cr-2 Wilhelm WundtAlexius MeinongCarl Stumpf    
 
ANNA TUMARKIN
Wie ist Psychologie
als Wissenschaft möglich?


"Jedes Erleben ist ein Ausgleich zwischen dem erworbenen seelischen Zusammenhang und dem neu hinzukommenden Eindruck, ein Kampf um das seelische Gleichgewicht. Je nachdem, ob wir an sein greifbares Resultat, den neugewonnenen gegenständlichen Inhalt, denken oder an die durch ihn ausgelöste bewegende Kraft, oder an das allgemeine Bewußtsein des Gleichgewichtszustandes, sprechen wir von Erkennen, Wollen oder Fühlen. Die objektive Einheit des Bewußtseins bleibt das Ziel, von dem aus wir alle diese Erscheinungen des Seelenlebens verstehen."

"So erscheint die geistige Krankheit als das Produkt einer Auseinandersetzung zwischen dem Willen zur individuellen Selbsterhaltung und dem Willen zur Objektivität des Bewußtseinsinhaltes, zwischen dem subjektiven und objektiven Zweck des Lebens, deren harmonischen Ausgleich der Kranke aus inneren oder äußeren Gründen nicht mehr zu finden vermag. Einen Kranken verstehen heißt also, den Ausgang dieser Auseinandersetzung erkennen, was den Kranken gerade zu diesem Ausgang getrieben hat. Ein Wahnsystem verstehen heißt nicht sich gefühlsmäßig hineinversenken, sondern verstehen, warum gerade dieser Wahn für den Kranken zur Lebensnotwendigkeit wurde, als Rettung, als Flucht aus der unerträglichen Wirklichkeit, warum der Zweck der individuellen Selbsterhaltung es für ihn notwendig machte, das Bild der Wirklichkeit in dieser Weise zu verfälschen."

Fragen wir nach dem besonderen Gegenstand, den die Psychologie zu behandeln hat, nach dem Psychischen, als einer besonderen Form der Wirklichkeit, so tritt uns das uralte ewige Rätsel vom Leben entgegen, das sich dem Menschen seit den ersten Anfängen seiner philosophischen Entwicklung immer von Neuem aufdrängt.

Scheinbar so selbstverständlich, das am unmittelbarsten Gegebene, erscheint doch das Leben völlig problematisch, unfaßbar, sobald wir es begrifflich fixieren wollen. Wie sollen wir es in unserer dem begrifflichen Denken angepaßten Sprache formulieren, da es selber nicht begrifflich, sondern unmittelbar gegeben ist? Wie sollen wir es auch nur in schweigender Betrachtung für uns selbst fixieren, da das flüchtige Leben unserer Betrachtung nicht still steht und in dem Augenblick, wo wir seine lebendige Flut halten wollen, uns entschwindet. Gerade das, was man am Leben im Gegensatz zu aller vermittelnden Erkenntnis preist, seine Unmittelbarkeit, verliert sich vor dem aufmerksamen Blick der Selbstbetrachtung. Ich will mein Gefühl beobachten, aber was ich erfasse ist nicht mehr mein ursprüngliches, unbefangenes Gefühl selbst. Und weil sich das Psychische aller Fixierung entzieht, gibt es auch streng genommen, unbefangenes Gefühl selbst. Und weil sich das Psychische aller Fixierung entzieht, gibt es auch streng genommen keine innere Wahrnehmung des Psychischen, wie es eine äußere Wahrnehmung des räumlich und zeitlich fixierbaren außerpsychischen Geschehens gibt.

Diese Ungreifbarkeit des unmittelbaren Erlebens ist es, was die feinsten Psychologen als die größte Schwierigkeit empfiden, die dem psychologischen Forschen in den Weg tritt. Am eindringlichsten hat diese Empfindung in unserer Zeit BERGSON zum Ausdruck gebracht.

