p-4ra-2LippsPfänderMünsterbergRée    
 
ADOLF BOLLIGER
Die Willensfreiheit
[ 2 / 3 ]

 "Selbstbewußt, d. h. frei  handeln heißt demnach: mit dem Bewußtsein der Bedeutung handeln, welche die Motive und Zwecke für die Persönlichkeit oder den Charakter des Wollenden haben."

"Es liegt nur daran, daß wir kleine Gefühlswerte nicht zu messen, bzw. aus unserer Gesamtstimmung nicht herauszufühlen verstehen, wenn wir glauben, daß die Gefühlsbegleitung gewisser Vorstellungen gleich Null sei. Wenn wir eine ganz feine Gefühlswaage hätten, die wir glücklicherweise außer im Zustand neurasthenischer Hyperempfindlichkeit nicht haben, so würden wir leicht konstatieren, daß jede auch noch so harmlose und für das Gefühl anscheinend neutrale Vorstellung, daß jede Farbe, jeder Ton, jeder Begriff, jedes Urteil, jeder Satz, den wir in der Zeitung lesen, einen, wenn auch noch so kleinen, doch immer reellen Gefühlswert für uns hat."


II. Die verschiedenen Formen des Determinismus und die Unzulänglichkeit ihrer jeweiligen Begründung.

3. Die Deutung der Gefühle (Motive) als Determinanten
oder der Gefühlsdeterminismus

Der "Gefühlsdeterminismus" (sit venia verbo [Man verzeihe das Wort. - wp]) ist, recht besehen, nicht eine neue Form des Determinismus gegenüber der empiristischen; er ist nur ein Komplement dazu. Der Gefühlsdeterminismus setzt alle die unter 2) besprochenen Faktoren, welche die Freiheit angeblich ausschließen, voraus, fühlt sich aber schließlich verpflichtet, die  Medien zu nennen,  durch welche inmitten jener determinierenden Faktoren in jedem einzelnen Fall die Entschließungen, respektive Handlungen herbeigeführt werden; als solche glaubt er die Gefühle, respektive das in jedem einzelnen Fall prävalierende [vorherrschende - wp] Gefühlsmotiv bezeichnen zu dürfen.

Sehen wir zu! Tatsächlich ist unser Wollen so oder so mit Gefühlen der Lust und der Unlust (mit Motiven) innig verflochten. Diese Verflechtung ruft der Erwägung, ob nicht alles sogenannte Wollen aus dem Mechanismus der Lust- und der Unlustgefühle als etwas schlechthin Notwendiges resultiere. Die Deterministen behaupten es. Sehen wir zu, ob sie es beweisen können:

Unbestreitbar ist zunächst folgendes: Es gibt kein absolutes Wollen, das nur Wollen überhaupt wäre; jeder Willensakt will etwas Bestimmtes. Dieses Objekt des Wollens ist ein bestimmter Erfolg oder Zweck. Das Wesentliche dieses Erfolges, weswegen er gewollt wird, ist eine Gefühls- oder Lustgröße. Was mir gleichgültig ist, was nicht so oder so meine Seele befriedigt, ihr eine Lust gewährt oder eine vorhandene Unlust vertreibt, daran kann ich nie meinen Willen setzen. Die Erkenntnis, daß jedes Wollen einen Zweck, d. i. einen Erfolg, d. i. ein Gut, d. i. eine Lust, respektive eine Befreiung von Unlust erstrebt ist unentfliehbar: und die Meinung, daß ein Partikel der Willensakte, nämlich die sittlichen, mit Lustgrößen nichts zu tun hätten (davon unbefleckt seien), ist ein Kantischer Traum, der freilich selbst als Traum unvollziehbar ist. Das Kriterium des Sittlichen und Unsittlichen kann nicht in etwas liegen, was jedem Willensakt unveräußerlich ist.

Fest steht also der Satz: "Ich will immer irgendwelche Gefühlgrößen, will sie um der Lust willen, die sie mir gewähren." Aber nun kehren mir die Deterministen den Satz alsbald um, indem sie sagen: "Die Gefühlsgrößen wollen mich." Sie sagen: Die Zwecke meines Wollens, die Lustgrößen, sind  Motoren  meines Wollens, treiben so oder so die Willensakte hervor. Anders gesagt: Mein sogenanntes Wollen ist durch die Motive determiniert. Der zuverlässig richtige Satz, daß all mein Wollen irgendwelche Gefühlsgrößen zum Ziel hat, ist damit verdrängt durch den wesentlich anderen, daß all mein Wollen eine Resultante des Gefühlsmechanismus ist. Zwar ist es die Meinung der Deterministen nicht, daß bei der Konkurrenz verschiedener mich bestimmender Gefühle die Sache wie in physicis nach dem Parallelogramm die Kräfte zur Entscheidung komme. Wenn die Lust, spazieren zu gehen und die Lust, einen schönen Roman zu lesen, mich gleichzeitig affizieren, so kann die Lösung nicht in der Diagonale der beiden Lustmotive stattfinden; ich werde das eine oder das andere tun und das für mich mächtigere Lustmotiv wird dabei den Ausschlag gegeben haben; es geht also hier nicht nach Analogie des Parallelogramms der Kräfte, vielmehr nach Analogie einer Waage.

Nun urteilt freilich der Normalmensch, daß der Wille als eine Potenz für sich über die miteinander ringenden Gefühle eine gewisse Herrschaft ausübe und sich für das eine oder das andere entscheiden könne. Der Determinist sagt ihm, das sei lauter Schein.

Nun urteilt freilich der Normalmensch, daß der Wille als eine Potenz für sich über die miteinander ringenden Gefühle eine gewisse Herrschaft ausübe und sich für das eine oder das andere entscheiden könne. Der Determinist sagt ihm, das sei lauter Schein. Nur für die oberflächliche Laienbetrachtung sei der Wille eine die Gefühle beherrschende Potenz; tatsächlich werde der Wille durch die Gefühle oder Motive ausgelöst. Der Laie urteile: "Ich habe wollend von den mich bestimmenden Gefühlsgrößen die und die erwählt"; der Wissende aber sage: "Ich bin von der und der Gefühlsgröße als der für mich mächtigsten zum Handeln determiniert worden". Eine freundliche Täuschung des Selbstbewußtseins spiegle dem Menschen vor, daß er ein Herr der Gefühle sei; tatsächlich sei er deren Knecht.

