cr-3Natur der ForschungPeter KampitsJanik/ToulminMach / Mauthner 
 
ANDREAS BERLAGE
Ernst Mach und Fritz Mauthner

Die ambivalente Verwendung des Begriffs der Empfindung weist hingegen schon darauf hin, daß in ihr der Schlüssel zum Verständnis dieser Philosophie liegt.

Das Werk, das zur Grundlage einer MACHschen Philosophie werden konnte, die "Analyse der Empfindungen", ist dies nur bedingt: zum einen sah MACH selbst die gewaltige Reduktion, die er auf dem Gebiet der Philosophie vorzunehmen sich anschickte und wollte - im Einklang mit seinen Grundsätzen den Titel eines Naturforschers nicht gegen den eines Philosophen tauschen. Zum andern ist die "Analyse der Empfindungen" kein philosophisches Buch, sondern eines über Sinnesphysiologie, also ein im damaligen Verständnis auch psychologisches. Trotzdem ist das ganze Werk durchdrungen von dem Streben nach einer theoretischen Grundlegung der Forschungen und der Stellung dieser im größeren Zusammenhang der Bedingungen von Erkenntnis. Erste Orientierung bieten die Antimetaphysischen Vorbemerkungen, dort heißt es:
Man betone nicht die Einheit des Bewusstseins. Da der scheinbare Gegensatz der wirklichen und der empfundenen Welt nur in der Betrachtungsweise liegt, eine eigentliche Kluft aber nicht existiert, so ist ein mannigfaltiger zusammenhängender Inhalt des Bewußtseins um nichts schwerer zu verstehen, als der mannigfaltige Zusammenhang der Welt.
Wenn wir uns hier nicht durch die im Zitat gleichzeitig bereits enthaltenen Implikate dieses Denkens verwirren lassen, können wir seinen ersten Grundsatz klar erkennen: ausgehen müsse man von dem Zusammenhang (der Identität) der Wirklichkeit - in die auch das Bewußtsein eingeschlossen ist mit ihrer Erkenntnis durch das Subjekt. Wohl kann sich die Betrachtungsweise einmal auf die wirkliche Welt, einmal auf die Welt, wie wir sie erkennen richten, beide jedoch finden sich zwangsläufig in unserer Betrachtung zusammen, deren Maxime der "naive Realismus" des "gemeinen Mannes" sei. Für diesen existiert vorerst keine Scheidung zwischen der Welt und ihrer Aufnahme durch den Menschen; Denken, Wahrnehmen und Handeln sind dem Realismus eine große, natürlich gegebene Einheit.
"Derselbe hat sich ohne das absichtliche Zuthun des Menschen in unmessbar langer Zeit ergeben; er ist ein Naturproduct und wird durch die Natur erhalten."
Alle Leistungen der Philosophie seien daneben nur ein "Kunstproduct", ohne jeden praktischen Wert. Das Stichwort zum Verständnis und zur Einschätzung seiner Überlegungen gibt uns Mach selbst am Ende des Kapitels. Dort heißt es, daß hingegen kein Standpunkt absolute Geltung besäße und nur in einem entsprechenden Verhältnis zu seinem Zweck beurteilt werden könne. Dieser Zweck ist im vorliegenden Falle eine Analyse der Empfindungen.

Wogegen stellt sich MACH hier und was sind die Schwierigkeiten, die er durch diese Grundlegung aus dem Weg räumen möchte? Es sind die alten Vorstellungen von beständigem Ich und beständigen Körpern und die prinzipielle Unterschiedenheit von  res cogitans  und  res extensa,  einem erkennenden Subjekt und einem erkannten Objekt, die die Forschung behindern. Zwar seien beide für sich relativ beständig, einer ersten Verständigung dienlich, aber dies dürfe nicht dazu verleiten, sie als metaphysische Substanzen zu verstehen. Gerade die Veränderungen an ihnen seien es nämlich, die uns von Eigenschaften derselben sprechen ließen; darüber hinaus stünden Ich und Körperwelt in einem Zusammenhang: einerseits sei das Ich nicht absolut von seiner Umgebung abgegrenzt, die Grenzen verliefen vielmehr fließend; andrerseits hingen die Körper in ihrer Erscheinungsform von unserer Betrachtungsweise ab.

