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THEODOR LIPPS
Die Aufgabe der Erkenntnistheorie
und die Wundt'sche Logik
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"Auch die Naturwissenschaften suchen letzte Elemente und umfassendste Gesetze, aber die letzten Elemente stellen sich hier der Erfahrung nicht unmittelbar dar. Darum sehen sie sich öfter auf ihrem Weg genötigt, einstweilen Stoffe und Kräfte aufzustellen und zu Trägern der mannigfachen Tatsachen zu machen, die als die besonderen Wesen, die sie zu sein scheinen, nirgends existieren, die darum auch nur solange ihre selbständige Rolle spielen, als es nicht gelingt, sie auf die zugrunde liegenden Elemente und Vorgänge zurückzuführen. Lebenskraft und Wärme, wahrscheinlich die elektrischen Fluida, vielleicht der Äther sind der Art."

"Ich sage:  A  ist die Ursache des  B.  Dann muß ich wissen, was ich im Sinn habe und mit den Worten meine, - auch mit dem Wort  Ursache  oder ich rede eben, ganz oder teilweise, sinnlos und ohne zu wissen, was ich will."

"Es gibt kein Versteckspielen bei Erkenntnis- überhaupt bei Bewußtseinstatsachen."

"Ich trage kein Bedenken, die Logik als eine psychologische Wissenschaft zu bezeichnen."

I.

Was das eigentümliche Gebiet der Logik sei und wie sie s ich zur Erkenntnistheorie verhalte, diese Frage ist ohne Zweifel so langen von geringer Bedeutung, als es sich dabei bloß um die engere oder weitere Fassung des Sinnes eines Wortes handelt. Sie wird aber von um so größerer Wichtigkeit, je mehr Gefahr droht, daß Undeutlichkeiten in der Bestimmung der Aufgabe dieser Wissenschaften auch auf die Behandlung ihres Gegenstandes verwirrend wirken oder gar schon hinsichtlich des Ergebnisses verderbliche Vorurteile erzeugen.

Eine solche Undeutlichkeit, die, wir mir scheint, nicht ganz ohne verwirrende Folgen geblieben ist, ist die Behauptung, Logik habe es mit den  normativen  Gesetzen des Denkens zu tun, den Gesetzen nicht nach welchen tatsächlich gedachte werde, sondern nach denen gedacht werden  solle,  sei eine Ethik sozusagen, nicht eine Physik des Denkens. - Als ob nicht jedes Sollen auf ein Sein sich gründen, jede Ethik zugleich als Physik sich ausweisen müßte.

Ich soll dies oder jenes, das kann heißen: irgendjemand, eine mit Autorität begabte Persönlichkeit oder eine übermächtige Autorität wollen es so. Der Art ist das Sollen der bürgerlichen Gesetze, nicht das der Logik, auch nicht, wie ich meine, das der Ethik. Ganz anders steht es mit dem Sollen in der Natur. Alle Naturgesetzmäßigkeit steht nicht außerhalb der Tatsachen, von denen man sagt, sie seien ihrer Herrschaft unterworfen, sondern ist deren gleichförmige und, wie wir glauben, unabänderliche Weise zu erfolgen selbst. Der gestoßene Körper sollte mit gleicher Geschwindigkeit und in gerader Richtung weitergehen, er tut es nicht, weil ihm etwas hindernd in den Weg tritt; damit ist gesagt: es liegt in der Natur des Körpers und der ihn umgebenden Welt, sich so zu bewegen, nur, daß diese Natur jetzt nicht zur Geltung kommen kann. So ist alles Sollen eines Dings, jede Gesetzmäßigkeit, entweder ein autoritatives Wollen oder des Dings eigene Natur und Beschaffenheit, entweder statuarischer oder, man wird den Ausdruck nicht mißverstehen, physikalischer Natur.

Noch eine dritte Gesetzmäßigkeit scheint es geben zu müssen, die relative, unter Voraussetzung irgendeines Zweckes. Aber die ist notwendig entweder mit der einen oder mit der anderen der genannten identisch, je nachdem der Zweckin der Natur des Wesens liegt, das ihn verfolgt, oder von ihm willkürlich gesetzt ist. So kann man - im speziellen Fall, mit dem wir es zu tun haben - behaupten, die logischen Gesetze seien ja sicher nicht von außen gegeben, sie seien aber ebensowenig Naturgesetze des Denkens, analog dem Gesetz der Trägheit in der äußeren Natur; vielmehr wolle die Logik, indem sie sie aufstelle, nichts als angeben, wie man zu verfahren habe,  vorausgesetzt,  daß man richtig denken wolle. Dann ist es das Wort "richtig", auf dessen Verständlichmachung es ankommt.