Und doch sind wir auf die Erkenntnis des Psychischen angewiesen, des fremden wie des eigenen. Das Zusammenleben mit den anderen, wie das Bewußtsein der Kontinuität des eigenen Lebens wären unmöglich, wenn wir das Psychische nicht als solches erkennen könnten. Es gibt tatsächlich eine Erkenntnis des Psychischen, und wir müssen uns nur Rechenschaft geben, worin sie besteht und worauf sie beruth. Es gibt allerdings keine besondere innere Wahrnehmung des einzelnen, isolierten Erlebens, wohl aber gibt es ein Verstehen des gesamten psychischen Zusammenhangs, in den sich das einzelne Erleben einordnet, und aus dem heraus es sich auch verstehen läßt. Vergebens jage ich dem einzelnen Lebenselement nach: was isolierbar ist, ist nicht mehr psychische, subjektiv, sondern nur das gegenständliche Korrelat eines Psychischen. Aber der ganze seelische Zusammenhang ist mir verständlich, und aus ihm heraus wird mir auch das Einzelne wieder lebendig, verständlich. Nur aus dem Zusammenhang heraus gibt es ein Verstehen des Psychischen; wie es überhaupt ein Verstehen nur vom Zusammenhang oder aus einem Zusammenhang heraus gibt, nie von einem Einzelnen für sich genommen. Wir verstehen einen Satz oder eine Rechnung, nicht den Buchstaben oder die Zahl; verstehen können wir nur, was sich auseinander ableiten läßt.

Beim Psychischen, dessen einzelne Erscheinung wir außerhalb ihres Zusammenhangs gar nicht fixieren können, sind wir besonders darauf angewiesen, sie aus dem Zusammenhang heraus zu verstehen, in den sie sich einordnet, so daß wenn sie auch selber entschwindet, ihre Stelle im Zusammenhang fixiert werden kann, wie die fliehende Bewegung fixiert wird in der durchlaufenden Linie.

Daher kommt auch dem Verstehen des Einzelnen aus dem Zusammenhang heraus bei der Betrachtung des Psychischen eine ganz andere Bedeutung zu, als bei der Betrachtung der Außenwelt, deren einzelne Gegenstände wir zwar auch nur aus dem allgemeinen Zusammenhang des Naturgeschehens erklären, daneben aber auch für sich, isoliert vom allgemeinen Zusammenhang denken können. Beim Psychischen aber gibt es überhaupt keine Erkenntnis außerhalb des Zusammenhangs, keine Erkenntnis des Psychischen, die nicht ein Verstehen aus dem Zusammenhang heraus wäre. Nur im Zusammenhang läßt sich das Einzelne, als psychisch, überhaupt fassen; außerhalb dieses Zusammenhangs verflüchtigt in seiner Subjektivität und verhüllt sich hinter den gegenständlichen Bewußtseinsinhalten.

Darum erscheint es als methodischer Grundfehler aller an der Naturwissenschaft orientierten Psychologie, daß sie von den Elementen des Seelenlebens ausgeht, um von da aufzusteigen zu höheren Funktionen; denn durch die bloße Zusammensetzung psychischer Elemente läßt sich kein psychischer Zusammenhang in der Art gewinnen, wie man zur Erkenntnis eines körperlichen Ganzen gelangt durch sukzessive Betrachtung seiner Teile. Es ist das große Verdienst WILHELM DILTHEYs um die Psychologie, daß er auf die Ursprünglichkeit des seelischen Zusammenhangs hinwies, von dem alles psychologische Verstehen auszugehen habe; für diese Erkenntnis des Seelenlebens aus seinem ursprünglichen Zusammenhang heraus hat er den Begriff "Verstehen" in Anspruch genommen im Gegensatz zum "Erklären" des Naturgeschehens, dem wir durch Hypothesenbildung den Zusammenhang erst unterlegen müssen.

Die terminologische Unterscheidung scheint mir nicht berechtigt; denn Verstehen (von Verstand) ist der allgemeinere Begriff, unter den die Erkenntnis eines  jeden  Zusammenhangs fällt, des psychischen Zusammenhangs nicht mehr, als des empirischen Zusammenhangs des Naturgeschehens oder des a priori deduzierbaren Zusammenhangs hängt auch die Besonderheit des entsprechenden Verstehens ab. Und so führ die Frage der psychologischen Erkenntnis zur Frage nach der Eigenart des psychischen Zusammenhangs.

