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KARL LANGE
Über Apperzeption
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"Ist die neue Wahrnehmung derart, daß sie nicht bloß eine oder mehrere Gesamtvorstellungen, sondern große, weitverzweigte Gedankenkreise berichtigt, so erleidet die apperzipierende Vorstellungsmasse eine Veränderung, die einer  Zersetzung,  einer völligen  Umwälzung  gleich kommt. Es werden dann ganze Gedankengruppen aufgescheucht, um sich der Perzeption gemäß aufzulösen und neu zu gestalten. Wir müssen festgewurzelte und uns liebgewordene Vorstellungsverbindungen aufgeben und neue, unseren bisherigen Anschauungen widerstrebende Verknüpfungen vornehmen. Wir müssen uns nach einem bekannten Ausspruch gleichsam umdenken; der Prozeß der Aneignung schließt nicht ein  Zu lernen, sondern ein  Um lernen ein. Natürlich ist eine solche Gedankenrevolution begleitet von lebhaften Gemütsbewegungen. Es bemächtigt sich unser eine peinliche Unruhe. Wir wissen anfangs nicht, ob wir wachen oder träumen, wem wir recht geben sollen, und es dauert meist geraume Zeit, ehe das reproduzierte und in seinen Verbindungen gestörte und gelockerte Vorstellungsmaterial sich um einen neuen Mittelpunkt schart und mit ihm fest verschmilzt. Solche Apperzeptionen bezeichnen nicht selten bedeutende Fortschritte auf dem Gebiet der Kunst und Wissenschaft. Von Archimedes, Kolumbus und Kopernikus bis zu Galvani, Volta und den Erfindern und Entdeckern unserer Tage weiß die Geschichte der Kultur oft genug zu berichten, wie eine einzige neue Wahrnehmung, ein einziger blitzschneller und glücklicher Gedanke Systeme umstürzt, denen der größte Scharfsinn nichts anzuhaben vermochte, und den forschenden Menschengeist weiter bringt, als die Denkarbeit vieler Jahrhunderte."


1. Wesen und Arten der Apperzeption
[ F o r t s e t z u n g ]

Freilich gibt es auch Fälle, wo die Apperzeption nichts weniger als gründlich verfährt, wo sie geradezu eine oberflächliche, flüchtige Auffassung der Außendinge begünstigt. Unzähligemale gehen wir durch eine bekannte Straße an hervorragenden Gebäuden vorüber, ohne diese darum besser und deutlicher als früher zu perzipieren: mit Hilfe der Apperzeption finden wir uns eben auch bei einer nur flüchtigen Wahrnehmung zurecht, und so nötigt uns nichts, schärfer und eingehender zu beobachten. Wieviele Male wir bei unserer Lektüre schon das Alphabet wiederholt und wiedererkannt haben, ist gar nicht zu sagen, und doch vermögen nur wenige unter uns ohne besondere Vorübung die großen Buchstaben der deutschen Druckschrift genau nachzubilden: so hat uns die Apperzeption verwöhnt, jene Lautzeichen nur dunkel und unvollständig zu perzipieren. Sie verleitet uns sogar nicht selten zu falschen Auffassungen: was wir wünschen oder fürchten, das glauben wir leibhaftig vor uns zu sehen. Wenn der Knabe in GOETHEs Ballade einen Nebelstreifen auf der Uferwiese für den Erlkönig, leuchtende Weiden für dessen Tochter hält und im Säuseln des Windes die lockenden, schmeichelnden Worte der Wassernixe hört; wenn LESSINGs  Recha  in einem Tempelherren einen vom Himmel gesandten Engel sieht, so liegen hier nicht irrige Wahrnehmungen vor: "Die Sinne betrügen nicht: nicht weil sie immer richtig urteilen, sondern weil sie gar nicht urteilen." (11) Die an der Pforte des Bewußtseins lagernden apperzipierenden Vorstellungen sind es vielmehr, welche die Jllusion verschuldeten; denn indem sie sich für identisch mit der neu eintretenden Wahrnehmung ausgaben, nahmen sie dieselbe auf und veränderten sie ganz in ihrem Sinne und ihrem Inhalt gemäß.

Daß in solchen Fällen die Apperzeption die objektive Wahrheit und Klarheit der Wahrnehmung vermehrt, wird man nicht behaupten können. Wohl aber darf man sagen, daß die Perzeptionen durch ihre Einfügung in andere, wenn auch falsche Vorstellungsgruppen an  Regsamkeit  und Stärke gewinnen; leicht können sie dann bei späteren Reproduktionen immer noch die rechte Apperzeptionshilfe finden, welche die mangelhafte Auffassung nachträglich verbessert und so zu größerer Klarheit erhebt. -

Wie die apperzipierte, so erleidet auch die  apperzipierende,  d. h. die ältere, reproduzierte Vorstellungsverbindung im Prozeß der geistigen Aneignung meist eine Veränderung. Je öfter sie auf Veranlassung neuer Perzeptionen ins Bewußtsein zurückkehrt und jenen gegenüber ihre Glieder entwickelt, desto  stärker  und klarer kann sie werden, umso öfter bietet sich ihr Gelegenheit, neue Verbindungen einzugehen und so die eigene Regsamkeit zu vermehren. Dazu kommt, daß sie die mit ihr schließlich verschmelzende neue Wahrnehmung in vielen Fällen  bereichert  und wesentlich ergänzt. Die durch Beobachtung einer Sonnenfinsternis gewonnene deutliche Perzeption z. B. fügt der apperzipierenden Vorstellungsgruppe neue Merkmale: die Erscheinungen der Protuberanzen [leuchtende Gasmassen - wp] der Corona, gewisser Farbenbildungen während der Dämmerung und anderes hinzu, ohne die sie nun nicht mehr gedacht und reproduziert wird. Die apperzipierenden Gedanken und Gemütszustände der lauschenden Volksmenge im Theater zu Korinth erhalten durch die energisch angeeignete, unerwartete Perzeption eine Ergänzung, wie sie in dieser Vollständigkeit und Raschheit kaum einer erwartet hatte. Und wenn der Botaniker eine neuentdeckte Pflanze einer bekannten Klasse einreiht, wenn der Richter ein Vergehen unter einen bestimmten Paragraphen des Strafgesetzes stellt, so erweitern sie ebenfalls den Umfang gewisser subsumierender Begriffe. Auf diesem Weg - dem der Bereicherung und Ergänzung - wandeln überhaupt nach und nach sich apperzipierende Vorstellungsgruppen zu Gemeinbildern und logischen Begriffen, singuläre und partikuläre Urteile zu Gesetzen und Regeln um. Indem die apperzipierten Wahrnehmungen so die allmähliche logische Um- und Durchbildung unseres Gedankenkreises fördern, vergelten sie gleichsam den aneignenden Elementen reichlich den Dienst, den diese ihnen im Akt der Apperzeption erwiesen haben.

Enthielt die apperzipierende Vorstellungsgruppe falsche Merkmale, dann übernimmt die Perzeption wohl die  Berichtigung  derselben. Es geschieht dies in all den Fällen, wo sich uns eine genau und aufmerksam beobachtete Tatsache wiederholt aufdrängt, wo wir eine Wahrnehmung machen, die den Empfindungsobjekten vollständig entspricht und die darum eine solche Stärke und Klarheit entwickelt, daß wir sie trotz entgegengesetzter Bewußtseinsinhalte nicht zurückzuweisen, zu widerlegen vermögen. Dann lehren z. B. dem Kind die grünen Samenkapseln der Kartoffelstaude, daß die Kartoffeln nicht, wie es bisher geglaubt hatte, die Früchte, sondern die Wurzelknollen jener Pflanze sind, dann überzeugt es sich beim Besuch des zoologischen Gartens zu seiner Verwunderung, daß der Fischotter nicht, wie es sich wohl einbildete, eine im Wasser hausende Schlange ist, oder es berichtigt sein Bild vom Walfisch, von der Fledermaus, deren Name bisher nur allzusehr die Vorstellungen von diesen Tieren beeinflußt hatte.