Wir denken richtig, im materialen Sinne, wenn wir die Dinge denken, wie sie sind. Aber die Dinge sind so oder so, sicher und unzweifelhaft, das heißt in unserem Munde, wir können sie der Natur unseres Geistes zufolge nicht anders, als eben auf diese Weise denken. Denn es braucht ja nicht wiederholt zu werden, was oft genug gesagt worden ist, daß selbstverständlich kein Ding, so wie es ist, abgesehen von der Art, wie wir es denken müssen, von uns gedacht werden oder Gegenstand unseres Erkennens sein kann, daß also, wer seine Gedanken von den Dingen mit den Dingen selbst vergleicht, in der Tat nur sein zufälliges, von Gewohnheit, Tradition, Neigung und Abneigung beeinflußtes Denken an demjenigen Denken messen kann, das von seinen Einflüssen frei, keiner Stimme gehorcht, als der der eigenen Gesetzmäßigkeit.

Dann sind aber die Regeln, nach denen man verfahren muß, um richtig zu denken, nichts anderes, als Regeln, nach denen man verfahren muß, um so zu denken, wie es die Eigenart des Denkens, seine besondere Gesetzmäßigkeit, verlangt, kürzer ausgedrückt, sie sind identisch mit den Naturgesetzen des Denkens selbst. Die Logik ist dann auch nach dieser Auffassung ihrer Aufgabe Physik des Denkens oder sie ist überhaupt nichts.

Bleiben wir zunächst bei dieser Auffassung stehen. Was ist, sie vorausgesetzt, das Geschäft der wissenschaftlichen Logik oder Erkenntnislehre? Wie hat sie zu verfahren?

In der Sprache spiegelt sich das Denken; ohne Zweifel; ob aber unverzerrt und unvermischt, das ist erst Gegenstand der Untersuchung. In der Tat nun wirken bei Ausgestaltung der Sprache und Sprachformen Gewohnheiten, Neigungen, Assoziationen nicht logischer und unlogischer Natur in erheblicher Weise mit. Sonach müßte, wer sich auf die sprachlichen Formen verließe, auf Schritt und Tritt das Richtige verfehlen, es sei denn, daß er eine genaue Kenntnis vom Maß und den Grenzen der Übereinstimmung zwischen Sprachlichem und Gedanklichem schon besäße. Aber die Erwerbung einer solchen setzt voraus, daß man erst das Gedankliche möglichst für sich betrachte und dann an ihm den sprachlichen Ausdruck messe, - sosehr verkehrt die Sache, wer grammatische Logik treiben, nach der Sprache die logischen Elemente bestimmen will, statt sich nur in ihrer  Auffindung  von der Sprache  leiten  zu lassen.

Aber selbst, wenn Sprache und Gedanke sich vollständig und in allen Teilen deckten, wäre immer noch die Gewinnung der Logik aus den Sprachformen ein zu vermeidender Umweg, vergleichbar dem Verfahren des Botanikers, der sich mit Abbildungen begnügte, während die Pflanzen selbst ihm jeden Augenblick zugänglich sind. Zur Sprache werden ja die Worte und Wortfolgen erst durch das Verständnis, d. h. das Bewußtsein, daß dieser Geistesinhalt zu jener grammatischen Form als das damit Bezeichnete hinzugehöre. Wir müssen wissen, was wir meinen, bezeichnen, mitteilen wollen, wenn wir irgendeinen Satz  S1  und ein andermal einen Satz  S2  und ein drittes Mal einen ebensolchen  S3  nicht sinnlos aussprechen sollen; es müssen die Geistesinhalte  U1,  den den Sätzen entsprechen, unserem Bewußtsein gegenwärtig sein oder doch zur Gegenwart gebracht werden können und unser Aussprechen der Sätze ist nur insoweit kein bloßes Tönen, als wir imstande sind, dies deutlich und bestimmt zu tun. Was hat es aber dann für einen Sinn, die Frage, ob die  U1, U2, U3  gleichartig oder wesentlich verschieden seien, ob im einen ein Element sich finde, das im anderen fehlt, durch Betrachtung der  S  entscheiden zu wollen?

