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GERDA HASSLER
Sprachphilosophie in der Aufklärung

Ein grundsätzlicher Fehler der Metaphysik ist es, um Worte, statt um Dinge zu streiten.

Sprachtheoretische Auffassungen waren gerade in der Aufklärung nicht nur Ausdruck, sondern oft sogar konstitutiver Bestandteil philosophischer Positionen. Anthropologische Probleme, wie die Überwindung des Dualismus von Körper und Geist, das geschichtliche Menschenbild der Aufklärung, die Entwicklung und Perfektibilität menschlicher Erkenntnisprozesse wurden auch in Gestalt sprachtheoretischer Fragestellungen diskutiert. In ihren Stellungnahmen zu Problemen der Sprache haben Philosophen, wie z.B. VOLTAIRE, DIDEROT, ROUSSEAU, CONDILLAC, LEIBNIZ, WOLFF, HERDER und ADAM SMITH gerade ihre Positionen als Aufklärer ausgedrückt.

Bei aller weltanschaulich -philosophischen Differenziertheit und nationalen Spezifik ihrer Aussagen zur Sprache im allgemeinen und zu den historischen Sprachen im besonderen verband sich die auf dem Höhepunkt der Aufklärung ausgearbeitete säkularisierte Sicht des Menschen und der Gesellschaft mit einer entsprechenden Weiterentwicklung und Umwertung sprachtheoretischer Positionen des 17. Jahrhunderts.

Im Spannungsfeld der Auseinandersetzungen um das sinnliche Vorstellungsvermögen und die körperliche oder geistige Natur des Menschen hatte die Sprachproblematik bereits im 17. Jahrhundert große philosophische Aktualität gewonnen. Mit der Erklärung der Sprache und des Denkens als Ergebnisse einer langen wechselseitigen Entwicklung in der Geschichte der Menschheit wird Stellungnahmen zu Wesen und Ursprung der Sprache in der Aufklärung eine neue Tragweite verliehen.

In naturwissenschaftlicher Richtung weitergeführt, verbindet sich die Auseinandersetzung über den Sprachursprung mit den damaligen Ansätzen des Evolutionsdenkens, dessen sprachtheoretische Gesichtspunkte sich in der naturwissenschaftlichen Transformationslehre des 20. Jahrhunderts wiederfinden lassen.

Auch die Betrachtung grammatischer Erscheinungen der Sprachen, wie z.B. der Wortstellung, der Metaphorik oder der Synonymenunterscheidung, gewann in der Aufklärung ausgeprägt philosophische Züge. In Frankreich, wo diese Tendenz besonders deutlich war, wurden Autoren, die sich in philosophisch -weltanschaulicher Sicht mit sprachlichen Problemen beschäftigten,  grammairiens-philosophes  genannt, eine Wortneubildung, die den engen Zusammenhang philosophischer und linguistischer Probleme unterstreicht. Die Skala der verschiedenen Grammatiktypen erstreckt sich überwiegend auf die sprachphilosophischen, die eine Erklärung sprachlicher Erscheinungen und ihrer Zusammenhänge mit dem Denken beabsichtigen.

Neben das Interesse für sprachliche Normen und Korrektheit des Ausdrucks, das durch das Bedürfnis nach einer einheitlichen nationalen Literatursprache in einzelnen Ländern (z.B. Italien, Rußland) besonders stark sein konnte, trat auch im Bewußtsein der sprachlich interessierten Öffentlichkeit zunehmend die Frage nach der Funktion der Sprache für den Menschen und für die Gesellschaft, nach der Rolle der sprachlichen Zeichen für das menschliche Denken in den Vordergrund.

In diesem Zusammenhang wurde in der Sprachdiskussion der Aufklärung auch die Wahrheit der Erkenntnisse und Ideen, die mit Hilfe der Wörter fixiert und kommuniziert werden, thematisiert. Die grundsätzliche Erörterung der Zuverlässigkeit durch Sprache vermittelter Erkenntnisse verband sich in der Aufklärung zunehmend mit dem Bewußtwerden der Sprachverwendung als Instrument der Täuschung und der geistigen, oft auch der politischen Unterwerfung.