Also gibts für den Deterministen hier überall keine Freiheit? O doch, es scheint auch bei der dargelegten Schätzung der Motive noch Raum für Freiheit zu bleiben. Die Deterministen machen sich nämlich klar, daß unsere Willensakte sich doch wenigstens in  einem  Punkte von den Resultanten eines mechanischen oder chemischen Experiments unterscheiden:  sie sind durch Bewußtseinsakte vermittelt.  Und hier im Selbstbewußtsein scheint der Willensfreiheit bei allem Determinismus eine Freistatt aufgetan zu werden. "Freiheit", sagt der Determinist WUNDT, (1) "ist die Fähigkeit eines Wesens, durch  selbstbewußte Motive  unmittelbar in seinen Handlungen bestimmt zu werden." Wie ernst es mit dieser Freiheit gemeint ist, erhellt sich freilich schon daraus, daß sie durch das Passivum "bestimmt werden" definiert wird. Das klingt fast so hoffnungsvoll wie die Definition jenes weisen Thebaners unter den Theologen, der den  Willen  als die Summe der  unwillkürlichen  Strebungen des Menschen definierte. Aber hören wir jetzt WUNDT: Zwang, so lehrt er, ist überall dort, wo die unmittelbaren Ursachen des Handelns außerhalb des  Selbstbewußtseins  liegen. Doch genügt nach WUNDT das Vorhandensein psychischer Tätigkeiten als innerer Motive nicht als Kriterium der Freiheit. Der Träumende, der Geisteskranke handeln nicht frei, obgleich sie bewußten Motiven folgen. Ebenso sind die reinen Triebhandlungen unfrei; das eine (bewußte) Motiv, durch das sie determiniert sind, wirkt zwingend, weil keine anderen Motive im Bewußtsein existieren, welche jenes eine aufheben könnten. Zur Freiheit gehört nach WUNDT  Willkür,  d. i. die Wahl zwischen verschiedenen Motiven. Aber auch das genügt noch nicht; der Geisteskranke wägt auch verschiedene Motive gegeneinander ab; und dennoch ist seine Entschließung nicht frei. Was fehlt noch? WUNDT antwortet: "Nicht daß eine Wahl stattfindet, sondern daß  die Wahl selbst eine freie sei,  erscheint uns als das wahre Kennzeichen einer freien Handlung; und frei nennen wir die Wahl, wenn sie mit  Selbstbewußtsein  geschieht." Den Namen des Selbstbewußtseins braucht WUNDT in diesem Fall in der tieferen Bedeutung eines Bewußtseins der eigenen Persönlichkeit mit allen ihren auf der zurückgelegten Willensentwicklung beruhenden Eigenschaften.  Selbstbewußt, d. h. frei  handeln heißt demnach: mit dem Bewußtsein der Bedeutung handeln, welche die Motive und Zwecke für die Persönlichkeit oder den Charakter des Wollenden haben. Und ähnlich definiert WUNDT Seite 410: "Der Mensch handelt im ethischen Sinne  frei,  wenn er nur der inneren Kausalität folgt, welche teils durch seine ursprünglichen Anlagen, teils durch seine ursprünglichen Anlagen, teils durch die Entwicklung seines Charakters bestimmt ist." Es kommt also nach WUNDT darauf an, alle in der ganzen Persönlichkeit, in ihren Anlagen und ihrem Charakter konsolidierten Motive in die Helle des Bewußtseins zu rücken; findet eine Entscheidung in der Helle dieses Bewußtseins statt, so ist die Handlung frei. Wird dagegen ein Mensch den Augenblicksmotiven gegenüber nicht durch diese innere Kausalität seiner gesamten geistigen Persönlichkeit determiniert, so ist er im Handeln unfrei. Verstehen wir recht: eine absolute Determination (ein Müssen) findet nach WUNDT auch beim  freien  Handeln statt. Der Unterschied ist nur der, daß der Unfreie von einer Augenblicksaufwallung determiniert wird, während der sittlich  Freie,  dem das Selbstbewußtsein die ganze geistige Vergangenheit und die im Charakter konsolidierten Motive darbietet, von den in der ganzen Persönlichkeit abgelagerten Motiven determiniert wird.

Wie aber, wenn diese geistige Vergangenheit die Vergangenheit eines NERO oder CALIGULA ist? Wie, wenn in der Persönlichkeit, im Charakter sic nur die sinnlich egoistischen Motive in grauenerregender Stärke konsolidiert haben? Dann handelt eben nach WUNDT ein solches Individuum frei, wenn es durch seinen schlechten Charakter determiniert wird. Sittlich unfrei aber ist es, wenn es sich einmal von einem wohlwollenden Augenblicksaffekt zu einer Handlung verführen läßt.

Aber bleiben wir jetzt bei dem erfreulicheren Fall, daß eine Persönlichkeit ein gesegnetes Erbe im Mutterleib angetreten hat, in einem guten Milieu aufwachsen durfte und im Gehorsam gegen Verstandes- und höchste Vernunftmotive (2) ausgereift sei und daß dem Selbstbewußtsein im Augenblick der Entscheidung jeweils alle jene höchsten Motive gegenwärtig seien. Die Handlungen eines solchen Individuums sind auch absolut determiniert; aber es kann sich freuen, daß es muß,  gut  muß.

Aber wo ist in alledem ein Anlaß, von  Freiheit  zu reden? Das bleibt doch ein arger Mißbrauch eines Wortes, das sicher zu einem anderen Zweck erfunden ist. Es liebt bei WUNDT wieder jene durch  inneren  Zwang bestimmte oder psychologische Freiheit vor, über die KANT als über die Freiheit eines von einem Uhrwerk getriebenen Bratenwenders spottete. Der Name der Freiheit ist nun einmal nach normalem Sprachgebrauch nur dort zulässig, wo die Möglichkeit des Andersseins vorausgesetzt wird. Und gerade das leugnet WUNDT. Die von uns gedachte gute Persönlichkeit  muß sein,  was sie ist.