Immer ist das "Durcheinanderlaufenlassen" der Grenzen zweier Gebiete gefährlich; vielleicht aber nirgends gefährlicher, als in der Wissenschaft der Logik. Unterlassen wir es davor auf der Hut zu sein, dann begegnet es uns, daß wir von Sätzen sprechen, während wir von Urteilen sprechen wollten, als ob es feststände, daß dem Urteil jedesmal ein vollständiger Satz zum Ausdruck dienen und jedem Bestandteil des Satzes ein Urteilsbestandteil entsprechen müßte; daß wir - ich rede nur beispielsweise - negative Begriffe statuieren, weil es mit der Negation zusammengesetzte Worte gibt, daß wir Schlußformen aufstellen, je nach dem es uns gelingt, Sätze so oder so anzuordnen oder umzustellen. Kein Wunder, wenn dann die Grammatik sowenig als die Logik zu ihrem Recht kommt.

Ich gehe aber weiter zu dem, worauf es mir eigentlich ankommt. Die Logik ist Wissenschaft. Als solche geht sie aus auf Entdeckung einfachster Elemente und umfassendster Gesetze. Sie verfährt dabei wie die übrigen Wissenschaften, komplexe Tatsachen in ihre Bestandteile auflösend und die mannigfachen Vorgänge auf ihre letzten und allgemeinsten Bedingungen zurückführend. Dies wollen denn auch im Grunde alle erkenntnistheoretischen Untersuchungen unserer Tage, wenn auch nicht alle mit gleich klarem Bewußtsein. Schade nur, daß sie fast überall auf halbem Weg stehen bleiben und so das letzte Ziel verfehlen.

Ich erkläre mir dies daraus, daß man sich über die Eigenart des Gegenstandes der Erkenntnistheorie im Gegensatz zu den Gegenständen anderer Wissenschaften, der Naturwissenschaft etwa, nicht genügend klar geworden ist. Auch die Naturwissenschaften suchen letzte Elemente und umfassendste Gesetze, aber die letzten Elemente stellen sich hier der Erfahrung nicht unmittelbar dar. Darum sehen sie sich öfter auf ihrem Weg genötigt, einstweilen Stoffe und Kräfte aufzustellen und zu Trägern der mannigfachen Tatsachen zu machen, die als die besonderen Wesen, die sie zu sein scheinen, nirgends existieren, die darum auch nur solange ihre selbständige Rolle spielen, als es nicht gelingt, sie auf die zugrunde liegenden Elemente und Vorgänge zurückzuführen. Lebenskraft und Wärme, wahrscheinlich die elektrischen Fluida, vielleicht der Äther sind der Art.

Anders verhält es sich in der Erkenntnislehre. Hier ist ein solches "Einstweilen" nicht geboten, darum auch nicht am Platze; und zwar aus eben dem Grund, den ich bereits gegen das Ableiten der Erkenntnistatsachen aus Sprachformen geltend gemacht habe. Die Geistesinhalte, in denen unsere Erkenntnisse bestehen und die wir in Worten und sprachlichen Formen zum Ausdruck bringen, müssen ganz und völlig Gegenstand unseres unmittelbaren Bewußtseins sein oder wenigstens immer wiederum werden können. Es gibt auf dem erkenntnistheoretischen Gebiet kein Versteckspielen, wie bei den Objekten der naturwissenschaftlichen Erkenntnis. Ich leugne damit nicht das Vorhandensein von seelischen Vorgängen, die nicht Bewußtseinsvorgänge und darum doch für's Erkennen von Bedeutung sind. Mag es solche immerhin geben, mag man sie auch mit dem Namen von unbewußten Geistesinhalten, Denkvorgängen, selbst Vorstellungen bezeichnen können, - obgleich es immer gefährlich bleibt auf das, von dessen Eigenart man nichts weiß, Namen zu übertragen, die schon sonsther einen bestimmten Sinn haben - dies macht für das, worauf es mir hier ankommt, keinen Unterschied. Ich sage:  A  ist die Ursache des  B.  Dann muß ich wissen, was ich im Sinn habe und mit den Worten meine, - auch mit dem Wort  Ursache  oder ich rede eben, ganz oder teilweise, sinnlos und ohne zu wissen, was ich will. Ich muß mir und ohne weitere Umwege, klar werden können, worin wenigstens in diesem  einen  Falle das Wesen der Kausalitätskategorie besteht, ob in der Tat ein neues Element oder eine neue Form oder welchen Namen man sonst für passend erachten mag, zu den Vorstellungsinhalten  A  und  B  und ihrer raumzeitlichen Verknüpfung hinzutritt, wenn sie in kausaler Beziehung gedacht werden oder ob am Ende nichts dergleichen stattfindet und nur meine Art mich zu den  A  und  B  zu verhalten, die Nötigung etwa, die ich in allen Fällen empfinde, wo ich das Vorhandensein von  A  annehme auch an die Existenz eines darauffolgenden oder damit gleichzeitigen  B  zu glauben, die kausale Verknüpfung von der rein zeitlichen in meinem Bewußtsein unterscheidet.