Daß solche Sprachkritik unmittelbar in Gesellschaftskritik münden konnte, zeigt besonders eindrucksvoll die Beschreibung der Sprache als Instrument der Ausbildung und Festigung der Herrschaft eines Teils der Gesellschaft über den anderen in ROUSSEAUs  Diskurs über den Ursprung der Ungleichheit  (1755). Auch in so zentralen Werken der Aufklärung wie HELVETIUS  De l'esprit  (1758) ist die Darstellung des Sprachmißbrauchs einer korrupten Gesellschaftsform eine Verbindung von Sprachkritik und Gesellschaftskritik.

Als eine für das Anliegen der Aufklärung besonders geeignete Publikationsform erwies sich das  dictionaire , das die bewußte und oft unverhohlene Stellungnahme nicht nur zu sprachlichen, sondern darüber hinaus zu philosophischen, ästhetischen, politischen und naturwissenschaftlichen Kontroversen der Epoche erlaubt. Als Sachwörterbücher illustrieren VOLTAIREs  Dictionnaire philosophique  (1764) und die gegenaufklärerische Erwiderung in Gestalt des  Dictionnaire antiphiloso- phique  (1764) das unmittelbare Eintreten für oder gegen die Aufklärung in dieser Publikationsform.

DIDEROTs und d'ALEMBERTs  Enzyklopädie  (1751) ist als größtes buchhändlerisches Unternehmen des 18. Jahrhunderts zugleich wissenschaftliches Sachwörterbuch und Wörterbuch der französischen Sprache und widerspiegelt außerdem in den sprach- und grammatiktheoretischen Artikeln wichtige Aspekte der Sprachphilosophie der Aufklärung.

Im Zusammenhang mit dem Aufschwung der Lexikographie und der Diskussion des Zusammenhangs von Sprache und Denken steht auch die Aktualität semantischer Fragestellungen, beginnend mit der zunehmenden Detaillierung der praktischen Bedeutungsbeschreibung in Wörterbüchern bis hin zur Erörterung der Zuverlässigkeit sprachlich fixierter Erkenntnis. Ein besonderer Stellenwert in der damit verbundenen Diskussion um die Wortbedeutungen, ihren Wahrheitswert und ihre Entstehung kommt der Auffassung vom  arbiträren  (willkürlichen) Zeichencharakter zu, in deren Modifikation und Umdeutung im 18. Jahrhundert zugleich eine spezifisch aufklärerische Sicht der Sprache deutlich.


Willkürlichkeit sprachlicher Zeichen

Die Einbeziehung der Sprache in die philosophischen Systeme solcher Denker wie DESCARTES, ARNAULD, MALEBRANCHE und SPINOZA beruht vor allem auf der Annahme einer Analogie der Beziehung von Sprache und Denken zum Verhältnis von Körper und Geist. In ihren Grundzügen bereits bei AUGUSTINUS entwickelt, wurde die Lehre vom unkörperlichen, reinen Denken, das jedoch für den Menschen nach der Erbsünde nicht mehr verfügbar sei und durch ein von Zeichen unterstütztes Denken ersetzt werde, auch zur Grundlage der rationalistischen Sprachtheorien.

Sprache ist für AUGUSTINUS das notwendige Gewand des Denkens, wenn dieses sich in die körperliche Welt herabläßt, d.h. wenn es mitgeteilt werden soll. Das vom sprachlichen Zeichen Bezeichnete ist demnach ein rein geistiger Gegenstand, der mit dem Wort als körperlichem Gegenstand nur eine Repräsentationsbe- ziehung eingehen kann. Während Wörter eine unterschiedliche, willkürliche Lautgestalt haben, sind die Begriffe weder griechisch noch lateinisch, sondern universell und von sinnlichen Gegebenheiten unabhängig.

Wie für AUGUSTINUS ergibt sich auch für die an ihn anknüpfenden Philosophen des 17. Jahrhunderts die Notwendigkeit der Sprache erst durch die Kommunikation zwischen den Menschen, in der eine Weitergabe reiner Begriffe unmöglich ist. Schon die Tatsache, daß Tiere mit hochentwickelten Sprechwerkzeugen zwar in der Lage sind, menschliche Lautsprache nachzuahmen, aber niemals menschliches Denkvermögen erreichen können, verweist nach DESCARTES auf die besondere Stellung des Menschen und die Unabhängigkeit seines Denkens von materiellen Erscheinungen wie der Sprache.

