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Geschichte [ 1/2 ]
III. Auf ganz anderen Wegen und Gedankengängen kam von England (1859) eine Ausdehnung des Historismus, an die in Deutschland kein Professor der Philosophie gedacht hatte. Nur etwa GOETHE. Die englischen Philosophen, deren Bedeutung für abendländische Geistesbefreiung immer noch nicht genug gewürdigt ist und gar nicht unterschätzt werden kann, waren keine Professoren, waren übrigens auch keine Philosophen im Sinne des deutschen Fachausdrucks. BACON, HOBBES, LOCKE und HUME waren Gentlemen, gelegentlich Geschichtsschreiber und Staatsmänner. Bewußt oder unbewußt Erbendes alten englischen Nominalismus. Zum Begriffspalten nur geneigt, wo es ihnen um das Zerstören klotziger Begriffe zu tun war. Keine Systematiker, gute Schriftsteller, gewohnt, Geschichte zu machen oder doch machen zu helfen und darum geneigt, den neuen Historismus auf das wichtigste Objekt des menschlichen Denkens anzuwenden: auf den Menschen selbst. So kurz das Datum des Ereignisses hinter uns liegt, wir können uns heute kaum mehr lebhaft genug vorstellen, wie plötzlich und umstürzlerisch die stille, eigensinnige, vorsichtig-tapfere, scheinbar unwiderlegliche Gedankenarbeit DARWINs bei den oberen Zehntausend des geistigen Europa einschlug. Zum ersten Male, seitdem Menschen dachten, schien der Begriff des Werdens, der Historismus, auf die Objekte der lebenden Natur angewandt. Zum ersten Male nach der induktiven Methode BACONs; die phantastischen Vorläufer der Lehre im Orient und in Griechenland, auch die jüngsten Vorläufer in Deutschland und Frankreich waren ohne Wirkung geblieben, weil sie mit dem Gedanken nur gespielt hatten. DARWIN erst hat, genial und fleißig, den Bau allein angefangen und vollendet. Für die Ewigkeit, wie man glaubte. Eine tiefe Rührung überwältigte die zerstreute Gemeinde der freien Menschen von Europa. Die Arten waren nicht geschaffen, waren geworden. Der Begriffsklotz Art war zerspalten. Ohne schlechtes Gewissen konnte man endlich Atheist sein; denn die Zweckmäßigkeit der Natur war jetzt ohne die zweckvolle Absicht eines Schöpfers erklärt. Es waren keine schlimmen Menschen, die glaubten, den endlichen Sieg des Menschengeistes erlebt zu haben. Wieder einmal. Ich sehe noch den lieben Lehrer der Naturgeschichte vor mir, der uns Prager Gymnasiasten die Lehre von der Veränderlichkeit der Arten am Beispiele der Haustauben vortrug (1866) und der dabei einmal bis zum Schluchzen ergriffen wurde. Wir verstanden nichts davon; es war schon viel, daß wir nicht lachten. Auch war er wenige Wochen später fortgejagt. Die Welt hatte also endlich das neue Schlagwort, nach dem sie seit der Reaktion der Freiheitskriege gestrebt hatte. Und seltsam: gerade der Begriff, der dem ersten Streben zugrunde lag, entwickelte sich jetzt aus der Anwendung des Historismus auf die organische Natur, auf den Menschen. Auch der Mensch mit allen seinen Gefühlen und Gedanken, mit seinen Gemütsbewegungen und ihrem Ausdruck ist nicht geschaffen, ist geworden. Evolution, nicht Revolution. Evolution war das neue Wort. Entwicklung. Mit fast deutscher Gründlichkeit und Systematik wurde das Wort von HERBERT SPENCER erfaßt, ja unsicher schon vor 1859, auf alles Menschliche angewandt: auf Biologie, Psychologie und Soziologie. Dem neuen Zeichen konnte der Sieg nicht fehlen. Ich habe an dieser Stelle nicht darüber zu berichten, was gegen den Darwinismus von klugen und freien Menschen seitdem vorgebracht worden ist, nicht zu prüfen, was grundsätzlich gegen die neue und kühne Fragestellung eingewendet werden kann. Ursache und Wirkung treten an die Stelle eines Gottes; aber Ursache und Wirkung sind vielleicht nicht weniger anthropomorphisch als der Gott. Die zweckvolle Absicht eines Schöpfers war aus der Welt geschafft, aber nicht der Zweckbegriff aus den Menschengehirnen. Zielstrebigkeit sagt man jetzt, und niemand lacht. Das Wort Entwicklung oder Evolution wird vergehen, wie andere Schlagworte gekommen und gegangen sind. DARWIN darf darum nicht verkleinert werden. Er hat die Menschen eine Vorstellung fassen lassen, die befreiend aufatmen ließ und nachwirken wird, auch wenn sich der Ausgangspunkt als falsch erweisen sollte. Auch wenn einmal wieder als falsch erkannt würde der alte Satz: natura non facit saltus [Die Natur macht keine Sprünge. - wp]. Nicht wie DARWIN die Teleologie vernichtet hat, wird bleiben; aber daß er ohne Teleologie die Natur begreifen wollte, der Erste, das kann nicht vergessen werden. Daß die Organismen geworden sind, das wird nachwirken; wie sie geworden sind, das hat auch DARWIN kaum für zwei Menschenalter überzeugend gewußt. Genug, wir können die Vorstellung fassen und aushalten: der Mensch und die andern Organismen sind, als ob sie geworden wären. Dem ersten Drittel des Jahrhunderts gehörte der Sieg des Historismus in den Geisteswissenschaften, dem zweiten Drittel der Sieg des Historismus in der Naturwissenschaft; im letzten Drittel vereinigten sich diese beiden Historismen zu einem Überfall über alles, was den Menschen lieb geworden war, Moral und soziale Tradition, und wir stecken alle noch mitten inne in dieser Selbstbewegung der Begriffe und fangen zu merken an, daß sie uns genarrt haben. Ein so starker politischer Revolutionär wie KARL MARX schien berufen, die ungezählten Arbeiterbataillone gegen die Staatenordnung zu führen; aber sein