Dies ist ein Beispiel. Aber die Fälle, von denen dasselbe gilt, sind zahlreich. So gehört selbstverständlich hierin die ganze Menge der übrigen Kategorien; - mit welchem Namen ich Gleichheit und Ungleichheit ebensogut bezeichne, als Einheit und Mehrheit, Identität und Unterschiedenheit, Substanzialität, Wirklichkeit, Möglichkeit, Notwenigkeit. Formen sollen sie sein, in welche unser Denken die Vorstellungsinhalte gießt, Beziehungen, in welche das Denken oder Vorstellen - denn die beiden scharf zu scheiden hat man meist nicht einmal den Versuch gemacht - zwischen ihnen knüpft. Aber was heißt das? Fügt meine Behauptung, der Vorgang  A  sei ein nicht bloß vorgestellter, sondern tatsächlicher, sogar notwendiger, dem  A,  diesem objektiven Vorstellungsinhalt  irgendein Neues  hinzu, so daß der Gedanke des  A  schlechthin und der des wirklichen und notwendigen inhaltlich voneinander verschieden wären? Und doch  müssen  sich die von unserem Denken zwischen den Vorstellungsinhalten geknüpften Beziehungen oder ihnen angehefteten Formen auch wirklich an ihnen vorfinden; oder - es ist eben nicht wahr, daß das Denken den Objekten solche Beziehung und Formen hinzufügt. Etwas, was dem Wort "wirklich" entspräche, wußte schon KANT an den für wirklich erklärten Vorstellungsinhalten nicht zu entdecken. Es verhält sich aber, wie die Betrachtung des psychischen Tatbestandes zeigt, mit der Notwendigkeit ebenso und mit der Gleichheit, Substanzialität etc. völlig analog.

Wie nun will man darüber Gewissheit erlangen, wie dem verwirrenden Einfluß der Sprache entgehen, die überall Subjektives verobjektiviert, in unermüdlicher Anthropomorphisierungslust bald da bald dort Eigentümlichkeiten und Bestandteil des gedachten Objekts verkehrt, die Kausalität des Denkens in eine Kausalität des Gedachten, von der wir nichts wissen und was dergleichen mehr ist - wie ander als eben dadurch, daß man sich entschließt, - wie KANT im angeführten Falle getan hat, die Geistesinhalte selbst zu Rate zu ziehen, zu analysieren, zu vergleichen und nach ihnen die Bedeutung der sprachlichen Zeichen zu beurteilen, statt umgekehrt, jene durch diese zu meistern?

Die Seelenvermögen, durch deren Aufstellung man sonst das Leben der Seele überhaupt und die Erkenntnistatsachen insbesondere glaubte verdeutlichen zu können, werden jetzt meist scheel angesehen. Aber die Tätigkeiten, die man an die Stelle setzt und bei deren Konstatierung man sich beruhigt, was leisten sie mehr? Oder ist es eine Erklärung, wenn man für die Unterscheidung zweier Vorstellungen im Bewußtsein eine unterscheidende, für die Erkenntnis ihrer Gleichheit eine davon verschiedene vergleichende Tätigkeit des Geistes verantwortlich macht, Namen für unmittelbar zugängliche Tatsachen? Heißt es überhaupt etwas und verbindet man mit den Worten einen deutlichen, wohl abgegrenzten Sinn, wenn man den Geist hier "setzend", verbindend, beziehend, dort aufhebend, hemmend, sondernd wirksam sein läßt? Wissen wir ja doch von einer Tätigkeit des Geistes, der eigentümlichen Aktivität, durch welche Bewußtseinsvorgänge in's Dasein gerufen werden, in keinem Falle etwas. So können wir auch nur dadurch Einsicht in das Wesen der Erkenntnis gelangen, daß wir die Vorgänge selbst mit ihren Eigentümlichkeiten, das einzige uns unmittelbar Zugängliche, zum Gegenstand unserer Untersuchung machen. Ist das in genügender Weise geschehen, dann mag es auch erlaubt sein, ein System von verschiedenen Tätigkeiten aufzustellen, entsprechend den Klassen von Vorgängen, die es nicht gelingt aufeinander zurückzuführen.