Das führt auf den ersten Blick zu unüberwindlichen Schwierigkeiten, denn reine Willkür scheint es zu sein, die beide Wege ermöglicht: die Entgrenzung des Ich bis zum Solipsismus, in dem das Ich die ganze Welt umfaßt ("Spiritualismus"), oder die alleinige Kenntnisnahme der sinnlich zugänglichen Außenwelt und ihrer "Wirkungen", die selbst wiederum als Gegenstände wissenschaftlicher Beobachtung erscheinen, wodurch Empfindungen entweder gänzlich abgelehnt oder physikalisch aufgefaßt werden, jedenfalls aber der Zusammenhang der beiden Bereiche Welt und Erkenntnis derselben umgekehrt einseitig aufgelöst wird ("Materialismus"). In der Argumentation MACHs wird also ein sowohl dem traditionellen Empirismus wie dem Idealismus innewohnendes spekulatives (idealistisches) Element deutlich.

Die Alternative ist für ihn - der auf diese Weise dem naiven Realismus entspricht - die wissenschaftliche Besinnung auf das, was wir tatsächlich wahrnehmen; dies aber ist empfindungsbestimmt. Wo wir fragen, was es ist, was wir von der Dingwelt um uns haben, aber auch wie wir uns selbst gegeben sind, kommen wir zu dem Schluß, daß uns alles in Empfindungsform allein zur Verfügung steht. (Auch die geistigen Prozesse wird MACH über die von gewissen Prinzipien geleitete Assoziationstätigkeit mit dem in der Erinnerung gespeicherten Empfindungsmaterial erklären.) Über Empfindungen können wir nicht hinausgehen und hinter sie nicht zurückblicken, sie konstituieren folglich unsere Erkenntnis; die Begriffe wissenschaftlicher Beschreibung wie Materie, Energie, Gewicht, Form etc. ließen sich auf Grundempfindungen - Elemente nennt sie MACH - zurückführen. Man könne also sagen, daß sich Gegenstände der Erkenntnis als Komplexe, als bestimmte Verknüpfungen von Elementen, "Farben, Tönen, Wärmen, Drücken, Räumen, Zeiten usw." verstehen lassen, und zwar sowohl  res extensa  als auch  res cogitans. 

Der vermittlungsbedürftige Dualismus von Ich und Welt ist somit in der vorausgesetzten Einheitlichkeit der Empfindungen aufgehoben, damit auch die Zweiheit von Erkenntnisart und Erkenntnisinhalt: alles, was uns beschäftigt, läßt sich auch als Empfindung fassen. Wesentlich ist es, dabei festzuhalten, daß MACH über das Konzept des naiven Realismus hinausgeht: War für diesen Erkenntnis unabhängig vom Anteil des erkennenden Subjekts am Erkenntnisvorgang, so steht das Empfindungsdenken eine Ebene darüber auf dem Standpunkt der Identität von Erkenntnis und Erkanntem, ja selbst Erkennendem in der Empfindung. Das aber soll durch realistische Einsicht verbürgt sein.

Worauf lassen sich die Begriffe "Ich" und "Körper" sonst noch gründen, welche Evidenz besitzen wir von ihnen? Keine, sagt MACH, denn von diesen Entitäten zu sprechen bedeute, sich dem konventionellen Gebrauch einer Substanzvorstellung anzupassen, die einen streng begrenzten Sinn habe. Die metaphysischen Spekulationen über sogenannte Substanzen seien dabei als falsche Verabsolutierungen des Begriffs abzulehnen. Der Wissenschaft zugänglich seien allein wie auch immer komplizierte Verknüpfungen von Empfindungen, die sich in mathematischen Funktionen ausdrücken ließen. Wissenschaftlicher Fortschritt könne hingegen erzielt werden, wenn wir von der konventionellen Einheitlichkeit von Körpern und Ich absehen zugunsten einer analytischen Betrachtung ihrer Bestandteile. Durch diese und in ihnen zeigt sich erst das Wesen der Begriffe, die dann selbst überflüssig werden, zumal ihr fiktionaler Charakter in der Wissenschaft als hinderlich sich darstellt.

