ra-2E. MeumannL. TolstoiM. D. VernonG. LindnerH. Eng     
 
KURT KOFFKA
Die Grundlagen der psychischen
Entwicklung des Kindes


"Die Psychologie ist eine wissenschaftliche Art des Erkennens, d. h. eine Methode, die ihre Kenntnis in begrifflich formulierte Sätze bringt. Die Psychologie braucht psychologische Begriffe, sie will Aussagen machen nicht über Baby X und Baby Y, sondern über das allen Säuglingen Gemeinsame. Wir müssen versuchen, die Eigenart einer psychologischen Entwicklung zu erkennen, ihre allgemeinsten Gesetze zu finden."

"Das beste Mittel, die Wirklichkeit mit Funktionsbegriffen zu erforschen, sind Maß und Zahl. Nachmessen, nachzählen, das muß jeder können, oder doch lernen können. Die Begriffe der fortgeschrittensten Naturwissenschaft, der Physik, sind daher quantitative Begriffe, ihre Aussagen sind quantifiziert, es ist das Ideal der Physik, alle qualitativen Unterschiede auf quantitative zu reduzieren."

"Verhalten ist dann nur noch das, was jeder von einem Individuum beobachten und aussagen kann. Nur hierum, nur um die allgemein feststellbaren Reaktionen eines Individuums habe man sich zu kümmern, seine Erlebniswahrnehmung geht mich nichts an, ich kann sie ja nicht kontrollieren."

"Binet glaubt, man könne das Kinderexperiment ersetzen durch Experimente an erwachsenen Schwachsinnigen, die als "stereotype Kinder" einer meßbaren Altersstufe gelten könnten und sich gerade wegen ihrer Stereotypie besonders gut zum Experimentieren eignen."

Erstes Kapitel
Problemstellung und Methodik

1. Der Entwicklungsgedanke
in der Psychologie

Wenn wir die Welt psychologisch zergliedern - und was das heißt, darüber möchte ich im Folgenden Klarheit schaffen - so stoßen wir fortwährend auf Tatsachenkomplexe, die wir nur verstehen, wenn wir sie als Produkte einer Entwicklung auffassen. Lange Zeit war die psychologische Theoriebildung beherrscht von dem Streit, wieviel an jeder beobachteten Tatsache auf eine Entwicklung zurückgeführt werden kann und eine Einigung zwischen Empirismus und Nativismus [bestimmte Begriffe sind angeboren - wp] ist bis heute noch nicht erfolgt. Bei diesem Sachverhalt ist es erstaunlich, freilich historisch durchaus zu verstehen, daß die Psychologie, zumal in Deutschland, so wenig Gebrauch von allgemeinen Entwicklungsprinzipien gemacht hat, daß sie ihre Entwicklungsprobleme sehr viel spezieller unter dem Gesichtspunkt der "Erfahrung" behandelte und diese Erfahrung nicht eigentlich biologisch, sondern mechanistisch zu deuten versuchte.

Es scheint, daß diese Epoche sich ihrem Ende genähert hat. Das Bedürfnis ist erwacht, die psychologischen Tatsachen hineinzuziehen in den Kreis der übrigen Tatsachen des Lebens, von denen sich unsere Wissenschaft schon allzuweit entfernt hatte. Wir müssen die psychologischen Entwicklungsprobleme wirklich als solche sehen. Wir müssen versuchen, die Eigenart einer psychologischen Entwicklung zu erkennen, ihre allgemeinsten Gesetze zu finden.

Wir dürfen nie vergessen, daß das Objekt, an dem wir normalerweise unsere psychologischen Untersuchungen anstellen, der erwachsene "gebildete" Westeuropäer ist, ein Lebewesen, biologisch betrachtet, auf spätester Stufe stehend. Und zwar unter einem dreifachen Gesichtspunkt:
    1. als Mensch gegenüber dem Tier. Der Abstammungsgedanke ist seit Darwin Gemeingut unserer Kultur geworden, und was für die Morphologie und die Physiologie gilt, das muß auch für die psychologische Betrachtungsweise seinen Sinn behalten.

    2. Als Angehöriger einer ungeheuer differenzierten Kultur gegenüber den Gliedern anderer primitiverer Kulturen. Für uns sieht die Welt anders aus als für einen Schwarzafrikaner, anders auch als Homer, wir sprechen eine andere Sprache, anders, prägnant in dem Sinn, daß eine wirkliche Übersetzung unmöglich ist, wir haben andere Denkgebilde.

    3. Als Erwachsener gegenüber dem Kind. Und doch sind wir alle einmal Kinder gewesen, sind aus Kindern das geworden, was wir heute sind.
Wir dürfen das nicht vergessen. Ohne vergleichende Psychologie, ohne Tier-, Völker- und Kinderpsychologie muß die gewöhnliche experimentelle Psychologie lückenhaft bleiben, kann sie oft und an entscheidenden Stellen gar nicht zur richtigen Problemstelung, geschweige denn zu einer fruchtbaren Hypothesenbildung kommen. Man hat oft den Fehler gemacht: eine Tatsache war nur durch Entwicklung zu erklären; man erdachte sich eine Form der Entwicklung statt in vergleichender Psychologie die Entwicklung zu erforschen. Und als man dann diese Aufgabe in Angriff nahm, da war die Gefahr groß, daß man die alten Hypothesen übernahm und auf die neuen Tatsachen anwandte, statt die Tatsachen mit frischen Augen zu betrachten.

Man möchte glauben, daß in der Kinderpsychologie die Entwicklung klar vor aller Augen liegt. Hier kennt man das Endprodukt, den Erwachsenen, als Objekt der experimentellen Psychologie, und man kann dann kontinuierlich verfolgen, wie dieses Endprodukt entsteht. So einfach kann es nicht sein. Es gibt wohl kein psychologisches Entwicklungsprinzip, das wir gerade der Kinder-Psychologie verdanken (1), soweit die Kinderpsychologie überhaupt solche Prinzipien benutzt, stammen sie aus der gewöhnlichen oder der Tierpsychologie. Und doch mußte der Gedanke richtig sein. Denn der Kinderpsychologe kann verfolgen, wie sich in relativ kurzer Zeit aus Lebewesen mit relativ einfachen und vielfach äußerst unvollkommenen Leistungen an Kompliziertheit und Wirksamkeit in der Welt einzig dastehen. Es müßte möglich sein, diese Entwicklung so zu studieren, daß wir nachher ihr Produkt, den Erwachsenen, besser verstehen als vorher. Und mehr noch: wenn wir diese Entwicklung wirklich verstehen, dann werden wir besser als heute imstande sein, fördernd, hemmend, richtend in sie einzugreifen.

Dies soll also unsere Aufgabe sein: in der Kinderpsychologie die großen Entwicklungsprinzipien zu suchen. Wir sind dabei auf die Hilfe der anderen vergleichend psychologischen Disziplinen angewiesen, können uns aber nicht darauf beschränken, irgendwelche Prinzipien einfach auf unser Gebiet zu übertragen, sondern müssen sie vorher auf ihren Gehalt prüfen und wenn nötig umformen.


2. Vorläufige Bestimmung der Aufgaben
der Psychologie. Übertragung auf die
Kinderpsychologie. Mutter und Kind.
Betrachtung "von innen" und "von außen".

Es ist Zeit, genauer zu formulieren, was Kinderpsychologie überhaupt ist. Wir wollen vorläufig ganz allgemein die Aufgabe der Psychologie so abgrenzen, daß wir sagen, sie studiert wissenschaftlich das Verhalten von Lebewesen in ihrer Berührung mit der Umwelt. Wenden wir das auf die Kinderpsychologie an, so drängt sich sofort der Gedanke auf: ja, das tut ja jede Mutter unentwegt, und niemand kennt ein Kind so gut, versteht seine Reaktionen, seine Impulse so genau wie seine Mutter, die in einem ganz besonderen Kontakt mit ihm steht. Und es liegt nahe weiterzuschließen: was brauchen wir da noch eine Kinderpsychologie, wo doch jede Mutter ihr Kind besser kennt, als es auch der weiseste Psychologe je kennen kann! Wir werden diese Voraussetzung nicht bestreiten. Aber wir nannten die Psychologie eine wissenschaftliche Art des Erkennens, d. h. eine Methode, die ihre Kenntnis in begrifflich formulierte Sätze bringt. Die Psychologie braucht psychologische Begriffe, sie will Aussagen machen nicht über Baby X und Baby Y, sondern über das allen Säuglingen Gemeinsame. Die Mutter weiß: mein Kind ist jetzt in einer solchen Stimmung, jetzt hat es ein Verlangen hiernach, mit diesem Laut meint es jenes, usw., aber sie kann diese ihre Kenntnis nicht umsetzen in wissenschaftliche Sätze. Einmal fehlt ihr in der Regel die Kenntnis der wissenschaftlichen Begriffe, zweitens aber ist, wie wir gleich sehen werden, zur Gewinnung kinderpsychologischer Erkenntnisse in einem wissenschaftlichen Sinn ein anderes Verhalten dem Kind gegenüber nötig, als es die Mutter natürlicherweise hat. Die Mutter muß plötzlich "Beobachter" werden, sie muß sich aus der intimen Berührung, in der sie mit dem Kind lebt, herausbegeben, jenes direkte Verstehen, für das es keine Gründe gibt, und das seine eigene Gewißheit in sich trägt, das muß sie ersetzen durch eine kritische Zergliederung der "Tatsachen", sie muß ihre "Deutung" vom wirklichen Tatbestand scheiden lernen, d. h. aber, sie muß Distanz gewinnen, muß, zumindest für die Zeit der wissenschaftliche Beobachtung einen Schnitt machen zwischen sich und dem mit ihr untrennbar verwachsenen. Dieses Verhalten wird der Mutter unsympathisch sein, ja sie wird eine ursprüngliche Abneigung haben, daß ein solches Verhalten überhaupt ihrem Kind gegenüber geübt wird. So wird sie leicht dahin kommen, gegen die Kinderpsychologie überhaupt eingenommen zu sein, wird die Befürchtung haben, eine solche Art der Beobachtung, der Unterscheidung könnte ihrem Kind schaden. Wie auch die Künstler so oft die Kunstwissenschaft ablehnen. Und die Mutter hat auch ein Recht darüber zu wachen, daß die Wissenschaft ihrem Kind nichts antut. Damit schützt sie nicht nur ihr Kind, sondern auch die Wissenschaft. Denn eine Untersuchung, die so betrieben wird, daß sie dem Kind in seiner geistigen Entwicklung schaden kann, wird fast ausnahmslos auch für die psychologische Erkenntnis ein Irrweg sein. Kann man die Mutter in diesem Punkt beruhigen, so werden viele ihrer Bedenken fortfallen, und manche Mutter wird man sogar für die Kinderpsychologie gewinnen, wenn man ihr klar macht, daß sie darauf für ihr Kind sogar eine Förderung erwarten kann. Ihre Kenntnis ist eine intime, aber doch zum Teil eine Kenntnis nur des Augenblicks. Wenn ihr die Psychologie Ausblicke geben kann, wenn sie von dort die großen Züge der Entwicklung erfahren kann, wird sie besser über ihrem Kind wachen können.