Hier wird die Verbindung zwischen Zeichen und Gedanken als eine Art Modell der Beziehung von Körper und Geist angenommen. Nur weil Körper und Seele nicht identisch sind, könne es überhaupt zur Verschiedenheit der Sprachen kommen. Einen Beweis für die Sprachunabhängigkeit des Denkens sieht schließlich CORDEMOY auch darin, daß wir uns oft nicht erinnern können, in welcher Sprache wir einen Gedanken formuliert hörten.

Wenn in der augustinisch- rationalistischen Tradition das reine Denken zwar als sprachfrei angenommen wird, so wird eine Folge der Kommunikation mittels Sprache darin gesehen haben, daß die Menschen sich daran gewöhnt haben, auch in ihrem Denken Zeichen zu benutzen. Die unumgänglich gewordenen sprachlichen Zeichen genügen jedoch dem Denken nur in sehr unvollkommener Weise, denn intuitive Konzeptionen überfluten das Denken, während die Sprache eher verlangsamt und ablenkt.

Aus diesem Spannungsverhältnis zwischen unkörperlichen Denken und körperlichem Kommunikationsmittel, insbesondere aus der Annahme,daß die Unvollkommenheit der Wörter mit ihren verschwommenen Bedeutungen das Denken behindert, ergeben sich bereits deutliche Anhaltspunkte für eine rationalistische Sprachkritik.

Die Untersuchung der drei Ebenen des sprachfreien Denkens, des in der Kommunikation mitgeteilten Denkens und des schließlich aus Gewohnheit sprachgebundenen Denkens findet sich auch in der  Grammatik  (1660) und der  Logik  (1662) von Port Royal wieder. ARNAULD, der philosophisch bestimmende Autor beider Werke, knüpft an die augustinisch- cartesianische Position an und sieht das einzige Mittel zur Erkenntnis der Wahrheit darin, dem Gedanken mehr Aufmerksamkeit zu widmen. Wörter sind arbiträr, was bedeutet, daß es lächerlich wäre, so natürliche und einleuchtende Erscheinungen wie die Gedanken als abhängig von den nur nach Phantasie und Laune festgelegten Wörtern anzunehmen.

Die Bedeutung eines Wortes wird jedoch in der Logik von Port Royal nicht als feste Größe angenommen, sondern in Abhängigkeit von der Anschauungsweise des jeweiligen Sprachverwenders gesehen. Einen Zusammenhang zwischen Sprache und spezifischem Denken und Erkennen der Sprecher sehen ARNAULD und PIERRE NICOLE nicht nur beim Vergleich der verschiedenen Nationalsprachen, sondern auch bei der Betrachtung verschiedener Entwicklungsetappen einer Sprache.

Diese Problematisierung des Zusammenhangs von Sprache und Denken ergibt sich daraus, daß die Entsprechung des Zeichens nicht unmittelbar im Gegenstand gesehen wird, sondern in den sich verändernden Vorstellungen der Menschen von diesem Gegenstand. Mit dieser Feststellung wies die  Logik von Port-Royal  bereits über den streng rationalistischen Rahmen hinaus und bereitete die Erkenntnis vor, daß sich gute Rhetorik, um das Bewußtsein der Menschen zu erreichen, auch unter Berücksichtigung konnotativer (Konnotation = mit einem Wort verbundene zusätzliche Vorstellung) Merkmale an die Imagination und nicht nur an den Verstand wenden muß.

Hatte bereits die  Logik von Port-Royal  auf den erkenntnisfördernden Einfluß der Sprache hingewiesen, indem sie erklärte, daß von einem Wort gebildete Ableitungen uns durch ihre Form zu neuen Gedanken hinführen, so wendet sich SPINOZA noch grundsätzlicher gegen eine Überbetonung der hemmenden Wirkung der Sprache im Erkenntnisprozess. Alles durch Sprache Überlieferte, auch die Bibeltexte, ist nach SPINOZAs Auffassung unter dem Gesichtspunkt zu überprüfen, inwieweit allgemeingültige Konzeptionen oder entsprechend der Sprache der Zeit und des Volkes ausgeprägte Begriffe ausgedrückt werden.