Historismus, den er materialistische Geschichtsauffassung nannte, ließ sogar ihn lehren: Evolution, nicht Revolution, nur das Gewordene besteht, die neue Gemeinschaft farà da se [wird selbst damit fertig werden - wp]. Und die Sozialdemokratie arbeitete sich ab im Parlamentarismus und Meliorismus [Glaube, daß im geschichtlichen Verlauf die Welt verbessert wird. - wp]; sie entwickelte sich, sah zu, wartete ab, war historisch und ließ aus ihrer Mitte den unhistorischen Anarchismus entstehen. Der alte Gegensatz, der solange in der Geologie spielte, ob nämlich die Erdkruste mit ihren Gebirgen sich geruhig durch Wassergewalt oder wild durch Feuergewalt gebildet hätte, wurde auf die sozialen Gebilde übertragen. Das letzte Wort hätte heute der Plutonismus, wenn er nicht selbst wieder historisch kränkelte. Der Historismus, der sich ganz natürlich an den Geisteswissenschaften entwickelt hatte, war also binnen weniger Jahrzehnte auf Naturwissenschaft und auf Soziologie übergesprungen. Nur ein Schritt war noch zu tun, damit der Historismus seinen sozialen Kreislauf vollende: Anwendung des Historismus auf die ewigen Wahrheiten der Moral, auf den kategorischen Imperativ. Noch SCHOPENHAUER hatte in seinem glänzenden Nachweise, daß Geschichte nicht nur tief unter Philosophie und Kunst stehe, sondern überhaupt als Lehre vom Individuellen gar nicht Wissenschaft sei, noch Schopenhauer hatte gegen den Wert der Geschichte (Die Welt als Wille und Vorstellung II, Seite 506) besonders den Einwand gemacht, daß "die Konstruktionsgeschichten (er meint HEGEL), von plattem Optimismus geleitet, zuletzt immer auf einen behaglichen, nahrhaften, fetten Staat, mit wohlgeregelter Konstitution, guter Justiz und Polizei, Technik und Industrie und höchstens auf intellektuelle Vervollkommnung hinauslaufen; weil diese in der Tat die allein mögliche ist, da das Moralische im wesentlichen unverändert bleibt". Sein System spielte ihm diesen Streich; im Moralischen steckte ja der tiefste Sinn des Willens, und der Wille war unveränderlich. Die Schüler SCHOPENHAUERs jedoch, nicht mehr gebunden an sein System, setzten die Zertrümmerung theologischer Vorstellungen im Geiste SCHOPENHAUERs fort. War für ihn die geschmähte Geschichte am Ende doch die Vernunft oder das Bewußtsein des Menschengeschlechts, so konnte oder mußte auch das moralische Bewußtsein ein Stoff der Geschichte werden. Es wird schwer auszumachen sein, wer diesen verwegenen Gedanken zuerst gefaßt und ausgesprochen hat, wer zuerst den Historismus, die Lehre vom Werden, auf die "ewigen" Wahrheiten der Moral übertragen hat. Vor NIETZSCHE hat PAUL RÉE unbarmherzig und trocken die Entstehung des Gewissens gelehrt; dann Nietzsche mit der ganzen Glut seiner Seele in dem Buche, das wieder einmal die schärfste Ausprägung des Gedankens im Titel trug: "Genealogie der Moral". Aber schon der junge NIETZSCHE der unzeitgemäßen Betrachtungen hatte von dem leidenschaftlichen Tatmenschen lange vor der Umwertung aller Werte gesagt: "alle Wertschätzungen sind verändert und entwertet". NIETZSCHE stand noch unselbständig unter dem Einflusse SCHOPENHAUERs, als er das zweite unzeitgemäße Stück schrieb. Von SCHOPENHAUER nahm er die wissenschaftliche, die philosophische Verachtung der Geschichte herüber. Schopenhauer starb eben, bevor der Historismus auf dem Gebiete der Naturwissenschaft und der Soziologie die Zeit zu beherrschen begann. Die Nichtanwendbarkeit des Historismus auf die Moral stand für SCHOPENHAUER fest. Seine Ablehnung der Geschichte ist noch fast ruhig; etwas Zorn und Leidenschaft mischt nur sein Verhältnis zu HEGEL bei. Für NIETZSCHE war das alles verändert. Er war der hungrige Frager, der alle neuesten Antworten gierig hinunterschlang: es mußte doch etwas Wahres sein an dem naturwissenschaftlichen Historismus, an dem soziologischen Historismus und gar an dem letzten, dem moralischen Historismus, der damals noch chaotisch in NIETZSCHE wühlte. Aber NIETZSCHE kannte die Befriedigung des Systematikers nicht. Ekel ohne Sättigung, das war immer der Ausgang. Ausspeien, was er hinuntergeschlungen hatte, das war die Erleichterung. Und so schrieb der junge NIETZSCHE, in dem der Historismus des 19. Jahrhunderts als moralischer Historismus seinen Höhepunkt erreichte, die Schrift, die den Historismus totschlagen sollte. Und für uns Studenten von damals totschlug: "Vom Nutzen und Nachteil der Historie für das Leben." Diese Schrift, die erste NIETZSCHEs, die ich kennen lernte, und die mir vielleicht darum heute noch als seine stärkste erscheint, hat mit ihrer Stimmung noch stärker gewirkt als mit ihrer Darlegung. Auch ist das Vorwort heftiger als die Abhandlung selbst. Die Abhandlung ist größtenteils abwägend geschrieben, gar sehr noch in offenbarer Nachahmung SCHOPENHAUERscher Sprache; noch fehlt die spätere Sucht, jedesmal das Äußerste zu sagen und sich am Worte bis zum Gegenworte zu berauschen. Nur im Vorwort meldet sich schon der künftige NIETZSCHE: "Ich glaube, daß wir alle an einem verzehrenden historischen Fieber leiden und mindestens erkennen sollten, daß wir daran leiden." Und vorher: "Ich habe mich bestrebt, eine Empfindung zu schildern, die mich oft genug gequält hat; ich räche mich an ihr, indem ich sie der Öffentlichkeit preisgebe." Dann aber kommt oft genug der Professor der Philologie zum Worte. Das Übermaß schadet dem Lebendigen, sei es nun ein Mensch, ein