p-3Brauchen wir Sprachkritik?Mensch und Sprache  
 
WERNER BETZ
Sprachkritik und Werbesprache

"Was heißt den  Lebensqualität?  Heißt es bessere Luft, heißt es weniger Steuern, heißt es niedrigere Preise oder was sonst?"

Es gibt eine Wiener Geschichte vom Grafen Bobby und Baron Mucki, die sich langweilen und sich einen Spaß, a Hetz, machen wollen. Bobby macht ein Fenster in seiner Wohnung auf und ruft zur Straße hinunter: "In der Florianigassen lauft a Lachs! In der Florianigassen lauft a Lachs!" Er macht das eine Zeitlang, und eine immer größere Zahl von Passanten setzt sich in Richtung Florianigasse in Bewegung, bis es schließlich ein regelrechter Menschenstrom wird. Da greift Bobby zum Hut und geht zur Tür. "Wo willst denn hin?" fragt Mucki. "In die Florianigassen; vielleicht lauft wirklich a Lachs da."

Das ist u.a. wohl auch ein Beispiel einer erfolgreichen Werbung, Massenlenkung, von der es noch noch nicht einmal sicher ist, daß sie in der Florianigasse selbst am Fehlen des Lachses scheitern wird. Es ist eine Werbung, Führung, Lenkung, die in erster Linie vom Inhaltlichen, vom Einfall, von - wie man heute wohl feiner sagt - der Kreativität des Textes ausgeht, nicht vom Sprachlichen, Handwerklichen, dem Lehr- und Machbaren der sprachlichen Form in erster Linie, dem die folgenden Überlegungen gelten sollen.

Die Germanistik hat die Werbesprache bisher eigentlich recht stiefmütterlich behandelt. Und dies - um im Bilde der Stiefmutter zu bleiben -, obwohl dieses Kind eines der erfolgreichsten, interessantesten und wohl auch für die Sprachwissenschaft selber in manchem aufschlußreichsten Kinder ist.

Einen ersten Zugang zur Werbesprache, und zwar zu wesentlichen Zügen der Werbesprache, kann wohl der Slogan, der Werbeslogan, Werbespruch eröffnen. Er stellt in vieler Hinsicht ein Konzentrat jener Züge dar, mit denen die Sprache für die Werbung eingesetzt werden soll, mit deren Hilfe durch die Sprache besonders intensiv geworben werden soll.

Um nun wiederum zur besonders deutlichen Veranschaulichung, Hervorhebung der wirksamen Züge ein Konzentrat sozusagen der Konzentrate der Werbesprache zu bekommen, dürfte es wohl nützlich sein, eine Reihe besonders erfolgreicher Werbesprüche einmal etwas näher anzuschauen. Es gibt wohl keine Statistik der erfolgreichsten Werbesprüche. Ich gehe also von meiner eigenen Erfahrung und Erinnerung aus und nenne zunächst einmal sieben mir bekannt besonders erfolgreiche Werbeslogans.

Da ist einmal die Zigarettenreklame: "Der Duft der großen weiten Welt." Hier ist es das Fernweh, das als Motiv und Assoziation in die Werbung hineingebracht wird, die große weite Welt und der verbindende Bogen zur Ware, für die geworben werden soll, wird durch den Duft gewonnen, der einmal, auf einer stilistisch gehobenen Ebene, nicht nur das Riechbare bezeichnet, sondern auch das Flair, die Stimmung signalisiert, dazu noch andere Nebentöne, Konnotationen der großen weiten Welt aktiviert, zugleich aber zum ganz speziellen konkreten Duftbereich der Ware, eben der Zigarette, hinführt.

