich sie in diesen Vorlesungen unter dem Namen Pragmatismus behandeln. Das wäre also das Wesen des Pragmatismus. Erstens eine Methode und zweitens eine genetische Wahrheitstheorie. Diese beiden Dinge werden also künftig unser Thema bilden. Was ich über die Theorie der Wahrheit gesagt habe, wird wohl den meisten von Ihnen wegen der Kürze meiner Ausführungen dunkel und unbefriedigend erschienen sein. Ich werde dies später gut machen. In einer Vorlesung über "gesunden Menschenverstand" werde ich zu zeigen suchen, was ich unter Wahrheiten verstehe, die vor Alter versteinert sind. In einer weiteren Vorlesung werde ich mich über den Gedanken verbreiten, daß unsere Urteile in dem Maß wahr werden, als sie ihre Vermittlungsfunktion erfolgreich ausüben. In einem dritten Vortrag werde ich zeigen, wie schwer es ist, in der Entwicklung der Wahrheit den subjektiven Faktor vom objektiven zu sondern. Vielleicht werden Sie mir in diesen Vorträgen nicht folgen können und wenn dies der Fall ist, werden Sie vielleicht nicht mit mir übereinstimmen. Aber Sie werden, das weiß ich, mich gewiß ernst nehmen und meinen Bemühungen achtungsvolle Erwägung zuteil werden lassen. Sie werden wahrscheinlich erstaunt sein, zu hören, daß SCHILLERs und DEWEYs Theorien einen wahren Sturm von Verachtung und Spott über sich ergehen lassen mußten. Der ganze Rationalismus hat sich wider sie erhoben. In einflußreichen Kreisen hat man besonders SCHILLER wie einen unverschämten Schulbuben behandelt, der Prügel verdient. Ich erwähne dies nur, weil es ein so grelles Streiflicht auf das rationalistische Temperament wirft, das ich dem Temperament des Pragmatismus entgegengesetzt habe. Der Pragmatismus fühlt sich nicht wohl, wenn er weit weg ist von Tatsachen. Der Rationalist fühlt sich nur in der Nähe von Abstraktionen behaglich. Diese pragmatische Rede von Wahrheiten in der Mehrzahl, von ihrem Nutzen und der Befriedigung, die sie gewähren, vom Erfolg, mit dem sie "arbeiten" usw., dies alles betrachtet ein Geist von intellektualistischem Typus nur als einen lendenlahmen minderwertigen Lückenbüßer von Wahrheit. Solche Wahrheiten sind für ihn nicht wirkliche Wahrheit. Solche Bewährungen sind nur subjektiv. Demgegenüber muß die objektive Wahrheit etwas sein, das mit Nutzen gar nichts zu tun hat, etwas Hohes, Geläutertes, Weltfremdes, Erlauchtes, Erhabenes. muß absolute Übereinstimmung unserer Gedanken mit einer ebenso absoluten Wirklichkeit sein. Sie muß das sein, was wir unbedingt denken sollten. Die bedingte Beschaffenheit unseres wirklichen Denkens ist eine Sache ohne jede Bedeutung und gehört in die Psychologie. "Nieder mit der Psychologie, Hoch die Logik!" lautet in dieser ganzen Frage die Parole. Beachten Sie den vollständigen Gegensatz dieser geistigen Typen. Der Pragmatist hält sich an konkrete Tatsachen, beobachtet die Wahrheit in einzelnen Fällen bei ihrer Arbeit und schreitet dann zur Verallgemeinerung. Wahrheit ist für ihn ein Gattungsname für alle Arten von bestimmten Arbeitswerten in der Erfahrung. Für den Rationalisten bleibt sie eine reine Abstraktion, an deren bloßen Namen wir uns halten sollen. Während der Pragmatist an einzelnen Fällen zu zeigen unternimmt, warum wir uns an die Wahrheit halten müssen, ist der Rationalist unfähig, die konkreten Tatsachen zu erkennen, aus denen seine Abstraktion gewonnen ist. Er wirft uns vor, daß wir die Wahrheit leugnen, während