Ist die neue Wahrnehmung derart, daß sie nicht bloß eine oder mehrere Gesamtvorstellungen, sondern große, weitverzweigte Gedankenkreise berichtigt, so erleidet die apperzipierende Vorstellungsmasse eine Veränderung, die einer  Zersetzung,  einer völligen  Umwälzung  gleich kommt. Es werden dann ganze Gedankengruppen aufgescheucht, um sich der Perzeption gemäß aufzulösen und neu zu gestalten. Wir müssen festgewurzelte und uns liebgewordene Vorstellungsverbindungen aufgeben und neue, unseren bisherigen Anschauungen widerstrebende Verknüpfungen vornehmen. Wir müssen uns nach einem bekannten Ausspruch gleichsam umdenken; der Prozeß der Aneignung schließt nicht ein  Zu lernen, sondern ein  Um lernen ein. Natürlich ist eine solche Gedankenrevolution begleitet von lebhaften Gemütsbewegungen. Es bemächtigt sich unser eine peinliche Unruhe. Wir wissen anfangs nicht, ob wir wachen oder träumen, wem wir recht geben sollen, und es dauert meist geraume Zeit, ehe das reproduzierte und in seinen Verbindungen gestörte und gelockerte Vorstellungsmaterial sich um einen neuen Mittelpunkt schart und mit ihm fest verschmilzt. Solche Apperzeptionen bezeichnen nicht selten bedeutende Fortschritte auf dem Gebiet der Kunst und Wissenschaft. Von ARCHIMEDES, COLUMBUS und KOPERNIKUS bis zu GALVANI, VOLTA und den Erfindern und Entdeckern unserer Tage weiß die Geschichte der Kultur oft genug zu berichten, wie eine einzige neue Wahrnehmung, ein einziger blitzschneller und glücklicher Gedanke Systeme umstürzt, denen der größte Scharfsinn nichts anzuhaben vermochte, und den forschenden Menschengeist weiter bringt, als die Denkarbeit vieler Jahrhunderte. Da aber, wo die berichtigende, umstürzende Tätigkeit der neuen Wahrnehmung sich erstreckt auf das praktische Gebiet des Wollens und Handelns, auf sittlich-religiöse Gedankenkreise, die bisher die Seele beherrschten und von denen die tiefsten und stärksten Gefühle, die meisten und lebendigsten Strebungen ausgingen, wird die Apperzeption oft eine gründliche Änderung und Wandlung der Gesinnung herbeiführen, eine neue Periode des inneren Lebens, wie die die Bekehrung des SAULUS, die "Erweckung" ZINZENDORFs (12) u. a. genugsam bezeugen (13).

Wenn in all diesen Fällen die neue Wahrnehmung eine so weitgehende Umänderung älterer Gedankenmassen herbeiführt, wenn sie gleichsam der Mittelpunkt neuer Vorstellungsverbindungen wird, so liegt die Frage nahe, ob hier nicht die Faktoren der geistigen Aneignung ihre Rollen tauschen, ob nicht die  Perzeption nunmehr als aneignende Vorstellung auftritt und die ältere Gedankengruppe als apperzipierte anzusehen sei.  Die siegende Kraft, mit der das Neue sich im Bewußtsein geltend macht und zur Auflösung fester Gedankenverbände nötigt, scheint allerdings für diese Auffassung zu sprechen. Was da für den Augenblick wenigstens im Innern herrscht und maßgebend für andere Anschauungen ist, dem möchte doch wohl die Stelle eines Subjekts der Apperzeption zukommen.

Allein, so sehr auch die neue Perzeption eine Zeitlang im Vordergrund des Bewußtseins steht, so mannigfach die Berichtigungen sind, die ältere Vorstellungen durch sie erleiden und so unvereinbar sie daher mit der gesamten bisherigen Erfahrung zu sein scheint - sie findet doch schließlich auf dem betreffenden Gedankengebiet einen Ort, wo sie gleichsam zur Ruhe kommt, einen Kreis von Vorstellungen, mit dem sie zu verschmelzen vermag. Auch bei sogenannten Erweckungen und Bekehrungen, bei tiefgehenden Wandlungen der theoretischen oder praktischen Einsicht eines Menschen bleiben so viele festwurzelnde, verwandete Gedanken unberührt vom umgestaltenden Einfluß der Perzeption, daß letztere endlich mit all den Vorstellungen, die sie sich eingeordnet hat, dem Alten als ein neues, inhaltreiches, zu ihm gehörendes Glied eingefügt werden kann.

Wo die aktive Apperzeption sich mit solcher Intensität und in einem solchen Umfang vollzieht, daß wir in gewaltigen Gemütsbewegungen des inneren Kampfes uns lebhaft bewußt werden, da ist das Subjekt der geistigen Aneignung niemals eine einzelne Vorstellungsgruppe, etwa die von der Perzeption berichtigte, sondern da erweisen sich alle verwandten Gedankenkreise mit ihren bewußten und unbewußten (sogenannten "mitschwingenden") Gliedern apperzipierend tätig. Namentlich aber gilt dies von solchen Vorstellungsinhalten, die durch Gefühle und Strebungen eng an unser empirisches Ich geknüpft sind.  Mag dann eine Perzeption noch so sehr umgestaltend auf gewisse Gebiete unseres Wissens und Denkens einwirken, sie wird mit all ihren neuen Gliedern als eine isolierte und darum mindermächtige Gruppe schließlich doch dem alten, mit unserem Ich tausendfach verbundenen Gedankenstamm eingefügt.  So sehr stehen wir im Bann der Vergangenheit, daß auch die unerwartetsten und wichtigsten neuen Erfahrungen unter  normalen Verhältnissen  nicht den Gedankenbau einer Masse von Grund auf umzustürzen vermögen, sondern als Bausteine sich demselben einordnen müssen und nur als solche in ihm zur Geltung kommen.

Als dem PAULUS dereinst auf dem Weg nach Damaskus der Herr plötzlich in einem himmlischen Licht erschien und mit dem gewaltigen: SAUL, SAUL, was verfolgst du mich? das Gewissen erschütterte, da begann sich eine Wandlung im Pharisäerschüler zu vollziehen, wie sie größer und entscheidender kaum gedacht werden kann. Der gekreuzigte JESUS, den er für tot gehalten hatte, er erscheint ihm persönlich und erhebt es in ihm zur Gewißheit, daß er lebt. Und  wie  er lebt! Den er als einen Gotteslästerer und Übeltäter verachtet und geschmäht hat, er thront im Himmel. Die er als Schwärmer und Abtrünnige bisher verfolgt und verängstigt hat, CHRISTI Jünger und Anhänger, es sind unschuldige, fromme Leute, die rechten Israeliten und Messiasgläubigen. Und in welchem Licht erscheint ihm nunmehr sein eigenes Leben und Streben! Womit er Gott einen Dienst glaubte getan zu haben, das war eitel Irrtum und Sünde. Worin er bisher den höchsten Ruhm gesucht hatte, darin hat er am tiefsten gefehlt. Nun muß er hassen, was er dereinst geliebt, und lieben und verehren, was er bisher bekämpft hat. Wahrlich, eine ganze Welt neuer Tatsachen und Erfahrungen stürmt auf den Kreis seiner sittlich-religiösen Gedanken und Überzeugungen ein. Wie hat sie sich zu letzteren verhalten? Hat das Neue sich damit begnügt, die bisherigen falschen, ihm widersprechenden Ansichten und Strebungen zurückzudrängen, um sodann als ein neues Vorstellungs- und Erfahrungszentrum  isoliert  sich im Bewußtsein zu behaupten? Oder ist mit seiner Hilfe der gesamte übrige sittlich-religiöse Vorstellungs- und Gefühlsinhalt umgestaltet, bzw. ausgelöscht und neugeordnet, mit einem Wort: apperzipiert worden? Wir glauben es nicht. Denn alsdann hätte das Neue, weil es mit der Vergangenheit des SAULUS gänzlich gebrochen hat, trotz seines Reichtums und seines hohen Gefühlswertes keine besondere Regsamkeit und Kraft entfalten können: aus dem SAULUS wäre wohl eine bekehrte, gebrochene Christenseele, nimmer aber der heldenhafte Heidenapostel geworden, der mit der alten Manneskraft dem neuen Herrn diente. Gerade die verhältnismäßig kurze Zeit, in der sich seine Bekehrung vollendet, die sieghafte Entschiedenheit und Freudigkeit, mit der er nach wenigen Tagen bereits den Gekreuzigten bekennt und verkündet, sind ein Beweis dafür, daß er die neuen, hochwichtigen Heilstatsachen erfaßt und sich angeeignet hat mit Hilfe alter Gedankenkreise, die einer Umgestaltung nicht bedurften, mit Hilfe eines geistigen Schatzes, dessen treibende Kräfte sich auch auf dem neuen Gebiet religiösen Lebens als wirksam erwiesen. Die reine und strenge Gottesidee, die er aus den Schriften des alten Bundes geschöpft, die Sehnsucht nach dem Messias, die er mit allen gläubigen Israeliten teilte, die redliche Erkenntnistreue und Gottesfurcht, das mannhafte, charakterfeste Wollen, der Eifer um Gott und seine Sache, die ganze tiefreligiöse und sittlich-ernste Lebensauffassung, die ihn vor vielen auszeichnete, das waren Züge seines Wesens, die dem neuen Evangelium durchaus nicht widersprachen. Dazu kamen die erschütternden Erfahrungen der letzten Zeit: er hatte den Glaubensmut und die Begeisterung der Jünger, dieser schlichten, ungelehrten Leute, gesehen, hatte dem sterbenden STEPHANUS in das verklärte Antlitz geblickt und so vielleicht doch Eindrücke mit hinweggenommen, die sich nun auf dem langen, einsamen Weg nach Damaskus als Einwürfe und Zweifel geltend machten (14). Genug, wenn er nun die himmlische Erscheinung richtig auffaßt und sich zum Herrn bekehrt, so geschieht es nicht, weil die neue Wahrnehmung etwa sein gesamtes religiöses Denken und Wollen überwältigt hat, sondern er entscheidet sich  aufgrund seiner bisherigen inneren Erfahrung  nach einem schweren Seelenkampf zur Umgestaltung seiner Einsicht und seines Wollens, soweit sie irrig waren, und zur Einfügung des Neuerfahrenen in die vorhandenen Gedankenkreise, in sein ganzes Gemütsleben.  Nicht als ein Unfreier gibt er sich willenlos den neuen Eindrücken gefangen,  sondern er verfügt noch über so viele sittlich-religiöse Überzeugungen, daß er die ersteren unbefangen auf ihren Wert für sein ganzes Ich zu prüfen und  mit freiem Willen  - denn er hätte sein Herz der Erkenntnis des Neuen auch verschließen können -  anzueignen vermag.  Er apperzipiert das Neue mit Hilfe alter, seinem Ich eng verbundener Vorstellungen und Gemütszustände (15).