Und ist die Mutter mit der Kinderpsychologie ausgesöhnt, so kann sie ihr unschätzbare Dienste erweisen. Wir schilderten oben das Verhalten des Wissenschaftlers im Gegensatz zu dem der Mutter, wir müssen jetzt die Nachteile hervorheben, die jenes Verhalten bedingt. Der Wissenschaftler hat seine fertigen Begriffe und wird versuchen, die "Tatsachen" mit Hilfe dieser Begriffe zu verstehen, er wird also von vornherein durch eine Brille schauen, und wer weiß, ob das nicht eine bunte Brille ist und eine Brille, die arg verzerrt Bilder liefert. Um ein konkretes Beispiel zu geben: der Kinderpsychologe wird genetisch interessiert sein, das wird ihn leicht dazu führen und verführen, jede kindliche Äußerung vom Erwachsenen aus zu betrachten, als Vorstufe, als Schritt auf das Ziel hin, als Unvollkommenheit. Dabei wird ihm leicht die wahre Eigenart der kindlichen Äußerung verloren gehen, sie dringt durch seine Brille nicht hindurch.

Hier kann und muß die Mutter helfen. Sie kennt ihr Kind ohne Begriffe aus einem unmittelbaren persönlichen Erleben heraus, sie kennt und liebt es so, wie es heute ist und sieht nicht im Säugling nur den unfertigen Studenten. Jede seiner Lebensstufen ist ihr gleich wert und wichtig, jede sucht sie in gleicher Weise zu verstehen. Gelingt es ihr, diese ihr unmittelbare Kenntnis anderen zugänglich zu machen, so hat sie der Forschung einen unersetzlichen Dienst geleistet, denn sie hat ihr erst das wahre und anders nicht zu beschaffende Material geliefert. Das ist freilich eine schwere Aufgabe. Man muß dazu "ein guter Psychologe" sein im volkstümlichen Sinn des Wortes, so wie ein Dichter ein guter Psychologe ist. Aber dazu braucht die Mutter ihr innerliches Verhalten nicht mit dem äußerlichen des Wissenschaftlers notwendig zu vertauschen. Ist sie außerdem auch hierzu imstande, und kann sie beide Verhaltensweisen miteinander vereinen, so ist sie in der Tat eine gegebene Kinderpsychologien. Denn beide Seiten fordern und ergänzen sich ständig. Will ich die Äußerung des Kindes in seiner Berührung mit der Umwelt verstehen, so brauche ich viel mühsames Spezialstudium, viel wissenschaftliche Kritik, Distanz, kurz die Betrachtung, die wir aus die "von außen" bezeichnen können; aber ich darf nie vergessen, daß jede Äußerung die Äußerung eines Individuums ist, d. h. eine Äußerung, die mehr oder weniger von der Beschaffenheit des gesamten Indiviuums abhängt und die ich nicht völlig verstehen kann, wenn ich das Individuum als Ganzes nicht kenne. Und hierzu bedarf ich der anderen Richtung, der lebendigen Kenntnis, die wir jetzt die Betrachtung "von innen" nennen wollen. Das Verhältnis gegenseitiger Ergänzung und Förderung, in dem die beiden Betrachtungen "von außen" und "von innen" zueinander stehen, können wir vielleicht, halb paradox, so ausdrücken: Um das Kind zu verstehen, muß ich seine Reaktionen kennen, aber um seine Reaktionen zu verstehen, muß ich auch das Kind kennen.


3. Funktions- und Deskriptionsbegriffe.
Naturwissenschaftliche und Erlebnisbeobachtung.
Die "deskriptive" Seite des Verhaltens.

Wir gehen jetzt einen Schritt weiter und fragen: Was ist nun eigentlich diese Betrachtungsweise "von außen"? Wir kommen damit zu der Frage nach der psychologischen Methodik.

Wenn wir das Verhalten von Menschen beschreiben, so benutzen wir zwei ganz verschiedene Klassen von Begriffen. Wir wollen uns das an einfachen landläufigen Beispielen klar machen: Ich beobachte einen Holzhacker und finde, daß seine Leistung allmählich nachläßt, ohne daß er den Eindruck der Trägheit macht. Ich kann diesen Befund kontrollieren, indem ich etwa feststelle, wieviel Kloben er jeweils im Zeitraum einer Minute spaltet, und dabei ergibt sich in der Tat, daß diese Zahl mit der Zeit immer kleiner wird. Ich bezeichne diese Erscheinung, die Leistungsabnahme, als Ermüdung.

Oder: ich sehe, wie ein mir fremder Mensch auf der Straße etwas verliert, ich hebe es auf und bringe es ihm. Am Tag darauf begegne ich ihm wieder und er grüßt mich, er reagiert also heute mir gegenüber anders als vorgestern, augenscheinlich infolge des gestrigen Vorkommnisses. Ich sage: er hat mich wiedererkannt, und führe das auf sein Gedächtnis zurück.

Beide Feststellungen, die Ermüdung und die Gedächtnisleistung kann jeder machen, der den Tatbestand beobachten konnte. Und dies ist nun ganz allgemein das Kennzeichen einer Klasse von Begriffen: im gegebenen Fall muß jeder, dem das Tatsachenmaterial zugänglich ist, in der Lage sein zu entscheiden, ob ein bestimmter Begriff dieser Klasse auf den vorliegenden Fall anzuwenden ist, oder nicht. Wir nennen diese Klasse von Begriffen Funktionsbegriffe. Sie sind von der gleichen Art wie alle naturwissenschaftlichen Begriffe.

Um uns mit der anderen Klasse bekannt zu machen, greifen wir auf unsere zwei Beispiele zurück. Während im ersten Beispiel ich und jeder andere, der dabei ist, die Ermüdung des Holzhackers als Leistungsabnahme konstatieren kann, kann der Holzhacker selbst noch ganz andere Feststellungen machen. Er findet etwa: im Anfang "geht's leicht", dann "wird's sauer", oder er sagt: zuerst "fühlte ich mich frisch", jetzt am Schluß "fühle ich mich müde". Und im zweiten Fall wird der Mann, der mich auf der Straße grüßt, zu den Feststellungen, die ich und jeder sonst Anwesende machen konnte, nämlich, daß hier eine Gedächtnisleistung vorlag, noch andere Aussagen machen können, etwa der Art: Ihr Gesicht, das mir gestern fremd aussah, sieht mir heute bekannt aus.

Die Aussagen, die wir den Holzhacker und den Grüßenden machen lassen, sind inhaltlich gänzlich verschieden, aber sie haben gegenüber den Feststellungen der ersten Art, die mit Hilfe von Funktionsbegriffen gemacht wurden, ein Gemeinsames. Die Aussagen des Holzhackers kann nur der Holzhacker machen, die des Grüßenden nur der Grüßende, hier gibt es keine Vertretung, niemand als der Holzhacker kann sagen, ob ihm, dem Holzhacker, die Arbeit sauer wird oder nicht, niemand kann entscheiden, ob dem Grüßenden mein (oder irgendein) Gesicht bekannt vorgekommen ist, als der Grüßende.

Wir nennen das, was jeder beliebige konstatieren kann, wirkliche, besser reale Dinge und Vorgänge, daß der Holzhacker ermüdet, daß mich der gestern noch Fremde heute grüßt, das sind reale Vorgänge. Wir müssen nun auch für die Gegenstände einen Namen einführen, die nicht von jedem beliebigen, sondern immer nur von einem einzigen konstatiert werden können. Wir nennen sie Erlebnisse, Phänomene. Um reale Vorgänge festzulegen, bedienten wir uns der Funktionsbegriffe, die Begriffe, die wir zur Feststellung von Erlebnissen verwenden, wollen wir Deskriptionsbegriffe nennen. In unseren Beispielen sind solche Dekriptionsbegriffe: "sich frisch fühlen", "sich müde fühlen" oder "fremd aussehen", "bekannt aussehen". Wir können dafür auch sagen: Erlebnis der Frische, der Müdigkeit, der Bekanntheit, der Fremdheit, oder, um ein vielbenutztes Wort einzuführen: Bekanntheitseindruck (usw.).

Wir wollen an diesem Punkt noch etwas verweilen, er ist von besonderer Bedeutung für das Verständnis der Psychologie. Vielen wird das Gesagte selbstveständlich vorkommen: nun ja natürlich, werden sie sagen, keiner kann aus seiner Haut in die eines anderen, meine Zahnschmerzen tun einem anderen nicht weh, auch wenn ich sie ihm von Herzen gönne. Aber andere wieder werden kommen und sagen: da wird uns ja etwas ganz Unnatürliches zugemutet: wenn mich jemand grüßt, dann muß er mich doch kennen, ich muß ihm bekannt vorkommen, das kann ich doch feststellen, dazu brauche ich doch nicht noch die Aussage des Grüßenden. Und im gewöhnlichen Leben komme ich ohne solche Feststellungen gar nicht aus. Wenn jemand lacht, dann ist er eben vergnügt, wenn er weint traurig, das weiß ich, auch ohne daß er mir das sagt.