Man sieht, von wo auch wir ausgehen, immer wiederum gelangen wir zur selben Forderung unmittelbarer Untersuchung des Erkenntnisinhaltes - ohne Umwege und mit herzlichem Mißtrauen gegen bloße Worte. Aber daß man sich bei der Feststellung der letzten Elemente dieses Inhalts nicht wiederum mit Worten begnüge, daß man sich hüte, irgendetwas für ein solches Element zu halten, das nicht völlig klar, so klar wie der Geistesinhalt der dem Wort "blau" entspricht, im Bewußtsein angetroffen werden kann. Denn ich wiederhole es, es gibt kein Versteckspielen bei Erkenntnis- überhaupt bei Bewußtseinstatsachen.

Soll ich nun sagen, was ich für die letzten Bewußtseins- und speziell Erkenntnistatsachen halte, so gestehe ich, daß ich keine anderen Grundelemente kenne, als die Inhalte des sinnlichen Vorstellens, die Farben, Töne, Gerüche, Geschmäcker etc., weiterhin die verschiedenen Stufen und Nuancen der Lust und Unlust sowie des Strebens und Widerstrebens, schließlich die Formen von Raum und Zeit, daß ich ebenso keinen anderen Erkenntnisvorgang zu entdecken vermag, als den Wechsel jener Inhalte und dieser Formen, ihr Kommen, Gehen und sich Verändern, daß ich endlich - neben der Tatsache des "ausgeschlossenen Dritten" - nur von einem Denkgesetz weiß, dem Gesetz des Grundes, wie man es am besten nennen wird, das aber am Ende nicht viel mehr sagt, als daß es überhaupt eine Gesetzmäßigkeit des Denkens und analog des Fühlens und Wollens im Menschengeist gibt. Aus diesen Bestandteilen unseres Erkenntnisinhalts muß sich, vorausgesetzt, daß ich in ihrer Aufstellung nicht irre, das gesamte Weltbild - die eigene Persönlichkeit mit inbegriffen - erklären, und seine Entstehung begreifen lassen. Auch die Beziehungen der Einheit, Gleichheit, Notwendigkeit usw. in dem Sinne, in dem von solchen die Rede sein kann. Denn dabei muß es bleiben, daß alles, was über die bloße raumzeitliche Anordnung der wahrgenommenen und vorgestellten Objekte hinausgeht, nicht diesen Objekten selbst angehören kann, sondern immer nur derart, wie wir uns denkend zu ihnen verhalten. In der objektiven Welt, wie wir sie wahrnehmen und denken, ist alles gleichgültiges Neben- und Nacheinander, aber indem wir sie betrachten, fühlen wir in uns, den Betrachtenden, mannigfaltige Interessen und Tendenzen, Freiheiten und Notwendigkeiten, nicht der gedachten Objekte, sondern des Denkens. Übertragen wir sie, natürlicher Neigung zufolge, wenn nicht denkend,- denn dies ist unmöglich, - so doch in Worten auf die Objekte, dann entsteht uns die objektive Scheinwelt der Kräfte und Strebungen, freien Möglichkeiten und kausalen Beziehungen und analog die Welt der übrigen Kategorien.

Man wird diese Behauptungen paradox schelten. Ich wagte sie aber, um anzudeuten, welch wesentliche Resultate meiner vielleicht irrtümlichen, jedenfalls nicht leichthin ausgesprochenen Überzeugung zufolge sich aus der Befolgung der aufgestellten Forderungen ergeben zu müssen. Ich habe damit auch schon gesagt, daß ich nicht Verfahrensweisen anempfehle und Ratschläge erteile, ohne selbst mit dem Versuch danach zu handeln, einen Anfang gemacht zu haben. In der Tat hoffe ich in Bälde meine auf jenem Weg gewonnenen erkenntnis-theoretischen Überzeugungen in ausführlicherer Darlegung zu veröffentlichen und der Beurteilung Besserer zu unterbreiten.