Kehren wir zu oben angeführtem Zitat zurück: Indem sich die Untersuchung auf das Grenzgebiet von Geist und Materie, auf die Analyse der Empfindungen richtet, stellt sich heraus, daß es nicht nur keine scharfe Grenze zwischen beiden gibt, sondern vielmehr einen stets vorauszusetzenden Zusammenhang; bei der durch den fortgesetzten naiven Realismus (der freilich ganz so naiv nicht mehr ist verbürgten Besinnung auf die Inhalte unseres Bewußtseins erkennen wir, daß diese uns nur in Form von Empfindungen vorliegen, welche stets aus einer begrenzten Anzahl derselben Elemente zusammengesetzt sind. Monismus tritt somit an die Stelle von Dualismus. Damit ist sowohl die idealistische Spekulation durch ein Programm wissenschaftlicher Untersuchungen ersetzt, als auch der vom Empirismus ausgegrenzte Bereich des Geistes prinzipiell der Analyse erschlossen. Das Ergebnis ist ein rein positives, denn sowohl die wirkliche Welt ist eine empfundene, als auch die empfundene selbst wirklich.

Man sieht, worin die Überzeugungskraft des Argumentes liegt. Der Standpunkt - die Richtung der Betrachtung auf die Empfindungen - hat uns nicht nur einen Untersuchungsgegenstand an die Hand gegeben, an dem sich der dualistische Gegensatz von  res extensa  und  res cogitans  aufhebt, sondern dieser ist zugleich wissenschaftlicher Analyse erschließbar. Das kann MACH in Summe zu der optimistischen Überzeugung führen, daß die "Gesammtwissenschaft (sic) überhaupt, und die Physik insbesondere, die nächsten grossen Aufklärungen über ihre Grundlagen von der Biologie" zu erwarten habe.

Sehen wir uns jedoch etwas genauer an, wie MACH zu diesen Schlußfolgerungen gelangt. Das Untersuchungsprogramm ist, die " Abhängigkeiten der Erlebnisse voneinander", die "Functionalbeziehungen" der Elemente im mathematischen Sinn zu ermitteln, denn diese sind das einzig reale Datum für die Wissenschaft.

Es lassen sich hierbei verschiedene "Classen der Abhängigkeit unter den Elementen" unterscheiden. Eine bestimmte Art der Funktionalbeziehung determiniert dann die Körper der "Sinnenwelt", eine andere bestimmt Elemente, die, indem sie durch ihren Zusammenhang Erinnerungsbilder, Vorstellungen etc. konstituieren, dem "höheren psychischen Leben" angehörig sind. Geistiges mag sich also in seiner Vielfalt von Gefühlen, Gedanken und Erinnerungen entfalten, seinen Ursprung hat es in jedem Fall in der Verknüpfung von Empfindungen; daraufhin läßt es sich aber auch in die jeweils konkreten Gestalten bringen.

MACHs Wirkung wird plausibel, wenn man sich dies vor Augen hält, daß er einen Zusammenhang herzustellen versteht, zwischen dem Abstrakten und dem hier und jetzt gegebenen, nachvollziehbaren Konkreten. Was dabei außerhalb des Blickwinkels liegt, kann auch ein Beunruhigendes sein, das nun dingfest gemacht ist. Der Physiker, schreibt MACH, operiert immer mit Empfindungen (die ihm als solche Funktionalbeziehungen vorliegen). Dabei handle es sich natürlich stets um eine bestimmte Art Verhältnis von Physischem und Psychischem, da diese Bereiche im Rahmen des Erkenntnisprozesses in einem Zusammenhang stehen müssen. Welcher Seite die Elemente der Funktionalbeziehungen dabei zugeschlagen werden, sei eine Frage der Richtung unserer Aufmerksamkeit.