Beide Parteien scheinen recht zu haben und behaupten doch Widersprechendes. Daraus folgt sicher, daß die Sache nicht so ganz selbstverstänlich ist, daß man sie wohl durchdenken muß. Gewiß ist es richtig, daß wir im täglichen Leben dauernd so handeln, als könnten wir selbst feststellen, was für Erlebnisse ein anderer hat. Aber wir dürfen nicht vergessen, daß wir nicht selten dem Irrtum oder absichtlichen Täuschung verfallen. Es kann jemand weinen, um unser Mitleid zu erregen, und zu diesem Zweck vorher eine kräftige Portion Zwiebeln gegessen haben. Mit Gewißheit feststellen können wir eben doch nur die Tränen des andern, nicht, wie ihm dabei zumute ist. Also hat die erste Partei, die uns ja sachlich zugestimmt hat, recht, aber es muß nochmals davor gewarnt werden, allzuleicht über die Sache hinwegzugehen. Wir kommen darum nochmal auf unsere Beispiele zurück: wenn mich der Mann auf der Straße heute grüßt, so hat er mich gewiß "erkannt", wenn unter "erkennen" ein Funktionsbegriff gemeint ist, die Bezeichnung einer Leistung seines Gedächtnisses. Daß ich ihm aber bekannt "vorgekommen" bin, ihm bekannt ausgesehen habe, das kann ich nicht feststellen und auch nicht aus der Tatsache des Grußes mit absoluter Sicherheit erschließen. Denn es besteht z. B. die Möglichkeit, daß er mich in Gedanken versunken oder in ein Gespräch vertieft ganz "automatisch" gegrüßt hat. Ob das so gewesen ist oder nicht, das kann nur er allein angeben. Gerade so liegt es im ersten Beispiel: Die Erforschung er Ermüdungstatsachen hat uns gelehrt, daß "wirkliche" Ermüdung und das Müdigkeitsgefühl (-Erlebnis) nich parallel zu gehen brauchen (2).

Wir scheiden also die beiden Klassen der Funktions- und Deskriptionsbegriffe durch das Kriterium ihrer Anwendbarkeit. Für jene kann jeder beliebige, für diese stets nur einer entscheiden, ob ihre Anwendung im gegebenen Fall richtig ist oder nicht.

Wir sagten oben, daß die Funktionsbegriffe von der gleichen Art wie alle naturwissenschaftlichen Begriffe sind. Demgegenüber sind die Deskriptionsbegriffe gerade für die Psychologie charakteristisch. Wir stellten oben vorläufig als Aufgabe der Psychologie das Studium des Verhaltens von Lebewesen in ihrer Berührung mit der Umwelt hin. Wenn wir jetzt sehen, daß wir in der Psychologie nicht nur Funktionsbegriffe, sondern auch die spezifisch psychologischen Deskriptionsbegriffe verwenden, so werden wir jetzt diese Bestimmung präzisieren können. Wir werden zum Verhalten von Menschen - um uns zunächst auf diese zu beschränken - nicht nur das rechnen dürfen, was sich naturwissenschaftlich, mit Hilfe von Funktionsbegriffen feststellen läßt, sondern gerade auch die Tatsache, daß Menschen Aussagen "deskriptiver" Natur machen können, daß es für die Menschen Erlebnisse gibt, oder, wie man das gewöhnlich nennt, daß die Menschen ein Bewußtsein haben; und natürlich nicht nur die Tatsache, daß der Mensch solche Aussagen machen kann, sondern auch was für Aussagen er jeweils macht, was für Erlebnisse er vorfindet. Diese Seite des Verhaltens steht in keiner Hinsicht der andern an Wichtigkeit nach, für die Psychologie ist sie sogar die bedeutsamere. Wir betonten schon, daß der Besitz der Deskriptionsbegriffe die Eigenart der Psychologie ausmacht; wenn sie das Verhalten studiert, so wird sie es immer tun im Hinblick auf die deskriptive Seite, im Gegensatz etwa zur Physiologie, die sich um diese Seite meist gar nicht kümmert.

Neben den naturwissenschaftlichen Untersuchungsmethoden hat also die Psychologie noch eine eigene Richtung der Beobachtung, die nämlich, die nicht zur Feststellung von realen Dingen und Vorgängen, sondern zur Konstatierung von Erlebnissen führt. Wir wollen sie die Erlebniswahrnehmung (Erlebnisbeobachtung) nennen, und die üblichen aber unglücklich gewählten Namen "innere Wahrnehmung" oder "Selbstwahrnehmung" vermeiden. Das für die ganze Psychologie äußerst wichtige aber zur Zeit noch stark kontroverse Problem der Erlebniswahrnehmung zu diskutieren, würde uns zu sehr vom Weg abführen. Doch sei betont, daß sie erlert und geübt werden muß, mehr noch als jede andere wissenschaftliche Beobachtung. Wir ziehen nur noch eine Folgerung: das beste Mittel, die Wirklichkeit mit Funktionsbegriffen zu erforschen, sind Maß und Zahl. Nachmessen, nachzählen, das muß jeder können, oder doch lernen können. Die Begriffe der fortgeschrittensten Naturwissenschaft, der Physik, sind daher quantitative Begriffe, ihre Aussagen sind quantifiziert, es ist das Ideal der Physik, alle qualitativen Unterschiede auf quantitative zu reduzieren.

Das Gleiche kann für die Gegenstände der Deskriptionsbegriffe, für die Erlebnisse, nicht gelten. Messen ist eine typische funktionale Verhaltensweise, mit dem Maßstab komme ich nur zu Aussagen, die jeder Beliebige machen kann, in diesem Sinn können also die Erlebnisse nicht meßbar sein. Sie bilden vielmehr den Gegenpol zu den Gegenständen der reinen Physik, sie sind reine Qualität, das quantitative im naturwissenschaftlichen Sinn fehlt ihnen vollkommen (3). Daher wird das Wort Qualität auch in der Psychologie häufig synonym mit Erlebnis verwendet.

Das Ergebnis der letzten Ausführungen läßt sich kurz folgendermaßen zusammenfassen: die Psychologie verwendet außer der naturwissenschaftlichen noch eine besondere, ihre eigene, Form der Beobachtung, die Erlebnisbeobachtung, zu ihren Gegenständen gehören nicht nur reale Dinge und Vorgänge, sondern auch Erlebnisse (4).


4. Die Verhaltenspsychologie.
Kriterien des Bewußtseins.

Gegen diese Auffassung der Psychologie haben sich in der letzten Zeit starke Stimmen erhoben. Zumal in Amerika ist eine Richtung entstanden, die die Sonderstellung verwirft, die nach unserer Theorie die Psychologie einnimmt. Sie sagt: Psychologie ist eine Naturwissenschaft wie jede andere, sie darf daher auch keine ihr eigentümliche Methode verwenden, keine nur ihr zugänglichen Tatsachen benutzen. Die Erlebniswahrnehmung und damit alle Deskriptionsbegriffe werden verbannt, es bleiben nur die der allgemeinen Kontrolle zugänglichen Funktionsbegriffe. "Verhalten" ist dann nur noch das, was jeder von einem Individuum beobachten und aussagen kann. Nur hierum, nur um die allgemein feststellbaren Reaktionen eines Individuums habe man sich zu kümmern, seine Erlebniswahrnehmung geht mich nichts an, ich kann sie ja nicht kontrollieren. Dazu kommt ein weiterer Gesichtspunkt: denken wir biologisch, so können wir den Menschen nicht von der ganzen übrigen Schöpfung trennen, es ist also auch ein Fehler der gewöhnlichen Psychologie, die sich mit dem erwachsenen Menschen befaßt, diesem eine Sonderstellung einzuräumen; der Mensch ist nur eins vieler möglicher und gleich wichtiger Objekte für die psychologische Forschung. In der Tierpsychologie muß man aber eo ipso [schlechthin - wp] auf Deskriptionsbegriffe verzichten, denn hier fehlt auch das letzte Kriterium ihrer Anwendung, die Tiere können uns keine Mitteilungen machen. Und ebenso steht es in der Psychologie der frühesten Kindheit. Hier können wir nicht mehr tun, als feststellen, wie sich ein Lebewesen unter bestimmten Bedingungen in bestimmten Situationen verhält. Alles andere ist eine unkontrollierbare, also unwissenschaftliche Phantasie.

Da nun der gewöhnlichen Psychologie keine Sonderstellung zukommen darf, so folgt, daß wir uns auch hier auf die gleichen Feststellungen zu beschränken haben, und daß wir die bisherigen Ergebnisse der Psychologie aus ihre alten Sprache in eine neue übersetzen müssen: an die Stelle von Aussagen über Erlebnisse müssen über das Verhalten in Situationen treten, sowohl das Verhalten wie die Situation ist mit naturwissenschaftlichen Methoden feststellbar. Die Vertreter dieser Richtung bezeichnen sich daher auch als "Behavioristen", statt Psychologie sagen sie: Wissenschaft vom tierischen Verhalten, vom Verhalten der Lebewesen. Da auch wir an dieser Stelle vergleichende Psychologie treiben wollen, so müssen wir uns mit dieser Richtung auseinandersetzen.