Oder täuschen wir uns? Liegt doch vielleicht nach WUNDTs Meinung etwas  wirkliche Freiheit  in jener intellektuellen Tätigkeit, die mir die in meinem Charakter konsolidierten Motive ins Bewußtsein rückt oder zu rücken unterläßt? Ist das vielleicht seine Meinung, daß es Sache meiner Freiheit (meiner  wirklichen  Freiheit) ist, ob ich mir die Motive in ihrer Ganzheit oder ob ich nur einen Teil derselben ins Selbstbewußtsein rufe? In diesem Fall hätten wir folgende plausible Vorstellung: Die einzelne Tat würde zwar durch die jeweiligen ins Selbstbewußtsein gerückten Motive durchaus determiniert sein. Aber ob ich die rechten und ganzen Motive ins Selbstbewußtsein gerufen oder nur einen Teil derselben und vielleicht die geringeren, bliebe irgendwie Sache der  Freiheit  (der  wirklichen  Freiheit); und damit wären  indirekt  auch meine Taten Sache der Freiheit. Meine bösen Taten bleiben dann meine freien Taten, sofern ich es willkürlich unterlassen, die idealen hemmenden Motive ins Selbstbewußtsein zu rufen.

WUNDT und seine Gesinnungsgenossen geben keinen Raum für diese Auslegung. Ob bei mir als einem Knecht des Augenblicks nur ein einzelnes sinnliches Motiv ins Bewußtsein tritt oder ob mir jeweils alle höchsten und im Charakter verfestigten Vernunftmotie in der vollen Helle des Selbstbewußtseins leuchten, das ist doch wohl nach WUNDT wie anderen Deterministen selbst wieder determiniert. Mein im Mutterleib angetretenes Erbe, zumal meine intellektuellen Anlagen und mein Gedächtnis, meine Erziehung usw. bestimmen doch die Enge und die Weite meines Selbstbewußtseins. Es hängt also im Sinn der Deterministen von Faktoren ab, die mir durch die Notwendigkeit zugewälzt sind, ob nur  ein  Motiv oder  einige  oder  alle  höchsten, meine Persönlichkeit konstituierenden Motive ins Selbstbewußtsein treten und mein Handeln bestimmen. Also lauter Notwendigkeit in allen Fällen; die durch selbstbewußte Motive bestimmte Tat, welche WUNDT frei nennt, hängt auch an der Kette der Notwendigkeit. - Der Determinist HOLBACH hat sich in seinem "Systéme de la nature" gerade über diesen Punkt sehr deutlich ausgesprochen. Er sagt (3): "Man hat den Menschen für frei erklärt, weil man sich einbildete, seine Seele könne sich nach Willkür Ideen zurückrufen, die bisweilen hinreichend sind, seine heftigsten Begierden im Zaum zu halten. Die Idee eines künftigen Übels hindert uns bisweilen, uns einem sich uns darbietenden Vergnügen zu überlassen. Eine Erinnerung, eine unmerkliche und flüchtige Modifikation unseres Gehirns vernichtet auf diese Weise in jedem Augenblick den Einfluß der wirklichen Gegenstände, die unseren Willen in Bewegung setzen. Aber es steht keineswegs in unserer Gewalt, uns unserer Ideen nach Willkür zu erinnern. Die letzteren sind ohne unser Wissen oder Zustimmung im Gehirn in eine gewisse Verbindung getreten und haben daselbst mehr oder minder tiefe Eindrücke hinterlassen. Unser Gedächtnis selbst hängt von unserer Organisation ab usw. ... Unsere Art zu denken wird notwendig durch den Zustand bestimmt, in welchem wir uns befinden. Sie hängt also von der Organisation und den Modifikationen ab, welche unsere Maschine unabhängig von unserem Willen empfängt. Dieses muß uns notwendig überzeugen, daß unsere Gedanken, unser Nachdenken, unsere Art zu sehen, zu empfinden, zu urteilen, Ideen zu verbinden usw. nicht weniger als willkürlich oder frei sein könne. Mit einem Wort, unsere Seele gebietet keineswegs über die Bewegungen, welche in ihr vorgehen und es steht nicht bei ihr, sich so oft es nötig ist, die Bilder und Ideen vorzuhalten, welche fähig wären, ihren anderweitig erhaltenen Eindrücken das Gegengewicht zu halten." So HOLBACH. Es gibt also nach diesem Philosophen keine Freiheit in der Weise, daß wir nach Willkür Motive ins Bewußtsein zu rufen imstande wären, so den Einfluß anderer Motive paralysieren und mithin  indirekt  frei handeln könnten. All unser Denken und alles wie immer sonst beschaffene Auftauchen der Motive im Selbstbewußtsein ist immer nur Glied in der unzerreißbaren Kette der Notwendigkeit. Und ich denke nicht, daß WUNDT oder ein anderer Determinist diese HOLBACHschen Gedanken wird ablehnen wollen. WUNDT wird auf seinem Boden lehren müssen, daß der eherne Arm der Notwendigkeit sich auch in den Akten des Selbstbewußtseins auswirkt; die von den höchsten Vernunftmotiven geleiteten sittliche Genien, wie SOKRATES und JESUS, sind ebenso schlechthin gebunden wie der Elende, der, von einer eifersüchtigen Augenblicksaufwallung geleitet, den Freund niedersticht. Der ganze Urteils-, Erinnerungs- und Motiveprozeß der im Selbstbewußtsein des "sittlichen Heros" vor sich geht, macht die Notwendigkeit des Gefühlsmechanismus, der nach der Lehre der Deterministen die Taten auslöst, auf keinem Punkt lockerer.

Wir haben zuvor die Frage aufgeworfen, ob nicht etwa trotz aller determinierenden Motive Freiheit möglich bleibe, weil die Handlungen durch Bewußtseinsakte vermittelt sind. Es ist (trotz WUNDTs irreführender Terminologie) auf deterministischem Boden nur ein klares  Nein  möglich gewesen. Wir stehen also nach dieser Zwischenerwägung am  alten  Ort; das Evangelium des Determinismus lautet, gleichviel, ob die Taten mit oder ohne Selbstbewußtsein zustande kommen, schließlich: Nicht der Wille regiert die Gefühle, sondern die Gefühle regieren den Willen. Und wenngleich dir auch das Bewußtsein vorspiegeln mag, daß du selbstherrlich dein Leben lenkst, so bist du doch tatsächlich dem eigenen Leben gegenüber ein inaktiver Zuschauer, der leidlich abwarten muß, zu welchen Handlungen die Gefühle, respektive Motive dich zu determinieren belieben.