Volk oder eine Kultur. "Ein Mensch, der durch und durch nur historisch empfinden wollte, wäre dem ähnlich, der sich des Schlafens zu enthalten gezwungen würde, oder dem Tiere, das nur vom Wiederkäuen und immer wiederholten Wiederkäuen leben sollte." Dem Lebendigen gehöre die Historie in dreifacher Beziehung, als monumentalische, als antiquarische und als kritische Historie. Bei dem letzten Ausdruck hat es Nietzsche versehen, da er im Texte nicht kritische Geschichtsschreibung, sondern Aburteilung der Geschichte verlangt: "Jede Vergangenheit aber ist wert, verurteilt zu werden." Direkt von Schopenhauer hat Nietzsche den Gedanken, daß alles Historische individuell ist, daß, was einmal möglich war, "nie wieder bei dem Würfelspiele der Zukunft und des Zufalls herauskommen könne" (S. 24). Was sich die merken mögen, die Nietzsches letzte Gedankenflucht, die eine Wiederkehr des Gleichen fassen und lehren wollte, durchaus zum Höhepunkte von Nietzsches Wirken machen wollen. NIETZSCHE hat aus seinem Aperçu [Aphorismus - wp] den logischen Schluß gezogen, daß Geschichte überhaupt keine Wissenschaft sei. NIETZSCHE, der den Fluch des Historismus viel leidenschaftlicher empfand, kam dennoch zu einer so scharfen Schlußfolgerung nicht; er sah nur deutlicher als irgend jemand seit hundert Jahren, und mit den Blicken des Hasses, einen Gegensatz zwischen Leben und Historie, zwischen Tatmenschen und Philologen, zwischen einem BISMARCK und einem jungen Himmelsstürmer, der in Basel die Jungens philologisch abrichten mußte. Nur aus dem gelehrten Betriebe sehnt er sich heraus, wie FAUST, und nur so persönlich möchte er der Geschichte den Charakter der Wissenschaft absprechen. "Die Historie, sofern sie im Dienste des Lebens steht, steht im Dienste einer unhistorischen Macht und wird deshalb nie in dieser Unterordnung, reine Wissenschaft, etwa wie die Mathematik es ist, werden können und sollen« (Seite 18). Man achte auf die Verklausulierung: "in dieser Unterordnung", "reine Wissenschaft", "wie die Mathematik"; SCHOPENHAUER hatte klipp und klar gelehrt, daß Kenntnis von individuellen Vorgängen niemals zu Begriffen, niemals zu einer Wissenschaft führen könne. Wenn es nun so etwas wie eine Logik der Geschichte, eine Philosophie oder auch nur eine Geschichte der Geschichte gäbe, so wäre der Historismus oder die Überschätzung der Geschichte am Ende des 19. Jahrhunderts, ungefähr im 100. Jahre seines Alters fertig und begraben gewesen. Aber so ist die Wirklichkeit nicht. Wie von unsern Tieren und Pflanzen ihrer ersten Entstehung nach die einen den jüngsten Endepochen angehören mögen, die andern den ältesten, wie Elefanten und Schachtelhalme noch existieren, trotzdem sie durch die Entwicklung überholt sind, so leiten auch Begriffe weiter, die seit mehr denn einem Menschenalter totgesagt worden sind. Eine Vergleichung philosophischer Wörterbücher oder gar der philosophischen Sprache wird ganz augenscheinlich ergeben, wie lange scheinlebendige Begriffe noch als Gespenster umherwandeln können. Die Schule von LEIBNIZarbeitete mit den Worten des überwundenen DESCARTES, KANT arbeitete mit den Worten der überwundenen LEIBNIZ-WOLFF sehen Schule; und heute arbeiten die Überwinder KANTs, die in ihrer geschlossenen Reihe (LANGE, HELMHOLTZ, MACH usw.) schon neben ihn zu stellen sind, mit Kantischen Worten; da darf man sich nicht wundern, wenn der kleine Begriff Geschichte so kurz nach seinem Absterben noch für lebendig gehalten wird. Noch eine Menschlichkeit kommt hinzu. Der Historismus hat in den hundert Jahren seiner Herrschaft so unabsehbare Kleinarbeit gefördert und immerhin einige künstlerisch schaffende Männer zu so ansehnlichen historischen Werken veranlaßt, daß im gelehrten Klein- und Großbetrieb die Geschichte eine sehr respektable Disziplin geworden ist. Wer darf noch wagen, der Geschichte den Charakter einer Wissenschaft abzusprechen, wenn in Deutschland allein hundert ordentliche Professoren diesen Zweig menschlichen Wissens pflegen? Wer die Geschichte gering achten, nur fünf Jahre nach dem Sturze des unseligen letzten Kaisers, der noch mehr als sein Großoheim den Namen eines "Romantikers auf dem Thron" verdient hätte. Eines Priesters des Historismus. So sehr vergessen ist SCHOPENHAUERs unwiderlegliche Ablehnung der Geschichte, so unwirksam ist selbst in diesen Tagen des NIETZSCHE-Einflusses NIETZSCHEs Haß gegen die Geschichte, daß die führenden Philosophen - auch die dümmsten Zeiten haben führende Philosophen - ganz naiv der Geschichte ihren Platz, in dem System der Wissenschaften angewiesen haben. Es hat jede Zeit, auch die dümmste, ihr eignes System der Wissenschaften. Wer ein fernes Lachen liebt, der lese in WUNDTs "System der Philosophie" das Kapitel "Gliederung der Einzelwissenschaften". Jeder Sammler, der sich fest auf einen ordentlichen Lehrstuhl niedersetzen darf, wird zum Vertreter einer Wissenschaft. Wahrhaftig, wenn der Zufall der Universitätsgeschichte es gefügt hätte, daß der Reitlehrer der Studenten eine ordentliche Professur innehätte, ein Systematiker wie WUNDT würde die Reitkunst für eine Wissenschaft erklären. Ich glaube nicht zu übertreiben; denn WUNDT bringt es sogar fertig, die Theologie, "da sie" (abgesehen von ihrer historischen Seite) "über die allgemeine religiöse und ethische Bedeutung der besondern Glaubensanschauung, der sie dient, Rechenschaft geben will," zur Philosophie