Es ist ein realer Zusammenhang: nicht bloß das negative Prinzip der logischen Widerspruchslosigkeit, auch nicht das formale Prinzip der transzendentalen Einheit der Apperzeption, das jenseits des empirischen Reichtums und der individuellen Unterschiede des psychischen Lebens bleibt, sondern der wirkliche Zusammenhang des konkreten Lebens in allen seinen Modifikationen. Und da liegt es nahe, den psychischen Zusammenhang als einen Ausschnitt aus dem allgemeinen Zusammenhang des Naturgeschehens zu verstehen, ihn einzureihen in den großen Kausalzusammenhang, den die positive Forschung mit Hilfe der Mathematik immer fester zu sichern strebt, und so die psychologische Forschung teilhaftig zu machen der Gewißheit positiver Wissenschaft: es soll die Betrachtung der flüchtigen Erscheinungen des psychischen Lebens dadurch auf einen festen Boden gestellt werden, daß man sie in einen kausalen Zusammenhang bringt mit greifbaren und meßbaren Erscheinungen der Außenwelt.

Wenn aber WUNDT, der kritischste unter den Vertretern dieser an der Naturwissenschaft orientierten Psychologie, schließlich zum Resultat kommt, daß das Gesetz der psychischen Kausalität,  causa aequat effectum  [Ursache gleich Wirkung - wp], sich nicht auf das psychische Gebiet übertragen läßt, so erscheint damit die ganze Einreihung des Psychischen in den allgemeinen Kausalzusammenhang des Naturgeschehens von recht illusorischem Wert für das Verstehen des ersteren, denn zum Verstehen des Naturgeschehens führt die kausale Betrachtung nur dadurch, daß man annimmt, die Wirkung gleiche der Ursache und lasse sich aus ihr ableiten. Durch diese Annahme der Gleichheit von Ursache und Wirkung sucht die Naturwissenschaft einen Ersatz für die absolute Notwendigkeit des rein begrifflichen Zusammenhangs. Ohne sie gäbe es nur eine gewohnheitsmäßige Verknüpfung des Nacheinander, aber keine Einsicht in die Notwendigkeit des Durcheinander, und damit auch kein Verstehen der Wirkung aus ihrer Ursache. Die ganze Bedeutung der Mathematik für die Naturwissenschaft beruth darauf, daß sie die Gleichung herstellt zwischen Ursache und Wirkung. Eine solche mathematisch bestimmbare Gleichung läßt sich aber zwischen der psychischen Wirkung und ihrer Ursache nicht herstellen: die physische Ursache der psychischen Wirkung ist von der letzteren ihrem Wesen nach verschieden, ihr völlig inkommensurabel; und die psychische Ursache läßt sich ebenfalls in kein genau bestimmbares Verhältnis zu ihrer Wirkung bringen, weil sich beide der mathematischen Bestimmung entziehen. Selbst wenn wir innernhalb des psychischen Zusammenhangs bleiben und nicht hinübergreifen in die wesensverschiedene Sphäre des physischen Geschehens, erscheint so die kausale Erklärung des Psychischen fraglich; im besten Fall bleibt die Psychologie in Bezug auf eine kausale Erklärung hinter der exakten Wissenschaft zurück, einem Ziel nachstrebend, das sie doch nie erreichen kann.

Und da müssen wir uns fragen, ob denn die kausale Erklärung, die innerhalb der Naturwissenschaft dank der mathematischen Bestimmbarkeit der Naturerscheinungen durchführbar und daher auch methodisch berechtigt ist, auch innerhalb der Psychologie, wo sie doch nie die Vollkommenheit exakter wissenschaftlicher Erklärung erreichen kann, dieselbe Berechtigung hat. Von unserer Betrachtung der Außenwelt her sind wir so gewohnt, das Wirkliche in einen kausalen Zusammenhang zu bringen, daß es uns ganz natürlich erscheint, auch den psychischen Zusammenhang als einen kausalen zu fassen. Ist das aber nicht ein unberechtigte Übertragung der wissenschaftlich geprüften und gesicherten Methode der Naturbetrachtung auf das Gebiet der Psychologie, deren Methode doch ihrem Gegenstand angepaßt sein sollte? Den physischen Zusammenhang können wir nur als einen kausalen verstehen, d. h. ihn als eine Aufeinanderfolge von zeitlich fixierten Erscheinungen denken, deren Notwendigkeit durch quantitatives Bestimmen dieser aufeinanderfolgenden Erscheinungen gesichert wird. Für den psychischen Zusammenhang aber, ganz abgesehen davon, daß die genaue quantitative Bestimmung hier versagt, ist die zeitliche Aufeinanderfolge überhaupt nicht wesentlich. Ein Zusammenhang z. B., wie der zwischen wissenschaftlicher Erkentnis und dem mit ihr verbundenen Gefühl der Wahrheit, ist überhaupt nicht zeitlich zu fassen; wie die meisten eigentlichen psychischen Zusammenhänge, ist er außerzeitlich und insofern auch nicht unter das Gesetz der Kausalität fallend, das die eigentliche Aufeinanderfolge voraussetzt.