wir uns nur bemüht haben, genau zu untersuchen, warum die Menschen sich nach der Wahrheit richten und sich immer nach ihr richten sollten. Der typische Abstraktionsmensch schaudert vor konkreten Dingen gerade zurück. Unter gleichen Umständen zieht er das Verblaßte und Schemenhafte entschieden vor. Wenn man ihn vor die Wahl zwischen zwei Welten stellte, er würde den fleischlosen Grundriß immer lieber wählen, als das reiche Dickicht der Wirklichkeit. Der Grundriß erscheint ihm viel reiner, viel klarer, viel vornehmer. Ich hoffe, daß der Pragmatismus wegen seiner engen Verbindung mit konkreten Tatsachen - und das ist seine charakteristische Eigenart - im weiteren Fortgang unserer Vorlesungen immer mehr Ihre Billigung finden wird. Er folgt darin dem Beispiel seiner Schwesterwissenschaften, indem er das Unbekannte durch das Bekannte verständlich macht. Er bringt Altes und Neues zu harmonischer Vereinigung. Der absolut leere, rein statische Begriff einer "Übereinstimmung" zwischen unserem Geist und der Wirklichkeit - was das bedeuten kann, werden wir später fragen - wird hier ersetzt durch den für jeden verständlichen Begriff eines reichhaltigen und tätigen Verkehrs zwischen unserem konkreten Denken und der großen Welt fremder Erfahrungen, in der unsere Gedanken eine Rolle spielen und ihren Nutzen haben. Doch für jetzt genug davon. Die Rechtfertigung dessen, was ich sage, muß noch aufgeschoben werden. Ich möchte noch ein Wort hinzufügen zur weiteren Erklärung der Behauptung, die ich in der vorigen Vorlesung aufgestellt habe, dahin gehend, daß der Pragmatismus imstande sei, die empirische Denkweise mit dem religiösen Bedürfnis menschlicher Wesen in harmonischem Einklang zu bringen. Sie erinnern sich an meine Bemerkung, daß Männer von starkem Tatsachensinn sich von der heute in der Mode stehenden idealistischen Philosophie leicht abgestoßen fühlen, weil diese Philosophie so wenig Vorliebe für Tatsachen hat. Sie ist ihnen viel zu intellektualistisch. Der Theismus der alten Zeit mit seinem Gott als einem erhabenen Monarchen, der aus einer Menge unverständlicher und unnatürlicher Attribute zusammengesetzt war, dieser Theismus war gewiß schlimm genug. Aber solange er sich mit voller Kraft an den Zweckgedanken hielt, solange blieb er doch in Fühlung mit der konkreten Wirklichkeit. Seitdem aber der Darwinismus den Zweckgedanken aus den Geistern der Naturforscher herausgetrieben hat, seitdem hat der Theismus diesen Halt verloren. Der Gottesbegriff, der sich, wenn überhaupt einer, der zeitgemäßen Phantasie empfiehlt, ist der einer immanenten, pantheistischen Gottheit, die mehr in den Dingen wirkt, als über den Dingen. Wer eine philosophische Religion will, wendet sich in der Regel mit mehr Hoffnung dem idealistischen Pantheismus als dem älteren dualistischen Theismus zu, obwohl auch der letztere noch immer geschickte Verfechter hat. Aber für Tatsachenfreunde oder empirisch gestimmte Geister ist, wie ich in der ersten Vorlesung sagte, der Pantheismus, den man ihnen bietet, schwer zu assimilieren. Er ist mit dem Stempel des Absoluten versehen, verachtet den Staub und nährt sich von der reinen Logik. Er kennt keine wie immer geartete Verbindung mit konkreten Dingen. Der Pantheismus stellt den absoluten Geist, den er für Gott setzt, als die rationale Voraussetzung aller einzelnen Tatsachen hin und steht dem, was die einzelnen Tatsachen in der Welt