SPINOZAs Anliegen ist ein von sprachlichen Vorbildern freier und kritischer Sprachgebrauch. Die Verwechslung von Wörtern, Ideen und Sachen wird von ihm als gefährliche Quelle von Irrtümern und Vorurteilen beschrieben (Opera II).

Bei ARNAULD, DESCARTES und SPINOZA sowie bei anderen rationalistischen Denkern des 17. Jahrhunderts waren somit bereits Ansätze gegeben, den Einfluß der Sprache auf den Erkenntnisprozeß als Problemstellung zu erkennen und zu erörtern. In Verbindung mit der Anerkennung eines sprachfreien, reinen und in seinen Grundzügen eingeborenen Denkens war jedoch erkenntnistheoretisches Interesse an der Sprache eine zweitrangige Erscheinung, der nur im Rahmen rationalistischer Sprachkritik größere Bedeutung zukam. Die Auffassung vom arbiträren (willkürlichen) Zeichencharakter nimmt dabei noch eine Schlüsselstellung in der Argumentation gegen eine erkenntnistheoretische Relevanz der Sprachverschiedenheit ein.

Der Hypothese einer körperlichen Natur des Denkens, die bereits HOBBES als extreme Schlußfolgerung aus der Abhängigkeit des Denkens von den Sprachzeichen vorgebracht hatte, hatten DESCARTES und die  Logik von Port-Royal  entgegengehalten, daß das menschliche Denken mit dem Bedeuteten operieren würde, nicht mit den Wörtern selbst, die durch Konvention festgelegt würden und daher einzelsprachlich verschieden sein können, ohne die Universalität des Denkens aller Menschen in Frage zu stellen.


Sensualistische Erkenntnistheorien

Wesentliche Veränderungen in der Auffassung vom arbiträren Zeichencharakter hatten sich vor allem infolge der nominalistischen Grundhaltung des englischen Empirismus ergeben. Ausgehend von sensualistischen erkenntnistheoretischen Positionen dehnte JOHN LOCKE in seinem  Essay concerning Human Understanding  (1690) den arbiträren Zeichencharakter nicht nur auf die Beziehung zwischen Lautfolgen und Ideen, sondern auch auf die Zusammensetzung der bezeichneten Ideen selbst aus.

Das sprachliche Zeichen repräsentiert nach LOCKE nicht unmittelbar die Erkenntnisgegenstände, sondern die Begriffe, die sich der Erkennende bildet. Sowohl Ideenbildung als auch Bezeichnung sind willkürlich, durch  voluntary imposition  (zweckbedingt sich aufdrängend) festgelegt. Die Sprache wird von LOCKE nicht mehr als System zum Ausdruck der universellen Ratio, sondern als Widerspiegelung des unter den speziellen historischen und sozialen Bedingungen einer Sprachgemeinschaft organisierten Denkens verstanden.

Umgebung, Sitten und Gewohnheiten sind nach LOCKE maßgebend für die begriffliche Einteilung der Welt, für die Bildung komplexer Ideen und deren Bezeichnung. Ideenkombinationen, die im Leben der Menschen häufig auftreten, werden zu komplexen Ideen und erhalten Namen, während die Menschen es bei seltenen Kombinationen von Ideen vorziehen, sie lose und ohne Namen zu lassen und die einzelnen Ideen aufzuzählen, wenn sie wirklich einmal sprachlich fixierte Ideenkomplexe ausdrücken wollen.

Zum Beispiel würde das Vorhandensein der unterschiedlichen Bezeichnungen  ice  und  water  jedem Engländer nahelegen, auch zwischen zwei verschiedenen Dingen zu unterscheiden. Dagegen würde jemand, der in Jamaika aufgewachsen sei und daher weder die Erscheinung Eis noch den Namen dafür kenne, nicht zögern, Eis und Wasser als ein und dieselbe Sache anzusehen und sie mit demselben Wort zu benennen.