Das sprachlich besonders Wirksame, vom inhaltlichen Motiv abgesehen, an diesem Werbeslogan ist einmal die stabreimende Formel von der weiten Welt, die ja z.B. schon im Lied vom Hänschen klein, der in die weite Welt hineingeht, vorkommt, ist weiter die Wahl der besonders gehobenen Stilebene mit dem Ausdruck  Duft  statt etwa   Geruch  (der ein Desodorant fordern, aber nicht für eine Zigarette werben würde). Sprachlich gesehen beruht also die Wirkung dieses Werbeslogans auf der Wahl einer in der Sprache vorgeprägt und allgemein bekannt vorhandenen Formel  weite Welt,  die nun noch erhöht wird durch den Zusatz von  groß  im Sinne eben auch noch des verlockend Größeren, Höheren - so die Sehnsuchtsnote, heute würde man vielleicht sagen: nostalgische Note, die Formel  weite Welt  hervorhebend -, und weiter in der Wahl eben des wirksamsten Bezeichnungsmittels für einerseits die Verbindung der Welt mit der Zigarette, andererseits die Verbindung der konkreten sinnlichen Erfahrung mit dem psychologisch überhöhten Erlebnis durch eben die Wahl des Wortes  Duft. 

Sprachwissenschaft und Sprachkritik - das ist bei der Abgrenzung der eigentlich sprachlichen Wirkung, von den anderen Bereichen, vom Motiv, der erwünschten Sache, z.B. stets zu beachten - behandeln nur einen Teil der Werbesprache, nur einen Teil ihrer Wirkung, die zum anderen eben von Faktoren bestimmt wird, die in erster Linie in den Bereich der Psychologie, der Motivanalyse, der Argumentation gehören und psychologisch, motiv- und argumentationsanalytisch untersucht werden müssen.

Ich nenne nun weiter ein halbes Dutzend besonders bekannter Werbeslogans, sozusagen eine Auswahl von Klassikern der Werbesprache, um mit ihnen etwa das Gebiet abzustecken, mit dem ich mich hier von der Sprachwissenschaft, von der Sprachkritik aus, beschäftigen möchte. Ich werde jeweils nur kurze stichwortartige Charakterisierungen der sprachlichen Eigenart der einzelnen Slogans geben und anschließend die Werbesprache überhaupt und als Mittel der Sprachlenkung von der Sprachkritik aus zu beurteilen versuchen. Nach weiterer Detailanalyse einiger Werbeslogans sollen dann zum Schluß Folgerungen gezogen werden, die sich für Sprachkritik und Werbesprache, für Grenzen auch der Sprachlenkung ergeben können.

Einer der Klassiker der Werbeslogans ist wohl der mittlerweile etwa vierzig, fünfzig Jahre alte Waschmittelwerbespruch "Persil bleibt Persil", dem ein sozusagen gegensätzlicher Werbespruch für das gleiche Fabrikat aus dem Ende der fünfziger Jahre gegenübersteht: "Das neue Persil" als einer der erfolgreichsten Werbeslogans. Das ist ja überhaupt die Frage, die hier für den Sprachwissenschaftler wichtig wäre: Wie weit ist der Erfolg dieser Klassiker des Werbeslogans, wie weit ist der Erfolg von Werbeslogans überhaupt meßbar? Von daher ergäbe sich wiederum eine besonders exakte Grundlage, die erfolgreichsten Werbeslogans nun auf die Gründe ihres Erfolges hin zu untersuchen, sprachlich näher zu untersuchen.

Bei "Persil bleibt Persil" ist es sprachlich einmal wohl die Anlehnung an sprachlich vorgeprägte Formeln wie "Recht bleibt Recht", dann die Kürze dieser drei Wörter, in denen der Name des Produkts zweimal vorkommt und eben seine Beständigkeit betont wird. Natürlich richtet sich der Faktor der Beständigkeit an eine bestimmte Mentalität in der angesprochenen potentiellen Käuferschicht, so wie eben 30, 40 Jahre später genau die gegenteilige Einstellung der Käuferschicht und vermutlich zu Recht angenommen wurde, wenn ebenfalls mit drei Worten für das gleiche Produkt geworben wurde: "Das neue Persil", mit eben jener Attraktion, jener Verlockung, die das Versprechen des Veränderten, des Neuen jeweils hervorrufen kann.