Wo dies nicht geschieht, wo sich neue, wichtige Erfahrungen nicht dem Stamm der verwandten Vorstellungen anschließen, sondern eine isolierte Stellung neben und außerhalb derselben einnehmen und so für sich eine Macht des Gemüts bilden, da herrschen abnorme Zustände, die sich leicht bis zur geistigen Krankheit steigern können. Wie hier zu einer  Spaltung  des Ich (16), so kann da, wo der Mensch mit seiner  ganzen  ihm liebgewordenen Vergangenheit, namentlich auf ethisch-religiösem Gebiet, brechen muß, der Mangel an Apperzeption zur  Schwächung des Ich,  zur Lähmung seines Selbstgefühls und seiner geistigen Energie führen. - Unter normalen Verhältnissen dagegen wird auch die fremdartigste und aufregendste Wahrnehmung doch schließlich in festgegründeten Gedanken- und Gefühlskreisen ihren Halt, ihr apperzipierendes Subjekt finden. Die geistige Gesundheit des Menschen wird durch eine solche Verknüpfung der Gegenwart mit der Vergangenheit, durch die Assimilation neuer Eindrücke mit älteren wesentlich bedingt. -

Unsere Darstellung des Apperzeptionsvorgangs beschränkte sich bis jetzt auf die Fälle, da eine  äußere Wahrnehmung  zur Aneignung gelangt. Vergegenwärtigen wir uns nun, daß letztere nach einem Wegfall des Empfindungsreizes zur Vorstellung wird, die alle bisher eingegangenen Verbindungen festhält, so liegt die Vermutung nahe, daß sich auch zwischen bloßen Vorstellungen eine Apperzeption vollziehen kann. In der Tat werden reproduzierte Seeleninhalte so gut wie Wahrnehmungen, innere Perzeption nicht minder als äußere von uns innerlich angeeignet. Wir haben hier also nur einen besonderen Fall des allgemeinen Apperzeptionsprozesses vor uns, dessen wir noch mit einigen Worten gedenken müssen.

Von all den Vorstellungen, welche die Seele des Menschen erzeugt, sind manche so schwach und flüchtig, stoßen viele auf so starke und zahlreiche Gegensätze, daß sie entweder sofort verdunkelt werden oder keinen Gedankenkreis finden, dem sie sich anschließen können. Wir beachten sie nicht oder wissen nichts aus ihnen zu machen, vermögen sie mit den übrigen Vorstellungen "nicht zusammenzureimen". In beiden Fällen, mögen sie nun scheinbar für immer unter der Schwelle des Bewußtseins ruhen, oder sich isoliert im Bewußtsein erhalten, hat eine Apperzeption nicht stattgefunden; es haben daher jene Vorstellungen, da für sie das volle Verständnis fehlt, nur geringen Wert für das geistige Leben, sie würden, falls sie in diesem Zustand beharrten, schließlich dem ersteren ganz verloren gehen. Wenn sich nun aber eine jenen schwachen und isolierten Vorstellungen nahe verwandte Gedankengruppe im Bewußtsein erhebt (frei steigend oder mittelbar reproduziert) und zwar mit einer Stärke und Klarheit, die sie erhält gegen alle vorhandenen Gegensätze, wenn sie vermöge ihrer mannigfachen Verbindungen, die sie mit den übrigen Vorstellungsmassen eingegangen ist, eine Zeitlang dieselben beherrscht, dann wird sichs regen unter den verwandten Gedanken, die bisher kein rechtes Verständnis fanden: wir werden uns an manches erinnern, was schon ganz der Vergessenheit anheimgefallen zu sein schien, und vieles wird uns deutlich und klar, das uns bisher ein Buch mit sieben Siegeln war. Die herrschende Vorstellungsgruppe hellt das Dunkel jener Vorstellungen auf, und nun begreifen wir nicht, wie uns eine Tatsache entgehen, wie wir sie nicht gleich verstehen oder falsch deuten konnten. Nun "geht uns ein Licht auf", "es fällt uns wie Schuppen von den Augen", wir sehen sonnenklar, was uns bisher verborgen blieb; die isolierten und zerstreuten Gedankenelemente haben nun einen festen Punkt gefunden, dem sie sich anschließen können, nach dem sie sich richten, die Apperzeption ist vollzogen.

Wie oft mögen in der Seele des Dichters solche Gedanken und inneren Erlebnisse der glücklichen Stunde harren, da eine günstige Stimmung ihnen den rechten Ausdruck, die künstlerische Form verleiht! Denn poetisches Schaffen ist mehr als ein geistreiches Spiel der Phantasie. All den poetischen Einfällen müssen lebhafte, gefühlswarme Erinnerungen aus dem eigenen Gemütsleben und jene gestaltende Kraft entgegenkommen, die da ordnend eingreift in die bunte Phantasiewelt und die Gedanken auswählt und prüft auf ihren Wert, die da verknüpft und baut nach einem festen Plan, die das Geschaffene selbst wieder der Kritik unterwirft, das unwesentliche, störende Beiwerk ausscheidet und das Fehlende zusammenbringt, kurz - die aus zahlreichen, scheinbar zusammenhanglosen Gedanken und Einfällen ein künstlerisch abgerundetes und schön gegliedertes Ganzes schafft. Diese gestaltende Kraft des Willens aber wird geweckt und geleitet durch gewisse ästhetische Gedanken- und Gefühlskreise, in welchen die künstlerische Überzeugung und Sinnesrichtung des Menschen wurzelt. Sie sind es, die gleichsam im Hintergrund der Schaubühne stehen und unsichtbar einwirken auf die im Vordergrund des Bewußtseins erscheinenden Vorstellungen, so daß diese in einem kunstvollen Ganzen den rechten Sinn und eine tiefere Bedeutung erlangen. Sie erscheinen daher im Akt des poetischen Schaffens als der apperzipierende Faktor.