Es kann das Psychische unter Umständen, insofern es in der Zeit verläuft, auch in einen kausalen Zusammenhang gebracht werden, aber dieser Kausalzusammenhang, dem nie die strenge Demonstrierbarkeit der mathematisch-naturwissenschaftlichen Erklärung zukommen wird, setzt, auch wo er bloß plausibel ist, bereits einen anderen rein psychischen Zusammenhang voraus, der selbst nicht mehr kausal zu verstehen ist: wenn wir ein Gefühl der Befriedigung erklären sollen durch die vorausgegangene wissenschaftliche Betätigung, so mssen wir den außerzeitlichen Zusammenhang zwischen Gefühl und Erkenntnis bereits verstanden haben.

Das ursprüngliche Prinzip des psychologischen Verstehens kann die Kausalität nicht bilden. Diese Einsicht hatte DILTHEY zu seinem Kampf gegen die auf Hypothesenbildung beruhende erklärende Psychologie getrieben. Was er dem kausalen Zusammenhang, als dem Prinzip der erklärenden Psychologie entgegensetzt, ist der im unmittelbaren Erleben gegebene Strukturzusammenhang, von dem die beschreibende und zergliedernde Psychologie auszugehen hat. Wir verstehen das Leben, weil es nicht nur um uns, sondern auch in uns selber strömt und atmet; das unmittelbare eigene Erleben wird uns zum Schlüssel alles Psychischen, das wir nach Analogie des eigenen Lebenszusammenhangs, durch Einfühlung, würden wir heute sagen, in uns lebendig werden lassen.

Und DILTHEY selbst verstand es, wie kaum ein anderer, einen fremden seelischen Zusammenhang wieder lebendig zu machen. Mit unvergleichlicher, einzigartiger Kunst ließ er Gestalten der Vergangenheit vor uns erstehen, daß man das Gefühl hatte, es sei nichts mehr zwischen ihnen und uns, die Schranken individueller Form fielen hin, und hüllenlos sah man die Seelen vor sich. Wer die Methode des einfühlenen Verstehens an DILTHEY selbst beobachtet hat, konnte sich dem Zauber dieser Menschenbeschwörung kaum entziehen. Aber mitten in aller Bewunderung mußte man sich sagen: das ist  seine  Gabe, die Gabe einer wunderbar impressionablen und auf Grund der Impressionabilität divinatorischen Natur; aber eine sichere, übertragbare, allgemein mitteilbare Methode ist es nicht; wie ja auch DILTHEY selber von seiner beschreibenden Psychologie zugibt, daß sie "immer etwas vom lebendigen künstlerischen Prozeß des Verstehens" behält. (Ideen zu einer beschreibenden und zergliedernden Psychologie.", Sitzungsbericht der Berliner Akademie der Wissenschaften 1894, Seite 1345). Was DILTHEY uns zeigt, lebt in uns, löst eine Dynamik des seelischen Erlebens aus, wie ie nie durch verstandesmäßige Konstruktionen ausgelöst werden kann. Aber daß das, was in uns so lebendig wird, dem fremden Erleben wirklich entspricht, dafür haben wir keine Gewähr: es ist DILTHEYs  Hölderlin, Novalis, junger Hegel was jetzt in uns lebt, wie des Künstlers Gestalten so intensiv in uns leben, daß wir darüber die Geschichte, die dem Künstler das Motiv geliefert hat, vergessen. Und so wunderbar wirksam dieses gefühlsmäßig nachschaffende oder vielmehr neuschaffende Verstehen ist, was sich ihm erschließt, ist nicht der fremde Lebenszusammenhang, wie er für sich genommen ist, sondern wie er sich im unsrigen spiegelt. Denn, wie es DILTHEY wieder selber zugibt, nach Analogie mit dem eigenen unmittelbar erlebten Zusammenhang läßt sich der fremde Zusammenhang überhaupt nur unter der Voraussetzung allgemeiner Verwandtschaft des menschlichen Seelenlebens verstehen, und "dasjenige an einem fremden Seelenleben, was diesem eigenen Innern nicht bloß quantitativ abweicht oder durch Abwesenheit von etwas, das im eigenen Inneren vorhanden ist, sich unterscheidet, kann von uns schlechterdings nicht ergänzt werden." (a. a. O. Seite 1369).