Auch sprachlich einen anderen Typ stellt der Slogan "Darauf einen Dujardin" dar. Er verwendet zwar auch nur drei Worte wie "Persil bleibt Persil". Er führt aber einen Riesenfreiraum in die Vorstellungsmöglichkeit ein, in die Realisierung dieses Spruches durch eben sein erstes Wort  darauf  in seiner unbegrenzten Allgemeinheit. Dieser völlig freie Raum ist, als der Werbespruch noch verwendet wurde, jeweils durch eine entsprechende Zeichnung ausgefüllt worden; aber eben diese Ausfüllung durch unbegrenzte Assoziationsmöglichkeiten, die in dieser allgemeinsten Formulierung  darauf  liegt, hat ja wohl bewirkt, daß er geradezu zu einer allgemeinen festen Redensart wurde, die bei fast jeder Gelegenheit verwendet werden konnte, ob's nun ein Lotteriegewinn oder ein Verkehrsunfall war: "Darauf einen Dujardin".

Ein anderer Werbespruch, der ebenfalls fast zu einer sprichwörtlichen Redensart wurde, ist: "Mach mal Pause, Coca-Cola." Ebenfalls drei Worte nur, Wörter wie bei "Persil bleibt Persil", "Das neue Persil", "Darauf einen Dujardin" und genau wie "Darauf einen Dujardin" auf sehr viele Situationen des täglichen Lebens anwendbar.

Der nächste Werbeslogan, den ich nennen möchte, hat wiederum drei Wörter, genau genommen zwar vier, aber das vierte ist an eines so angehängt, daß er wie der vorherige nur drei Wörter hat, nämlich: "Neckermann macht's möglich." Er ist mit den beiden vorausgehenden Werbesprüchen "Mach mal Pause", "Darauf einen Dujardin" auch dadurch noch verbunden, daß er ebenfalls das Prinzip des Stabreims verwendet, "...  m acht's  m öglich", " M ach  m al Pause", " D arauf einen  D ujardin". Ein solcher Stabreim ist ein besonderes sprachliches Auszeichnungsmittel, das eben darum auch zur Einprägung bei vielen Werbesprüchen verwendet wird.

Ein besonders großer Anwendungsbereich wird bei dem Werbeslogan "Neckermann macht's möglich" eben durch das unbestimmte und hier noch zur Hälfte weggelassene  es  ermöglicht, das eben in seiner Unbestimmtheit und Allgemeinheit alles kann, jegliche Assoziation ermöglicht, was es sein könnte, was hier möglich gemacht werden sollte, ähnlich wie bei "Darauf einen Dujardin".

Ein Werbespruch, der auch schon etwa fünfzig Jahre alt ist, aber seinerzeit sicher zu den bekanntesten Werbeslogans gehörte, ist: "Schreibst mir, schreibste ihr, schreibste auf MK-Papier." Hier sind verschiedene sprachliche Wirkungsmittel zusammen eingesetzt: einmal der Stabreim durch zweimalige Wiederholung, dreimalige Setzung des gleichen Wortes: "Schreibste mir, schreibste ihr, schreibste auf MK-Papier", verbunden mit dem Endreim,  ihr, mir, ihr, Papier.  Das ganze aber im Gegensatz zu den vorheringen kürzeren Typen, die meist ja nur überhaupt aus drei Wörtern bestehen, während wir hier zwei Wörter und drei Silben -  schreibste mir, schreibste ihr  - als einen Auftakt haben, und dann,  schreibste auf FS-Papier  wiederum drei Wörter, wenn FS-Papier als Zusammensetzung gilt - das Ganze aber hier syntaktisch, inhaltlich als eine vorangestellte Bedingung:  schreibste mir  oder  schreibste ihr,  und als eine Folgerung, die sich daraus dann ergibt: schreibst auf FS-Papier.

Diese syntaktisch-inhaltliche Figur, den generellen Imperativ  Schreib  (immer)  auf FS-Papier  in eine individuell-konditionale Folgerung umzuwandeln und dadurch zugleich eine logische Konsequenz der Folgerung zu soggerieren, das ist auch ein häufiger und offenbar wirksamer Typ des Werbeslogans, der Werbesprache.