In einem wichtigen Punkt haben diese "Verhaltenspsychologen" unzweifelhaft recht. Sobald wir die gewöhnliche Psychologie verlassen, fällt die Methode der Erlebniswahrnehmung fort, damit auch von unserem Standpunkt, der freilich auch ein "von außen-Standpunkt" ist, jedes Kriterium für das Vorhandensein von Erlebnissen, für die Anwendung von Deskriptionsbegriffen. Die Mutter kann noch so gewiß sein, daß ihr lächelndes Baby sich im Zustand wohliger Behaglichkeit befindet, sie mag ihm noch so deutlich die strahlende Freude vom Gesicht ablesen, für die "von außen" blickende Wissenschaft sind diese Feststellungen nicht kontrollierbar. Ob sie deswegen solche Aussagen ganz verwerfen soll, ist eine andere Frage, auf die wir bald zurückkommen, hier müssen wir beim strengen Außen-Standpunkt verweilen und dann haben die Behavioristen recht: Wir können den Satz auch jetzt so formulieren; außerhalb der gewöhnlichen Psychologie gibt es kein Kriterium für die Existenz von Bewußtsein (5).

Und doch hat man oft versucht, solche aufzustellen (6). Wir besprechen die zwei wichtigsten: Man hat gesagt: solange ich das Verhalten von Lebewesen rein physiologisch erklären kann, solange verzichte ich auf die Hypothese des Bewußtseins; ich führe sie erst da ein, wo die rein physiologische Erklärung versagt. Diese Art des Vorgehens erschein von unserem Standpunkt grundsätzlich falsch, ganz abgesehen, daß sie kein dauerndes Kriterium gibt, denn eine physiologische Erklärung, die heute unmöglich erscheint, kann morgen gelingen. Aber abgesehen hiervon, diese Art der Hypothesenbildung beruth auf einem Trugschluß, dem nämlich, daß man eine physiologische Erklärung durch eine "psychologische", mit Hilfe von Bewußtseinstatsachen, ersetzen kann. Erklären heißt doch aber: Zusammenhänge feststellen, Gesetze formulieren, denen das Wirkliche gehorcht. Gesetze sind aber Aussagen, die von jedem kontrolliert werden können, ihre Gegenstände müssen also letztenendes auch reale Dinge und Vorgänge sein. Ein sichtbares Verhalten eines Lebewesens durch ein Erlebnis, ein also von andern nicht feststellbares, erklären wollen, d. h auf eine Erklärung in einem naturwissenschaftlichen Sinn verzichten. Wir haben oben den Beweis geführt, daß es nicht erlaubt ist, aus funktionalen Tatbeständen ohne weiteres deskriptive Tatbestände zu erschließen. Ebenso falsch ist aber der umgekehrte Schluß von deskriptiven Tatbeständen auf funktionale. Ein Beispiel: bei irgendeinem Versuch hat die Versuchsperson (VP) die Aussage gemacht, sie habe während der ganzen Zeit einen Punkt fest fixiert und keine Augenbewegungen gemacht. Was bedeutet für mich, als Versuchsleiter, diese Aussage? Lediglich, daß die VP das gleiche Erlebnis hatte, wie dann, wenn sie ihre Augen unbewegt festhält, nicht aber, daß sie wirklich keine Augenbewegungen ausgeführt hat. Ob das der Fall ist, muß ich kontrollieren, und oft genug ergibt eine solche Kontrolle, daß die Wirklichkeit nicht dem Erlebnis entspricht. (7)

Jede sogenannte psychische Erklärung enthält an irgendeiner Stelle einen derartigen Schluß, in der vergleichenden Psychologie, wo die Erlebniswahrnehmung fehlt, dazu auch noch den umgekehrten vom funktionalen auf deskriptives. Der Tatbestand wird leicht dadurch verdunkelt, daß unsere Sprache nicht immer getrennte Worte für Deskriptions- und Funktionsbegriffe besitzt, weil unsere Alltagsbegriffe überhaupt keine wissenschaftlichen Begriffe sind, und daß noch dazu manche Begriffe, die typische Funktionsbegriffe sind, als Begriffe von Psychischem bezeichnet werden, wobei man dann vergißt, daß hier das Wort "psychisch" eine andere Bedeutung hat als "Bewußtsein". So ein Wort ist "Intelligenz". Man sagt etwa: zu dieser Leistung gehört Intelligenz, also hat das Tier Bewußtsein. Hier ist der Fehler ganz deutlich: man beobachtet eine tierische Leistung, die das Wort intelligent verdient, sagen wir eine richtige Erfindung eines Tieres; das Tier muß also die Fähigkeit zu dieser Leistung, Intelligenz, besessen haben, also muß es Bewußtsein haben, und dieses Bewußtsein soll nun die Erklärung für die intelligente Leistung liefern, die man auf anderem Weg nicht hat finden können. Man sieht den Sprung beim also. Aus der Tatsache bestimmter Leistungen kann ich nicht mit Sicherheit auf Erlebnisse schließen. Ganz und gar darf ich das aber nicht, wenn ich durch diese Erlebnisse nun die Kette der realen Vorgänge unterbrechen will. Das Verhalten des Tieres, wie es sich uns darbietet, ist ein naturwissenschaftlich feststellbarer Sachverhalt, ihn erklären, heißt, ihn mit anderen naturwissenschaftlich feststellbaren Sachverhalten in eine Beziehung setzen. Ich muß ebensoviel Erfahrungen sammeln, so viele Experimente machen, bis ich die Unterlagen für gesicherte Schlüsse habe. Das ist prinzipiell immer möglich. Stattdessen aber ein Bewußtsein zu statuieren und dem die Leistung aufzubürden, das ist ein Verzicht auf die Erklärung (8). Die Sache liegt sofort ganz anders, wenn man folgenden Gedanken vorbringt: zur Erklärung dieser bestimmten Leistung bin ich genötigt, solche Hirnprozesse anzunehmen, wie sie bei uns von Erlebnissen begleitet auftreten. Also werde ich auch beim Tier ein Bewußtsein annehmen dürfen. Hier ist der Fehler, den wir bekämpfen, nicht gemacht. Die Erklärung bleibt im Naturwissenschaftlichen. Nun wissen wir freilich nicht, was für eine Eigentümlichkeit es ist, die diejenigen Hirnvorgänge, denen Erlebnisse entsprechen, vor den andern auszeichnet, und darum führt dieser Gedankengang auch nicht zu einem wirklichen Kriterium, aber auch wenn wir das zugeben, so können wir von hier aus vielleicht dahin kommen, die Kluft, die sich zwischen Menschen- und Tierpsychologie auftat, wenn man in jener mit Deskriptionsbegriffen arbeitet, zu überbrücken.

Aber aus einem Versagen der physiologischen Erklärung können wir kein Bewußtseinskriterium ableiten. Denn eine physiologische Erklärung brauchen wir auch für alle Verhaltensweisen, an denen Erlebnisse in hohem Maß beteiligt sind.

Mit wenigen Worten können wir einen zweiten Versuch abtun, ein Kriterium für die Existenz von Bewußtsein aufzustellen. Man hat gesagt, wo sich ein Gedächtnis in den Leistungen von Tieren feststellen läßt, da ist auch ein Bewußtsein anzunehmen. Hier liegt der unstatthafte Schluß von Funktions- auf Deskriptionsbegriffe vor, ganz in der Form, wie wir ihn auch eben beim Begriff der "Intelligenz" diskutiert haben.


5. Ablehnung des Verhaltensstandpunkts.
Bedeutung des deskriptiven Verhaltens
für die physiologische Theorie.

Die Verhaltenspsychologen haben also recht, wenn sie die Existenz von Bewußtseinskriterien da leugnen, wo die Methode der Erlebniswahrnehmung wegfällt. Trotzdem werden wir ihre Position ablehnen. Es gibt doch eine Erlebniswahrnehmung, es gibt Aussagen derart, daß sie jeweils nur von einem einzigen zu machen und nicht von jedem beliebigen zu kontrollieren sind. Es ist aber wissenschaftlich unstatthaft, Material, das zur Verfügung steht, nicht zu verwerten. In unserem Fall liegt es sogar so, daß das gleiche äußere Verhalten im Grunde recht verschieden sein kann, wenn das erlebnismäßige Verhalten verschieden ist. Eine "mit vollem Bewußtsein" und eine "automatisch" ausgeführte Handlung können für den Beobachter völlig verschieden aussehen, sie sind aber in ihrer Struktur auch stark verschieden, und umgekehrt können äußerlich sehr verschiedene Handlungen durch die Gleichheit der Erlebnisse ganz ähnlich sein. Verzichten wir in diesen Fällen auf die Erlebniswahrnehmung, so kommen wir zu ganz falschen Schlüssen. Wendet der Behaviorist dagegen ein, man müßte eben auch rein naturwissenschaftliche Methoden finden, mit denen man diese Unterschiede feststellen kann, so können wir ihm getrost diese Arbeit überlassen, und ihm außerdem sagen, er würde gar nicht auf die Idee kommen, nach solchen Methoden zu suchen, wenn er nicht aus dem Erlebnis heraus die Unterschiede schon kennen würde.

Und schließlich: die Tatsache, daß ich überhaupt deskriptive Aussagen machen kann, die ist doch von ganz ungeheurer Wichtigkeit. Sie ist für mich doch mindestens ebenso charakteristisch wie die, daß ich atme oder verdaue. Ein Stück Holz kann das nicht, und wenn ich tot bin, werde ich es auch nicht mehr können, aber auch eine Amöbe kann es nicht. Könnte ich keine deskriptiven Aussagen machen, so könnte ich ja überhaupt keine Aussagen machen. Paradox ausgedrückt: wenn jeder nur die Reaktionen hätte, die alle anderen beobachten können, dann könnte keiner etwas beobachten.

Es geht also nicht an, die eine Seite des Verhaltens ganz aus der Wissenschaft zu streichen, sowohl wegen ihrer immanenten Bedeutung - das was wir sind, worauf wir stolz sind, unsere Kultur, Kunst, Relgion, ist ja ohne dies gar nicht zu verstehen - wie auch wegen der engen Verbindung, in der sie mit der anderen Seite steht (9).