wirklich sind, mit souveränder Gleichgültigkeit gegenüber. Mögen sie sein, was sie wollen, das Absolute ist ihr Erzeuger. Gleich dem kranken Löwen in ÄSOPs Fabel führen alle Fußspuren in seine Höhle, aber nulla verstigia retrorsum (keine Spur führt hinaus). Sie können mit der Hilfe des Absoluten nicht in die Welt der Einzeltatsachen herabsteigen, Sie können aus Ihrem Begriff von seinem Wesen keine für Ihr Leben wichtigen Folgerungen im einzelnen ableiten. Dieser Gott gab Ihnen zwar die beruhigende Versicherung, daß für Ihn und Seine ewigen Gedanken alles im Reinen ist, aber dabei überläßt Er es Ihnen, im konkreten Einzelfall Ihr irdisches Heil selbst zu suchen durch Ihre eigenen zeitgemäßen Maßnahmen. Fern sei es von mir, die Großartigkeit dieses Begriffes zu leugnen oder in Abrede zu stellen, daß ein solcher Begriff fähig ist, hochachtbaren Geistern religiösen Trost zu vermitteln. Aber vom menschlichen Standpunkt aus muß man zugeben, daß er mit dem Fehler der Weltfremdheit und des allzu Abstrakten behaftet ist. Dieser Begriff ist so durchaus ein Erzeugnis dessen, was ich das rationalistische Temperament zu nennen wagte. Er verachtet die Bedürfnisse des Empirismus. Er setzt einen fleischlosen Grundriß an die Stelle des Reichtums der wirklichen Welt. Er ist fein, er ist vornehm im schlechten Sinn, in dem Sinn, in dem "vornehm" soviel heißt als ungeeignet für niedrige Dienste. In dieser Welt voll Schweiß und Schmutz sollte das Beiwort "vornehm" für eine Weltanschauung ein Präjudiz gegen ihre Wahrheit und eine philosophische Minderwertigkeit bedeuten. Der Fürst der Hölle mag ein Gentleman sein, wie man uns erzählt, aber der Gott es Himmels und der Erde kann, was immer er auch sein mag, sicher kein Gentleman sein. Wir bedürfen seiner knechtischen Dienste im Staub unserer menschlichen Plackerei weit mehr, als seiner Erhabenheit im siebenten Himmel. Der Pragmatismus nun hat, so sehr er sich auch an Tatsachen hält, doch nicht die Hinneigung zum Materialismus, an der der gewöhnliche Empirismus krankt. Er hat nichts gegen Abstraktionen, so lange wir uns mir ihrer Hilfe auf dem Gebiet der Einzeltatsachen bewegen und so lange sie uns tatsächlich zu etwas hinführen. Da er sich nur für solche Schlüsse interessiert, die unser Geist und unsere Erfahrung gemeinsam herausarbeiten, hat er keineswegs von vornherein ein Vorurteil gegen die Theologie. Wenn theologische Gedanken einen Wert für das wirkliche Leben haben, dann werden sie für den Pragmatismus in dem Sinne wahr sein, daß sie eben dieses Gute an sich haben. Ihr etwaiger höherer Wahrheitswert wird ganz und gar von den Beziehungen zu anderen Wahrheiten abhängen, die ebenfalls anerkannt werden müssen. Dies läßt auf das, was ich soeben vom Absoluten des transzendentalen Idealismus gesagt habe, anwenden. Zuerst nannte ich es großartig und sagte, daß es manchen Geistern religiösen Trost vermitteln könne, und dann wieder warf ich ihm Weltfremdheit und Unfruchtbarkeit vor. Aber insofern es religiösen Trost gewährt, ist es gewiß nicht unfruchtbar, es hat diesen bestimmten Wert, es verrichtet eine konkrete Funktion. Als ein guter Pragmatist müßte ich selbst das Absolute "in dem Umfang" wahr nennen und ich tue dies hiermit ohne Zögern. Aber was bedeutet in diesem Falle "in dem Umfang wahr"? Die Anwendung der pragmatischen Methode gibt die Antwort. Was meinen diejenigen, die an das Absolute glauben, mit