Es bleibt mir noch übrig, einige Worte über diejenige Logik zu sagen, die sich auf die Gesetze beschränken will, nach denen man verfahren muß, um  formal  richtig, d. h. mit sich einstimmung zu denken. Es ist deutlich, daß auch hier die Ethik sogleich in Physik umschlagen muß. Schon die Einstimmigkeit des Denkens mit sich selbst ist nicht Sache des Entschlusses, vielmehr besteht eben in der Unverträglichkeit der Bejahung und Verneinung desselben Gedankens eine wesentliche Eigentümlichkeit des denkenden Geistes. Es sind aber nicht minder die Bedingungen, unter denen ein solch einstimmiges Denken zustande kommen kann, die Mittel und Wege, auf denen der menschliche Geist dazu gelangt, psychische Tatsachen, die nur psychologische Analyse in ihrem Wesen erkennen kann. Doch es muß mehr gesagt werden. Die formale Logik, indem sie von Begriffen, Urteilen und Schlüssen und ihren Arten und Verhältnissen zu einander redet, wird kaum eine der Grundfragen der Erkenntnistheorie völlig außer Acht lassen können, derart, daß schließlich, wenn nicht die Möglichkeit, so doch der Wert ihrer Verselbständigung gegenüber der Erkenntnistheorie völlig fraglich erscheinen muß. Insbesondere kann sie in näheres Eingehen auf das Wesen eben jener Vorgänge, auf die Bedeutung der Kategorien, auf den eigentlichen Sinn der Gesetze des Denkens unmöglich unterlassen, sie müßte denn darauf verzichten wollen, etwas anderes zu sein, als Systematisierungskunst nach rein äußerlichen - sprachlichen - Gesichtspunkten. Will man freilich, um trotz alledem die Selbständigkeit der formalen Logik zu retten, alles Erkenntnistheoretische und Psychologische in die Einleitung zur Logik verweisen, so kann dem ein sachliches Bedenken kaum im Wege stehen. Mag dem aber sein wie ihm wolle, mag die Scheidung Sinn und Zweck haben oder nicht, die im Obigen zunächst für die erkenntnistheoretische Logik ausgesprochene Forderung gilt für jede: auch für diejenige, die sehr genügsam sich auf's bloße Klassifizieren beschränken wollte. Denn so wenig man Naturobjekte, chemische Körper etwa, in wissenschaftlicher Weise klassifizieren kann, ohne ihre innere Konstitution zu kennen, so wenig geht das an bei Objekten psychologischer Betrachtung.

Ich bezeichnete die Untersuchung der Erkenntnistatsachen als psychologische Analyse. Damit habe ich schon zu erkennen gegeben, daß ich die Logik als eine psychologische Wissenschaft zu bezeichnen kein Bedenken trage. Habe ich darin Recht, dann stellen sich ihr Ethik und Ästhetik als andere psychologische Zweigwissenschaften zur Seite. Ja man kann fragen, was denn überhaupt Philosophie anders sein könne, als Psychologie in des Wortes weitestem Sinn. Freilich - ist es der Ethik gelungen, die sittlichen Grundelemente und Gesetze des menschlichen Geistes ausfindig zu machen, dann wird ihr die zweite Aufgabe erwachsen, das Gefundene auf die verschiedenartigen Verhältnisse des Lebens und der Gesellschaft anzuwenden. So wird auch der Logik, als umfassender Erkenntnislehre, eine Logik als Wissenschaftslehre folgen müssen. Das Fundament bleibt denn doch immer die psychologische Analyse.

Wo ich in der Geschichte der Philosophie am deutlichsten den WEg zur Gewinnung einer befriedigenden Erkenntnistheorie vorgezeichnet finde, brauche ich nicht erst zu sagen. LOCKE, HUME, JAMES MILL werden mir neben KANT vor allen als diejenigen erscheinen müssen, die hierin Bahnbrechendes geleistet haben. Aber  sie  selbst, nicht  auf  ihnen weiter zu bauen, das Geschäft der Analyse mit ganzer Energie zu Ende zu führen, wird das Richtige sein, wenn diese Wertschätzung zutrifft; und wer KANTs Kritik für einen Abschluß hält, wird ebenso irren, als wer auf eine Revision und Weiterführung des  treatise on human nature  - denn an diesen denke ich vor allem, wenn ich von HUME rede - verzichten wollte.
LITERATUR - Theodor Lipps, Die Aufgabe der Erkenntnistheorie und die Wundt'sche Logik, Philosophische Monatshefte 16, Leipzig 1880
    Anmerkungen
    1) WILHELM WUNDT, "Logik - eine Untersuchung der Prinzipien der Erkenntnis und der Methoden der wissenschaftlichen Forschung", 2 Bände, Bd. 1 Erkenntnislehre, Stuttgart 1880