Das gilt vor allem von jenen psychischen Erscheinungen, die so verschieden sind von dem, was der normale Mensch als den eigenen seelischen Zusammenhang in sich erlebt, daß wir sie als pathologisch bezeichnen; ihnen gegenüber versagt das einfühlende Verstehen prinzipiell, und selbst der impressionabelste Beobachter kann sie, vorausgesetzt daß er selber normal ist, durch Einfühlung nicht verstehen. Wir wissen, daß ein Anormaler Wahnideen hat und kennen vielleicht ihren Inhalt, aber für uns ist es Wahn, für ihn - Wirklichkeit. Da findet die Einfühlung ihre Grenze; der Unterschied zwischen unserem und seinem psychischen Zusammenhang ist zu groß, als daß der eine sich ohne Vergewaltigung dem anderen unterlegen ließe. DILTHEY selbst hat zwar sein einfühlendes Verstehen auch an diesen Erscheinungen versucht; selbst systematisch philosophische Fragen, wie die nach dem Wesen unseres Wirklichkeitsglaubens, hat er aus der Seele von Geisteskranken mit ihren verschiedenen Formen des Realitätsgefühls zu denken und lösen versucht; es gibt kaum ein Werk der philosophischen Literatur, das uns so nahe an den Rand des Irrsinns führt, wie DILTHEYs Akademie-Abhandlung über den Grund unseres Glaubens an die Realität der Außenwelt.

Aber eine solche Impressionabilität gegen den Geisteskranken, bei der man selber den festen geistigen Boden verliert, wird man nicht als Verstehen der Geisteskrankheit bezeichnen können; jedenfalls darf das Verstehen, das der Psychiater braucht, das ihm die Überlegenheit gegenüber dem Kranken geben soll, statt ihn selber in seinem seelischen Gleichgewicht zu gefährden, nicht auf den schwankenden Boden der Einfühlung gestellt werden.

Ein Verstehen des Psychischen ist aber hier dringend nötig, dringender, vielleicht noch, als gegenüber dem Normalen, der auch ohne unser Verstehen sich selber im Leben zurechtfindet. Den dringenden Forderungen gegenüber, die da an unser Verstehen des Psychischen gestellt werden, können wir es nicht darauf ankommen lassen, ob eine ferne Zukunft eine sichere wissenschaftliche Methode der psychologischen Forschung finden werde, können uns nicht dabei beruhigen, daß die Psychologie, vielleicht überhaupt keine Wissenschaft ist, sondern nur eine unverantwortliche Kunst, die nur besonders begabten divinatorischen Naturen, mit einem besonderen psychologischen Takt zugänglich ist. Es muß eine objektive Methode psychologischen Verstehens gefunden werden, die Not des Lebens duldet hier keine methodische Unsicherheit und verlangt gebieterisch, daß die Psychologie als Wissenschaft gestaltet werde.

Und der Psychiatrie schließen sich in dieser Forderung an die Geschichte und die Geisteswissenschaften, die nicht die ganze Sphäre des Psychischen der Willkür des genialen Erratens preisgeben können und ebenso, wie die Psychiatrie, von der Psychologie verlangen müssen, daß diese sich auf eine wissenschaftlich gegründete Methode und auf objektive Prinzipien aufbaut.

Eine solche wissenschaftliche Methode der psychologischen Forschung setzt aber, da das Verstehen des Psychischen nur aus dem Zusammenhang heraus möglich ist, voraus, daß der Zusammenhang, aus dem das Psychische verstanden werden soll, nicht selber bloß als ein subjektiver, unmittelbar gegebener erlebt, sondern daß er in seiner Notwendigkeit auch objektiv verstanden werde; in DILTHEYs Sprache zu reden, es genügt nicht, daß der Strom des Lebens in uns selber fließt, wir müssen ihn auch in Beziehung bringen können zu festen Punkten, von denen aus sich seine Flut bestimmen ließe, zu bleibenden Ufern, die den Strom zusammenhalten. Die Kausalität kann aber dieses bestimmende Prinzip des objektiven psychologischen Verstehens nicht sein; der Zusammenhang, aus dem heraus wir alles Psychische verstehen sollen, kann nicht ein Kausalzusammenhang sein. Und wäre die Kausalität die einzige Form alles objektiven Verstehens der Wirklichkeit, gäbe es keinen wirklichen nach objektiven Prinzipien faßbaren Zusammenhang, als den kausalen, so ständen wir in Bezug auf die Psychologie vor einem unlösbaren Dilemma: entweder die einzig wissenschaftliche kausale Betrachtungsweise, aber nur in unvollkommener Weise auf das Psychische anwendbar, so daß die Psychologie immer dazu verurteilt bleibt, ohnmächtig der Naturwissenschaft nachzuhinken, oder aber eine selbständige, der Eigenart des Psychischen angepaßte Betrachtungsweise, aber dafür unwissenschaftlich, auf die unberechenbare und unverantwortliche Kunst der Einfühlung angewiesen.