Das Letztere mag hier noch besonders betont werden, damit oben Gesagtes nicht mißverstanden wird. Wir haben eine "psychologische" Erklärung abgelehnt, und eine durchgehende physiologische Erklärung gefordert. Aber wir werden von einer solchen physiologische Theorie verlangen, daß sie zum ganzen Verhalten, also auch zu seiner erlebnismäßigen Seite paßt. Daraus folgt, daß wir bei der Bildung unserer Funktionsbegriffe dauernd den Ergebnissen der Erlebniswahrnehmung folgen müssen. Es ist also oft die erste Aufgabe, die richtigen, fruchtbaren Deskriptionsbegriffe zu bilden, insofern kann man auch mit gutem Recht von einer psychologischen Theorie sprechen. Wie ein solches Verfahren für die Theorie fruchtbar werden kann, das wird sich im Verlauf dieser Darstellung erweisen, ebenso wie armselig das theoretische Rüstzeug der Behavioristene ist, die von der deskriptiven Seite her keinerlei Befruchtung erfahren können (10).

Wenn wir also an der Erlebniswahrnehmung festhalten, verfallen wir dann nicht dem Vorwurf der Verhaltenspsychologie, der Menschenpsychologie eine unberechtigte Sonderstellung einzuräumen? Haben doch auch wir zugegeben, daß wir ein Kriterium für das Vorhandensein von Bewußtsein in der Tierpsychologie nicht besitzen. Was für Konsequenzen sind aber daraus zu ziehen? Wir beobachten einen Hund, dem sein Herr einen Leckerbissen so vorhält, daß er ihn nicht ohne Weiteres erreichen kann. Der Hund steht in einer ganz prägnanten Haltung da, den Kopfe nach vorn und oben gestreckt, die Körpermuskulatur gespannt, die Ohren gespitzt. Man kann die Beschreibung in dieser Weise fortsetzen, sie pneumographische, sphygmographische und dgl. Messungen vervollständigen. Soll es aber verboten sein, solche Beschreibungen zusammenfassen in den Worten: der Hund steht mit dem "Ausdruck höchster Spannung auf die Hand des Herrn gerichtet" da? Bekommt nicht vielmehr erst jetzt die ganze Aufzählung der Einzelheiten ihren Sinn? Ein anderes Beispiel entnehme ich der Schrift von WOLFGANG KÖHLER über die Intelligenz der Menschenaffen (11). KÖHLER schildert dort an einer Stelle die Affektäußerungen dieser Tiere. Ich führe wörtlich an, was der Autor über die Wutausbrüche eines weiblichen Tieres sagt:
    "Hat sie ihre Decke gerade bei sich, so schlägt sie bei gleichem Anlaß rasend mit dieser auf den Boden, aber immer - und das gilt auch vom Reißen und Schleudern im Kraut - haben diese Ausbrüche, physikalisch und physiologisch gesprochen eine starke Komponente auf den Feind zu."
Oder: "Im starken Affekt ohne Lösung muß das Tier etwas in der Raumrichtung tun, in der sich sein Wunschobjekt befindet (12). Und daß bei jungen Kindern dasselbe Verhalten charakteristisch ist, konnte KÖHLER auch beobachten.

Diese Beschreibungen sagen nicht nur: ein Tier wirft Gegenstände in eine Richtung, die man nachher als mit der zum Feind führenden ungefähr übereinstimmend konstatieren kann, sondern: das Tier ist auf den Feind gerichtet, und alle Handlungen, die aus dem Affekt stammen, werden von dieser Richtung aus geleitet, nicht nur die Handlungen haben die Richtung, sondern das Tier.

Ich glaube, niemand der unbefangen ist, wird daran zweifeln, daß derartige Beschreibungen nicht nur erlaubt, sondern erwünscht, ja notwendig sind, wenn wir das Tier verstehen wollen. Wir könnten jetzt das Argument der Behavioristen umkehren: denken wir, wir würden den Wutausbruch eines Schwarzafrikaners beobachten, dessen Sprache wir nicht verstehen, dürften wir dann auch nur sein "äußeres Verhalten" beschreiben, indem wir lauter Einzelheiten aufzählen, dürften wir dann nicht sagen, seine Wut ist auf den Gegenstand, die Person, gerichtet? Und wenn wir es hier sagen dürfen und müssen, dann gilt doch das Argument, daß der Mensch in der Psychologie keine Sonderstellung beanspruchen darf, und wir können nun ein dem menschlichen zum Verwechseln ähnliches Verhalten auch in der gleichen Weise beschreiben.

Nicht etwa, weil die Bewußtseinsfrage ansich besonders brennend wäre, sondern weil wir jetzt die Möglichkeit haben das Verhalten des Tieres wissenschaftlich zu verstehen. Nur darauf kommt es an. Wir könnten den Behavioristen soweit entgegenkommen, daß wir sagen: ob in der Tat ein Bewußtsein da ist oder nicht, wissen wir nicht, das kümmert uns auch nicht. Aber das Verhalten ist ein solches, daß das dazugehörige Bewußtsein, wenn es ein solches gibt, diese bestimmte Struktur haben müßte; daher muß dieses Verhalten so erklärt werden, wie auch sonst Verhalten erklärt wird, dem ein Bewußtsein dieser bestimmten Struktur zugehört (13).

Dann freilich liegt die Überlegung nahe, die wir oben angestellt haben, die besagt: wenn ich einen bestimmten Hirnvorgang setze, der in den beobachtbaren Fällen mit einem Bewußtsein verknüpft ist, setze ich dann nicht auch in den Fällen das Bewußtsein mit, wo ich es nicht feststellen kann?

Wir brauchen also keine übertriebene Angst davor zu haben, auch bei der Beschreibung von tierischem Verhalten Deskriptionsbegriffe zu verwenden. Das soll aber keine Verteidigung des Anthropomorphismus sein, wie er in der alten Tierpsychologie üblich war, die mehr aus schönen Anekdoten als aus wissenschaftlichen Tatsachen bestanden hat. Den Kampf hiergegen aufgenommen zu haben, bleibt ein Verdient der Amerikaner. Aber sie sind zu weit gegangen, sie wollten zu "objektiv" sein, und haben sich dadurch ihr bestes Material selbst genommen. Die gleichen Gesichtspunkte wie für die Tierpsychologie gelten natürlich auch für die Psychologie der Kindheit. Das Problem: ist Bewußtsein überhaupt vorhanden oder nicht, spielt hier natürlich eine noch viel weniger wichtige Rolle, es kann überhaupt nur für die ersten Lebenstage gestellt werden. Zudem haben wir hier ein Hilfsmittel, das uns in gewissen Fällen die Entscheidung erleichtert.


6. Nervensystem - Bewußtsein.

Um dies zu verstehen, muß ein kurzer Blick auf die Tatsachen der Anatomie und Physiologie des Zentralnervensystems geworfen werden. Das gesamte Verhalten der höheren Tiere wird von ihrem Nervensystem geleitet. Ein, oder mehrere Zentralapparate nehmen alle nervösen Bahnen auf, die die Rezeption vermitteln, d. h. die von den Vorgängen der Umwelt oder in den Organen des Körpers angegriffen, gereizt werden, und sie senden alle nervösen Bahnen aus, die sämtliche Bewegungen hervorrufen. Die ersten nennt man sensible oder sensorische, auch rezeptorische Nerven. Ihre Berührung mit der Außenwelt geschieht entweder in besonders ausgebildeten Organen, den Sinnesorganen, oder dadurch, daß sie in der Haut frei endigen. Die zweiten nennt man motorische Nerven, sie enden in den Muskeln oder Drüsen und beherrschen so die eigentliche Körperbewegungen, wie die Sektretion. Von den Zentralapparaten soll uns hier nur das Zentralnervensystem beschäftigen, auf das "autonome System", dessen große Bedeutung in der letzten Zeit immer deutlicher zutage tritt, können wir nicht eingehen. Am Zentralnervensystem nun können wir, nach EDINGER (14), zwei verschiedene Teile unterscheiden: der eine ist bei allen Wirbeltieren im Prinzip ganz gleichartig vorhanden (15), er erfüllt bereits die oben den Zentralapparaten zuerkannte Aufgabe: alle sensiblen Nerven in sich aufzunehmen, alle motorischen zu entsenden. Man unterscheidet an diesem Apparat den länglichen Strang des Rückenmarks (medulla spinalis), seine Fortsetzung, das verlängerte Mark (medulla oblongata) und eine Reihe von Hirnteilen, wir nennen nur das Kleinhirn, Mittelhirn, Zwischenhirn, Riechlappen. Dieses Organ bezeichnet EDINGER als das Urhirn (palaeencephalon). Zu diesem Urapparat tritt in der Entwicklungsreiht von den Haien aufwärts ein neuer Apparat, der Träger der Hirnrinde, der immer mehr an Größe zunimmt, und schließlich, beim Menschen, den ganzen Urapparat bedeckt. EDINGER nennt ihn Neuhirn. Das Neuhirn steht in engster Verbindung mit dem Urhirn, es führen rezeptorische Bahnen vom Urhirn zur Rinde und motorischen Bahnen wieder aus der Rinde in das Urhirn. Auf diese Weise kann der neue und viel leistungsfähigere Apparat das Urhirn und damit das Verhalten des Lebewesens beeinflussen.