Die Farbe Grün lasse sich an einem Objekt durch physikalische Prozesse verändern; diesen Vorgang der Veränderung könne man aber auch als im Auge stattfindenden Prozeß der Netzhaut untersuchen. Betrachte man die Farbe Grün in ihrer Abhängigkeit von ersteren Faktoren, könne man sie als physikalisches Element, in ihrem Bezug auf zweitere als psychisches Element auffassen; für die Farbe "Grün an sich", meint nun MACH, sei dies bedeutungslos: die Empfindung lasse sich auf dieselben sinnlichen Elemente zurückführen. Daß diese Auffassungsweise einen prinzipiellen Unterschied zwischen Psychischem und Physischem beseitigt, versteht sich; er reduziert sich darauf, als in welcher Umgebung befindlich die Elemente jeweils betrachtet werden.

Die weitere Untersuchungsrichtung ergibt sich hieraus. Die Analyse soll die Natur der Empfindungen, ihre Zusammensetzung und ihre Elemente genauer bestimmen, und zwar durch Vergleiche: "Sehe ich gleiche verschiedenartige Gestalten, so suche ich neben den verschiedenen Farbempfindungen besondere gleiche Raumempfindungen und zugehörige gleiche Nervenprocesse," schreibt MACH. Gleichheit auf der Ebene der Gestalt stelle sich durch an der Wahrnehmung beteiligte gleiche Empfindungen ein.

Da das leitende Prinzip dabei "der vollständige Parallelismus des Psychischen und Physischen" sei, entspreche einer solchen Gleichheit auf der Ebene der Empfindungen eine auf der der "Nervenprocesse", einer Ähnlichkeit eine teilweise Gleichheit. Die Gleichheit selbst muß man sich dabei als über die gleiche Empfindung vermittelt vorstellen. Auffällig ist, daß hier die erkenntnistheoretische Ebene bereits durch die biologische ersetzt ist: das Psychische, die eine Seite des Parallelismus, wird bereits als der "Gehirnprocess" verstanden, dieser wiederum als aus "Nervenprocessen" bestehend definiert. Die ambivalente Verwendung des Begriffs der Empfindung weist hingegen schon darauf hin, daß in ihr der Schlüssel zum Verständnis dieser Philosophie liegt.

Werfen wir zuvor jedoch noch einen Blick auf die Konsequenzen dieser fruchtbaren Verbindung von naivem Realismus und wissenschaftlicher Analytik. Der naive Realismus verbürgt die antiidealistische Tendenz, deren Fundament die sinnliche Gewißheit über die (Realität der) Außenwelt ist. Der anthropomorphische Einschlag der Empfindungen, der die Einwände gegen den Sensualismus erwarten ließe, wird von MACH durch die wissenschaftliche Analyse neutralisiert. Dadurch scheint aber gleichzeitig selbst in den wissenschaftlicher Zerlegung und Kategorisierung fähigen Daten der Wahrnehmung ein genuin Menschliches noch verwahrt. In der Wissenschaft verbürgte Methode kommt so auf einem neuen Feld zur Anwendung.

Insofern wir jedoch Wirklichkeit systematisch in wissenschaftlichen Begriffen beschreiben, besteht auch diese selbst einzig und allein aus jenen Elementen. Die Problematik des Materialismus vermeidet MACH durch seine genetische Kritik der wissenschaftlichen Begrifflichkeit selbst. Deren Größen existieren dabei nur im Zusammenhang des Systems; durch Änderung der Konventionen kann man de facto auf einige verzichten (was prinzipiell für alle gilt), respektive lassen diese sich anders formulieren. Ein Beispiel für diesen Vorgang ist MACHs Kritik am zirkulären Massebegriff NEWTONs, den er durch einen neu gefaßten ersetzen konnte.

Es zeichnet sich ab, daß die Empfindungen beides sein sollen: konkrete Grundlage konkreter Gestalten, sowie einzige und letzte Elemente der Wirklichkeit; gegen den Idealismus steht die Konkretheit einer Empfindung, die erst nachträglich sozusagen in ontologischen Status erhoben wir. Auch die Gefahr eines kruden Materialismus stellt sich somit gar nicht ein, da dessen problematischer Frage nach der Natur der Materie die Gewißheit über die grundsätzliche Einheit der Empfindung vorangestellt wird.