Ähnlich ist es beim Forscher, der ein wissenschaftliches Problem zu lösen versucht.
    "Aus dem Innern steigen die Gedanken von den möglichen Lösungen, d. h. die Gedanken, in denen die Frage oder das Problem liegt, über die Mittel und Wege zum Ziel hinauf; aber gleichfalls steigen aus dem Innern auch die durchgebildeten Kenntnisse, die geordneten Gedankenreihen der bereits erworbenen Wissenschaft empor, in denen die Zensur über die momentanen Einfälle siegt, welche gegen feststehende Ansichten anstoßen und darum zurückgewiesen werden, während diejenigen Gedanken, welche zu den schon eingesehenen Wahrheiten oder auch zu festgewurzelten Vorurteilen passen und sich leicht in das schon bestehende System von Gedanken einfügen, sich damit zu verbinden geeignet sind. Das Apperzipieren geht hier von einem erworbenen Fond von Kenntnissen aus, welche eine vorwiegende Aktivität besitzen und sich als die bewährten und feststehenden Einsichten mit den auftauchenden Einfällen messen und dadurch entweder Haltung erwerben oder verwerfende Kritik wecken." (17)
Nicht immer ist wie in den angeführten Beispielen die apperzipierte Vorstellung der mindermächtige Faktor, der sich nach dem Inhalt bereits vorhandener Vorstellungsverbände richtet. Vielmehr kann auch sie unter Umständen eine solche Stärke entfalten, daß die apperzipierenden Gedankenkreise eine Berichtigung und Veränderung erleiden. Wenn der Forscher auf dem Gebiet der Wissenschaft infolge glücklicher Gedankenkombination unerwartet zu einer Hypothese gelangt, welche ein ganz neues Licht auf bisher dunkle, unverstandene Tatsachen wirft und gewisse Erscheinungen in einen anderen, tieferen Bedeutung auffassen lehrt, wenn dem Eifersüchtigen harmlose Erinnerungen, die ihm bislang gleichgültig oder vielleicht wert und teuer waren, plötzlich zu Anklägern dessen werden, was ihm das Liebste ist auf Erden  (Othello!),  wenn seine krankhafte Phantasie überall Verrat sieht und geschäftig immer neues Material dem Feuer seiner Leidenschaft zuführt, so sind es bei beiden sehr lebhafte, reproduzierte Vorstellungen, die zuerst gewisse Gedankenkreise aufregen, um sich schließlich die verwandten Glieder derselben einzufügen und ihnen so eine neue Beleuchtung zu geben. Diese Vorstellungen bleiben oft nicht dabei stehen, einzelne Anschauungen zu berichtigen, sondern sie gehen nicht selten darauf aus, ganze Gedankenkreise zu durchbrechen und umzugestalten. Es entstehen dann ähnliche Stürme in unserer Seele, ähnliche, die Gefühlswelt in hohem Grad aufregende Umwandlungen unseres Denkens und Wollens, unseres Dichtens und Trachtens, wie wir sie bereits oben als eine Folge übermächtiger Wahrnehmungen kennen gelernt haben.

Nach dem Vorausgegangenen unterliegt es keinem Zweifel,  daß innere Wahrnehmungen und reproduzierte Seeleninhalte ebensowohl apperzipiert werden können als äußere Wahrnehmungen,  daß also nicht notwendig eine der letzteren vorhanden sein muß. Die erstere Form der Aneignung pflegt man seit HERBART als  innere,  die zweite als  äußere Apperzeption  zu bezeichnen. Doch dürften die für sie gewählten Namen nicht eben als treffende anzusehen sein. Schon von anderer Seite ist gegen sie bemerkt worden, daß Apperzeption allemal - auch die der äußeren Wahrnehmung - die Aneignung eines inneren Zustandes sei und  daß es daher strenggenommen nur innere Apperzeption gibt.  Sodann ist der Ausdruck "innere Apperzeption" oder "Apperzeption der inneren Wahrnehmung" sehr geeignet,  die der älteren Psychologie geläufige Verwechslung der Apperzeption mit der absichtlichen inneren Wahrnehmung oder Selbstbeobachtung zu begünstigen und zu verhüllen.  Scheint es doch, als ob die Apperzeption einer inneren Wahrnehmung oder Vorstellung immer auch einen Akt der Selbstbeobachtung einschließt.  Beide Vorgänge sind aber trotz ihrer nahen Beziehungen zueinander streng zu scheiden.  (18)

Bei der Apperzeption ist unser Bewußtsein ausschließlich auf den  Inhalt  der Vorstellungen gerichtet; wir geben uns so ganz den Vorstellungen als  Vorgestelltem  hin, daß wir uns selbst und unsere Tätigkeit unter Umständen vergessen. Wie der Krieger inmitten des Kampfgewühls so völlig gefangen genommen wird durch äußere Eindrücke, daß er an seine eigenen Zustände nicht denkt, so lebt auch der Apperzipierende vorzugsweise in der objektiven Welt der Anschauungen und Gedanken; er fragt nach den zwischen ihnen bestehenden Beziehungen, nicht aber nach dem Subjekt, dem sie gehören, nach der Tätigkeit, die sie erzeugt. Im Affekt, im Zustand der Leidenschaft oder der Begeisterung erringt oft die Apperzeption ganz ungewöhnliche, wenn auch sehr einseitige Erfolge, während die sittliche Selbstbeurteilung fehlt, die auf das eigene Vorstellen und Tun achtet. Und so wird auch der Dichter im Moment glücklichen Schaffens ganz gefesselt durch die Gegenstände seiner Phantasie; je besser die Appperzeption gelingt, desto weiter ist er davon entfernt, sich selbst bei seiner Arbeit zu belauschen; ja unzeitige Reflexion würde den Verlauf der Apperzeption sogar hemmen.

Beobachten wir dagegen uns selbst, so ist unser Bewußtsein vorwiegend gerichtet auf die  vorstellende Tätigkeit.  Zum Bewußtwerden von Vorstellungen gesellt sich das ihres  Vorstellens.  Das, was eben in uns geschah oder geschieht, wird nun Objekt eines neuen Vorstellens. Wir haben dann nicht bloß Gedanken und Vorstellungen, sondern wir werden uns zugleich derselben als einer inneren Tätigkeit bewußt. Und diese Tätigkeit geht von ein und demselben Subjekt, dem Ich, aus: diese Vorstellungen gehören uns. Wir werden  uns  einer Sache bewußt. Die Vorstellungen stehen dann nicht wie bei der Apperzeption als objektive Bilder vor unserer Seele, sondern sie rücken gleichsam tiefer in unser Inneres, indem sie zum Kern desselben, dem Ich, in eine nahe Beziehung treten. Zwar werden wir uns auch im Akt der Apperzeption gar oft der inneren Beziehung bewußt, in welchem das Objekt der geistigen Aneignung zu unserem Ich steht, des Wertes, welchen eine Perzeption für unser ganzes inneres Leben hat. Aber während sich hier dieses Bewußtsein nur in dunklen Gefühlen äußert, tritt es bei der inneren Wahrnehmung in einem Akt des Vorstellens, der Erkenntnis ungleich klarer zutage. Bei der Apperzeption wendet sich unsere Aufmerksamkeit hauptsächlich dem  Objekt  des Vorstellens zu, bei der Selbstbeobachtung dagegen dem  Subjekt  des Vorstellens. Dort fragen wir,  ob  zwei Seeleninhalte sich logisch miteinander verknüpfen lassen, hier,  wie  diese Verbindung nach psychischen Gesetzen zustande kam.

Da der Apperzeptionsvorgang uns hauptsächlich durch die ihn begleitenden Spannungsempfindungen zum Bewußtsein kommt, so mag in vielen Fällen, geweckt durch jene Empfindungen,  die Selbstbeobachtung neben der geistigen Aneignung einhergehen,  allerdings nur in der Form eines  Gefühls, der allgemeinen Vorstellung: Ich denke oder nehme wahr.  Sobald sie einen mehr  aktiven  Charakter annimmt und die einzelnen Seelenvorgänge am Ich vorüberziehen lassen will,  hört sie auf, die Apperzeption zu begleiten.  Denn wie letztere in gewissen Fällen die Selbstwahrnehmung ausschließt, so erscheint diese wiederum als das beste Mittel, den Apperzeptionsvorgang aufzuhalten und zu unterbrechen. Im Grunde ist daher die  absichtliche  Selbstbeobachtung, wie DROBISCH (19) sehr richtig bemerkt, ein fortgesetztes Mißlingen; "denn stets kommt die Beobachtung später als das Geschehen." Unsere Selbstbeobachtung ist meistens kein Belauschen des gegenwärtigen geistigen Zustandes, sondern eine nacheilende Betrachtung soeben vorübergegangener Ereignisse, ein Verweilen bei Erinnerungen. Wenn der Apperzeptionsprozeß in einem Urteil zum Abschluß gelangt ist:  A = Z,  so erfaßt die Selbstbeobachtung die apperzipierte Vorstellung als das Eigentum des Ich, dieses erkennt das Produkt der Apperzeption als seine Vorstellung an, was sich in dem Urteil ausspricht:  Ich  habe  A.  Wir selbst, d. h. unser empirisches Ich, betrachten dann der neuen Wahrnehmung gegenüber als das eigentliche Subjekt der Apperzeption, wir erkennen klar die Bedeutung, welche der Perzeption für unsere geistige Entwicklung zukommt.  Je intensiver und stärker die aktive Apperzeption sich vollzieht, desto sicherer scheint ihr die Selbstbeobachtung zu folgen.  Das erklärt sich teils aus dem Eingreifen des Willens in den Verlauf der Vorstellungen und Gefühle, teils aus den lebhaften gemütlichen und leiblichen Erregungen, welche den Vorgang oft begleiten. Letztere namentlich sind es, die auch nach vollendeter Apperzeption noch fortdauern und uns mahnen an die inneren Geschehnisse und machen uns auf sie aufmerksam. Was dagegen leicht und geläufig apperzipiert wird oder dem Ich gleichgültig ist, das hinterläßt keinen tiefen Eindruck, das regt nicht auf und weckt daher auch selten die innere Wahrnehmung.  Letztere  ist also weder ein notwendiges Merkmal noch eine regelmäßige Begleiterscheinung der Apperzeption; sie wird dunkel oft neben ihr hergehen, häufiger noch ihr folgen, aber sie kann auch gänzlich ausbleiben. (20)