 Meine Kritik dieser Motivetheorie:  Diese Lehre besteht aus lauter Behauptungen, sie transzendiert schlechthin jede Erfahrung. Wer hätte denn je bewiesen, daß in meinen Anlagen, Gefühlen usw. die zureichenden Gründe meiner Taten oder auch nur einer einzigen meiner Taten gegeben seien! Wer hätte je bewiesen, daß in der Summe der determinierenden Faktoren eine einzige Tat  ohne  Rest begründet sei, daß jedes Plus selbstherrlicher Willenskausalität zum Entstehen der Tat entbehrlich, ja ausgeschlossen sei! Ich nage z. B. inmitten von allerlei Verlockungen geduldig an dieser harten Nuß, an der sich schon manch' ein Besserer die Zähne ausgebissen hat, dem Freiheitsproblem. Die Deterministen sagen, meine geduldige Arbeit, über der ich "des Lebens goldenen Baum" derweilen unbeachtet lasse, erkläre sich aus meinen Anlagen und den in mir wirksamen Motiven vollständig. Kann sein! Aber statt es immer nur zu behaupten, hätte man es ehrenhalber zu  beweisen.  Tatsächlich behauptet man es nur. Keine Rede davon, daß die Deterministen durch die Analyse der Erfahrungsweilt ihren Satz gefunden, durch die legitime Nötigung von Tatsachen zu demselben geführt worden sind! Vielmehr steht den Deterministen das Dogma, es könne so etwas wie Freiheit nicht geben, a priori fest und von diesem apriorischen Satz aus wird hernach das Wirkliche (des Menschen Handeln) zurechtgedrückt; und wenn es sich nicht schicken will, ruft man gelegentlich Gewalt zu Hilfe. - Es wäre unpassend, den Beweis des Determinismus unzulänglich zu nennen; wir haben tatsächlich keinen solchen Beweis und auch nicht einmal den ernsten Versuch eines solchen zu hören bekommen.


III. Positive Widerlegung des Determinismus.
Die Realität des Willens.

Wir haben unter II. das Negative zu leisten gesucht, indem wir darlegten, daß der Determinismus nicht zulänglich begründet sei. Ich wende mich zu dem Größeren, der positiven Beweisführung, daß der Determinismus ein Irrtum ist, weil er der Wirklichkeit in einem entscheidenden Punkt nicht gerecht wird.

Gehen wir von einer notorischen Tatsache aus, dem Konflikt der deterministischen Theorie mit der breiten Alltagserfahrung. Theorien haben doch wohl die Aufgabe, das Wirkliche zu beschreiben und in klaren Sätzen zu formulieren. Daß der Determinismus das tut, springt nicht eben klar in die Augen. Wenn ein Marsbewohner zu uns käme und bevor der die Menschen kennen lernt, erste die deterministische Theorie studierte, müßte er vom Menschen sich ein wunderliches Bild machen. Er müßte erwarten, den Menschen seinen eigenen Taten gegenüber in der Lage eines Zuschauers zu finden, der von wohlgepolsterter Theaterloge aus ruhevoll zusieht, was werden will, - zusieht, welches Gefühl oder Motiv in jedem gegenwärtigen Augenblick die Übermacht erlangt und eine Reflexhandlung auslöst; denn alle wie immer sonst beschaffenen Handlungen der Menschen müßten ihm aufgrund der deterministischen Theorie als durch Gefühle ausgelöste Reflexe gelten.

Hintendrein trifft er die Menschen in wesentlich anderer Verfassung: ihr Arbeiten, Laufen, Rennen und all ihre Gebärden intensiver Anstrengung zeigen nicht das Bild von müßigen Zuschauern. Und wenn der Marsbewohner einen der Irdischen über die auffallenden Phänomene der Anstrengung interpelliert [Anfrage an die Regierung - wp] , so wird ihm derselbe erklären: Ich fühle mich durchaus nicht als passiver Zuschauer, der dem durch Gefühle determinierten Lust- oder Trauerspiel meines Lebens seinen unaufhaltsamen Lauf lassen muß. Ich befinde mich vielmehr den auf mich eindringenden Gefühlen der Lust und der Unlust gegenüber in intensiver Anspannung, in energischer, ja erschöpfender Tätigkeit. Ich überlasse es nicht den Gefühlen (Motiven), in gegenseitiger Konkurrenz miteinander zu rivalisieren und durch ihr eigenes Schwergewicht einander zu überwinden und mich zu Reflexhandlungen zu veranlassen; ich spreche vielmehr selbst ein entscheidendes Wort mit; als Kämpfender, Duldender, Ordnender bestimme ich, welche Gefühle als Motive von Fall zu Fall mein Handeln bestimmen dürfen. Gleich jenem Prototyp der kämpfenden Menschheit, dem HERAKLES, der mit einer vierköpfigen Hydra rang und Kopf um Kopf und immer wieder nachwachsende Köpfe abschlug, so ringe ich mit meiner Gefühlswelt als einem vielköpfigen Drachen und schlage oft mit der Waffe eines kategorischen "Ich will nicht" auf das vielköpfige Ungetüm der mich bedrängenden und versuchenden Affekte.

So erklärt sich der Normalmensch gegenüber jenem Marsbewohner. Ihm gilt das Ich (der Wille) als eine eherne mächtige Realität gegenüber allen Gefühlen. In der Tat, wenn die Theorie der Gefühlsmechanisten richtig wäre, so wäre nicht HERAKLES das Prototyp der echten Menschen, der Zeussöhne. Eine sensible Reflexmaschine, ein überempfindliches hysterisches Weiblein wäre dann das Prototyp.

In der Lage des Alkiden, der mit Hydren rang und Leuen erwürgte und selbst den Weg in den Hades nicht scheute, fühlen sich alle ernsthaften Menschen; sie fühlen sich nicht als müßige Zuschauer des Motivmechanismus, die ihre eigenen Taten als unvermeidliche Reflexe erleiden, vielmehr als Kämpfer, deren Würde nach dem Maß ihrer Tapferkeit und Ausdauer taxiert werden muß.