MAUTHNERs Verhältnis zu seinen philosophischen Quellen ist insgesamt zweifellos eingehende Forschungsarbeit wert, wenngleich oder besser, weil dies bisher nicht einmal in der kleinen aber überzeugten Gruppe der MAUTHNER-Forscher ernsthaft unternommen worden ist. Gegenstand des vorliegenden Kapitels wird daher sein, was eine solche Fragestellung für das Verhältnis von MAUTHNER zu MACH zutage fördert. Auch was andere wichtige Quellen MAUTHNERs, etwa die Schriften HUMEs oder HUMBOLDTs betrifft, liegen keine Analysen vor. KATHERINE ARENS bietet eine - wenig konsistente - Analyse der Bezüge zwischen MAUTHNER und den Junggrammatikern, aber selbst für MAUTHNER so bedeutende Beziehungen, wie die zu der "vergessenen Sprachphilosophie des 19. Jahrhunderts" sind von der Forschung im wesentlichen noch nicht zur Kenntnis genommen worden.

Allgemein kann man sagen, daß sich die meisten Interpreten MAUTHNERs von der wechselhaften Erscheinung seines Denkens täuschen ließen und, auch weil sie meinten, auf den sicheren Rahmen der historischen Fragestellung verzichten zu können (sie befaßten sich nicht mit der Genese dieses Denkens), nur zu geringem Aufschluß über die Struktur seines Denkens gelangt sind. Im Gegensatz zu einer solchen Haltung ist es doch gerade so, daß auch der Philosoph es sich nicht leisten kann, den Blick auf Bezugnahmen, Quellen und Abhängigkeiten eines Werkes (mögen sie zahllos, verstreut oder versteckt sein) zu verschmähen, zumal alles andere sich daraus ergibt.

MAUTHNERs, des Dilettanten, Verhältnis zu seinen Quellen ist weniger unwissenschaftlich als schlichtweg chaotisch zu nennen. Einerseits bezieht er sich großzügig und explizit auf andere Autoren, andererseits stehen diese offenen Bezugnahmen neben einem, in vielen Fällen nur beschränkten Bewußtsein (vgl. z.B. NIETZSCHE) der eigenen Abhängigkeit von Vorgängern.

Die autobiographischen Äußerungen MAUTHNERs, der als Journalist und Literat begann und als Parodist reüssierte, lange ehe er zum Philosophen wurde, hat JOACHIM KÜHN in seinem im biographischen, besonders aber im dokumentarischen Bereich umfassenden Buch analysiert und die entscheidende Tendenz zur Stilisierung in ihnen nachgewiesen. Man wird ihren Erklärungswert daher denkbar gering einstufen. Der Beitrag, den KÜHNs Ansatz beim gleichzeitig erfolgreichen und erfolglosen Literaten MAUTHNER zum Verständnis von dessen philosophischem Denken leistet, sollte hingegen nicht unterschätzt werden: vieles an MAUTHNERs problematischer Auffassung von Arbeitsmethode erinnert an den Journalisten und belletristischen Schriftsteller. Ich möchte mich im nächsten Unterkapitel in aller gebotenen Kürze mit KÜHNs Position und den Ergebnissen seiner Forschungen beschäftigen, bevor ich mich der Untersuchung der Beziehung zwischen MACH und MAUTHNER als dem Kernpunkt dieses Teils der Arbeit zuwende.

Zuvor jedoch noch einiges Allgemeines zur ersten Einordnung jenes Werkes von FRITZ MAUTHNER, dem hier die Aufmerksamkeit gelten soll. Erst von dem besonderen Standpunkt des Betrachters, der - nach dem sogenannten  Linguistic turn  -durch ein Jahrhundert der Sprachphilosophie geprägt den Blick zurückwendet, erscheint die lange Reihe der Kritiker an der Sprache deutlicher; insbesondere im 19. Jahrhundert mehrt sich die Zahl derer, die sowohl von sprachwissenschaftlicher wie von philosophischer Seite teils Vorarbeiten, teils wesentliche Beiträge auf einem Gebiet leisteten, von dem der vielleicht bedeutendste Einfluß auf die Philosophie und die Literatur des 20. Jahrhunderts ausgegangen ist.