Aus diesem Dilemma hilft uns nur die Einsicht, daß die Erhebung der Kausalität zum einzigen Prinzip aller objektiven Wirklichkeitserkenntnis ein aus einseitiger Orientierung an der Naturwissenschaft erwachsenes Vorurteil ist. So gut wie der kausale Zusammenhang des zeitlichen Geschehens, kann auch ein außerzeitlicher, sinnvoller Zusammenhang Gegenstand objektien Verstehens sein. Einen solchen sinnvollen Zusammenhang stellt auch das psychische Leben dar; freilich, was es von den anderen Formen des sinnvollen Zusammenhangs unterscheidet, nicht einen bloß ideellen Zusammenhang, wie es etwa der mathematische ist, sondern einen wirklichen sinnvollen Zusammenhang; aber das ist eben die nicht weiter abzuleitende Eigenart des Psychischen, daß es einen sinnvollen wirklichen Zusammenhang bedeutet.

Und einen sinnvollen wirklichen Zusammenhang verstehen wir nicht aus seiner Ursache, sondern aus seinem Zweck. Damit ist nicht ein Zweck gemeint, der dem Leben willkürlich vorgesetzt wäre, sondern der Zweck, den das Leben selber sucht, als Wille zum Leben, zur Erhaltung des Lebens. Das Leben aber, das es da zu erhalten gilt, ist ein bewußtes, und, als solches, kann es sich selbst nicht erhalten, ohne die objektive Einheit des Bewußtseins zu wahren. Der Wille zum seelischen Leben ist immer Wille zur Objektivität seiner Lebensinhalte. Warum das so ist, ist eine ebenso müßige Frage, wie die, warum es kein Subjekt ohne Objekt gibt, oder wie die nach dem Ursprung des Bewußtseins. Psychisches Leben ist ein immerwährender Kampf um die objektive Einheit des Bewußtseins, d. h. um dessen sinnvollen Zusammenhang. Nichts wird uns als psychisch bewußt, tritt als Erlebnis in die Sphäre des Bewußtseins, was nicht in Beziehung steht zu diesem Zweck unseres Lebens. Dieser Lebenszweck bestimmt den Inhalt des Erlebens, er vollzieht die Auswahl der Lebensinhalte, er ist das schöpferische Prinzip des Lebens. Sinnwidriges duldet das Bewußtsein nicht, es deutet es um, sodaß die Sinnwidrigkeit verschwindet, oder es sperrt sich dagegen; Sinnleeres wird wohl eine Zeitlang als Ballast mitgeschleppt, aber, wenn es sich dauernd sträubt gegen die Einreihung in einen sinnvollen Zusammenhang, über Bord geworfen. Nur was Anschluß findet an den einheitlichen sinnvollen Zusammenhang des Bewußtseins, hat Bestand.

Das Seelenleben ist Sinnsuchen:  marche á l'esprit  [Gang des Geistes - wp] hat es BERGSON genannt, und als ein Chaos, das Kosmos werden will, definiert es RICKERT. Vom Standpunkt unseres Problems drücken wir denselben Tatbestand so aus, daß wir den psychischen Zusammenhang, der den Gegenstand der Psychologie als Wissenschaft bilden soll, fassen als einen Zweckzusammenhang und alles Psychische aus seinem Zweckzusammenhang heraus zu verstehen suchen. Wie das Kausalitätsprinzip das ursprüngliche, eigentümliche Prinzip der Erklärung des physischen Geschehens ist, so erscheint uns das Zweckprinzip als das ursprüngliche, eigentümliche Prinzip des psychologischen Verstehens; während innerhalb der Psychologie die Kausalität ebenso als ein übertragenes Prinzip erscheint, wie innerhalb der Naturerklärung das Zweckprinzip.