Nach dem Deterministen ist nun freilich dieses ganze herakleische Selbstgefühl lauter Selbsttäuschung. Und wer ein wissenschaftlicher, d. h. mit Realitäten umgehender Mensch werden will, muß dieses Selbstgefühl zu den Toten legen und, die Praxis der "wissenschaftlichen Einsicht" anpassend, wird er nicht ruhen, bis er sich der Motivwelt gegenüber als erleidenden Zuschauer fühlt und von Minute zu Minute gelassen abwartet, was seine Motive an sogenannten Handlungen in ihm auszulösen belieben.

Indessen können wir es nun nicht abwarten, ob die Menschheit, von "deterministischer Einsicht" erleuchtet, dem HERAKLES-Ideal absterben und dem Vorbild einer Reflexmaschine zugravitieren will. Wir übernehmen die hoffnungsvollere Aufgabe, zu prüfen, ob nicht am Ende jene herakleischen Ansprüche der Menschheit legitim sind, d. h. der Wirklichkeit entsprechen.

Aber wie werden wir vorgehen? Werden wir uns zur Entscheidung der Sache vielleicht auf ein  unmittelbares  sittliches Bewußtsein beruhen dürfen? Ein Denker ersten Ranges, LOTZE, weist uns diesen Weg. Er sagt im Mikrokosmus I ( Seite 292): "Daß die Gesamtheit aller Wirklichkeit nicht die Ungereimtheit eines überall blinden und notwendigen Wirbels von Ereignissen darstellen könne, in welchem für Freiheit nirgends Platz sei: diese Überzeugung unserer Vernunft steht uns so unerschütterlich fest, daß aller übrigen Erkenntnis nur die Aufgabe zufallen kann, mit ihr als dem zuerst gewissen Punkt den widersprechenden Anschein unserer Erfahrung in Einklang zu bringen." Diese pathetische Äußerung des großen Denkers könnte die, welche sich mit gelassener Seele, als ob es sich um eine Handvoll Nüsse handelte, die Freiheit wegdisputieren lassen, aufwecken. Freiheit gilt LOTZE als eine Position von so eminenter Wichtigkeit, daß er aller, also  aller  übrigen Erkenntnis die Aufgabe zuweisen möchte, den etwa widersprechenden Anschein unserer Erfahrung damit in Einklang zu bringen. Dagegen ist nichts einzuwenden. Aber daß ihm die Position als "Überzeugung unserer Vernunft" von Anfang an unerschütterlich feststeht, darin mag ich ihm nicht zu folgen. Auch würde ich, wenn ich sie hätte, mit dieser Überzeugung die "Vernunftüberzeugung" der Deterministen, daß so etwas wie Freiheit nicht existieren kann, daß jedes Element der Wirklichkeit seine Ursache haben muß, nicht überwinden können. Da gehören  Gründe  und  Einsichten  her. Es handelt sich um eine ordentliche Analyse der Wirklichkeit; die Frae ist, ob uns diese Analyse Freiheit als etwas Wirkliches offenbart. Wir können auf legitime Weise immer nur bejahen, was uns in irgendeiner Form der Erfahrung entgegentritt und sich als ein Wirkliches ausweist. Wir wollen jetzt nicht vergessen (was LOTZE an anderer Stelle lehrt), daß Wissenschaft immer genau soweit reicht, als die Möglichkeit (bzw. Wirklichkeit) des Beweises und Gegenbeweises. Es handelt sich um nichts Geringeres als einen Beweis. Die Frage ist, ob es empirische Realitäten gibt, in denen uns Freiheit entgegentritt, die also einen Beweis der Freiheit möglich machen oder ob es eine solche nicht gibt.

Nun zur Sache! Stellen wir erst einmal ein paar elementare Sätze fest:
    1. Unser Wollen (gleichviel was es im übrigen sei, frei oder unfrei) hat jedenfalls, wie schon früher dargelegt, immer und unvermeidlich die Realisierung von Gütern zum Ziel. Wollen heißt in concreto immer, ein bestimmtes Übel beseitigen, ein bestimmtes Gut herbeiführen wollen.

    2. Der wesentliche Bestandteil des Übels, um dessentwillen es uns als Übel gilt, ist der Schmerz, den es uns bereitet. Der wesentliche Bestandteil des Gutes ist die Lust, die es mir gewährt oder verspricht. Abseits vom Schmerz ist schlechterdings nichts, wodurch mir ein Ding zum Übel würde; abseits von der Lust ist nichts, wodurch mir ein Gut wirklich ein Gut wäre. Alle wie immer beschaffene Werte stehen auf der Empfindung von Lust und Leid. - Wen es etwa empören sollte, daß der Lust so hohe Bedeutung eingeräumt wird, mache einmal die Annahme, daß uns bei aller intellektuellen Begabung die Möglichkeit, Lust und Leid zu empfinden, abhanden käme. Kann er zweifeln, daß damit auch jeder Wertbegriff für uns verschwunden ist? Und alle Taten, auch Raub und Mord und was uns jetzt als verabscheuungswürdig gilt, würden jetzt ein absolut harmloses Geschehen sein, weil weder ich noch sonst jemand dadurch ein Unbehagen erleiden würden. - Es bleibt dabei: jedes wie immer sonst beschaffene Gut steht auf der Lust, jedes Übel auf dem Schmerz.

    3. Der Begriff des Gutes (bzw. des Übels) umspannt nicht bloß einen Partikel unserer Phänomenalwelt, sondern die ganze. Denn Lust und Unlust sind Begleiterscheinungen unserer sämtlichen Phänomena. Es liegt wohl nur daran, daß wir kleine Gefühlswerte nicht zu messen, bzw. aus unserer Gesamtstimmung nicht herauszufühlen verstehen, wenn wir glauben, daß die Gefühlsbegleitung gewisser Vorstellungen gleich Null sei. Wenn wir eine ganz feine Gefühlswaage hätten, die wir glücklicherweise außer im Zustand neurasthenischer Hyperempfindlichkeit nicht haben, so würden wir leicht konstatieren, daß jede auch noch so harmlose und für das Gefühl anscheinend neutrale Vorstellung, daß jede Farbe, jeder Ton, jeder Begriff, jedes Urteil, jeder Satz, den wir in der Zeitung lesen, einen, wenn auch noch so kleinen, doch immer reellen Gefühlswert für uns hat. Alles, was in unserer Seele aufleuchtet, liefert seinen Beitrag zur Gesamtstimmung (zum Gesamtgut oder Gesamtübel) meines Lebens.
Suchen wir nach diesen elementaren Darlegungen den Begriff des Zweckes und dessen Verhältnis zum Motiv genauer zu fixieren:

Unter Zwecken verstehen wir der Seele vorschwebende  zukünftige  Güter. In dem Augenblick, da sie aufgehört haben, zukünftig zu sein, weil sie  wirklich  geworden sind, haben die  >Zwecke aufgehört, Zwecke zu sein.