Die drei voluminösen Bände von FRITZ MAUTHNERs "Beiträgen zu einer Kritik der Sprache", die nach langjähriger Vorarbeit 1901 und 1902 erschienen, konzentrierten gewissermaßen diese Bemühungen, wenngleich auch mit dem Grundtenor extremer Skepsis, in ein greifbares Werk, das HUGO von HOFMANNSTHAL nicht zögerte, "auf den Titel hin - die Zeitungen ihren Lärm darüber anfingen - aus einem Schaufenster" zu kaufen. Gleichwohl ist die Rezeptionsgeschichte der "Beiträge" so widersprüchlich wie das Niveau ihrer verschiedenen Teile unterschiedlich: Sie taten ihre Wirkung gleichsam im Untergrund, großes öffentliches Interesse oder Kenntnisnahme in Universitätskreisen, wie sie sich MAUTHNER erhofft hatte, war ihnen nie beschieden. Jedoch wurden sie mit zum Teil größtem Interesse gelesen (als Beispiele seien hier nur so unterschiedliche Dichter wie HESSE, JOYCE und BROCH erwähnt). MARTIN STERN bringt dies auf den Nenner, wenn er schreibt, MAUTHNERs Werk sei "ein frühes und wichtiges, von wenigen als solches erkanntes Signal einer Krisis des Sprachvertrauens gewesen."

Philosophiehistorisch betrachtet fristete die Sprachphilosophie im 19. Jahrhundert ein eher kümmerliches Dasein. So gesehen können die "Beiträge" innerhalb der Philosophiegeschichte rückblickend als das betrachtet werden, was sie, wie KÜHN schreibt, auch für MAUTHNER selbst waren: ein "Umbruch in Leben und Werk", ein "Brennpunkt, in den alles zusammenläuft, was MAUTHNER vorher gedacht hat, und von dem alles ausgeht, was er später denken und schreiben wird." Gleichwohl gab es eine Reihe von Wissenschaftlern, die an sprachphilosophischen Problemen arbeiteten; die Auseinandersetzung mit ihnen ist, so sie stattfand, in die "Beiträge" eingegangen.

KÜHN verweist auf die hohe Zahl der Quellen MAUTHNERs und auf die "große Tradition" der Sprachskepsis (mittelalterlicher Nominalismus, griechische Philosophie), schließlich auf den Einfluß der englischen Philosophen BERKELEY, LOCKE und HUME Zweifellos ist die Menge des von MAUTHNER verarbeiteten Materials groß, andererseits ist es bei der Art seiner Arbeitsweise kein Wunder, daß von den Forschern auf dem Gebiet der "vergessenen Sprachphilosophie des 19. Jahrhunderts", in den Beiträgen von 1901/2 einzig FRIEDRICH MAX MÜLLER explizit behandelt wird. Selbst OTTO FRIEDRICH GRUPPE, dessen ANTÄUS MAUTHNER im Jahr 1914 als zwölften Band der von ihm herausgegebenen Reihe  Bibliothek der Philosophen  neu auflegte, fand in den "Beiträgen" noch keine Beachtung.

Eine systematische Verarbeitung und Fortführung der bereits vorhandenen Arbeiten auf diesem Gebiet ist daher von MAUTHNER nicht zu erwarten. Jedoch setzt er sich sehr eingehend mit den "Klassikern" der deutschen Sprachphilosophie, JOHANN GEORG HAMANN, JOHANN GOTTFRIED HERDER und WILHELM von HUMBOLDT, sowie mit den genannten Engländern auseinander und es gelingt ihm auf diese Weise, einen Anschluß an wesentliche Überlegungen zur Sprachphilosophie, die zu seiner Zeit bereits vorlagen, herzustellen.