Fassen wir nunmehr zusammen, was sich im Prozeß der Apperzeption Wesentliches ereignet. Zunächst gelangt eine äußere oder innere Wahrnehmung, eine Vorstellung oder Vorstellungsverbindung ins Bewußtsein (21), die mehr oder weniger Widerhall in der Seele findet, d. h. eine größere oder geringere Erregung der Vorstellungs- und Gefühlskreise herbeiführt. Infolgedessen steigen, dem psychischen Mechanismus oder einem Willensanstoß folgend, eine oder mehrere Gedankengruppen empor, die zu dieser Perzeption in Beziehung treten. Indem beide Massen miteinander verglichen werden, wirken sie mehr oder weniger umgestaltend aufeinander ein: es bilden sich wohl selbst neue Gedankenverbindungen, bis schließlich die Perzeption dem mächtigeren, älteren Vorstellungsverbund mit jenem Denkinhalt eingereiht wird. Dadurch gewinnen alle beteiligten Faktoren an Erkenntnis- und Gefühlswert; insbesondere aber wird der neuen Vorstellung eine Klarheit und Regsamkeit zuteil, die sie für sich nie erlangt haben würde.  Apperzeption ist sonach diejenige seelische Tätigkeit, durch welche einzelne Wahrnehmungen, Vorstellungen oder Vorstellungsverbände zu verwandten Produkten unseres bisherigen Vorstellungs- und Gemütslebens in Beziehung gesetzt, ihnen eingefügt und so zu größerer Klarheit, Regsamkeit und Bedeutung erhoben werden.  (22)

Wir sind uns wohl bewußt, daß diese Erklärung nicht das Wesen der Apperzeption völlig erschöpft. Ist doch die geistige Aneignung ein Vorgang, der verschiedene Elementarprozesse in sich vereinigt und bei dem Faktoren mitwirken, die sich gar oft der Beobachtung entziehen. Ohne Zweifel beruth sie auf einer Wechselwirkung von Vorstellungen; aber sie ist mehr als diese, insofern sie auch die Denk- und Gefühlsinhalte einschließt, die durch jene Gedankenbewegungen entstehen. Sie fällt nach ihren Hauptarten zusammen mit der unwillkürlichen und willkürlichen Aufmerksamkeit; aber sie ist nicht bloß eine die Vorstellungen im Bewußtsein festhaltende Energie, sondern sie umfaßt auch die Bedingungen und den Erfolg derselben, die objektive Erkenntnis der zwischen den Vorstellungen bestehenden inneren Beziehungen. Endlich ist mit ihr stets eine Verschmelzung von Vorstellungen, die Einfügung neuer, vereinzelter Elemente in ältere, verwandte, reichere Gedankenkreise gegeben. Aber sie ist mehr als eine bloße Verschmelzung, als ein empfangendes Aufnehmen neuer Eindrücke, sie ist vielmehr die selbsttätige Erfassung und Verarbeitung derselben. Sie schließt nicht bloß einen Zuwachs an theoretischer oder praktischer Erkenntnis ein, sondern sie bedeutet meist zugleich eine Erhöhung unseres Gefühls und Strebens, die Erfassung eines neuen Seeleninhaltes durch das Gemüt. Sie ist der Vorgang des Wachstums der Seele, geistige Entwicklung (23).


2. Bedingungen der Apperzeption

Der Erfolg der geistigen Aneignung, die Leichtigkeit oder Schwierigkeit ihres Verlaufs, ihre Stärke und Macht sind abhängig von der Beschaffenheit sowohl der apperzipierten als auch der apperzipierenden Vorstellungsmasse, von den sie begleitenden Gedanken- und Gefühlselementen, von der jeweiligen Geistes- und Gemütsverfassung. Während die beiden letzten wichtigen Faktoren infolge ihres dunklen, unbestimmten Charakters unserer Beobachtung wenig zugängig sind, lassen die ersteren sich eher in ihrer Bedeutung für den Apperzeptionsvorgang erkennen. Ihnen wird sich daher hier, wo es sich um die Darstellung der Apperzeptionsbedingungen handelt, unsere Aufmerksamkeit vorzugsweise zuwenden müssen. Man pflegt aber der Kürze und Einfachheit halber die apperzipierte und apperzipierende Vorstellungsgruppe mit Einschluß der sie begleitenden Gemütszustände als das  Objekt  und das  Subjekt  der Apperzeption zu bezeichnen. Nur darf man in diesen Ausdrücken nicht mehr als Bilder sehen. Denn in Wirklichkeit ist die vorstellende, fühlende und wollende Seele das Subjekt der Apperzeption, oder im Falle der Selbstbeobachtung das eigene Ich; die gegeneinander sich bewegenden Vorstellungsmassen sind nicht als selbständig wirkende Wesen, sondern nur als Mittel der erkennenden und wollenden Seele zu denken.

Eine Wahrnehmung oder Vorstellung wird zum  Objekt der Apperzeption,  wenn sie bei ihrem Eintritt ins Bewußtsein mehr oder weniger Widerhall findet, d. h. andere Vorstellungen samt den mit ihnen verbundenen Gefühlen und Strebungen hervorruft.  So eine aufregende Kraft aber eignet denjenigen Vorstellungen, die zu älteren, verwandten Gruppen, zum Ich in Beziehung stehen.  Das völlig Fremde läßt uns kalt, das  absolut Neue  wird nicht verstanden. Was aber hinsichtlich seiner Form oder seines Inhalts an Bekanntes erinnert, das erlangt allein dadurch schon oft einen hohen Gefühlswert, dem wendet sich die Aufmerksamkeit zu.  Vollständig  bekannte Wahrnehmungen werden rasch und ohne Mühe angeeignet - ein Akt der Apperzeption, den man als  Wiedererkennen  bezeichnet. Stimmt dagegen das Neue bloß  zum Teil  mit früheren Erfahrungen überein, ist es etwas Ähnliches von dem, was wir bereits wissen, dann vollzieht sich die Aneignung meist nur allmählich, und wir werden uns derselben wohl als geistiger Akt bewußt. Eine solche Apperzeption schließt ein  Erkennen  ein. Überall, wo es sich um das Auffinden von Wahrheiten, um die selbsttätige  Erzeugung  von Denkinhalten handelt, tritt den vorhandenen Vorstellungen etwas  relativ Neues  gegenüber.

Diese verwandten Perzeptionen, welche das Objekt der Apperzeption bilden, dürfen weder aus  zu schwachen,  schwankenden Vorstellungen bestehen, die keine Reproduktion bewirken können, noch aus  zu starken,  überwältigenden Eindrücken, die das Bewußtsein allein erfüllen und alle übrigen Vorstellungen verdrängen. Auch muß sowohl eine  zu flüchtige als zu langsame  Entwicklung der Perzeptionsglieder vermieden werden. Das Tempo derselben wird sich zu richten haben nach der größeren oder geringeren Leichtigkeit, mit der beim betreffenden Individuum die Vorstellungsbewegung vor sich geht.  Je mehr demselben Zeit gelassen wird, die einzelnen Teile des Neuen scharf zu erfassen und voneinander zu unterscheiden, desto gründlicher vollzieht sich die Apperzeption.  (24) Daher macht alles Feierliche einen so tiefen Eindruck, weil zum ästhetischen Gefühl noch die gründliche Apperzeption kommt. Und "alles Langsame, wenn es nicht aus anderen Gründen widrig ist, nähert sich dem Feierlichen" (HERBART). Soviel über das Objekt der Apperzeption.