in nahe Beziehung zu bringen. WUNDT mag sich nichts Schlimmes dabei denken; denn die Bedeutung der Geschichte ist ihm ein Axiom. "Die Frage, ob der Geschichte der Menschheit überhaupt eine allgemeine Bedeutung zukomme oder nicht, scheint durch die bloße Existenz einer Wissenschaft der Geschichte schon beantwortet zu sein" (635). Er glaubt an eine der Geschichte immanente Entwicklung (642); denn "das Leben ist die wirksamste Schule der Sittlichkeit, ... der Erwerb der geschichtlichen Kultur ist das allerwesentlichste Mittel der gesamten geistigen Entwicklung des einzelnen, insbesondre also seiner sittlichen, religiösen und ästhetischen Vervollkommnung, indem er ihm überall reichere Mittel des Erkennens und des Handelns zur Verfügung stellt" (643). So WUNDT, von eines Verlegers und seiner Professorenkollegen Gnaden ein Klassiker der Philosophie. Aber etwas feiner haben SIGWART und WINDELBAND das gleiche Garn gesponnen: die Geschichte mit ihrem unabsehbaren Betrieb, mit ihren "Hilfswissenschaften" soll und muß, logisch und psychologisch, sich als Wissenschaft behaupten. Ich möchte demgegenüber nur noch, und strenger als bisher, zu zeigen suchen, daß die Tatsachen der Geschichte sich nicht zu Gesetzen zusammenfassen lassen, daß übrigens die Tatsachen der Geschichte nicht gewiß sind, immer nur einen Grad der Wahrscheinlichkeit für sich haben, daß also schon aus diesen beiden Gründen Geschichte nicht das ist, was wir sonst Wissenschaft nennen. Und weil mir lebhaft zum Bewußtsein gekommen ist, daß ich dabei allzu sehr unter dem Banne eines Aberglaubens stehe, den Begriff Wissenschaft für einen Augenblick zu feierlich genommen habe, muß ich mich jetzt mit dem internationalen Wort Historie auseinandersetzen, nachdem ich vorher die Wortgeschichte von Geschichte gab. Der älteste wie der neueste Sprachgebrauch ist mir günstig; nur gerade die hundert Jahre des ablaufenden Historismus überschätzen den Begriff. Im Griechischen bedeutet historia (von histor = kundig, Zeuge) das Betrachten, die Nachforschung, jede Kunde, auch die Kunde von Geschehenem; in dem gleichen Sinne erscheint historia zunächst lateinisch, erst langsam wird historia (fast immer in der Mehrzahl) der technische Ausdruck für die Erzählung irgend welcher Begebenheiten; Fabeln, Stadtklatsch und wichtige Begebenheiten sind Historien, werden volkstümlich heute noch mit dem gleichen Worte benannt wie die wissenschaftliche Geschichte oder Historie. Zweitausend Jahre lang fällt auch die große Geschichte, die Völker und Universalgeschichte, nicht unter den technischen Begriff scientia, science, Wissenschaft, wie er sich besonders seit der Scholastik auszubilden begann; wenn THOMAS die Wissenschaft recta ratio scibilium [gesundes normales vernünftiges Wissen - wp] nennt, so schließt er eigentlich die individuellen, irrationalen Geschichten aus. BACON unterscheidet sehr genau die historia, poesis und philosophia nach den drei Geistesfakultäten: memoria, phantasia und ratio; philosophia allein umfaßt die Wissenschaften. Fast noch schärfer trennt HOBBES die Geschichte als die Erkenntnis von Tatsachen und die eigentliche Wissenschaft als die Erkenntnis von Folgerungen. Alle Denker aller Zeiten verlangen von einer Wissenschaft irgendeinen systematischen Zusammenhang. KANT lehrt (man achte auf das seltsame soll): "Eine jede Lehre, wenn sie ein System, d. i. ein nach Prinzipien geordnetes Ganzes der Erkenntnis sein soll, heißt Wissenschaft." (Metaphysik, Anfangsgründer der Naturwissenschaft, Vorrede) Einer der neuesten Systematiker aller Wissenschaften ist schon bescheidener und hilft uns vielleicht weiter; SPENCER sieht die Unmöglichkeit des wissenschaftlichen Ideals und definiert science als "partially-unified knowledge" [teilweise vereinheitlichtes Wissen - wp] (First principles § 37). Und nun darf ich auf einen Sprachgebrauch hinweisen, der in allen Kultursprachen fast der gleiche ist und der ganz unbewußt zwischen Geschichte und Wissenschaft unterscheidet. Wir nennen die alte Übersicht über die vorhandenen Gruppen von natürlichen Dingen Naturgeschichte; Pflanzen und Tiere, die man beschrieben hat und auch wohl künstlich geordnet, gehören der Naturgeschichte an; eine Übersicht über die Gestirne nennt man Naturgeschichte des Himmels. Zu Naturwissenschaften werden Kenntnisse auf allen diesen Gebieten erst durch einigen Einblick in die sogenannten. Gesetze des Werdens; dann erst spricht man von Astronomie, Physiologie, Biologie usw. Wir wissen ja niemals soviel von den Dingen, wie die Wissenschaften glauben; aber alle Wissenschaften sind Sehnsüchte, Ideale, menschliche Annäherungen an Erklärung eines Wissensgebietes. Was wir Wissenschaft nennen, ist immer die gemeinsame, meinetwegen illusionäre Arbeit auf dem Wege zu einem solchen Erkenntnisideal. Geschichtliches Wissen jedoch kann, wenn der Forscher Besinnung und Kritik hat, diese Jllusion niemals haben. Auch das Ideal der Geschichte wäre noch nicht Wissenschaft. Ideale Befriedigung aller Neugier würde der Wißbegier, der naturwissenschaftlichen, nichts bieten. Man wollte sich denn in das asylum ignorantiae [Asyl der Unwissenheit - wp]hineinträumen, in die Allwissenheit Gottes, wo es dann keinen Unterschied mehr gäbe zwischen Natur und Geist, zwischen Wissenschaft und Geschichte, aber auch keinen mehr zwischen Wissen und Nichtwissen! Denn allwissend könnte nur sein, in törichter