Für die Wurzeln der Sprachkritik im Persönlichen stützt sich KÜHN im wesentlichen auf die Aussagen MAUTHNERs in eigener Sache. An einer Stelle nimmt MAUTHNER Bezug auf die Schwierigkeiten, die er als deutschsprachiger Prager Jude bereits als Jugendlicher mit drei nebeneinander gesprochenen Sprachen hatte, wobei er die fehlende deutsche Mundart für sein unlebendiges, "papiernes" Deutsch verantwortlich macht. Wenn es auch verfehlt wäre, in der Sprachsituation der deutschen Kolonie Prags den Ursprung des spezifisch MAUTHNERschen Sprachzweifels sehen zu wollen, läßt sich doch einsehen, daß die disparate Dreisprachigkeit zu einer Sensibilisierung führte: MAUTHNERs Aufmerksamkeit und daraus resultierend - Richtung für die Beschäftigung waren geweckt. Aus seinem von Jugend an distanzierten Verhältnis zur Sprache hatte er, wie KÜHN schreibt, gelernt,
daß man zwischen verschiedenen Sprachen wählen konnte und daß es gute und schlechte Sprachen gab. Auch die Aufmerksamkeit auf Sprachähnlichkeiten und Entlehnungen verstärkten die Distanz zur eigenen Sprache.
Die Schlüsse, die KÜHN aus den Texten des Journalisten und Schriftstellers zieht, attestieren MAUTHNER ein hohes Maß an empfundener und durchlebter Überzeugung von der eigenen Bestimmung, jedoch findet sich in den Texten der frühen Jahre kaum mehr als Kokettieren mit einem Zweifel an der Sprache. MAUTHNER erzählt von einer frühen, vernichteten Sprachkritik, die er ins entwicklungsträchtige Jahr 1872 (Beginn der publizistischen Tätigkeit und erster Kontakt mit MACH) datiert. Diese sei nicht von (theoretisch-)philosophischem Interesse, sondern von der persönlichen Situation getragen gewesen. Über den Literaten MAUTHNER schreibt KÜHN:
Das gebrochene Verhältnis zur Sprache, um das er wußte, stellt seine Dichtung in ein besonderes Licht. Sie ist von allem Anfang an vom Scheitern bedroht. Denn in der Unbefangenheit gegenüber der Sprache sieht MAUTHNER die Voraussetzung für dichterisches Schaffen, wenn nicht aus dem gebrochenen Verhältnis selbst die dichterische Inspiration erwächst (wie seiner Meinung nach bei MAURICE MAETERLINCK) Der Kampf um die dichterische Sprache aber geht verloren und MAUTHNER rüstet sich enttäuscht zum Kampf gegen die Sprache überhaupt.
Ehe wir uns endgültig MAUTHNER und MACH zuwenden, möchte ich mich noch etwas bei MAUTHNERs retrospektiven Einordungsversuchen der eigenen Arbeit aufhalten. Drei Jahre nach Erscheinen der Beiträge schrieb er einen "Rechenschaftsbericht" über die Wurzeln seiner sprachkritischen Ideen, den er später in den Erinnerungen nochmals abdruckte. Auf OTTO LUDWIG, GOETHE, NIETZSCHE und OTTO von BISMARCK möchte er darin seine Arbeiten zurückführen; hingegen wird ERNST MACH nicht genannt, obwohl er diesem bereits 1895 brieflich für dessen Anregungen gedankt hatte und zwischen 1901 und 1902 eifrig mit ihm über Sprachfragen korrespondierte. Erst in den Erinnerungen nennt er den wichtigen Beeinflusser.

KÜHN hat, MAUTHNERs selektiver Selbstinterpretation entgegen, auch auf das entscheidende Zusammentreffen mit GUSTAV LANDAUER verwiesen, den MAUTHNER 1889 kennenlernte, und dessen Einfluß auf die Beiträge zumindest erwähnt werden muß.

Die Mitarbeit LANDAUERs an der Kritik der Sprache ist für das Jahr 1898 bezeugt, aber es ist anzunehmen, daß MAUTHNER in Gesprächen mit dem leicht begeisterten und begeisternden Anarchisten die eigenen Gedanken einer geistigen Revolution schärfer faßte und mutiger vorantrieb.