Die  Vorstellung  eines Zwecks ist selber nicht zukünftig, sondern gegenwärtig in meiner Seele. Diese gegenwärtige Vorstellung eines in der Zukunft stehenden Zwecks hat wie jede Vorstellung ihre Gefühlsbegleitung. Diese Gefühlsbegleitung der  Zweckvorstellung  wird Motiv oder Beweggrund meines Willens, der Realisierung des Zwecks nachzujagen.

Die Größe der Lust (bzw. des Schmerzes), womit ein vorgestellter Zweck meine Seele zu affizieren vermag, begrenzt sein Gewicht als Motiv. Jeder in der Zukunft stehende Zweck hat so viel Motivationsgewicht, als er meine Seele mit  gegenwärtiger  Lust (bzw. gegenwärtigem Leid) zu erfüllen vermag. Entfernte Zwecke können in meiner Seele nicht wirken mit dem Gewicht  der  Lust, die sie dereinst, wenn sie verwirklicht sind, mir gewähren mögen. Die himmlische Seligkeit z. B. wirkt in der Seele des Frommen nicht mit dem ungeheuren Gewicht  der  Freude, welche dereinst in der Erfüllung beschlossen sein mag; sie wirkt - das Selbstverständliche muß hier nachdrücklich gesagt werden - nur mit dem Gewicht  der  Freude, womit sie gegenwärtig in Gestalt der Hoffnung usw. seine Seele zu erwärmen vermag. (4) Die in der Zweckvorstellung beschlossenen Motive oder Willensimpulse sich schlechthin  präsentische  [gegenwärtige - wp] Größen.



Aber nun die Frage: Wird bei der unvermeidlichen Verflechtung unseres Wollens mit Lust- bzw. Schmerzmotiven das Wolen nicht notwendig als eine durch die Motive ausgelöste Reflexerscheinung sich darstellen? Wie kann man bei der Unvermeidlichkeit jener Motivation noch hoffen, die Willensfreiheit zu retten?

Antwort: Das kann man, sofern man sich von den Tatsachen leiten läßt.

Zur Sache:  Ich anerkenne  bei allem Wollen die Unentbehrlichkeit der Gefühlsmotive; aber ich bestreite, daß diese Motive die zureichenden Kräfte sind, durch welche unsere Willensakte nach der Weise von Reflexen ausgelöst würden.

Ich urteile: Wäre unser Handeln eine durch unsere Gefühle (d. i. die Motive) ausgelöste Bewegung, ein wenn auch unbewußtes Gestoßenwerden, so müßte unser Handeln in jedem Augenblick, dem stärksten Motive nachgebend, die höchste für  diesen Augenblick  erreichbare Lust realisieren.

Und solches oder doch annähernd solches Geschehen läßt sich ja wirklich beobachten. Der Faule, ungerührt durch alle entfernt liegenden und nur mit Entsagung erreichbaren Güter, spricht zu sich: "Schlafe noch ein wenig, schlummre noch ein wenig, schlage die Hände ineinander, damit du schlafest!" Und wenn der Halbschlummer gewichen, hält er fortgesetzte Zwiesprache mit seiner Seele: "Was magst du nun? Was kann dich in den nächsten Minuten kitzeln und am besten ergötzen? Ist vielleicht etwas tüchtige Gedankenarbeit gefällig?" O nein!  Von der  Seite kommt kein obsiegendes Lustmotiv. Dann vielleicht, damit dir bei der Arbeitslosigkeit die böse Langeweile fern bleibe, das große Surrogat der Gedanken und der Anstrengung, die Zigarre und eine Zeitung dazu zur Anregung eines angenehmen Gedankenspiels?" Sehr angenehm! Und hernach? Am besten eine zweite und dritte Auflage von beidem, bis dem nun doch nachgerade etwas monotn werdenden Vormittagsvergnügen der Frühschoppen Abwechslung bringt und begleitendes Gespräch mit gleichstrebenden Kommilitonen die Seele auf die Höhen der Menschheit führt. Nach diesen Taten werden die vier oder sechs Gänge eines ordentlichen Dinner, der schwarze Kaffee und die Havannas und des Skates prickelnde Reize und unendliche Variationen wieder ein paar Stunden weiterhelfen, bis die ordentliche Bierstunde gekommen ist und bis die Nacht nach des Tages Plage ihre Lust bringt.

Ein ähnliches Paradigma wie der Faule ist der Trinker: die höchste für den Augenblick erreichbare Lust bestimmt ihn. For mit den Grillen und Sorgen, fort mit allen Gedanken an die Zukunft, ist sein Leitmotiv. Alle Güter und Übel der kommenden Tage, Ehre, Wohlstand, Gesundheit, gesegnetes Familienleben einerseits, Armut, Schande, Krankheit, Jammer von Weib und Kind andererseits kommen nicht als obsiegende Motive zur Geltung. Er lebt für den Augenblick und das Höchste, was für den Augenblick erreichbar ist, ist noch ein Glas und noch ein Lied, noch ein Scherz und noch eine Albernheit - bis zur Bewußtlosigkeit.

Paradigmen also, wie sie jener Gefühlsdeterminismus erwarten läßt, liegen vor. (5) Aber diese Paradigmen entsprechen nicht dem Gewöhnlichen, nicht dem Normalen, geschweige dem Idealen. Die normalen Menschen und gar die Helden zeigen ein ganz anderes Verhalten. Es ist eine Tatsache: wir sind unter normalen Verhältnissen imstande, eine kleinere Lust als die im Augenblick mögliche zu wählen; ja wir sind imstande, der Lust den Abschied zu geben und den Schmerz zu wählen.