Auch die Naturerklärung greift zum Zweckbegriff, wo die Kausalität nicht ausreicht, um den Zusammenhang des an den betrachteten Erscheinungen gegebenen Mannigfaltigen zu verstehen, bei der Betrachtung der organischen Natur; und sie glaubt sich dazu berechtigt, weil sie in der natürlichen Anpassung der organischen Wesen an die vorhandenen Daseinsbedingungen ein Analogon zu bewußtem Zweckwirken findet. Die Psychologie aber findet in ihrem Gegenstand nicht bloß Zweckmäßigkeit, d. h. Analogie zu bewußtem Zweckwirken, sondern auch dieses bewußte Zweckwirken selbst. Denn psychisches Leben ist Zweckbewußtsein, d. h. nicht bloß Fähigkeit, sondern auch Wille zur Anpassung, zur Selbsterhaltung und zwar zu einer Selbsterhaltung, die auch objektive Bewußtseinsinhalte, mithin objektive Zwecke, Aufgaben umfaßt: psychisches Leben ist Zwecksetzung, und aus seiner Zielstrebigkeit verstehen wir alle seine Funktionen.

Ein Psychisches verstehen, heißt die Rolle erkennen, die es im allgemeinen Zweckzusammenhang des Lebens spielt, im Dienst jener objektiven Einheit, die herzustellen und zu wahren alles Leben unablässig strebt. Jedes Erleben ist ein Ausgleich zwischen dem erworbenen seelischen Zusammenhang und dem neu hinzukommenden Eindruck, ein Kampf um das seelische Gleichgewicht. Je nachdem, ob wir an sein greifbares Resultat, den neugewonnenen gegenständlichen Inhalt, denken oder an die durch ihn ausgelöste bewegende Kraft, oder an das allgemeine Bewußtsein des Gleichgewichtszustandes, sprechen wir von Erkennen, Wollen oder Fühlen. Die objektive Einheit des Bewußtseins bleibt das Ziel, von dem aus wir alle diese Erscheinungen des Seelenlebens verstehen.

Derselbe Zweck des Lebens, die Selbsterhaltung, führt unter verschiedenen Bedingungen auch zu verschiedenen Modifikationen des Lebenswillens: in der unbegrenzten Mannigfaltigkeit psychischer Individuen eine ebenso unabsehbare Mannigfaltigkeit einander ablösender Entwicklungsformen. Derselbe Zweck der Selbsterhaltung erscheint als das bestimmende Prinzip unendlich vieler von Augenblick zu Augenblick sich verschiebender Zweckzusammenhänge. Und die Psychologie sieht sich dieser unendlichen Mannigfaltigkeit von Zweckzusammenhängen und ihren Verschiebungen gegenüber. Das ist ihr Gegenstand. Was ihr die Möglichkeit gibt, sich in dieser Mannigfaltigkeit zurechtzufinden, ist die Richtung aller dieser Formen des Lebenswillens auf einen objektiven Bewußtseinsinhalt.

Die Objektivität des Bewußtseinsinhalts, der in seiner Objektivität uns allen gemeinsam ist, der objektive gemeinsame Kulturzusammenhang, an den unser aller geistiges Leben einen Anschluß sucht, schlägt die Brücke über alle individuellen Verschiedenheiten von einem seelischen Zweckzusammenhang zum anderen. Als geistige Wesen bleiben wir nicht isolierte, jedes Verständnisses füreinander entbehrende Individuen, sondern wir finden uns in der Einheit objektiver Ziele, die unser Bewußtsein als ansich gültig und insofern allen gemeinsam erkennt. In dieser Einheit objektiver Ziele haben wir die einzige feste Grundlage für das gegenseitige Verstehen und durch sie sind wir auch dem Zufall und der Unsicherheit der subjektiven Einfühlung entrückt. Auch wo die Einfühlung, als natürliches Band der Gemeinschaft, versagt, bleibt dieses geistige Band der Einheit der objektiven Aufgaben bestehen.