Wir kommen auf diese Dinge später zurück. Hier interessiert nur noch eine Tatsache: Beim Menschen, einem Lebewesen, das, wie wir noch sehen werden, viel mehr als jedes Tier auf seinen Neuhirnapparat angewiesen ist, scheint es so zu liegen, daß die Teile seines Verhaltens, die allein vom Urhirn, ohne jede Beteiligung des Neuhirns geleitet werden, ohne Bewußtsein verlaufen, ihnen entsprechen keine Erlebnisse, der Mensch weiß meistens von ihnen ebensowenig wie von den Vorgängen auf dem Mond. Eine Zufallsbeobachtung EDINGERs gibt ein krasses Beispiel:
    "Ich sah eine Frau, deren Rückenmark durch Wirbelkaries total abgeklemmt war, gebären und dabei alle charakteristischen Bewegungen und Stellungen einnehmen, ohne daß sie von dem sonst so schmerzhaften Vorgang das Geringste empfunden hätte. Ja, es wurde nur ganz zufällig der Geburtsakt entdeckt, welcher bereits begonnen hatte, als man am Bett zu hantieren hatte. Diese Patientin hat mir wiederholt versichert, daß ihr von diesem ganzen palaeencephalen Vorgang absolut nichts bekannt wurde." (16)
Könnte man das gleiche auch für den Säugling annehmen, so ließe sich sagen: es gibt eine Zeit, in der der Säugling sich rein palaeencephal verhält, so ist in dieser Zeit sein Verhalten nicht von Erlebnissen begleitet. Bei der Untersuchung des Neugeborenen werden wir dieses Problem wieder aufnehmen.


7. Einteilung der
psychologischen Methoden.

Wir haben oben gezeigt, daß die Psychologie zwei Arten von Begriffen verwendet und entsprechend außer der naturwissenschaftlichen Beobachtungsmethode noch die ihr eigentümliche der Erlebniswahrnehmung besitzt. Über beide, besonders über ihre Anwendung in der Kinderpsychologie, werden wir gleich noch einiges zu sagen haben, vorher müssen wir aber darauf hinweisen, und dabei gleichfalls an frühere Ausführungen anknüpfen, daß in der Psychologie nicht etwa beide Verfahrensweisen einfach nebeneinander herlaufen, sondern daß sie auf das Innigste miteinander verknüpft werden. Gerade die in der gewöhnlichen, experimentellen Psychologie wichtigste Methode besteht in der Kombination von naturwissenschaftlicher und Erlebniswahrnehmung. So kommen wir zu einer Dreiteilung der psychologischen Methodik:
    1. die rein naturwissenschaftliche Methode

    2. die kombiniert naturwissenschaftliche-psychologische Methode, wir nennen sie die psychophysische Methode,

    3. die rein psychologische, deskriptive, nur auf der Erlebniswahrnehmung aufgebaute Methode.
1. Die naturwissenschaftliche Methode besteht darin, daß man das Individuum in bestimmten Situationen beobachtet. Sie läßt sich leicht zu Experiment ausbauen, indem man den Zustand des Lebewesens kontrolliert, z. B. durch Nahrungsentzug und die Situation, in der man es beobachten will, vorher festlegt. Häufig führt so ein Experiment zur Messung, z. B. bei der Untersuchung der Ermüdung, wo man die in einer Zeiteinheit geleistete Arbeit fortlaufend quantitativ bestimmen kann. Oder man miß die Zeit, die das Lebewesen zur Lösung einer Aufgabe braucht. BÜHLER hat für solche Experimente den zweckmäßigen Namen Leistungsexperimente vorgeschlagen.

2. Die psychophysische Methode unterscheidet sich von der ersten nur dadurch, daß sie auch die "deskriptive Seite des Verhaltens in ihr Material mit einbezieht, daß sie also nicht nur die Wahrnehmungen des Beobachters, sondern auch die des Beobachteten verwendet. Auch sie wird meist in der Form des Experiments verwendet. Die Situation wird vom Beobachter festgelegt, nach Möglichkeit meßbar gemacht, dann das Verhalten studiert, die Situation planmäßig verändert und die Veränderung des Verhaltens untersucht, wobei jetzt als Verhalten nicht nur das äußerlich Beobachtbare, die Leistung, zu gelten hat, sondern auch die von der VP angegebenen Erlebnisse. Das Ziel dieser Methode kann ein sehr verschiedenes sein, so kann es vorwiegend für deskriptive oder für funktionale Gesichtspunkte verwendet werden. Geben wir für beide Fälle ein Beispiel.

a) Betonung der deskriptiven Seite: die Untersuchung der akustischen Wahrnehmungen. Ich will wissen, was für akustische Erlebnisse auftreten, wenn ich ein Individuum den verschiedenartigsten Schallvorgängen aussetze. Was ich als Experimentator hier variiere, das sind lediglich diese Schallvorgänge, sie sind das Relevante an der Situation, die sich in solchen Fällen außerordentlich vereinfacht. Man nennt in solchen Fällen das vom Experimentator variierte Element der Situation, das zu den Erlebnissen der VP in Beziehung steht, den Reiz. Der Experimentator wird also in systematischer Weise den Reiz variieren, er wird es einrichten, daß einfache Schallwellen verschiedener Schwingungszahl und Stärke auf die VP einwirken, er wir die einfachen durch zusammengesetztere Wellen ersetzen, kurz alle die Variationen ausführen, die zur Lösung seines Problems nötig sind (NB.: schon hier sei betont, daß in psychologischen Versuchen eine Bestimmung der Methode ganz ohne leitende deskriptive Gesichtspunkte fast nie fruchtbar wird, darum ist auch diese meine Beschreibung so vage, wenn auch für unseren augenblicklichen Zweck ausreichend). Die VP hat die Schallerlebnisse zu beschreiben, die sie bei den Einwirkungen der verschiedenen Reize vorfindet, und bei dieser Beschreibung im allgemeinen gleich eine gewisse Leistung auszuführen, sie hat etwa zu beurteilen, ob zwei Töne gleich oder verschieden sind, in welcher Hinsicht und in welcher Richtung sie sich unterscheiden und dgl. mehr. Hier liegt eine wirkliche Leistung, also etwas nach unseren Darlegungen naturwissenschaftlich feststellbares vor. Und in der Tat, für die Feststellung dieser Art von Leistung brauchen wir die Aussagen der VP nicht, wir könnten sie durch andere Reaktionen ersetzen, so wie wir es ja im Tierversuch machen müssen. Wir werden etwa versuchen, das Individuum darauf zu dressieren, eine bestimmte Handlung dann auszuführen, wenn von zwei Tönen der mit der größten Schwingungszahl ertönt. Gelingt diese Dressur, und konnten wir mit Sicherheit ausschließen, daß eine verschiedene Intensität der Töne das Fundament der Dressur war, so können wir schließen, daß der Unterschied in der Schwingungszahl für die VP wirksam gewesen ist, was wir freilich viel einfacher und schneller hätten feststellen können, wenn wir die VP gefragt hätten, waren die zwei Töne gleich oder verschieden?

Aber es ist richtig, soweit die Aussage als Leistung in Betracht kommt, können wir sie ersetzen, die Aussage ist eine bequeme und abgekürzte Form von Leistung. Damit ist aber noch nicht gesagt, daß die Aussage der VP überhaupt für dieses psychologische Experiment entbehrlich ist, wie es die These der Verhaltenspsychologie besagt, an die wir hier noch einmal erinnern. Gerade unser letztes Beispiel zeigt deutlich, daß die Sache so nicht liegt. Wir erfahren durch die Dressurversuche, die wir als "Aussageersatz" eingeführt haben, nur, ob ein Lebewesen imstande ist, auf zwei Schallwellen verschiedener Schwingungszahl verschieden zu reagieren. Das Resultat ist, wie wir heute sicher wissen, psychologisch ganz unzureichend. Ich mache den Versuch etwa mit den Versuchspersonen A und B und den Tönen von 500 und 600 Doppelschwingungen. Bei beiden ist die Dressur gelungen. Nun nehme ich noch die Aussagen von A und B hinzu, und da sagt A: die beiden Prüftöne bildeten ja eine kleine Terz, ich habe auf den höheren der beiden reagiert. VP B wird sich ganz anders ausdrücken, ja er wird überhaupt nicht imstande sein, zu verstehen was das ist, "eine kleine Terz", "ein Ton höher als ein anderer", er wird sagen: da war ein dunklerer und ein hellerer Ton, und ich habe gemerkt, daß ich auf den helleren reagieren muß. Die Dressur hat also in unserem Versuch zwar in beiden Fällen zum Erfolg geführt, das äußere Endverhalten der beiden VP war das gleiche, aber die Deskriptionen, die sie geben, sind ganz verschieden, als Leistung betrachtet muß daher das Ergebnis der Dressur auch verschieden gewesen sein. In der Tat wird man auch durch Dressurversuche feststellen können, daß VP A sich akustischen Dressuren gegenüber viel leistungsfähiger erweist als VP B, aber wie will man, ohne schon vorher aus der deskriptiven Erfahrung zu wissen, worauf es ankommt, feststellen, worin der Unterschied eigentlich besteht? Umgekehrt, wenn man deskriptiv den Tatbestand bewältigt hat, in unserem Fall etwa mit KÖHLER Tonkörpereigenschaften und Tonhöhe phänomenal trennt, kann man sich Leistungsexperimente erdenken, die über die Zweckmäßigkeit des deskriptiven Ergebnisse entscheiden. Dieses Beispiel zeigt noch ein weiteres, daß erstens die Erlebniswahrnehmung nicht so ganz einfach ist, und daß zweitens der Schritt von der richtigen Erlebniswahrnehmung zur Bildung der Deskriptionsbegriffe eine wirkliche produktive Leistung sein kann. Erst KÖHLER hat den Tatbestand geklärt, und dabei hat man doch in der psychologischen Akustik oft genug mit Tonkörpereigenschaften zu tun gehabt, ohne daß es zur Aufstellung dieses Deskriptionsbegriffs gekommen wäre. Unzureichende Deskriptionsbegriffe müssen früher oder später ein Hemmnis für die Forschung werden, der Fortschritt erfolgt aber nicht, wie die Behavioristen, unter dem Eindruck solcher Hemmungen, meinen, dadurch, daß man die Deskriptionsbegriffe ganz aus der Forschung hinaustut, sondern daß man sie ständig verbessert; das darf kein lebensfernes Verfahren eines Schreibtischpsychologen sein, sondern muß in ständiger Berührung mit der Leistungsforschung geschehen. Beide Seiten, das ist ja eben gerade das typische unserer psychophysischen Methode, müssen sich auf das Innigste durchdringen. Ist die Aufstellung eines neuen fruchtbaren Deskriptionsbegriffs gelungen, dann zeigt sich das gleich daran, daß die Mannigfaltigkeit der Beziehungen zwischen Reizen und Verhalten (äußerem und deskriptivem) übersichtlicher, verständlicher wird. Die Beziehung selbst ist ein naturwissenschaftlicher Tatbestand, sie kann von der unwissenschaftlichen VP nicht ausgesagt werden. Die VP gibt nur an, jetzt dies, jetzt jenes Erlebnis gehabt zu haben. Der Experimentator nimmt die Aussagen zu Protokoll und verwendet sie jetzt als Leistungen, indem er sie mit der ihm, aber im allgemeinen nicht der VP, bekannten Beschaffenheit der Reize in Beziehung setzt. Dabei ist der Experimentator prinzipiell beliebig (17), wenn die Ergebnisse protokolliert sind, kann sich jeder an die Arbeit machen, aus ihnen die Gesetzmäßigkeiten abzuleiten, wie ja auch jeder die Ableitung kritisieren können muß, die VP ist nicht im gleichen Sinn beliebig, in unserem Beispiel dürfen wir nicht VP A und B miteinander vertauchen.