Zum  Subjekt  der Apperzeption wird unter den durch die Perzeption erweckten Vorstellungskreisen stets derjenige,  welcher jeweilig die größte Macht entfaltet.  Letztere beruth aber zunächst auf der  Stärke  und  Regsamkeit  der Vorstellungen. Kenntnisse, die uns "zugeflogen" sind, die uns "angelehrt" wurden, die nicht aus eigener frischer Erfahrung entsprangen, entbehren solcher Kraft. Bücherwissen gibt matte, unkräftige Apperzeptionshilfen, und wer nur mit fremden Augen sieht und nicht mit den eigenen Sinnen, wer die Wissenschaften in derselben Weise betreibt wie GÖTZens Knabe die Geographie, dem fehlen auf dem betreffenden Gebiet die kräftigen Vorstellungen, die zur rechten Zeit hervorspringen und sich apperzipierend betätigen. Es kann einer erstaunlich viel gelernt haben und doch hinsichtlich der Apperzeptionsfähigkeit ein stumpfer Kopf sein. Was Kraft und Leben in uns gewinnen soll, müssen wir uns selbst erarbeitet haben. Denn das haben wir nicht nur gründlicher kennen gelernt, sondern mit dem sind auch die Gefühle gelingender Tätigkeit innig verbunden. Gefühle aber vermögen das Heer unserer inneren Zustände am leichtesten mobil zu machen und zu erhalten. Womit sich die Erinnerung an leidvolle oder glückliche Stunden verknüpft, was durch tausend Fäden mit dem Gemüt verwachsen ist, das steht unserem Bewußtsein in der Regel am nächsten, das bietet sich neueintretenden Wahrnehmungen gewöhnlich zuerst als Apperzeptionshilfe an (25). Vorstellungen von hohem Gefühlswert, Gedankengruppen, die aus sehr starken, deutlichen Perzeptionen hervorgingen und infolge häufiger Wiederholung unter sich und mit dem Ich zahlreiche Verbindungen schlossen, zeigen jene Regsamkeit und Reizbarkeit, vermöge deren sie auf den geringsten Anlaß in das Bewußtsein zurückkehren. Sie bilden jene herrschenden Gedankenkreise, wie sie ein wissenschaftliches Studium, die Berufsarbeit, die tägliche Umgebung im Menschen erzeugt.

Freilich verbürgt die Stärke und Lebendigkeit der apperzipierenden Vorstellungsmasse ansich noch nicht die Richtigkeit der Apperzeption. Das Kind z. B., dem sein verhältnismäßig bescheidenes und lückenhaftes Erfahrungsmaterial immer leicht zu gebote steht, apperzipiert nicht selten rascher als der Erwachsene. Aber es trägt dafür auch mehr in die äußere Wahrnehmung hinein; es bildet unrichtige, subjektive Apperzeptionen. Ähnlich ergeht es dem Erwachsenen, der lebenslang nicht aus gewissen engbegrenzten Verhältnissen herausgekommen ist und nun infolge der Beschränktheit seines Vorstellungsschatzes, seines geistigen Gesichtskreises sich nur schwer in fremde Gedanken, Sitten und Gewohnheiten zu versetzen, nur selten ohne Vorurteil von ihnen zu sprechen vermag. Hier ist geradezu die Stärke der eigenen, tausendmal wiederholten und so zur lieben Gewohnheit gewordenen Erfahrung der objektiven Auffassung des Neuen hinderlich: was ihr an logischer Evidenz abgeht, ersetzt sie durch psychische Intensität. Und so kann es selbst tüchtigen Charakteren, die auf einem bestimmten praktischen Gebiet sehr erfreuliche Erfolge erzielt haben und darum siegesgewiß der "grauen Theorie" entraten zu können glauben, widerfahren, daß sie für neue Erfahrungstatsachen die rechte Apperzeptionsfähigkeit einbüßen. Sie lehnen dieselben entweder kurzerhand ab, oder sie halten für alles Neue gewisse Formeln und Urteile bereit, denen sich dasselbe wohl oder übel einfügen muß. Sie sind nur zu sehr geneigt, in jeder Neuerung, soweit ihr überhaupt eine Berechtigung zugestanden wird, nichts als alte Gedanken in anderem Gewand wiederzusehen. "Alles schon dagewesen!" - das ist die bequeme Zauberformel gegen alle unbequemen Tatsachen und Theorien. "Das Gute an der Sache ist nicht neu und das Neue nicht gut" - so pflegt man sich ohne eine tiefeindringende Prüfung, zumeist dem ersten Eindruck folgend, mit überlegener Sicherheit rasch zu entscheiden. Es vollzieht sich in diesem Fall die Apperzeption zu leicht und oberflächlich, sie hinterläßt kein starkes Gefühl, welches die übrige Gedankenwelt beeinflußt und Interesse und Wollen in Bewegung setzt.

Soll daher die Apperzeption gründlich und richtig vonstatten gehen,  so müssen dem Apperzeptionsobjekt nicht bloß starke und lebendige,  sondern auch  inhaltsreiche, weitverzweigte und bildsame Vorstellungskreise entgegenkommen,  Gedankengruppen, denen das rege Streben nach Erweiterung und Vervollkommnung innewohnt. Dann erst steigen im Prozeß der Wölbung so viele verwandte Elemente empor, daß das Neue nicht von einem beliebigen, sondern von demjenigen Vorstellungsverband erfaßt wird, dem es hinsichtlich seines Inhaltes am meisten entspricht.

Nur darf diesen apperzipierenden Gedankenkreisen schließlich eines nicht fehlen, wenn sie ihren Zweck vollständig erfüllen sollen:  die sorgfältige Durchbildung und Gliederung.  Wo die Vorstellungsmassen nicht im rechten Verhältnis zueinander stehen oder an Unklarheit und Unbestimmtheit leiden, da zeigt sich jene flache Geläufigkeit der Apperzeption, die das Verschiedenartigste zusammenwürfelt, jenes vorschnelle Urteilen, wie es kritiklosen Köpfen eigen ist. Hier mag wohl eine gewisse Wölbung innerhalb des reproduzierten Seeleninhaltes zustande kommen. Aber da Ähnliches und Entgegengesetztes, Falsches und Wahres nicht scharf genug unterschieden werden, so wird entweder voreilig apperzipiert, oder es tritt gar keine Vorstellung an die Spitze des Gewölbes, und die rechte Deutung des Neuen unterbleibt.

Wo dagegen eine strenge Gedankenzucht sorgfältig abwägt, was zum Neuen wohl in Beziehung zu setzen ist, wo klar durchdachte und wohlverbundene Vorstellungskreise ihm gegenübertreten, da wird die Apperzeption oft langsam, aber umso richtiger und sicherer vollzogen werden. Es braucht dann in der Regel die apperzipierende Gedankenmasse gar nicht ihrem ganzen Umfang und Inhalt nach reproduziert zu werden, sondern es genügt, daß der Begriff, das Gesetz, der Grundsatz, also Verdichtungen jenes Denkinhaltes, im Bewußtsein stehen. Sie vertreten gleichsam alle zu ihnen gehörenden Einzelvorstellungen, die sich nur als "mitschwingende" unbewußte Elemente im Apperzeptionsvorgang geltend machen. -