Die Konsequenz des Denkens habe MAUTHNER an LANDAUER angezogen, dieser sei begeistert gewesen von dem Gedanken einer umfassenden Sprachkritik, von dem er sich eine philosophische Grundlage für die eigenen Bestrebungen, eine Befreiung vom Denken und eine Öffnung zur Mystik hin erhofft habe. Außer im Politischen sind die beiden einander lange Zeit eng verbunden geblieben. LANDAUER, der letzte, sicherlich jedoch nicht unwichtigste in der Reihe der Anreger MAUTHNERs, habe dessen Gedanken in den Jahren der Arbeit an den Beiträgen und danach geteilt, er habe sie kritisiert und die Überlegungen des Freundes befördert, schreibt KÜHN. Schließlich sei es LANDAUER gewesen, der MAUTHNERs Auseinandersetzung mit der Mystik auslöste, indem er den Zusammenhang mit skeptischem Gedankengut herstellte. Wegen ihrer besonderen Bedeutung für die Interpretation der Beiträge, auch im Verhältnis zu MAUTHNERs Gesamtwerk, möchte ich schon hier kurz auf die Frage nach Skepsis und Mystik eingehen.

MAUTHNERs Beziehung zu mystischem Gedankengut ist in den Beiträgen ambivalent; es gibt nur Anklänge an Mystik, wenngleich er auch ein Interesse hat, ihren Konsequenzen nahezukommen. Vom "Wörterbuch der Philosophie" (1910/11 ) ist gesagt worden, dort sei die "Skepsis zur Mystik durchgebrochen". Tatsächlich aber bleibt MAUTHNER Skeptiker und Sprachkritiker; zwar war die Annäherung an die Mystik für ihn eine Folge seines Denkens, aber andererseits dürfte es doch bei den bloßen Bemühungen um mystisches Erleben geblieben sein, bei einem Suchen nach einem Ausweg aus der "Sprachnot, die, wenn sie reflektiert wird, sich als Sprachskepsis und diskursive Sprachkritik manifestieren kann."

EIBL hat die mögliche Komplementarität von skeptischer Haltung und mystischer Daseinsauffassung betont, zugleich aber die Mystik MAUTHNERs als "Postulat" bezeichnet, als einen "rein formale(n), inhaltslose(n) und deshalb in hohem Maße disponible(n) Begriff".

Gleichzeitig läßt sich so auch die Differenz zwischen MAUTHNER und LANDAUER ausmachen: In der Auseinandersetzung mit der Kritik LANDAUERs an seinem Entwurf habe MAUTHNER die Beiträge vollendet. Die ihrem radikalen und ausweglosen Ergebnis zum Trotz schon die neue Richtung des Fortschreitens anzugeben schienen. LANDAUER, der Freund, der in dem Philosophen den Mystiker gesehen habe, habe gleichzeitig aus dessen Werk die Freiheit zur Neuschaffung der Welt aus ebendiesem mystischen Geist geschöpft. Für LANDAUER ist Mystik die notwendige Konsequenz aus der radikalen Skepsis; Mystik, die sich als Dichtung manifestiert, könne auch vom Unaussprechlichen noch sprechen und so die Skepsis überwinden. MAUTHNER hingegen bleibt der "kritischen Haltung" treu. In seinem Alterswerk "Der Atheismus und seine Geschichte im Abendlande" heißt es:
Sprachkritik war mein erstes und ist mein letztes Wort. Nach rückwärts blickend ist Sprachkritik alles zermalmende Skepsis, nach vorwärts blickend, mit Illusionen spielend, ist sie eine Sehnsucht nach Einheit, ist sie Mystik. EPIMETHEUS oder PROMETHEUS, immer gottlos, in Frieden entsagend.

LITERATUR - Andreas Berlage, Empfindung, Ich und Sprache um 1900, (Ernst Mach, Hermann Bahr und Fritz Mauthner im Zusammenhang, Frankfurt/ Berlin/ Bern/ New York/ Paris/ Wien 1994