Menschensprache gesagt, wer zugleich Gott wäre und zugleich Natur. Der also alles wäre, gar nichts wüßte. Und wenn ich schon phantasiere, so will ich nur gestehen, daß ich mir einen noch umfassenderen Geist als den allwissenden alten Juden-Gott fast vorstellen kann: einen überzeitlichen Geist, vor dem Sein und Werden nur eins ist, weil er überall immer ist, nicht nur immer war; für den also sein Erleben oder Erwissen zugleich Welt und Geschichte ist. Kehren wir aber nach einem solchen Fluge zu der Erde zurück und zu ihren Professoren, so ist Geschichte doch keine richtige Wissenschaft. Der Hauptgrund SCHOPENHAUERs gegen die wissenschaftliche Qualität der Historie, daß nämlich ihr Inhalt, die europäischen und irdischen Katzbalgereien, immer individuell bleibe, nicht zu einem Begriff erhoben werden könne, dieser Hauptgrund ist wichtig genug, wäre mir aber noch nicht der letzte. Mein letzter Grund für die wissenschaftliche Wertlosigkeit der Geschichte ist der Satz, den ich schon in mancherlei Umformung ausgesprochen habe, den ich für das wichtigste Ergebnis der Sprachkritik halte und den ich noch niemals, auch nur zu meiner eignen Befriedigung, ganz seiner Wichtigkeit gemäß in Worten ausdrücken konnte: daß die arme Menschheit immer wieder Notwendigkeit und Gesetzmäßigkeit miteinander verwechsle. Notwendigkeit findet sich immer und überall; aber wir sind es, die sie in die Welt hineinlegen; Gesetzmäßigkeit suchen wir in der Welt, wollen sie aus der Natur herausholen. Wissenschaft ist uns jede Gruppe von Annäherungen an Gesetzlichkeit, die hundert Generationen der besten Forscher aus der Natur herausgeholt haben. Was geschieht, was Menschen tun, sei es wertvoll oder wertlos, ist notwendig, leitet aber nicht zu Gesetzen. Daß NAPOLEON sich übernahm und auch noch nach Russland marschierte, daß ich in dieser Stunde eine Zigarre mehr rauchte als sonst, sind zwei wirklich geschehene Tatsachen, beide notwendig, beide - was man für die größten und für die lächerlich kleinsten Tatsachen der Geschichte mit Recht fordert - nicht ohne Folgen. Ich werde gut daran tun, weiter nur von dem einen der beiden Beispiele zu reden. Humoristische Psychologen mögen sich das zweite Beispiel mit vorstellen. Gerade in der Geschichte NAPOLEONs sind eine große Zahl sogenannter historischer Gesetze nachgewiesen worden. Nach einem solchen Gesetze wurde er Kaiser: auf die Revolution folgt Despotismus. Gesetzmäßig schlug er Preussen nieder: die Überhebung der preußischen Offiziere führte zur Nachlässigkeit. Gesetzmäßig strebte er nach dem Unmöglichen: ein Eroberer kann sich nur durch weitere Eroberungen halten usw. Und auch die Gesetzmäßigkeiten der Natur fehlen im Bilde nicht: der Winter in Russland ist kalt usw. Zieht man nun von allen diesen historischen Gesetzen ab, was theologisches (NAPOLEON und der Papst), was moralisches und was Geschwätz an sich ist, so kommt die alte Verwechslung von Notwendigkeit und Gesetzmäßigkeit zum Vorschein. Notwendig, also zufällig ist die heroische Laufbahn NAPOLEONs so sicher, wie das Niederfallen dieses Regentröpfchens in diesem Augenblicke auf dieses Blatt meiner Glycine notwendig ist, also zufällig. Aus dem Ereignis des Regentropfens läßt sich allerlei Gesetzliches herausholen: für die Fallgesetze der Mechanik, für die Wärmelehre, für die Biologie der Pflanzen, minimal aber wissenschaftlich; aus dem Ereignisse NAPOLEON, der doch auch mir interessanter ist als mein Regentropfen oder meine Zigarre, läßt sich durchaus nichts Gesetzliches für irgendeine Wissenschaft herausholen. Dabei ist es einerlei, ob man in der Geschichte der Menschheit Ideen verkörpert sieht oder die materialistische Geschichtsauffassung teilt. Ob man auf die great-men-Theorie schwört oder auf die Milieutheorie. Auch für den Einwand des individuellen Geschehens, für den Einwand SCHOPENHAUERs, ist es einerlei, weil auch die Wirkungen, der Umwelt sich genau niemals wiederholen können. Daß aber für die Lehre, das Weltgeschehen sei nicht gesetzlich, sondern notwendig, also zufällig, die Frage nach der Geistigkeit oder Stofflichkeit der Ursachen gleichgültig sei, darauf möchte ich doch mit einem Worte hinweisen. Aus Ideen und Psychologie erklären die einen die ganze Geschichte, aus materiellen Bedürfnissen und Nationalökonomie die andern; und die besten Künstler unter den Geschichtsschreibern brauen sich ein Gemisch von Psychologie und Nationalökonomie zusammen, d.h. sie wenden auf die Erklärung der Geschichte den sog. gesunden Menschenverstand an. Man nennt dies auch pragmatische Geschichtsschreibung. Nun sind Psychologie und Nationalökonomie immerhin auf dem Wege nach wissenschaftlichen Zielen. Anspruchslose Leute dürfen sogar von psychologischen, von nationalökonomischen Gesetzen reden. Weil nun die Notwendigkeiten des geschichtlichen Geschehens ihren Ursachen nach unter die Gebiete der Psychologie und der Nationalökonomie fallen, d.h. bald zu den Ereignissen des Menscheninnern gehören, bald zu der Statistik, darum täuschen die unausrottbaren Philosophen der Geschichte sich und andern vor, die Gesetzmäßigkeiten, die von Spezialisten der Psychologie und der Nationalökonomie behauptet werden, wären auch in der Geschichte zu finden. Schon da wird mit dem Begriffe Gesetzmäßigkeit Unfug getrieben; was sich im Innenleben der handelnden Helden der Geschichte ewig wiederholt, das sind natürlich psychologische