Das Endergebnis der psychophysischen Methoden ist also ein Gesetz, das in Funktionsbegriffen ausgedrückt wird. Das Ergebnis wird aber nicht ohne Verwendung von Deskriptionsbegriffen erreicht, ja unter Umständen kann die Aufstellung eines neuen Deskriptionsbegriffs der Haupterfolg einer psychophysischen Untersuchung sein.

b) Betonung der funktionalen Seite: die Untersuchung des Gedächtnisses. Eine Anzahl der wesentlichen Methoden in der Gedächtnisforschung besteht darin, daß man irgendein Material (vorzugsweise aus sinnlosen Silben aufgebaute Reihen) von VP mehr oder weniger fest einprägen läßt, und dann nach mehr oder weniger langer Zwischenzeit nach verschiedenen Methoden prüft, was die VP noch behalten haben, wie schnell sie das Behaltene reproduzieren können, was für Fehler sie begehen und dgl. Soweit handelt es sich um bloße Leistungen. Unsere Gedächtnisexperimente sind aber doch keine reinen Leistungsexperimente, wir lassen uns von den VP Aussagen machen über ihre Erlebnise beim Einprägen, beim reproduzieren, lassen uns etwa ihre Vorstellungen beschreiben, den Grad der Gewißheit angeben, mit dem eine bestimmte Reproduktion erfolgt usw. Die Bearbeitung dieser Aussagen erst ermöglicht ein volles Verständnis der Leistung, die hier noch mehr im Mittelpunkt steht als unter a), das Prinzip ist aber das gleiche wie dort. Die ungeheure Bedeutung, die der "Verarbeitung" des Stoffes für das Behalten zukommt (18), dürfte schwerlich anders als mit Hilfe deskriptiver Daten festzustellen sein, und doch haben wir in diesem Befund einen Grundstein der Lehre vom Gedächtnis zu erblicken.

3. Die rein psychologische Methode verzichtet auf jede naturwissenschaftliche Beobachtung, sie begnügt sich mit der reinen Erlebniswahrnehmung. Sie spielt heute für den Psychologen eine größere Rolle als für die Psychologie; oft wird ein Anschauen der Phänomene den Psychologen dahin führen, daß eine über diese Phänomene bestehende Theorie ihm unrichtig erscheint, er wird dann versuchen, mit anderen, vor allem mit psychophysischen Methoden die Theorie nachzuprüfen. Als Anfang, als Vorbereitung wird man daher diese Methode keinesfalls verwerfen dürfen, sie kann zur Bildung ganz neuer Deskriptionsbegriffe, mithin auch zur Aufstellung neuer Probleme und Theorien führen. Aber wir werden uns mit dieser Methode nicht zufrieden geben, sondern immer eine Nachprüfung und Ergänzung mit anderen Methoden verlangen (19).


8. Methoden in der
Kinderpsychologie

In der Psychologie der Kindheit, vor allem der ihrer ersten Stadien, wird die Hauptrolle die rein naturwissenschaftliche Leistungsbeobachtung spielen. Und zwar nicht nur im vorsprachlichen, sondern auch im sprachlichen Stadium, mit der Ergänzung, daß man hier auch die sprachlichen Leistungen in die Untersuchung mit einbezieht. An Erlebniswahrnehmung darf man auf lange Zeit hinaus nicht denken, was das Kind sagt, bezieht sich auf die "wirkliche Welt", nicht auf die "Erlebniswelt" im oben definierten Sinn. Diese rein naturwissenschaftliche Beobachtung bedarf aber einer Ergänzung. Wir haben schon bei der Diskussion der Bewußtseinsfrage gesehen, daß es zum wissenschaftlichen Verständnis des äußeren Verhaltens von einem Lebewesen ungeheuer wichtig sein kann, daß wir uns ein Bild von dem machen, was während dieses Verhaltesns erlebnismäßig für das Wesen vorlag. Wir werden also auch das kindliche Verhalten "psychologisch deuten" wollen, Deskriptionsbegriffe aufstellen, ohne daß uns das Kind selbst direkte Aussagen über seine Erlebnisse macht. Dazu gehört "psychologische Begabung", hier liegt eine besondere Form der dritten, rein psychologischen Methode vor, wir versuchen uns selbst in die Lage zu versetzen, daß wir vor Aufgaben stehen wie das Kind sie lösen soll und nur solche Mittel anwenden, wie sie dem Kind zur Verfügung stehen, und wir versuchen festzuhalten, was etwa an charakteristischen Phänomenen dabei auftritt (20). Wir können dann als Arbeitshypothese annehmen, daß ganz ähnliche Phänomene beim Kind aufgetreten sind und versuchen, diese Hypothese durch Leistungsexperimente indirekt zu verifizieren. Hier ist die Mutter am Platz, hier dann das wertvoll werden, was wir am Anfang "Betrachtung von innen" genannt haben.

Wie geht man nun konkret vor?

1. Weitaus die meisten Kenntnisse verdanken wir bisher den Tagebuch-Aufzeichnungen über die Entwicklung einzelner Kinder. Mutter, Vater oder eine sonst dem Kind nahestehende Person beobachtet vom ersten Tag an alles, was das Kind tut, was mit ihm vorgeht. Die natürliche Entwicklung soll so vollständig wie irgendwie möglich aufgezeichnet werden. Was heißt nun aber so vollständig wie möglich? Alles im strengen Sinn kann man ja nicht aufschreiben. Eine Auswahl ist also nötig, und daß diese Auswahl zweckmäßig ist, darauf kommt alles an. Der Beobachter muß also gewisse Gesichtspunkte der Beobachtung haben, auf gewisse Dinge ausgehen, sonst kann es passieren, daß er völlig Belangloses aufschreibt, und Wichtiges vergißt. Die Tagebücher werden also nicht unabhängig sein von der Person des Schreibers, von den Fragen, mit denen er beschäftigt ist, schließlich vom Niveau, das die Kinderpsychologie gerade erreicht hat. Es kann immer wieder vorkommen, daß man auf Fragen, die einem beim Studium der kindlichen Entwicklung auftauchen, in den vorhandenen Tagebüchern keine Auskunft erhält, das Aufwerfen solcher Fragen wird dann aber dazu führen, daß in einem neuen Tagebuch sich auch Material zu ihrer Beantwortung findet. Ich will mit diesen Sätzen nur hervorheben, daß schon die bloße Tatsachensammlung kein bloß mechanisch rezeptives Geschäft ist. Und gerade weil es das nicht ist, ist größte Vorsicht, strengste Selbstkritik geboten. Im eigentlichen Tagebuch soll nur der wirklich beobachtete Tatbestand stehen, nichts von Deutung (21). Aber auch das läßt sich leichter sagen als durchführen. Denn, um den Sachverhalt darzulegen, brauchen wir Begriffe, über deren Anwendbarkeit oft erst der Sachverhalt selbst entscheidet. Solche Begriffe sind z. B. "Umgebung" und "Reaktion". Versteht man unter "Umgebung" nicht das, was physikalisch um das Kind herum ist, sondern das, was, was biologisch für es da ist, (unter Umständen auch das, was phänomenal da ist), dann ist die Umgebung nur aus der Reaktion zu erkennen, unter Umständen eine Handlung als Reaktion nur in ihrer Beziehung zur Umgebung.

2. Auch gelegentliche Beobachtungen besonders bemerkenswerter Leistungen können für die Forschung wertvoll sein. Dazu gehört aber, daß man die Bedingungen, unter denen sie auftreten, genau kennt. Die Aufzeichnung solcher Beobachtungen muß daher sehr genau sein und eine Beschreibung des gesamten Status des Kindes wie eine Schilderung der näheren Umstände enthalten.

3. Das Experiment, das wichtigste Hilfsmittel der normalen Psychologie, hat sich in der Kinderforschung noch nicht den Platz erobert, der ihm gebührt. Das liegt daran, daß es sich fast ausschließlich um reine Leistungsexperimente handelte, die man nicht aus der gewöhnlichen Psychologie übernehmen konnte, und für die es noch keine Methoden gab, da man mit vollem Recht die Methoden der amerikanischen Tierpsychologen, die wir später kennenlernen werden, nicht auf das Kind übertragen wollte. Freilich hat man nicht ganz auf das Experiment verzichtet, MARC BALDWIN hat an Säuglingen Experimente derart ausgeführt, daß er ihnen Gegenstände, die in einer bestimmten Richtung abgestuft verschieden waren, z. B. Farben, vorlegte und zusah, nach welchem sie spontan griffen. Andere Forscher haben Versuche an Kindern durchgeführt, die den Dressurversuchen an Tieren nachgebildet waren, aber man kann wohl sagen, daß das Experiment in der Kinderpsychologie noch nicht die zentralsten Probleme hat erfassen können.