Als Mangel in LOCKEs Essay empfindet es GEORGE BERKELEY, daß der Sprache nicht durchgängig und systematisch Aufmerksamkeit gewidmet werde. LOCKE habe der Sprache zu sehr vertraut und verkannt, daß sie das größte Hindernis auf dem Wege zur Erkenntnis sei. Die folgenschwerste Auswirkung des Einflusses der Sprache im Erkenntnisprozess sieht BERKELEY gerade darin, daß sprachliche Zeichen den Anschein erwecken, es gäbe abstrakte Ideen, zu deren gefährlichsten die Materie gehöre. Nach BERKELEYs Auffassung bezeichnen die Wörter nichts anderes als eine Vielzahl von Ideen, die den Empfindungen des Subjekts entsprechen, und erwecken nur den Anschein, es handle sich um Abstraktionen.

Einen wichtigen Grund für die hemmende und irreführende Wirkung der Sprache im Erkenntnisprozess sieht BERKELEY neben dem Vortäuschen von Abstraktionen auch darin, daß sich die Sprache an den Begriffen und Vorurteilen der Menge orientiert. So müsse selbst der von der Richtigkeit des kopernikanischen Weltbildes Überzeugte davon sprechen, daß die Sonne aufgeht, untergeht oder sich dem Scheitelpunkt nähert. Zwar nehme man stillschweigend eine Korrektur an diesem Sprachgebrauch vor, das sei jedoch nur möglich, weil in diesem Fall das Auseinanderklaffen von Sprache und Vorstellung besonders sinnfällig sei. In anderen Fällen sei dem sprachlich verursachten Irrtum Tür und Tor geöffnet.

Ebenfalls ausgehend von LOCKE, jedoch mit ganz anderen Schlußfolgerungen als BERKELEY, entwickelte CONDILLAC in seinem  Essai sur l'origine des connaisances humaines  (1746) eine zusammenhängende sensualistische Theorie für die Entwicklung aller Denkvorgänge, in der die Auffassung vom arbiträren Zeichencharakter eine zentrale Stellung einnimmt. Hatte LOCKE neben den  sensations  in der  reflection  noch eine von den Sinnen unabhängige Erkenntnisquelle anerkannt, so führte CONDILLAC die gesamte menschliche Erkenntnistätigkeit auf die Sinneswahrnehmung zurück und erklärte die höheren Denkoperationen als mit Hilfe sprachlicher Zeichen umgewandelte Empfindungen.

Nach CONDILLACs Theorie verfügten die Menschen ursprünglich über ein aus Schreien und Gebärden bestehende Sprache, die zunächst für ihre primitiven Lebensverhältnisse genügte. Mit der weiteren Entwicklung der Kommunikationsbedürfnisse entstanden die arbiträren Zeichen der Lautsprache, durch die es dem Menschen möglich wird, frei über seine Imagination zu verfügen und Sinneseindrücke abwesender Gegenstände bewußt wachzurufen.

Arbiträren Charakter besitzen nach CONDILLAC solche Zeichen, deren Gebrauch von unmittelbaren äußeren Stimuli unabhängig ist und der Entscheidungsfreiheit des Sprechenden unterliegt. Darin bestehen gerade die Voraussetzungen für die höheren Denkoperationen des Unterscheidens, Verallgemeinerns, Vergleichens, Urteilens und Schließens, durch deren psychogenetische Erklärung CONDILLAC die Kluft zwischen Erfahrung und Verstand überwinden konnte.

Kennzeichnet CONDILLAC in seinem  Essai  die Sprachzeichen noch im Anschluß an LOCKE als  institutionell  und  arbiträr , so schlägt er in seiner  Grammatik  (1775) vor, sie zur Vermeidung von Mißverständnissen nicht  arbiträr , sondern  künstlich  zu nennen. Diese künstlichen oder institutionellen Zeichen sind in einem kontinuierlichen Prozeß aus natürlich hervorgegangenen, wobei stets von schon bekannten Zeichen ausgegangen wurde.