ihrer Behauptung, ihr Glaube gewährt ihnen Trost? Sie meinen folgendes: Da im Absoluten das endliche Übel bereits überwunden ist, so können wir, wann immer wir nur wollen, das Zeitliche so betrachten, als wäre es potentiell das Ewige, wir können dem Ausgang sicher vertrauen, können ohne Sünde unsere Furcht fahren lassen und uns der Qual der endlichen Verantwortung entschlagen. Kurz, sie meinen, daß wir uns hie und da moralische Ferien gönnen dürfen, daß wir der Welt ihren Lauf lassen dürfen in dem Bewußtsein, daß das Ende in besseren Händen als in unseren ist und daß es uns nichts angeht. Das Universum ist ein System, dessen einzelne Glieder gelegentlich ihre Ängstlichkeiten los werden dürfen, ein System, in dem auch die sorglose Stimmung berechtigt, in welchem moralische Ferien ganz in Ordnung sind. Dies ist, wenn ich nicht irre, ein Teil von dem, was man mit dem Absoluten meint, das ist der große Unterschied in unseren wirklichen Erfahrungen, den der Glaube daran bewirkt, das ist sein Kassenwert, wenn wir es pragmatisch interpretieren. Der gewöhnliche Laie in der Philosophie, der über den absoluten Idealismus günstig urteilt, wagt in der Regel nicht seine Begriffe weiter auszuschleifen. Er kann das Absolute soweit brauchen und "soweit" ist schon sehr wertvoll. Er ist unangenehm berührt, wenn wir ungläubig vom Absoluten sprechen und läßt unsere Einwände unbeachtet, weil sie Erörterungen des Begriffs vorwegnehmen, denen er nicht zu folgen vermag. Wenn das Absolute nur dies und nicht mehr als dies bedeutet, wer könnte dann seine Wahrheit leugnen? Das hieße ja so viel als verlangen, daß der Mensch sich niemals erholen darf und daß moralische Ferien niemals in Ordnung sind. Ich bin mir dessen wohl bewußt, daß es Ihnen recht seltsam vorkommt, wenn Sie mich sagen hören, ein Gedanke sei so lang wahr, als der Glaube an ihn für unser Leben nützlich ist. Daß er gut ist, insofern er nützt, werden Sie gerne zugeben. Wenn das, was wir mit Hilfe eines Gedankens tun, gut ist, so werden Sie auch zugeben, daß der Gedanke selbst so weit gut ist, denn wir sind besser daran, weil wir ihn besitzen. Aber, werden Sie sagen, ist es nicht ein seltsamer Mißbrauch des Wortes "Wahrheit", Gedanken aus diesem Grund als wahr anzunehmen? Auf diese schwierigen Fragen erschöpfend zu antworten, ist mir zu dieser Stunde noch nicht möglich. Sie berühren hier den zentralen Punkt von SCHILLERs, DEWEYs und meiner eigenen Wahrheitstheorie, die ich ausführlich erst im sechsten Vortrag erörtern kann. Lassen Sie mich jetzt nur soviel sagen, daß die Wahrheit eine Art des Guten und nicht, wie man gewöhnlich annimmt, eine davon verschiedene, dem Guten koordinierte Kategorie ist. Wahr heißt alles, was sich auf dem Gebiet der intellektuellen Überzeugung aus bestimmt angebbaren Gründen als gut erweist. Wenn wahre Gedanken - das müssen Sie wohl zugeben - nichts enthielten, was für das Leben gut ist oder wenn die Kenntnis dieser wahren Gedanken positiv schädlich und falsche Urteile die einzig nützlichen wären, dann hätte die allgemein geltende Ansicht, daß die Wahrheit göttlich und köstlich und daß ihr nachzustreben Pflicht ist, sich niemals zu einem Dogma entwickeln können. In einer so beschaffenen Welt wäre es vielmehr unsere Pflicht, die Wahrheit zu scheuen. Aber in dieser wirklichen Welt ist es nicht so. So wie gewisse Nahrungsmittel nicht nur für unseren Geschmack