Vorgänge, die unter die paar psychologischen Gesetze fallen, welche bei der Selbstbeobachtung der Menschen herausgekommen sind; daraufhin spricht man getrost von Gesetzen in der Geschichte, von historischen Gesetzen, und konstruiert ein Weltbild, dem keine Wirklichkeit entspricht, das schlecht über die Vergangenheit und gar nicht über die Zukunft belehrt. Was doch historische Gesetze wie alle Gesetze gut leisten müßten. Solche Erkenntnis brach sich klar oder unklar Bahn, als das Jahrhundert des Historismus abzulaufen begann. Da war auch die Zeit gekommen, daß diejenigen Kollegen aus den philosophischen Fakultäten, die sich, insbesondere Philosophen nennen, den Historikern eben beisprangen und bewiesen: die Geschichte ist und bleibt eine Wissenschaft. Seit zwanzig Jahren ist das oft geschehen. Ein feinerer Kopf, Windelband, fühlte zuerst das Bedürfnis, schärfer zwischen Normen und Naturgesetzen, zwischen Geschichte und Naturwissenschaft zu unterscheiden. Er legt den Finger auf Mängel der alten Logik, die eigentlich nur klassifikatorisch war, die für die Gesetzeswissenschaften (Mechanik usw.) umgestaltet werden mußte und für die Ereigniswissenschaften gänzlich versagte. Ich glaube freilich, daß aus Windelbands Darlegungen die Unwissenschaftlichkeit der Geschichte erst recht hervorgeht und daß seine neuen Bezeichnungen ( idiographisch und nomothetisch) kein Glück haben werden. Nicht ganz so anregend waren Simmels "Probleme der Geschichtsphilosophie", die die Wirklichkeitswissenschaft der Geschichte noch energischer den Gesetzeswissenschaften gegenüberstellte. Ich muß noch ein Buch erwähnen, das die Gedanken Windelbands mit viel Wasser verlängert und verbreitert hat. HEINRICH RICKERTs "Die Grenzen der naturwissenschaftlichen Begriffsbildung"; eins von den Büchern des Philosophiebetriebes, von denen zwölf auf ein Dutzend gehen. Es muß erwähnt werden, nicht weil es bei dem geltenden Höflichkeitsaustausch der Professoren oft "berücksichtigt" worden ist, sondern weil seine Problemstellung dilettantisch ist, erkenntnistheoretisch im Stande der Unschuld, und weil die gefoppten Leser von einem berufenen Professor nach grundfalschen Darlegungen mit einem schlecht posierten triumphierenden Heureka entlassen werden: "das in der Einleitung dieser Schrift gestellte Problem der Wissenschaftslehre ist jetzt gelöst" (704). Das Problem wird schon im Titel dies Buches verschleiert. Daß die logische Begriffsbildung der Naturwissenschaften nicht einwandfrei sei, das wußte man längst, ganz bestimmt seit SIGWART. RICKERT will etwas andres behaupten und beweisen: daß es eine ganz andere Art von Begriffen gebe als die naturwissenschaftlichen, die historischen Begriffe, und daß diese angeblichen historischen Begriffe nach einer ganz andern Methode zustande kommen, die von guten Historikern praktisch geübt, von RICKERT aber erst dem Arsenal der Methoden theoretisch hinzugefügt worden sei. Wenn ich nur unter den 20000 Worten oder Begriffen einer Kultursprache ein einziges Wort entdecken könnte, einen einzigen Begriff, der auf die Bezeichnung historischer Begriff Anspruch machen könnte. Das, woraus RICKERT sein Problem gemacht hat, gibt es gar nicht. Es gibt eine besondre Übung für die Benützung historischer Quellen, eine philologische Kritik, die den gelehrten Scharfsinn in besondrer Art spezialisiert hat. Aber RICKERT weiß denn doch und sagt es auch, daß diese Tätigkeit mit seinem Problem nichts zu schaffen habe. In Auffassung und Darstellung der Geschichte, in der Geschichtsschreibung also sollen die historischen Begriffe allein zu finden sein. Geschichtsschreibung ist aber Erzählung wie jede andre Erzählung; HERODOTs und LIVIUS, GIBBON und TAINE, RANKE und MOMMSEN unterscheiden sich von einem großen dichtenden Erzähler nur durch die Stoffbildung, durch die Wahrheit der Geschichten (wenn nicht auch dieser Unterschied ein relativer wäre), nicht durch das gemeinsame Ausdrucksmittel der Sprache, nicht durch die Begriffe. Es wäre denn, daß der Historiker Ideen und Gesetze gäbe anstatt Tatsachen, Unwahrheit anstatt Wahrheit, so daß er nicht mehr ein guter Erzähler, sondern ein schlechter Dichter zu heißen verdiente. Ein paar Beispiele sollen mir helfen, über den Widersinn der Bezeichnung historische Begriffe aufzuklären. In der unabsehbaren Masse der organischen und unorganischen Naturdinge haben sich die Menschen so viel ordentlicher und zweckmäßiger zurechtgefunden als die Tiere, weil sie seit Menschengedenken (seitdem es Sprache gibt nämlich) ähnliche Dinge unter Worten oder Begriffen zusammengefaßt haben. Und so immer höher hinauf wieder die ähnlichen Begriffe, bis in unsern Naturwissenschaften eine recht bequeme, meinetwegen bewunderungswürdige Übersicht möglich wurde. Die Aufmerksamkeit der Menschen ist immer vom Interesse gelenkt, und die Sprache ist immer materialistisch. Da war es denn nicht gleichgültig, ob die naturwissenschaftliche Begriffsbildung am Interesse haften blieb oder nicht, interesselos, d.h. wissenschaftlich wurde oder nicht. Es gab etwas wie Botanik auch damals schon, als man unter den Kräutern absonderlich die Gruppen der offizinellen Kräuter und der Küchenkräuter heraushob; aber die Botanik ist doch etwas wissenschaftlicher geworden, seitdem man die Pflanzen ohne das Interesse an der Heilkraft und an ihrem Wohlgeschmack nach Familien ordnet. Ebenso ist die Mineralogie