Beispiele: Ein Landmann trägt in der Ernte 16 bis 18 Stunden des Tages Last und Hitze. Er hätte die physischen, die psychischen und die materiellen Mittel, sich einen Festtag zu machen; und doch keucht und schwitzt er 16 Stunden im Sonnenbrand. Ist das ein Ergebnis des Gefühlsmechanismus? Die Deterministen werden es behaupten, weil sie es, ihrer Theorie gehorsam,  müssen;  ein obsiegendes Lustmotiv determiniere ihn zur schweren Mühe. Wir andern nehmen die Sache vorläufig als Beleg dafür, daß es einem Menschen möglich ist, ad interim [vorübergehend - wp] den Schmerz zu wählen.

Ein normaler Student läßt bisweilen des Lebens goldenen Baum mit allerlei lockenden Früchten stehen und mutet sich in Geduld schwere andauernde Arbeit zu.

Ein Steuermann, dem Jugend, Gesundheit, gesegnetes Familienleben beschert sind, gibt beim Ausbrechen eines Feuers im Schiff jenem behaglichen Zustand den Abschied, steht in Rauch und Feuer am Steuerruder und opfert das Leben.

Manch ein Blutzeuge erduldet Marter und Tod, die er sich mit einem leichten Wort vom Leib halten könnte. Manch ein Kranker erduldet die schmerzhafteste Operation, der er sich mit einem Wort entziehen könnte.

Wie steht es nun in diesen Fällen? Etwa so, daß sich diese Menschen der Leitung durch Güter und Übel (Lust und Unlust) völlig entschlagen haben? Vielleicht so, daß sie (kantisch) der Pflicht gehorsam sind, ohne irgendeiner eudämonistischen Motivation zu bedürfen, - oder so, daß sie (schopenhauerisch) das Wunder rein altruistischen Wollens fertig gebracht haben? Keineswegs. So etwas gibt es nicht. Wie früher festgestellt, kann sich kein lust- und leidempfängliches Wesen der Leitung durch eudämonistische Motive je entziehen. Was wir dem Eudämonismus [Selbstliebe - wp] gegeben haben, fordern wir nicht wieder zurück. Alle die genannten Menschen lassen sich, bewußt oder unbewußt, mit klarer Einsicht oder instinktiv durch Lust- und Schmerzmotive leiten.

Also behielte doch der Gefühlsmechanismus recht? O nein! Denn in diesem Fall müßte ihr Handeln ganz anders ausfallen. Der Landmann würde alsbald der drückenden Hitze und großen Anstrengung entfliehen und sich im Schatten gütlich tun. Der Student würde die schwere, erschöpfende Arbeit ruhen lassen. Und ähnlich in den anderen Fällen.

Aber wie denn endlich? Diese Menschen sollen unvermeidlich durch eudämonistische Motive geleitet und doch der Gravitation der Gefühle nicht untertan sein? Allerdings, so ist es.  Das ist eben die Aporie und die Lösung dieser Aporie ist die Lösung der Willensfrage.  Lösen wir dieselbe - Deo adjuvante [mit Gottes Hilfe - wp]:

Evident ist zunächst in den angeführten und allen ähnlichen Beispielen, daß die also Handelnden durch die  Lustbilanz  sich leiten lassen. Der Kranke, der sich eine Wunde ausbrennen läßt, tut es um eines allem Schmerz der Operation weit überlegenen Gutes willen. Der Steuermann wäre ganz unfähig, für seine Mitmenschen den Feuertod zu sterben, wenn er nicht dadurch ein allen Schmerzen des qualvollsten Todes überlegenes Gut auch für sich behauptete. Und wer immer arbeitend, kämpfend, leidend sich für die Brüder opfert, kann solches nur, wenn und sofern ihm ein alle Schmerzen der Hingebung überragendes persönliches Gut winkt.

Aber nun beachte man in diesen Beispielen: es ist der Schmerz, den diese Menschen an sich kommen lassen, da als ein aktueller von großer Intensität. Die Güter oder Zwecke dagegen stehen in der Zukunft und die Vorstellung der Zwecke umschließt kein dem Schmerz überlegenes Lustgefühl oder Motiv.

Oder vielleicht doch? Die hartnäckigen Deterministen werden ihrer Theorie zuliebe die Behauptung wagen, daß jene paradigmatischen Menschen den für sie so viel Schmerz einschließenden Weg nur gehen konnten, weil das zukünftige Gut in Gestalt der Hoffnung (oder wie auch immer) als eine dem gegenwärtigen Schmerz überlegene gegenwärtige Lust in die Seele hineinstrahle, also rein mechanisch den Schmerz überwältige, bzw. als Motiv die beschriebenen Handlungen auslöse.

Ich halte das angesichts der Empirie für eitle Ausflucht. Das Angesicht der Menschen ist ja doch ein Spiegel der Seele, ein unverdächtiger Zeuge ihrer Leiden und Freuden. Seht doch den Kranken auf dem Operationstisch, den Steuermann JOHN BROWN im Feuerqualm, den Märtyrer in Todesqual! Wo bleibt die Freude? Strahlt eine große Lust so von eines Menschen Angesicht? Ihr Gesicht ist von Schmerz verzerrt; und von einer dem Schmerz überlegenen Lust malt sich darauf nichts.

Gewiß wirft das zukünftige Gut, um dessentwillen wir gegenwärtigen Schmerz gewählt, in Gestalt der Hoffnung einen Vorgeschmack der Freuden in unser Herz. Aber dieses Angeld [Vorauszahlung - wp] ist eine relativ kleine Lust, die ganz außerstande ist, durch ihr eigenes Gewicht dem intensiven gegenwärtigen Schmerz zu obsiegen; und so bleibt es ganz hoffnungslos, den vorliegenden Tatbestand durch Gefühlsmechanismus zu erklären.

Die Sache ist diese: Der Kranke, der sich ohne Narkose operieren läßt und so ein großes gegenwärtiges Leiden wählt, hält sich an ein fernes Gut (die Gesundheit), das nicht als ein dem Schmerz überlegenes Lustmotiv die Seele okkupiert. Und eben dieses  "Sich dran halten",  dieses  "Festhaltenkönnen"  offenbar uns eine der Gefühlsgravitation überlegene Realität und macht den Gefühlsmechanismus zu schanden.