Wir sahen, daß zum Subjekt der Apperzeption auch die dunklen Seelenzustände, die Gefühle und unbewußten Vorstellungen gehören, welche die apperzipierenden Vorstellungsmassen begleiten. Das zeigt uns,  welche Bedeutung überhaupt die ganze Geistes- und Gemütsverfassung für den Verlauf der geistigen Aneignung hat.  Herrschende Gedankenkreise, die zum Apperzeptionsobjekt in keinem inneren Verhältnis stehen, geheime Sorge und Angst, die das Gemüt beunruhigen, können auch die stärksten Apperzeptionshilfen am Emporsteigen hindern und ihre Kraft unwirksam machen. Einem jeden kommen in seinem Leben Stunden, in denen er sich zu seinem eigenen Befremden den interessantesten Eindrücken und Tatsachen gegenüber unempfänglich und gleichgültig verhält. Es muß also eine gewisse leibliche und geistige  Ruhe  bei uns eingekehrt, gleichsam das Gleichgewicht zwischen den einzelnen Seeleninhalten wieder hergestellt sein, wenn eine unbefangene Auffassung des Neuen erfolgen soll. Und noch mehr. Es muß unser Inneres mit all den Gefühlen und Neigungen, den geheimen Regungen und Interessen, die zur Zeit über oder nahe der Schwelle des Bewußtseins stehen, ein einheitliches Gepräge angenommen haben, und diese Gedanken- und Gefühlswelt, in der wir leben, muß dem Inhalt des Neuen verwandt sein, mit einem Wort: es muß die rechte  Stimmung  herrschen. Es wird alsdann das Bewußtsein gleichsam von Vorstellungskreisen umgeben, die störende Gedanken und Strebungen fern halten und vermöge ihres einheitlichen Gefühlstones die Reproduktion der rechten Apperzeptionshilfen sehr erleichtern: die Gebiete, in denen letztere zu suchen sind, rücken dem Bewußtsein näher, und jedes Element seines Inhaltes kann zum Anfangsglied einer Reproduktionsreihe werden. Wenn endlich von diesen verwandten Bewußtseinsinhalten einzelne wichtige Glieder besonders hoch steigen und der Perzeption entgegeneilen, wenn den angekündigten äußeren oder inneren Wahrnehmungen gegenüber sich eine gewisse Spannung der Sinnesorgane, eine gesteigerte Kraft des Aufmerkens zeigt, dann ist die günstigste Verfassung vorhanden, in der überhaupt apperzipiert werden kann:  der Zustand der Erwartung.  Worauf wir vorbereitet sind, was wir erwarten, dem strecken sich gleichsam viele geistige Arme oder Organe entgegen, das eignen wir uns - schon aus physiologischen Gründen (26) - leichter und sicherer an, als wenn es uns überraschte. Damit sind wir bei einem wichtigen Faktor angelangt, der im Fortschreiten der aktiven Apperzeption wenigstens ausnahmslos mitwirkt: beim  Wollen. 