wissenschaftlicher geworden, seitdem sie nicht mehr allein dem Interesse des Bergmanns dient; die Astronomie, seitdem ihr Nutzen für die Kalendermacher nur noch nebenbei abfällt und Astrologie nicht mehr geglaubt wird. Ob die Einteilungsgründe der naturwissenschaftlichen Gruppen übrigens natürlich oder künstlich sind, das gehört auf ein andres Feld. Die Sehnsucht und damit die Annäherung an ein natürliches System macht unser Naturwissen nach unserm Sprachgebrauch zu Wissenschaft. Durch die naturwissenschaftliche Begriffsbildung, die auch die natürliche Begriffsbildung der Sprache ist, ist die unabsehbare Masse der Naturdinge übersehbar geworden. Das springt noch deutlicher in die Augen, seitdem die Einführung des Mikroskops und dann die Einführung des Infinitesimalen in die Theorie die Zahl der Dinge für Naturgeschichte und Physik fast grotesk gesteigert hat. Denn die Zahl der Elemente oder Arten oder Begriffe ist nur ganz unverhältnismäßig wenig gewachsen. Es gibt eben in der Natur Milliarden von Dingen, die die Wissenschaft mit Recht als identisch ansieht, die die Sprache mit Recht unter einem Worte oder Begriffe zusammenfaßt. Auch die historische Forschung ist im 19. Jahrhundert mikroskopisch geworden. Man hat nicht nur viele Archive ausgeschüttet und unendliche Sammelwerke von Inschriften in bekannten und unbekannten Sprachen angelegt; man hat gesammelt und sammelt weiter, was irgend über oder unter der Erde einmal war und vielleicht einmal für irgendein noch nicht vorhandenes historisches Thema benützt werden könnte. Aber diese unabsehbare Masse historischer Beobachtungen ist nicht zu ordnen, weil es da kaum einmal Ähnlichkeiten gibt, niemals Identitäten. Das Notizenmaterial für die Schlacht von Sedan ist ungeheuer groß, weil jeder Befehlszettel jedes Offiziers aufbewahrt worden ist; aber auch das Notizenmaterial der Schlacht von Marathon ist sehr groß geworden, wenn man alle philologischen Untersuchungen über die paar Zeilen der Quellen von HERODOT bis SUIDAS hinzunimmt, dann die unendliche Fülle der Ausgrabungen bis herunter zu der mikroskopischen Untersuchung der Aschenlage des Grabhügels auf dem Schlachtfelde. Und dieses ganze Material setzt den Geschichtsschreiber doch nur instand, den Verlauf der Schlacht von Marathon, den Verlauf der Schlacht von Sedan wahrheitsgetreuer zu erzählen, in zehn Zeilen oder in einem Bande von tausend Druckseiten. Zu einem wissenschaftlichen Schlüsse berechtigen diese Erzählungen nicht, die immer wieder nur einen einzigen Fall berichten. Eine einzige mikroskopische Untersuchung einer Fliege von einer bestimmten Art läßt darauf schließen, alle richtig beobachteten Tatsachen bei tausend andern Fliegen der gleichen Art wieder zu finden; die genaueste Betrachtung von tausend Schlachten läßt den Ausgang keiner einzigen vorhersagen. Noch einmal: "Das Beste, was wir von der Geschichte haben, ist der Enthusiasmus, den sie erregt"; der nachwirkende Enthusiasmus der Schlacht von Marathon ist wieder eine sog. historische Tatsache, die nicht anders wird dadurch, daß die neuen Forschungen die Aufschneidereien der Athener enthüllt sind die Völkerschlacht zu einem kleinen Arrièregardengefecht zurechtgerückt haben. Fliege ist ein naturwissenschaftlicher Begriff, der methodisch verbessert werden konnte; Schlacht ist ein nachlässiger Begriff der Gemeinsprache, der durch keine Methode verbessert werden kann. Es gibt keine historischen Begriffe. Aus dem unabsehbaren Nebeneinander der Naturdinge vollzieht zuerst grob die Gemeinsprache und dann immer feiner die Wissenschaft die Auswahl der ordnenden Begriffe, die eine Übersicht ermöglichen. Die Auswahl der Einteilungsgründe, wohlgemerkt; so interesselos, uneigennützig, wie die Sprache und nachher die Wissenschaft gelernt hat, Farben und Töne zu ordnen und das Fallen eines Steines mit dem Lauf der Gestirne uneigennützig unter einen Begriff zu bringen. Auch die bessere Geschichtsschreibung trifft eine Auswahl: sie bewertet die Schlachten Napoleons höher als seine Weibergeschichten. Aber die Werturteile der Geschichte können gar nicht interesselos sein; sie sind wesentlich vom Interesse gerichtet, selbst dann, wenn der Geschichteschreiber einzig und allein der Kausalkette bis zur Gegenwart nachgehen wollte. Das Interesse an der jeweiligen Gegenwart, besser: ein gegenwärtiges Interesse trifft die Auswahl aus der Vergangenheit. In unsern Schulen wird die Geschichte Roms, Griechenlands und Israels ausführlich behandelt; in Japan kümmert man sich wenig um Rom, Hellas und gar Israel. Anders trifft ein Franzose die Auswahl, anders ein Deutscher. Die alte Forderung, der pragmatische Historiker solle keinen Glauben und kein Vaterland haben, ist unerfüllbar. Auf die Folgen für die Wahrheit der Geschichtsschreibung will ich noch zurückkommen. Durch die Beziehung auf die jeweilige Gegenwart ist die beste Geschichtsschreibung immer journalistisch im höchsten Sinne. TACITUS, MACCHIAVELLI, aber auch Gervinus und Mommsen wollten auf ihre Zeitgenossen wirken. Mit tendenziösen Darstellungen. Mit bewußten oder unbewußten Fälschungen, die man ja auch Satiren nennen kann. Seit Gustav Freytag bis auf den heutigen Tag ist der Cäsarenwahnsinn NEROs ein beliebtes Thema solcher Satire. Ob NERO so war, wir er dargestellt wird, bleibe unentschieden. Was aber kann die Geschichte mit dem Begriffe Cäsarenwahnsinn anfangen? Wahnsinn