Ich bringe unsere Erkenntnis in Form eines Syllogismus zum Ausdruck:  Es liegt in den Handlungen der Menschen tausendfach ein Geschehen vor, das durch den Gefühlsmechanismus unmöglich herbeigeführt sein kann. Trotzdem der Gefühlsmechanismus die zureichenden Ursachen nicht enthielt, ist das Geschehen doch wirklich geworden. Folglich muß eine weitere Potenz vorhanden sein, durch welche es doch zustande kam. Diese andere Potenz (6) nenne ich Willen. 

Was ist derselbe? Sagen wir lieber zunächst, was er nicht ist. Der Wille offenbart sich in den beschriebenen Fällen nicht als die Potenz, die eudämonistischen Motive zu eliminieren und sich der Wegleitung von Gütern und Übel zu handeln. Er ist die Kraft, über kleinere oder größere Zeiträume hinweg an Gütern  festzuhalten,  die sich keineswegs als intensive gegenwärtige Lust geltend machen. Der Wille ist eine zeit überspannende  Potenz, ein Vermögen, die Gefühle im Blick auf die Zeit, ja im Blick auf die Ewigkeit zu disziplinieren. Hätten die Anhänger des Gefühlsmechanismus recht, so müßten alle unsere Handlungen sub specie momenti [im Licht des Augenblicks - wp] erfolgen, bzw. als Reflexe ausgelöst werden, wie es beim Säugling und beim Sinnenknecht ja annähernd der Fall ist. Beim Potator [schwerer Drinker - wp] z. B. ist die Fähigkeit, sich an ferne Güter zu halten, sehr reduziert; d. h. der Wille ist erweicht, fast auf nichts reduziert. Beim Normalmenschen dagegen zeigt sich diese Potenz, der Wille, in kräftiger Aktion; beim Idealmenschen ist sie vollends die souveräne Potenz, die das ganze Gefühlsleben sub specie aeternitatis [das Ich im Hinblick auf die Ewigkeit - wp] diszipliniert.

Die Gefühlsmechanisten (bzw. die Deterministen) haben bei ihrer Theorie eine Kleinigkeit übersehen, nämlich die  ungeheure Realität der Zeit  und unser Vermögen, die Gefühle im Blick auf diese Realität zu disziplinieren. Hier wird der Mensch als ein dem Augenblick überlegenes Zeitwesen, in seiner höchsten Form sogar als Ewigkeitswesen offenbar.

Daß das Willensproblem und das Zeitproblem auf das Engste zusammenhängen, dürfte klar sein. Im übrigen aber wird nun manch einer sagen, es sei gewagt, die Realität des Willens (oder der Freiheit) auf die Realität der Zeit abzustellen, wo doch seit KANT feststeht, daß die Zeit nur eine apriorische Form der Anschauung sei. Es "steht" nun freilich vieles "fest", was morgen doch am Boden liegt. Aber ich bin doch genötigt, im Interesse des Willensproblems das Zeitproblem aufzurollen und die Realität der Zeit zu  erweisen. 
LITERATUR - Adolf Bolliger, Die Willensfreiheit, Berlin 1903
    Anmerkungen
    1) WILHELM WUNDT, Ethik, 1. Auflage, Seite 397
    2) WILHELM WUNDT, Ethik, 1. Auflage, Seite 440 - 447
    3) HOLBACH, System der Natur, Frankfurt und Leipzig 1783, Bd. I, Seite 213 - 217
    4) Es sei hier beiläufig auch noch eine andere Selbstverständlichkeit festgelegt: Es muß immer eine Lust  meiner  Seele sein, was ihr Motiv oder Willensimpuls werden soll. Wenn WUNDT (Ethik, Seite 440) die Zwecke in zwei Gebiete teilt, von denen das eine die auf die Förderung des eigenen Selbst gerichteten Lebenszweck umfasse, das andere diejenigen, welche dem Vorteil der Nebenmenschen oder der sozialen Gemeinschaft dienen, - und wenn er das erste Zweckgebiet auf die eigennützigen, das andere auf die gemeinnützigen Triebe abstellt, so liegt da ein psychologischer Irrtum vor. Ich kann mein eigenes fühlendes Ich nie überfliegen. Ich kann die Förderung meiner Kinder, der Gemeinde, des Vaterlandes mir immer nur zum Zweck setzen, sofern diese Förderung so oder so mir selbst Befriedigung gibt. Und alle wie immer beschaffenen höchsten Vernunftzwecke können meine Sache immer nur soweit sein, als sie auch für mich selbst ein Gut sind. Es bleibt also wider jene WUNDTsche Zweiteilung unser ceterum censeo [intensiv verfochtenen Ansicht - wp]: was nicht so oder so mir selbst Befriedigung gibt, kann nicht Motiv meines Handelns sein. Und alle wie immer beschaffenen Zwecke bis zum höchsten Liebesdienst an den Brüdern wirken als Motiv oder Willensimpuls nur mit dem Gewicht  der  Lust, welche deren Vorstellung in mir erweckt.
    5) Freilich, keines dieser Paradigmen entspricht ganz dem, was zu erwarten wäre. Keines der angeführten Paradigmen zeigt eine  reine  Gefühlsgravitation und absolute Willenserweichung; Spuren dessen, was ich demnächst als  Willen  ins Licht stellen werde, sind hier noch überall vorhanden.
    6) Vielleicht läßt sich ein Determinist einfallen, zu sagen, die andere Potenz, welche hier entdeckt werde, sei weiter nichts als Fleisch und Blut, das im Mutterleib angetretene Erbe, die Erziehung, das Milieu usw. Der Einfall wäre ein Irrtum. Die Frage war ja eben die, ob ein Mensch von Fleisch und Blut, der dieses oder jenes elterliche Erbe angetreten hat, so und so erzogen worden ist, in diesen und diesen Verhältnissen aufgewachsen ist, durch Gefühle in seinem Handeln determiniert werde; die Frage ist, ob der inmitten jener wie immer "determinierenden" Faktoren aufgewachsene Mensch in seinem Handeln rein durch Gefühlsmotivation bestimmt werde. Die Frage ist verneint. Wer nun für das fehlende Plus jene "determinierenden" Faktoren, die ja schon verrechnet sind, noch einmal verrechnen wollte, handelt ungereimt. Noch wichtiger ist, daß jene "determinierenden" Faktoren allzumal, auch wenn sie nochmals in Anschlag gebracht werden dürften, nicht derart sind, das Phänomen der "Zeitüberspannung" zu erklären.