angenehm, sondern auch für unsere Zähne, für unseren Magen, für den Aufbau unserer Gewebe gut sind, so sind gewisse Ideen nicht nur angenehm zu denken, nicht nur angenehm, weil sie andere uns lieb gewordene Ideen stützen, sondern sie helfen uns auch in den praktischen Kämpfen des Lebens. Wenn es eine Lebensführung gibt, die besser ist als eine andere und wenn eine Idee, vorausgesetzt, daß wir an sie glauben, uns helfen könnte, das bessere Leben zu führen, dann wäre es ja tatsächlich besser für uns, an diese Idee zu glauben, es sei denn, daß dieser Glaube mit anderen wichtigen Lebensförderungen in Konflikt käme. "Was für uns zu glauben besser wäre!" Das klingt ganz so, wie eine Definition der Wahrheit. Es ist beinahe so viel, als wenn ich sagte: "Was wir glauben sollten" und in dieser Definition würde wohl keiner von Ihnen eine Ungereimtheit erblicken. Sollen wir nicht wirklich immer das glauben, was zu glauben für uns besser ist? Und können wir dann den Begriff dessen, was für uns besser ist und dessen, was für uns wahr ist, auf die Dauer auseinanderhalten? Der Pragmatismus sagt: "Nein," und ich stimme vollständig mit ihm überein. Vielleicht stimmen Sie auch zu, solange es bei der abstrakten allgemeinen Konstatierung bleibt, können aber einen Verdacht nicht unterdrücken. Ich meine den Verdacht, daß, wenn wir in der Praxis alles glauben wollten, was uns für unser persönliches Leben wohl tut, wir dann leicht dazu kämen, uns allen Phantastereien über die Dinge dieser Welt und jedem sentimentalen Aberglauben in bezug auf eine künftige Welt hinzugeben. Ihr Verdacht ist unzweifelhaft wohl begründet und es ist klar, daß beim Übergang vom Abstrakten zum Konkreten etwas geschieht, wodurch die Situation komplizierter wird. Ich sagte soeben, was für uns besser sei, zu glauben, das sei wahr, vorausgesetzt, daß es nicht mit anderen Lebensförderungen in Konflikt kommt. Nun frage ich: Mit was für Lebensförderungen können einzelne bestimmte Überzeugungen am leichtesten in Konflikt kommen? Offenbar mit den Lebensförderungen, die durch andere Überzeugungen vermittelt werden, wenn diese sich mit den früheren als unvereinbar erweisen. Mit anderen Worten: Die größten Feinde jeder einzelnen von unseren Wahrheiten sind unsere übrigen Wahrheiten. Wahrheiten haben einmal diesen unwiderstehlichen Trieb der Selbsterhaltung und die Tendenz, alle Wahrheiten zu vernichten, die ihnen widersprechen. Mein Glaube an das Absolute, der gegründet ist auf das Gute, das er für mich hat, muß den Kampf mit allen meinen Überzeugungen aufnehmen. Zugegeben, er sei wahr, weil er mir moralische Ferien gewährt. Trotzdem aber - und lassen Sie mich vertraulich und nur als Privatperson sprechen - trotzdem gerät das Absolute, wie ich es auffasse, mit anderen von meinen Wahrheiten in Konflikt, deren wohltuende Wirkung ich um seinetwillen nicht aufgeben mag. Das Absolute hängt mit einer Art von Logik zusammen, von der ich ein Feind bin, es verwickelt mich, wie ich finde, in unannehmbare metaphysische Paradoxien. Aber ich habe genug Unannehmlichkeiten im Leben und will diese nicht noch dadurch vermehren, daß ich mich mit diesen logischen Inkonsequenzen belaste. So gebe ich denn persönlich das Absolute auf. Ich gönne mir ebenso moralische Ferien, aber als ein Philosoph von Fach suche ich sie durch ein anderes Prinzip zu rechtfertigen. Wenn ich meinen Begriff des Absoluten auf das eine wertvolle