Dieses von CONDILLAC immer wieder unterstrichene Prinzip der Analogie bei der Bereicherung von Zeichensystemen ist dann auch die notwendige Bedingung für das Funktionieren der künstlichen Zeichen, nachdem sie einen autonomen Status gegenüber den natürlichen Zeichen erreicht haben. Mit der Berufung auf die Analogie bei der Erklärung des Funktionierens und der Weiterentwicklung der menschlichen Lautsprache spricht CONDILLAC den Sachverhalt an, der in der modernen Linguistik als Motiviertheit des sprachlichen Zeichens charakterisiert wird.

In dieser funktionellen Perspektive läßt die Lautsprache keinesfalls eine von der Laune des Sprechenden abhängige Zeichenwahl zu. Die in einem langen Prozeß der Wechselwirkung von Sprache und Denken entstandenen Regeln für Kombinationen von Ideen und für deren Belegen mit Zeichen sind vielmehr für den Sprecher verbindlich und bestimmen den besonderen Charakter einer Sprache. Zum besonderen Charakter der Sprachen gehört ihre einzelsprachliche Spezifik als analytische Methode, die vor allem davon abhängt, welche Bedeutungen mit sprachlichen Zeichen belegt werden.

Arbiträre Zeichen sind aufgrund ihrer Beziehungen untereinander Träger von Bedeutungen und funktionieren auf der Grundlage der im Sprachsystem vorliegenden Analogie. Die Verwendung arbiträrer Zeichen ist nicht mehr natürliche und spontane Reaktion auf Sinneswahrnehmungen, sondern Sprachtätigkeit auf einer bestimmten Stufe der miteinander verflochtenen Entwicklung von Sprache und Denken.

CONDILLAC wendet sich dabei ausdrücklich gegen ein vorwiegend negative Einschätzung des Einflusses der Sprache auf das Denken. Die Sprachen sind zwar unvollkommene Methoden und lenken deshalb das Denken manchmal auf Irrwege. Aber gerade weil sie Methoden sind, deren Funktionieren auf innerer Analogie beruht, müssen sie in vielen Fällen zu richtigen Ergebnissen führen.

Je größer die Bewußtheit der Menschen in der Verwendung der Sprache wird, um so besser sind sie in der Lage, sich von den negativen Einflüssen der Sprache auf das Denken zu befreien, die Sprache selbst zu korrigieren und sie als analytische Methode zu verbessern. Für die richtige Verwendung der Sprache im Interesse des Denkens und der Wissenschaft trägt nach CONDILLACs Auffassung die Gesellschaft volle Verantwortung.

Mehrfach richtet er die Aufforderung an die Herrschenden, sich für eine sinnvolle Sprachverwendung einzusetzen, um die menschliche Erkenntnis zu fördern. Wenn die Erkenntnisentwicklung gehemmt wird, so ist daran nicht die Sprache schuld, die ihrem Wesen nach fähig ist, sich an neue Bedürfnisse anzupassen, sondern die Regierungen, die das Fortschreiten der Vernunft aufhalten.

Die aufklärerische Forderung, sich der eigenen Vernunft zu bedienen und dabei scheinbare Schwierigkeiten, die sich aus den Unvollkommenheiten der Sprache ergeben, zu überwinden, richtet CONDILLAC auch an die Philosophen. Ein grundsätzlicher Fehler der Metaphysik sei es, um Worte, statt um Dinge zu streiten. Den übermäßigen Drang der Philosophen, ihre Lehren zu Systemen auszubauen und die Rolle der Sprache beim starren Beibehalten dieser Systeme kritisierte CONDILLAC in seinem  Traité des systémes  (1749). Der sprachkritische Gedanke, den CONDILLAC vor allem von LOCKE übernehmen konnte, erhält im Rahmen seiner Sprachtheorie durch die Annahme der Möglichkeit einer bewußten Einwirkung auf die Sprache und ihrer Anpassung an die Erfordernisse des Denkens eine erkenntnisoptimistische Ergänzung.
LITERATUR - Dascal/Gerhardus/Lorenz/Meggle (Hrsg), Sprachphilosophie - ein internationales Handbuch zeitgenössischer Forschung, Berlin/New York 1992