Als letztes Beispiel eines besonders weit verbreiteten Werbeslogans möchte ich noch nennen: "Mach dir ein paar schöne Stunden, geh ins Kino." Der erste Teil dieses Werbeslogans,  Mach dir ein paar schöne Stunden,  hat ja wohl fast redensartliche Verbreitung erreicht, während die Erklärung, Aufforderung, wodurch man es machen könne:  geh ins Kino,  sicher weniger Erfolg gehabt. Die tatsächliche geschichtliche technische Entwicklung hat hier den Werbespruch offenbar wirkungslos gemacht. Wenn Werbesprache und Sprache überhaupt mit der Realität in einen deutlich sichtbaren Konflikt geraten, unterliegt meist die Sprache, auch die Werbesprache.

Besonders breite Aufmerksamkeit in der Öffentlichkeit hat die Werbesprache wohl erreicht, als ihre Methoden, ihr Verfahren von der Politik, von den Politikern insbesondere für ihre Werbung in Wahlkämpfen übernommen wurde. Hier hat man dann auch Vorwürfe gegen die Politik, gegen die Politiker erhoben, indem man sagte, sie bedienten sich der gleichen Methoden für ihre Ziele, wie dies die Propagandisten für Waschmittel täten. Darin steckt also gleichzeitig ein Vorwurf gegen die Werbesprache, gegen ihre Methoden.

Es gibt nun tatsächlich einen Zug, der in besonders aufschlußreicher Weise die Werbesprache mit der politischen Sprache verbindet: Bei beiden kommt es ganz entscheidend in erster Linie auf die Wirkung an. Von den drei Aufgaben also, von den drei Funktionen, die man der Sprache zugeordnet hat, der Kundgabe und dem Ausdruck, der Beschreibung und Darstellung und dem Appell, der Aufforderung ist es sowohl in der Politik wie in der Werbung, in der politischen wie in der kommerziellen Werbung die dritte Funktion, die Appellfunktion, die die eigentlich entscheidende Rolle spielt: hier, daß eine Ware gekauft, dort, daß eine Partei gewählt wird.

Die zweite Funktion der Sprache: darzustellen, zu beschreiben, zu informieren also, sollte sicherlich vernünftigerweise als Vorbereitung für jene dritte Appellfunktion eingesetzt werden, so daß sich dieser Appell, diese entscheidende Beeinflussung zur Handlung hin als Konsequenz aus der vorausgehenden Beschreibung, Information ergibt. Die Sprache der Politik, der politischen Werbung, kann nun nicht nur im Vergleich der Methoden gewisse Aufschlüsse auch für die Sprache der wirtschaftlichen Werbung geben, sie kann darüber hinaus als eine jederzeit durch das genaue Wahlresultat den Erfolg überprüfende Werbungsmethode festere Grundlagen geben, unter Umständen unter Abrechnung der anderen nichtwerbesprachlichen Faktoren, die oft oder meist sehr viel stärker wirken als die rein werbesprachlichen.

Ein sicher sehr erfolgreicher Werbeslogan in den ersten Jahren der Bundesrepublik war die CDU-Parole "Keine Experimente". Ein Volk, das gerade einige schlecht ausgegangene Experimente hinter sich hatte, das aus einer Welt der Zerstörung und der Unsicherheit versuchte, wieder einen festeren Boden zu gewinnen, eine so gestimmte Wählerschaft mußte sicher besonders stark von einer Parole wie "Keine Experimente" angesprochen werden.

Im Grunde beruht auf dieser Tendenz zum ausgeglichenen Stabilen auch noch ein ganz neuer Versuch einer anderen Partei, die zur linken Seite der Parteien gehört, die sich jetzt als  die neue Mitte  dem Wähler vorstellen möchte. Die Aussichten auf einen Erfolg dürften angesichts der bekannten und so stark empfundenen Diskrepanz dieser neuen Parole zur Realität wohl nicht sehr groß sein.