Moment des Feriengebens beschränken könnte, dann würde es mit meinen übrigen Wahrheiten nicht in Konflikt geraten. Aber wir können unsere Hypothesen nicht so einschränken. Sie enthalten immer auch weitere Momente und diese geraten leicht in Konflikt. Meine Verwerfung des Absoluten bedeutet also meine Verwerfung seiner weiteren Momente, denn ich glaube ehrlich an die Berechtigung moralischer Ferien. Sie sehen jetzt, was ich gemeint habe, als ich den Pragmatismus einen Vermittler und einen Versöhner nannte und mit Anlehnung an PAPINI sagte, er "lockere" alle unsere Theorien. Er hat in der Tat keine Vorurteile, keine bahnsperrenden Dogmen, keinen strengen Kanon für die Beweiskraft der Argumente. Er ist durchaus lebensfroh. Er geht auf jede Hypothese ein, beachtet jedes Zeugnis der Tatsachen. Daraus folgt, daß er auf religiösem Gebiet einen großen Vorteil voraus hat und zwar sowohl vor dem positivistischen Empirismus mit seiner antitheologischen Tendenz, als auch vor dem religiösen Rationalismus mit seinem ausschließlichen Interesse für das Weltfremde, das Vornehme, das Einfache und das Abstrakte. Kurz, der Pragmatismus erweitert das Gebiet, auf dem man Gott suchen kann. Der Rationalismus klebt an der Logik und am Himmelreich. Der Empirismus klebt an den äußeren Sinnen. Der Pragmatismus ist zu allem bereit, er folgt der Logik oder den Sinnen und läßt auch die bescheidenste und persönlichste Erfahrung gelten. Er würde auch die mystische Erfahrung gelten lassen, wenn sie praktische Folgen hätte. Als annehmbare Wahrheit gilt ihm einzig und allein das, was uns am besten führt, was für jeden Teil des Lebens am besten paßt, was sich mit der Gesamtheit der Erfahrungen am besten vereinigen läßt. Wenn theologische Ideen das können, wenn speziell der Gottesbegriff sich hierbei bewährt, wie könnte da der Pragmatismus die Existenz Gottes leugen. Er könnte gar keinen Sinn darin erblicken, ein Urteil, das pragmatisch so erfolgreich war, als unwahr zu betrachten. Welche andere Art von Wahrheit könnte es für den Pragmatismus geben als diese Übereinstimmung mit der konkreten Wirklichkeit. Ich werde in meiner letzten Vorlesung auf die Beziehungen des Pragmatismus zur Religion zurückkommen. Aber Sie sehen jetzt schon, wie demokratisch er ist. Seine Betätigungsweisen sind so mannigfach und so geschmeidig, seine Hilfsquellen so reich und so unerschöpflich, seine Schlüsse so liebevoll, wie die der Mutter Natur.
1) Eine französische Übersetzung von PEIRCEs Aufsatz erschien in der Revue Philosophique, Januar 1879 2) "Theorie und Praxis", Zeitschrift des österreichischen Ingenieur- und Architekten-Vereins, 1905, Nr. 4 und 6. Einen noch radikaleren Pragmatismus als bei OSTWALD finde ich in einer Rede von Professor W. S. FRANKLIN: "Ich denke, die krankhafteste Auffassung der Physik, selbst wenn ein Gelehrter sie hat, ist die, daß Physik die Wissenschaft von Massen, Molekülen und vom Äther ist. Die gesündeste Auffassung hingegen, auch wenn sie ein Gelehrter sich nicht ganz zu eigen zu machen vermag, ist die, daß Physik die Wissenschaft von den Mitteln ist, die Körper in unsere Gewalt zu bekommen und sie in Bewegung zu setzen" (in der Zeitschrift "Science" vom 2. Januar 1903). 3) In Chicago lehrte bis vor kurzem JOHN DEWEY (jetzt in New York), in Oxford trägt F.C.S. SCHILLER Philosophie vor. [Anmerkung des Übersetzers] Download mit den Kommentaren [197 KB] |