Um eine Wahrnehmung oder ein Erinnerungsbild zu erwarten, um die Mühe einer gründlichen Apperzeption auf sich zu nehmen, dazu gehört außer der rechten geistigen und gemütlichen Verfassung in vielen Fällen auch ein kräftiger Wille. Dieser hält die flüchtige Perzeption fest, bis sie richtig erkannt und verstanden ist; er bändigt die das Gemüt aufregenden Begehrungen und Gefühle, so daß die rechten Apperzeptionshilfen emporsteigen können. Ohne ihn würde der Prozeß der Gedankenwölbung und Zuspitzung selten gelingen und die Aufmerksamkeit oft erlahmen. Daß unter Menschen das Nichtverstehen so häufig ist, daß alle neuen und epochemachenden Lehren so langsam und schwer Anerkennung finden, ist zum nicht geringen Teil auf den Mangel an gutem Willen zurückzuführen. Das haben alle großen Männer erfahren, die mit ihren Ideen und Taten ihrer Zeit vorauseilten, das erfuhren selbst die Sendboten einer so siegreichen Sache, wie das Evangelium von CHRISTO, die Jünger des Herrn. Denken wir an den bedeutendsten derselben, den großen Heidenapostel PAULUS. Wenige Lehrer mögen so begeistert und eindringlich den neuen Glauben verkündet haben, als das auserwählte Rüstzeug des Herrn. Wie trefflich weiß er bei seinen Zuhörern apperzipierende Vorstellungen zu wecken, wenn er z. B. die Athener an den unbekannten Gott erinnert, dem sie unwissend Altäre errichteten, an die herrlichen Tempel, deren Hallen die Götter bergen sollten, an ihre Dichter, die von der göttlichen Abstammung der Menschen sangen. Wenn seine Predigt trotzdem nur in kleinen Kreisen Eingang, aber bei der großen Menge der Juden und Heiden kein Verständnis findet, so ist ein solcher Unglaube nicht bloß in der Beschaffenheit ihres Vorstellungs- und Gefühlslebens begründet. Der Bildungsstolz der Athener mag vom verachteten Juden nicht lernen, der Gesetzesstolz der Israeliten keine Neuerung annehmen, während anderswo (Ephesus, Antiochien) niederer Eigennutz und Neid dem Evangelium die Tür des Herzens verschließen. Gewohnheit und Neigung, Begierden und Leidenschaften und nicht weniger eine Trägheit des Willens machen also gar oft den Menschen unfähig, neue Wahrheiten zu erkennen und aufzunehmen. Die verständnisvolle Aneignung fremder Wahrheiten, die Umbildung der eigenen Überzeugung fordern eben einen nicht geringen Grad geistiger Anstrengung und Kraft. Apperzipieren heißt in diesem Fall einen inneren Kampf siegreich bestehen. Zu so einem geistigen Kampf aber pflegt der sich nicht leicht zu verstehen, dessen Herz an andere Interessen, als die der strengen Wahrheitsforschung, bereits gebunden ist, der um keinen Preis im sicheren Besitz erworbener Güter, in der Behaglichkeit lieber Gewohnheiten gestört sein will. Hier bestimmt nicht die Einsicht das Wollen, sondern der Wunsch ist der Vater der Einsicht.  Was man als Mängel der Intelligenz ansieht, sind daher nicht selten Fehler des Willens. Seinen Neigungen und Wünschen zum Trotz unbefangen und gründlich zu apperzipieren, ist darum, wenigstens auf wissenschaftlichem und ethischem Gebiet, im Grund eine sittliche Tat und das Vorrecht starker Charaktere. 
LITERATUR Karl Lange, Über Apperzeption, Plauen 1889
    Anmerkungen
    11) KANT, Anthropologie, Seite 33
    12) Bild des Gekreuzigten in der Düsseldorfer Galerie mit der Unterschrift: "Das tat ich für dich; was tust du für mich?
    13) Wir geben zu, daß bei schwachen, charakterlosen Naturen die Wandlung der ethischen Einsicht nicht notwendig eine Wandlung des Wollens zur Folge hat, daß bei diesen oft ein Widerspruch zwischen Wissen und Tun beobachtet wird. Aber hier fehlt auch die obenerwähnte Voraussetzung: daß nämlich bisher ein sittlicher Gedankenkreis das gesamte Wollen und Handeln bestimmt und geleitet habe, daß gerade ethische Anschauungen und Urteilen die stärksten Gefühle und Strebungen entsprungen seien. Wem das Gute nur ein (theoretisches) Wissen, nicht eine Quelle edler Begeisterung und kräftiger Willensentschlüsse ist, der kann seine Überzeugung wiederholt ändern, ohne in seiner Gesinnung davon berührt zu werden. - Daß übrigens eine gründliche und nachhaltige Sinnesänderung außer der Wandlung der Einsicht auch eine fortdauernde Übung im Anderswollen fordert, mag nicht unerwähnt bleiben.
    14) Für diese Annahme, deren Berechtigung von theologischer Seite bestritten worden ist, spricht die Tatsache, daß SAULUS die Worte des Herrn in ihrer ganzen inhaltsschweren Bedeutung verstand, während seine unvorbereiteten Begleiter nur eine Stimme und nichts weiter vernahmen. Wenn jener demnach den Inhalt des Zurufs apperzipierte, so setzt dies Vorstellungen und Gemütszustände voraus, welche der Aufnahme und dem Verständnis des Neuen günstig waren. Eine solche durch innere Kämpfe erworbene Empfänglichkeit mochte seinen Gefährten fehlen, weshalb es bei ihnen auch nur zu einer undeutlichen Perzeption kam.
    15) Die vorstehende Darstellung erhebt nicht den Anspruch, den von der Theologie als "innere Wiedergeburt" bezeichneten Vorgang nach all seinen Momenten erfaßt und beschrieben zu haben. Wenn wir auf einige der mitwirkenden psychischen Faktoren hinwiesen, so blieben wir uns wohl bewußt, daß des Menschen Herz mit seinen Wandlungen und Schicksalen auch für den Psychologen zum guten Teil noch ein unergründliches Geheimnis ist. Das eine nur glaubten wir aus Gründen der Erfahrung und im Interesse der sittlichen Freiheit betonen zu müssen, daß die innere Bekehrung nicht gleichbedeutend ist mit einer rein mechanischen Auswechslung und Ersetzung des alten durch den neuen Menschen, sondern daß sie eine im Anschluß an den vorhandenen Seeleninhalt und mit seiner Hilfe sich vollziehende Aneignung neuer Erfahrungstatsachen eine Neugestaltung des Denkens und Strebens darstellt, die nicht plötzlich, sondern allmählich zustande kommt. Wo das Ich frei über die Annahme neuer Gedanken und Gesinnungen entscheidet, da tritt das Neue niemals unvermittelt und apperzipierend auf. Denn das Ich des Menschen ist der Repräsentant seiner bisherigen Erfahrungen. Von ihm erfaßt werden, heißt: sich an alte, festgewurzelte Vorstellungen und Gemütszustände anschließen.
    16) Wir erinnern an den alten Hauptmann in IMMERMANNs  "Münchhausen"  (2. Auflage, Bd. 1, Seite 223f). Dieser hatte mit Auszeichnung unter den Franzosen gegen die Russen gefochten und sodann, als alles gen Frankreich zog, in preußischen Diensten nicht minder tapfer seine ehemaligen Waffengenossen bekämpft. Als nun der Friede kam und alles um ihn herum sich mit seinen Gefühlen - den ehemaligen französischen Sympathien und dem neuerwachten vaterländischen Geist - einzurichten wußte, wollte dem alten Haudegen eine solche Verschmelzung entgegengesetzter Neigungen und Gesinnungen nicht gelingen. Er konnte es nicht in sich beherbergen, daß er binnen Jahresfrist ein tapferer Franzose und ein tapferer Preuße gewesen sein sollte. Die Kriegserinnerungen mit ihren Sympathien und Antipathien hatten sich bei im infolge des jähen Wechseln gleichsam fachartig nebeneinander gelagert, und sein starrer, wenn auch ehrenwerter Charakter ließ eine Versöhnung zwischen ihnen nicht zu. Nach einer gefährlichen Krankheit endlich, die ihm Leib und Seele frei machte, fand er gewissermaßen das Gleichgewicht wieder. Er stiftete nämlich eine militärische Ordnung in seinen Erinnerungen. Er richtete zwei Zimmer ein, von denen das eine dem Andenken der napoleonischen Siege, das andere der Erinnerung an die glorreichen Taten der Freiheitskämpfer gewidmet war. Beide bewohnte er je nach der ihn beherrschenden politischen Stimmung abwechselnd. Bald war er ganz Franzose, der sich ausschließlich in die Herrlichkeit der napoleonischen Zeit, bald ein entschiedener Preuße und Lobredner der deutschen Erhebung.
    17) THEODOR VOGT, in den Erläuterungen zum Jahrbuch des Vereins für wissenschaftliche Pädagogik, Bd. 14, Seite 68
    18) Vgl. WILHELM VOLKMANN, Lehrbuch der Psychologie II, 3. Auflage, §§ 110 und 111.
    19) MORITZ DROBISCH, Empirische Psychologie, Seite 141
    20) Hiernach vermögen wir die Auffassung VOLKMANNs (Lehrbuch der Psychologie II, Seite 190) nicht zu teilen, nach welcher "innere Wahrnehmung und Apperzeption eigentlich nur zwei Seiten ein und desselben Prozesses sind". Sie sind nicht derselbe Vorgang. Denn die innere Wahrnehmung vollzieht sich auch da, wo von Apperzeption nicht die Rede ist, wie wenn wir uns z. B. einer Willenstätigkeit oder eines Gefühls unmittelbar bewußt werden. Wo sie aber mit der Aneignung neuer Vorstellungen verbunden erscheint, enthält sie immer einen Akt des Bewußtseins mehr als die Apperzeption = die Beziehung zum Ich, oder sie ist vielmehr dieser Akt selbst: das Apperzipierte und der Vorgang der Aneignung werden im Augenblick der Selbstbeobachtung Gegenstand eines neuen Vorstellens. Da zudem zahlreiche Apperzeptionen ohne eine innere Wahrnehmung verlaufen, so ist es zweifellos zweckmäßig, im Gegensatz zu HERBART und WUNDT die (subjektive) Erfassung einer Vorstellung durch das Bewußtsein scharf zu unterscheiden von der (objektiven) Verbindung derselben mit älteren Vorstellungen und erstere Tätigkeit etwa als Selbstbeobachtung, letztere als Apperzeption zu bezeichnen. Vgl.auch die treffenden Bemerkungen VAIHINGERs in REINs "Pädagogische Studien", 1888, Heft III, Seite 167.
    21) Doch geschieht es wohl auch, daß die  apperzipierende  Vorstellungsgruppe  zuerst  auftritt, um isolierte Vorstellungen zur Aneignung gleichsam aufzurufen, wie wenn wir z. B. zu einer bekannten Regel entsprechende Beispiele suchen. - Wir verstehen übrigens unter "innerer Wahrnehmung" zunächst eine auf die bewußte Erfassung und Unterscheidung innerer Zustände, wie Denken, Fühlen, Begehren, Wollen gerichtete Tätigkeit der Seele (Selbstbeobachtung), sodann aber auch den durch sie erzeugten Bewußtseinsinhalt. Die Vorstellung aber ist nicht bloße das Ergebnis der auf die  Außenwelt  gerichteten Wahrnehmungen, sondern ebenso eine lebendige Vorstellung alles  innerlich  Erlebten.
    22) Schon die Ableitung des Wortes  Apperzeption  (von  ad  und  percipere  = auffassen, wahrnehmen) deutet darauf hin, daß eine neue Wahrnehmung einer anderen  hinzu gefügt, eine Erkenntnis dem Seeleninhalt eingereiht wird.
    23) Vgl. FRICK in dessen "Lehrproben und Lehrgängen" etc. Heft 8, Seite 3f
    24) In "Der Seelen Trost", einem mittelalterlichen Erbauungsbuch, das zahlreiche Erzählungen zu den 10 Geboten enthält, fragt der Beichtvater eine Frau, wieviel Paternoster sie täglich betet. Sie antwortet: "Wenn ich zur Messe komme und gibt mir Gott die Gnade,  daß es mir wohl von statten geht,  mein Paternoster zu sprechen, so spreche ich ein halbes Paternoster oder das vierte Teil oder ein ganzes Paternoster, und  geht es mir übel von statten,  so spreche ich wohl 12 oder 100 Paternoster." Und nun berichtet sie, wie das zugeht. Wenn sie mit dem Gebet ernsthaft beginnt und an all die Liebe und Treue gedenkt, die der himmlische Vater ihr und allen Menschen bisher erwiesen hat, dann kommt sie so leicht nicht über den Anfang hinaus und bringt eine ganze Messe zu mit dem einen Wort: Vater unser. Ebenso ergeht es ihr mit den nächsten Worten. Wolle sie die alle mit "rechter Innigkeit" überdenken, so könne sie während des Gottesdienstes kaum  ein  Vaterunser beten. Nur wenn sie keine Innigkeit habe, spreche sie zuweilen wohl 50 Paternoster. Aber dann sei es ihr auch nicht wohl von statten gegangen (FREYBE, Altdeutsches Leben, Bd. II, Seite 340).
    25) Sehr schön gelangt diese Tatsache in dem bekannten Gedicht "Das Erkennen" von VOGL zum Ausdruck:
      Ein Wanderbursch, mit dem Stab in der Hand,
      kommt wieder heim aus dem fremden Land.
      Sein Haar ist bestäubt, sein Antlitz verbrannt:
      von wem wird der Bursch wohl zuerst erkannt?
    Der Zöllner, sein Freund, erkennt ihn nicht, und auch sein Schätzlein verhält sich dem Gruß des Burschen gegenüber kühl und fremd: zu sehr hat die Sonn' ihm das Gesicht verbrannt. Aber die Mutter? - ja,  sie  erkennt den Heimkehrenden auf den ersten Blick. In ihrer Seele lebt das Bild des lieben Sohnes am stärksten und wärmsten, verklärt durch den Sonnenschein selbstloser, treuer Liebe. So sehr ist der Jüngling mit ihrem ganzen Sein und Tun, mit ihrem Herzen verwachsen, daß sie sich täglich und stündlich seiner erinnert und die sehnenden Gedanken wohl auch jetzt eben in der Stille des Kirchleins, auf dem trauernden Friedhof nach dem fernen Kind gesandt hat. So ganz füllt sein Bild ihr die Seele, daß sie im Gegensatz zum Zöllner und Schätzlein für andere Personen und Interessen, für zerstreuende und ablenkende Gedanken keinen Raum hat. So ein treues Gefühl aber schärft das alternde Auge, daß es sich fest und klar auf den fremden Wanderer richtet.
      Wie sehr auch die Sonne sein Antlitz verbrannt,
      Das Mutteraug' hat ihn gleich erkannt.
    26) Aus physiologischen Gründen kann aber auch die Apperzeption trotz aller sonstigen günstigen Vorbedingungen unterbleiben.