ist ein allgemeiner, ungenauer Begriff der Gemeinsprache, ein nur wenig gesäuberter Begriff der Naturwissenschaft, die in diesem Falle physiologische Psychologie heißt. Einen historischen Begriff Cäsarenwahnsinn gibt es nicht; man müßte denn darunter die Predigerbanalität verstehen, daß übergroße Macht zu Ausschreitungen verführt. Gegen den terminologischen Sprachmißbrauch des sehr ordentlichen Professors RICKERT ist scheinbar eine neuere Untersuchung von KURT STERNBERG gerichtet, die 1914 erschienen ist; aber die breiten Banalitäten RICKERT werden immer wieder angeführt; SCHOPENHAUERs grundlegende Kritik der Geschichte wird fast nicht erwähnt. Das Problem STERNBERGs ist "die Logik der Geschichtswissenschaft". Über Individuen und Gesamtheiten werden kluge Dinge gesagt, auch (trotz Unterschätzung HUMES) über die Psychologie des Kausalbegriffs und über den Irrtum einer individuellen Kausalität, der - der Irrtum - doch erst durch meine Unterscheidung zwischen Notwendigkeit und Gesetzlichkeit für das Problem der Geschichte aufgeklärt wird. Eine besondre Logik der Geschichts wissenschaft kann ich aber so wenig zugeben wie eine besondere historische Logik. KANT schloß wohl selbst die Geschichte aus dem System der Wissenschaften aus, da er an der berühmten Steile (Metaphysik, Anfangsgründe der Naturwissenschaft, Vorrede) nur da echte Wissenschaft sah, wo Mathematik angewandt werden kann. Naturwissen gibt (wie alle Mathematik) Voraussicht, Geschichte nicht. Voir pour prévoir [Sehen um Vorherzusehen - wp] (COMTE) kann sie nicht. Sie ist keine Wissenschaft. Nun könnte man mir entgegenhalten, daß die Neuzeit eine ganze Reihe von Wissenschaften aufgebaut hat, die zugleich naturwissenschaftlich und historisch sind. Wir haben oder glauben zu haben außer der bloß gelehrten Geschichte der einzelnen Naturwissenschaften auch etwas viel Größeres: eine Geschichte der Naturdinge. Wir reden seit Kant von einer natürlichen Entstehung unsres Planetensystems, der Natur geschichte des Himmels, wir können seit MENDELEJEFF von einer Geschichte der Elemente reden, und die Geschichte des Erdkörpers ist uns ein so vertrauter Begriff geworden, daß man das bißchen Weltgeschichte recht gut als Nachtrag zu einer Geologie auffassen könnte. Könnte man nun von diesen Geschichten der Naturdinge als von historischen Begriffen reden? Nein. Diese Geschichten werden immer weniger Wissenschaft und immer mehr Historie, je mehr Leben oder gar Psychologie in ihren Objekten steckt. Am ehesten könnte man und ganz verwegen von einer Geschichte der Naturdinge bei den sog. chemischen Elementen sprechen, wenn diese - wie man jetzt anzunehmen beginnt - aus einem Urelement hervorgegangen wären. Diese Entwicklung bleibt aber eine Hypothese, bis ein Versuch im Laboratorium den Nachweis erbracht hat; dann aber kann die Verwandlung der Elemente wiederholt werden, gehört der Naturwissenschaft an, und die erstmalige Verwandlung der Urelemente in andre Elemente ist nur noch ein Spezialfall eines Naturgesetzes. Die Entstehung unsres Planetensystems wäre wiederum - die Richtigkeit des Kant-Laplaceschen Systems vorausgesetzt - nur von unserm Sonnensystemstandpunkte aus Geschichte, ein Spezialfall; für den Kosmos, wenn wirklich am Himmel ähnliche Systeme im Sinne der LAPLACEschen Theorie entstehen und vergehen, wären ungezählte Wiederholungen vorhanden; verifizierte Hypothese wäre ein Naturgesetz. Nur unser Einzelfall wäre Geschichte, wie ihr eigenes Leben auch für die Fliege ihre Geschichte ist. Dasselbe gilt für die Geologie. Wüßten wir auch alles Erforschbare über die Entstehung der festen Erdkruste, wäre eine ähnliche feste Kruste auf den andern Planeten eine verifizierte Hypothese und würde der gegenwärtige Aggregatzustand der Sonne und der Fixsterne einem uralten Zustande der Planeten sicher entsprechen, so hätten wir gesetzliche Wiederholungen, von denen unsere Geologie nur ein Spezialfall der Astrogonie [Sternenursprungskunde - wp] wäre. Die Geschichte all dieser Naturdinge wäre also etwas ganz andres, wäre nach dem Sprachgebrauch weit mehr Wissenschaft als die Menschengeschichte, die sog. Weltgeschichte auf der Erdkruste, weil doch keine ernsthafte Hypothese von menschenähnlichen Wesen auf irgendeinem Himmelskörper zu sprechen berechtigt. Die Weltgeschichte also ist auch von diesem Gesichtspunkte aus eine ganz einzige und individuelle Erscheinung, ist kein Spezialfall wiederholter Regelmäßigkeiten, läßt sich mit nichts auf der Welt vergleichen. Man sieht also: die neue erschlossne Geschichte der Naturdinge nähert sich immer mehr einer naturwissenschaftlichen, gesetzfindenden Behandlung, je toter, unlebendiger, seelenloser die Naturdinge für unsre menschliche Auffassung sind; versagt sich der wissenschaftlichen Behandlung um so mehr, je psychologischer die Vorgänge für uns sind. Könnten wir Entstehung der Elemente, Astrogonie und Geologie in kleinen Laboratoriumsversuchen wiederholen, dann würde diesen Historien der Naturdinge doch wieder etwas von ihrem Geschichtscharakter genommen, weil die Zeitfolge, die in der Menschengeschichte das einzige Band ist, gleichgültig wird für wiederholte Versuche. Seitdem Sauerstoff in der Retorte hergestellt worden ist, kann Sauerstoff immer hergestellt werden. Der psychologische Wille eines Schlachtenlenkers ist weder bei ihm selbst wiederholbar, noch bei andern Schlachtenlenkern. ![]() |