Ebenfalls einen Versuch politischer Werbesprache unternahm man in den letzten Jahren mit dem Schlagwort "Lebensqualität". Es arbeitet in erster Linie mit Reizen der Oberfläche, mit dem Reiz, den Assoziationen, den erfreulichen Vorstellungen, die mit dem Wort  Qualität  verbunden sind; da zugleich Leben als Leben doch auch etwas ist, das nicht nur von rationalen technischen Faktoren bestimmt wird, werden hier sehr stark emotionale, fast auch irrationale Reaktionen miteinbezogen, so daß auch diese Seite möglicher Emotionen angesprochen wird in der Verbindung Lebensqualität. Aber es ist, wie gesagt, ein Appell in erster Linie an die ersten oberflächlichen Reaktionen. Denn wer auch nur, wie im Grunde jeder Hörer, jeder Wähler, jeder Käufer das sollte, einen Augenblick kritisch auf das hört, was ihm vorausgesetzt wird, Lebensqualität hier, der müßte sich doch auch über das völlig Vage, Unverbindliche, Nichtssagende dieser ganz allgemeinen Formel, vielmehr Leerformel, klar werden.

Was heißt den  Lebensqualität?  Heißt es bessere Luft, heißt es weniger Steuern, heißt es niedrigere Preise oder was sonst? All dies wäre eben durch wirklich konkrete Angaben (vielleicht mit Hilfe der amerikanischen Soziologie, woher das Schlagwort ja stammt), durch konkrete Bildervorschläge erst auszufüllen, um eben auch dem kritischen Hörer etwas sagen zu können. Aber wie viele Hörer und Leser sind kritisch?

Nehmen wir nun aus dem Bereich der politischen Werbesprache noch die Negativwerbung, gegen die Gegner nämlich, hinzu, so wäre etwa aus jüngster Zeit auf einen Fall wie "Korruption" hinzuweisen. Ich meine jenen Vorwurf der Korruption, den der damalige Bundeskanzler in einem Interview im September 1972 erhoben hat, als er auf die Frage des  Spiegel-Interviewers:  "War Korruption mit im Spiel?" - nämlich bei dem Fraktionswechsel einiger Abgeordneter im Bundestag - antwortete: "Ohne Zweifel; daran ist für mich kein Zweifel."

Dieser pauschale Vorwurf der Korruption, für den dann Bundestagspräsident von HASSEL in einem Brief um Aufklärung bat, wurde nachträglich von BRANDT so interpretiert, daß er nicht Korruption im Sinne von  Bestechung  gemeint habe, sondern Korruption im Sinne von  Sittenverderbnis.  Das eine ist unter Umständen ein strafbares Delikt, das andere ein moralisch bedenkliches Verhalten. Diese Technik aber, die hier anscheinend angewendet wurde, nämlich ein doppeldeutiges Wort in einem bestimmten Kontext gegen den Gegner zu gebrauchen, so daß es von den Hörern als entsprechend negative Äußerung in dem einen Sinne aufgefaßt werden konnte und wohl auch wurde, dann aber nachher zu erklären, man habe es gar nicht in jenem kriminellen Deliktsinne, sondern eben im Sinne eines allgemeinen Sittenverfalls gemeint, das ist eine häufige Technik in der politischen Kampfsprache: Polysemie als politische Strategie.

Was wir hier in der politischen Sprache wie auch in der Werbesprache am Werk sehen und was beiden vielfach bittere Vorwürfe eingetragen hat, das ist zu einem Teil nichts anderes als das, was seit jeher in der Geschichte menschlicher Sprachanwendung die Rhetorik schon zu lehren versucht hat, nämlich: wie man dem Hörer einen Sachverhalt am besten, am wirkungsvollsten klarmacht, wie man ihn am ehesten für seine Auffassung gewinnen kann, wie man ihn mit sprachlichen Mitteln, mit der Wahl der Worte zu bestimmtem Handeln bringen kann.

Ein klassisches Beispiel für diese Mittel der Rhetorik, in einer Rede angewandt, bietet in SHAKESPEAREs "Julius Caesar" die berühmte Leichenrede des MARC ANTON nach der Ermordung JULIUS CAESARs mit dem immer wiederkehrenden Refrain: "Doch BRUTUS sagt, daß er voll Herrschsucht war, und BRUTUS war gewiß ein ehrenwerter Mann", bis er auf diese Weise den Widerspruch seiner Hörer gegen seine Schutzformel für BRUTUS herausgelockt hat, daß sie aufschreien nach Rache zum Kampf gegen BRUTUS.