Und von diesen objektiven Aufgaben aus, wie sie das Ziel der Kulturgemeinschaft bilden, vermag auch die Psychologie das Lebensziel und den Zweckzusammenhang der einzelnen Individuen das Lebensziel und den Zweckzusammenhang der einzelnen Individuen zu verstehen. Im Einzelmenschen erblickt sie einen Träger dieser Aufgaben, die von ihm als Zweck seines individuellen Strebens aufgenommen werden und eine je nach seinen Anlagen und seinen Lebensbedingungen bestimmte Lösung finden. Den individuellen Zweckzusammenhang sucht sie als eine Modifikation der objektiven Einheit geistiger Aufgaben zu verstehen: warum, aus welcher Nötigung des Lebens, hat die allgemeine, objektive Aufgabe in einem bestimmten Fall gerade diese Modifikation erfahren? An objektiven Aufgaben findet so die Psychologie den festen Maßstab zur Beurteilung der subjektiven Zwecke des Menschen; als Wissenschaft von den seelischen Zweckzusammenhängen, ihren Verschiebungen und Entwicklungen, muß sie sich an geistigen Aufgaben orientieren, die zu erkennen der eigentliche Kern der Philosophie ist. Und wie die Psychologie des normalen Lebens, so bedarf auch diejenige des anormalen Lebens der Richtschnur der objektiven Aufgaben; schon der Unterschied zwischen normal und anormal setzt den Begriff der Norm voraus. Die Richtung auf Aufgaben, auf objektive Ziele behält auch der Anormale; denn ohne diese Tendenz gibt es überhaupt kein Bewußtsein, kein Seelenleben; aber was er als objektives Ziel erkennt und erstrebt, ist unter dem Druck unüberwindlicher Entwicklungsstörungen soweit abgewihen von dem, was das unbelastete, sich frei entfaltende Bewußtsein sich zum Ziel setzt, daß ein sachliche Verständigung mit ihm nicht mehr möglich ist.

Ein Zweckzusammenhang ist das psychische Leben des Anormalen so gut, wie das des Normalen, wenn auch ein verschobener Zweckzusammenhang. Der Kranke behält nicht nur - mit gewissen Ausnahmen - seinen Willen zur Anpassung, sondern er vollzieht auch wirklich eine Anpassung, die unter Umständen in ihrer Art viel bewundernswerter ist, als die des normalen Menschen: eine Anpassung, die für ihn vielleicht in dem Augenblick, wo wir ihn für krank erklären, eine Gesundung bedeutet: durch die Verschiebung des Zweckzusammenhangs ist für den Kranken eine neue Möglichkeit des Lebens geschaffen worden, während sonst für ihn das Leben unerträglich wäre. Aber diese Anpassung entsprechend den subjektiven Lebensbedürfnissen des Individuums bedeutet zugleich, da sie auf Kosten der objektiven Aufgaben geschieht, eine Isolierung von der Gemeinschaft. So erscheint die geistige Krankheit als das Produkt einer Auseinandersetzung zwischen dem Willen zur individuellen Selbsterhaltung und dem Willen zur Objektivität des Bewußtseinsinhaltes, zwischen dem subjektiven und objektiven Zweck des Lebens, deren harmonischen Ausgleich der Kranke aus inneren oder äußeren Gründen nicht mehr zu finden vermag. Einen Kranken verstehen heißt also, den Ausgang dieser Auseinandersetzung erkennen, was den Kranken gerade zu diesem Ausgang getrieben hat. Ein Wahnsystem verstehen heißt nicht sich gefühlsmäßig hineinversenken, sondern verstehen, warum gerade dieser Wahn für den Kranken zur Lebensnotwendigkeit wurde, als Rettung, als Flucht aus der unerträglichen Wirklichkeit, warum der Zweck der individuellen Selbsterhaltung es für ihn notwendig machte, das Bild der Wirklichkeit in dieser Weise zu verfälschen.

So brauchen wir, um das normale, wie das anormale Leben zu verstehen, Normen; wir brauchen objektive Aufgaben, um die subjektiven Zwecke des geradgewachsenen, wie des verkrümmten seelischen Lebens zu verstehen.

Und insofern die objektiven Aufgaben im letzten Grund durch die Philosophie bestimmt werden, kann man sagen, daß sich die Psychologie methodisch an der Philosophie orientieren muß, wenn sie nicht darauf angewiesen bleiben will, die Naturwissenschaft nachzuahmen, ohne je deren Exaktheit erreichen zu können, und auf der anderen Seite sich doch über die wunderbare, aber unverantwortliche Kunst der Einfühlung erheben will zur systematischen Wissenschaft.
LITERATUR Anna Tumarkin, Wie ist Psychologie als Wissenschaft möglich?, Kant-Studien, Bd. 26, Berlin 1921