Inzwischen ist es aber WOLFGANG KÖHLER gelungen, sich Leistungsexperimente auszudenken und an Menschenaffen auszuführen, die gerade zur Untersuchung der wichtigsten Probleme geeignet sind und sich leicht auf die Kinderpsychologie übertragen lassen. Er selbst hat auch schon einige Versuche mit Kindern ausgeführt, BÜHLER ist ihm gefolgt.

Die Hauptbedingung, die diese Experimente erfüllen, und die alle guten Leistungsexperimente erfüllen müssen, ist die, daß die Versuchsbedingungen dem Niveau des Prüflings angepaßt sind, daß sie ihn nicht gänzlich unnatürliche, ihm notwendigerweise unverständliche Situationen hineinversetzen, und daß sie, das gilt vor allem in der Kinderpsychologie, die natürliche gesunde Entwicklung nicht stören. Man darf erwarten, daß die Kinderpsychologie mit Hilfe solcher Experimente, über die wir zur gegebenen Zeit ausführlich sprechen werden, einen gewaltigen Schritt vorwärts tun wird.

Zum Schluß sei ein Versuch von BINET erwähnt. BINET glaubt, man könne das Kinderexperiment ersetzen durch Experimente an erwachsenen Schwachsinnigen, die als "stereotype Kinder" einer meßbaren Altersstufe gelten könnten und sich gerade wegen ihrer Stereotypie besonders gut zum Experimentieren eignen. Aber "so wenig man die Zwerge körperlich als stehengebliebene Kinder betrachten darf, so wenig sind die Imbezillen [Schwachsinnigen - wp] in geistiger Beziehung einem Kind bestimmten Alters gleichzusetzen." (22) Diese Methode scheint zur Erforschung der geistigen Entwicklung beim Kind gänzlich ungeeignet.

Anders steht es, wenn man zu bestimmten Zwecken zurückgebliebene Kinder in die Untersuchung mit einbezieht. An ihnen kann unter Umständen ein Prozeß deutlicher heraustreten als bei normalen Kindern, weil bei ihnen solche Prozesse schwieriger zustande kommen, länger stabil bleiben, nicht so schnell automatisch und damit schwer untersuchbar werden wie bei den Gesunden. Ein in dieser Richtung von PETERS unternommener Versuch hat zu guten Ergebnissen geführt.

Für die Bearbeitung der Ergebnisse von Beobachtung und Experiment lassen sich allgemeine Regeln nicht aufstellen. CLAPARÉDE hebt die Wichtigkeit zweier Fragen hervor:
    1. Welches ist der gegenwärtige Entwicklungsgrad einer Leistung? Plappert das Kind z. B. bloß nach, oder versteht es seine Worte? Mit anderen Worten: man hat ein bestimmtes Verhalten beobachtet, und will nun wissen, was es als Leistung bedeutet. So führt diese Frage auch auf die viel umstrittene, fast immer falsch gestellte Frage: ist eine Leistung ererbt oder erworben, bzw. was an ihr ist ererbt, was erworben?

    2. Welches ist die gegenwärtige Funktion einer Leistung? Ein Beispiel: man hat zu fragen: welche Prozesse erfüllen für das Kind einer bestimmten Stufe die Funktion, die für uns etwa das begriffliche Denken erfüllt? Man soll aber nicht fragen: denken die Kinder begrifflich? Hiermit ist etwas sehr Richtiges und Wichtiges gemeint.
Man soll sich, wenn man an kindliches Seelenleben herangeht, nicht festlegen auf Fragestellungen, wie man sie von Erwachsenen her gewöhnt ist. Und zwar aus einem doppelten Grund: 1. wissen wir über die Denkprozesse der Erwachsenen sehr wenig, viel wemiger als die Schulweisheit sich träumen läßt, die Begriffe, mit denen man wohl oder übel arbeitet, stammen aus der Schullogik und haben somit jede Beziehung zum lebendigen Denken verloren, 2. versperren wir uns den Zugang zu all den Dingen, die irgendwie spezifisch anders sind, als wir es, vom Erwachsenen aus gesehen, erwarten. Wenn man sich früher etwa in der Ethnologie mit der Feststellung begnügte, ein Volk könne nur bis 5 zählen, so verbaute man sich durch diese Art des Fragens jedes Eindringen in die Prozesse, die diesem Volk da zur Verfügung stehen, wo wir rechnen. Vor diesem Fehler kann man auch in der Kinderpsychologie gar nicht genug warnen.
LITERATUR - Kurt Koffka, Die Grundlagen der psychischen Entwicklung des Kindes, Osterwieck am Harz 1921
    Anmerkungen
    1) Das gilt auch für das von WILLIAM STERN aufgestellte und in der Kinderpsychologie vielfach angewendete Konvergenz-Prinzip. Es entstammt viel allgemeineren Überlegungen, wie aus den philosophischen Schriften STERNs zu ersehen ist.
    2) Damit soll natürlich nicht geleugnet werden, daß zwischen dem Verhalten und dem Erleben sehr innige Zusammenhänge bestehen. Das ist im Gegenteil durchaus unsere Ansicht. Hier handelt es sich lediglich um die methodische Frage der Erkennbarkeit.
    3) Dieser Satz kann hier nicht näher begründet werden. Nach meiner Ansicht schließt er nicht nur die Meßbarkeit sondern, entgegen dem Anschein, auch die (deskriptive) Zählbarkeit der Phänomene im eigentlichen Sinn aus.
    4) im Sinn von oben
    5) Das Problem, wie wir etwas vom Bewußtsein unserer Mitmenschen wissen, können wir hier ganz ausschalten. Unser Kriterium war ja die Möglichkeit der Aussage.
    6) vgl. zum Folgenden auch die Ausführungen von GUSTAV KAFKA, Einführung in die Tierpsychologie auf experimenteller und ethologischer Grundlage, Bd. 1, Die Sinne der Wirbellosen, Leipzig 1914, Seite 6f
    7) Man bedenke aber wieder das in Anm. 2 Gesagte. Den umgekehrten Fall berichtet RUBIN: Man kann die Konturen einer Figur verfolgen ohne Augenbewegungen zu machen, z. B. am Nachbild. Dabei tritt aber durchweg der Eindruck auf, man führe Augenbewegungen aus.
    8) Auf eine Kritik des Psychovitalismus, der von diesen Ausführungen weniger getroffen wird als manche Erklärungsweisen der üblichen Psychologie, müssen wir hier verzichten. Meines Erachtens sind die Schwierigkeiten, mit denen die physiologische Theorie des Bewußtseins bisher behaftet war, jetzt überwunden, sodaß eine Hauptstütze dieser Lehre gefallen ist.
    9) Gerade so wie wir verwendet auch der den Behavioristen nahe stehende THORNDIKE das Wort behavior für das gesamte, die phänomenale Seite mit einschließende Verhalten.
    10) Im Grunde ist ihre physiologische Theorie nur eine Übersetzung ins Physiologische des von ihnen verworfenen psychologischen Atomismus. Die physiologische Theorie kann und darf nicht unabhängig sein von der psychologischen Theorie. Diese ist keine Erklärung im oben bekämpften Sinn, sondern eine adäquate Bearbeitung der Tatsachen. So war die Zerlegung des Bewußtseins in Empfindungen eine psychologische Theorie, auch wenn man die einzelnen Empfindungen physiologisch erklärt und ebenso ist es psychologische Theorie, wenn man den Empfindungsbegriff verwirft und durch einen anderen ersetzt, für den dann auch eine andere physiologische Erklärung geschaffen werden muß.
    11) KÖHLER I, Seite 70
    12) KÖHLER, a. a. O., Seite 71
    13) Man wird uns einwenden, wir verteidigen jetzt ein Verfahren, das wir oben verworfen haben, den Schluß von funktionalen auf deskriptive Tatbestände. Darauf ist Folgendes zu erwidern: wir bekämpften den Schluß um der falschen Folgerungen willen, die man aus ihm zog. Hier aber wird aus funktionalen Beobachtungen, wenn auch auf dem Umweg über Deskriptives, wieder auf Funktionales geschlossen, ein funktional nachprüfbarer Schluß. Das deskriptive Zwischenglied kann also in keiner Weise schaden, wohl aber bei der Aufstellung der Erklärung von größtem Nutzen sein. Vgl. auch KÖHLERs Ausführungen über das Bewußtsein in der Tierpsychologie (Optische Untersuchungen am Schimpansen und am Haushuhn, Abhandlung der Königlich-Preußischen Akademie der Wissenschaften, Jahrgang 1915, Physikalisch-mathematische Klasse, Nr. 3, zitiert nach der Einzelausgabe, Seite 56 A.
    14) LUDWING EDINGER, Vorlesungen über den Bau der nervösen Zentralorgane der Menschen, Leipzig 1911, Seite 58
    15) Freilich ist je nach den Lebensverhältnissen des Tieres bald der eine, bald der andere Teil stärker entwickelt. Vgl. EDINGER, a. a. O., Seite 59
    16) EDINGER, a. a. O., Seite 507.
    17) Unter Umständen können Versuchsleiter und Versuchsperson auch dieselbe Person sein.
    18) vgl. hierzu Kapitel IV
    19) vgl. die Ausführungen von BÜHLER, Die geistige Entwicklung des Kindes, Seite 53f
    20) In Kapitel IV, Seite 137 ist eine Anwendung dieses Verfahrens auf die Tierpsychologie beschrieben.
    21) Genaue Vorschriften für die Anlegung und Führung von Kindertagebüchern findet man bei STERN, Psychologie des Kindes, Seite 13f.
    22) OSWALD KÜLPE, Psychologie und Medizin, Zeitschrift für Pathopsychologie, Bd. 1, 1912, Seite 12 der Sonderausgabe.