Ein modernes Beispiel solcher Rhetorik auf anderer Ebene, anderem Niveau und vor allem in einer anderen Situation, Konstitution, stellt die berühmte Sportpalastrede von GOEBBELS, "Wollt ihr den totalen Krieg?", dar. Hier müßte jeweils der Hörer, der kritische Hörer, die rhetorische Verführung durchschauen und das Verhältnis zur Realität beurteilen. Dies ist ein entscheidender Punkt auch für den Erfolg jeder Werbung. Es wird wohl nur selten gelingen, den Hörer, den Käufer, den Leser durch eine Verlockung, die ganz offensichtlich im Widerspruch zur sichtbaren, gegenwärtigen Realität steht, zu entsprechendem Handeln zu veranlassen. Aber es gibt immer eine Zone der Ambivalenz, in der die eine und die andere Beurteilung möglich ist und innerhalb derer es mit Mitteln der Werbung, der Werbesprache, der Wortwahl gelingen kann, den Hörer in die eine oder andere Richtung zu lenken.

Wir haben uns also Beispiele dafür anzusehen, daß man durch die Wahl verschiedener sprachlicher Mittel, verschiedener Wörter zur Bezeichnung der gleichen Sache, entsprechend verschiedene Wirkungen erzielen kann. Dabei ist mit der Wahl verschiedener Wörter nicht die schlichte Falschbezeichnung oder die Lüge gemeint, sondern eine Bezeichnung, die mindestens auf den ersten Blick für die betreffende Sache, für das betreffende Geschehen als richtig erscheinen kann.

Ein klassischer Fall hierfür ist wohl die sprachliche Bezeichnung eines - sagen wir: Halbliterglases, eines Bierglases, das mit 0,5 Litern geeicht ist und das noch zur Hälfte gefüllt ist. Dieses Glas kann ebenso richtig als  halbvoll  wie aber auch als  halbleer  bezeichnet werden. Die sprachliche Wirkung, je nachdem, welchen der beiden Ausdrücke ich nehme, wird durchaus verschieden sein. Hier wird durch eine völlig exakte Maßbezeichnung der Blick jeweils entweder auf die freudige oder betrübliche Seite dieses Tatbestandes gelenkt, durch die mit der Bezeichnung, dem Wort verbundenen Nebenvorstellungen, Assoziationen, Konnotationen. Die Mobilisierung dieser Konnotationen für die Wahlentscheidung des Käufers ist eine der  geheimen  Verführungen der Werbesprache.

Anders verhält es sich etwa, wenn im vorletzten Jahr einige Streiks im Rheinland von den einen als  wilde Streiks,  von den anderen als  spontane  Arbeitsniederlegungen bezeichnet wurden. Hier ist es nicht mehr ein verschiedener Ausdruck, der für genau die gleiche Sache verwendet wird, sondern hier wird durch die Wahl des jeweiligen Ausdrucks gleichzeitig eine andere Beurteilung, eine andere Einordnung für das Geschehen selbst gewählt, d.h., das Geschehen selbst wird als ein anderes bezeichnet, hier als ein  wilder Streik,  eine illegale Kampfmaßnahme, dort als eine  spontane Arbeitsniederlegung,  ein im Augenblick sozusagen unüberlegtes, aus Erregung heraus geschehenes Aufhören der Arbeit, daher auch das Vermeiden des Wortes  Streik. 

Hier also nicht nur die Wahl verschiedener Wörter, sondern eine Beurteilung der gleichen Sache als ein verschiedenes Geschehen, eine Interpretierung des gleichen Vorgangs, des gleichen äußeren Geschehens als eine verschieden motivierte und verschieden zu beurteilende Handlung. Die politische Propaganda, die hier in der einen oder anderen Richtung getrieben wird, hat um so mehr Aussicht auf Erfolg, je unklarer die Vorgänge für den äußeren Betrachter sind, je mehr also die Möglichkeit gegeben ist, ohne offenkundige Widersprüche vom Tatsachenbild her die eine oder die andere Interpretation durchzusetzen.
LITERATUR, Werner Betz, Das Wort zwischen Kommunikation und Manipulation, Zürich 1975