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ALLAN JANIK / STEPHEN TOULMIN
Fritz Mauthner
und die Kritik der Sprache


"Was Mauthner vor allem störte, war die Neigung des normalen Sprachgebrauchs, den Bedeutungen abstrakter und genereller Terme Realität zuzuschreiben."

Philosophen haben sich zu allen Zeiten mit Problemen der Sprache befaßt. Von PLATON und ARISTOTELES bis PETRUS HISPANUS und THOMAS von ERFURT, von JOHN LOCKE bis MAURICE MERLEAU-PONTY wurden Fragen über Symbolismus, Bedeutung und Vorhersage als wichtige Aufgaben angesehen und die Philosophen waren in ihren Bemühungen, die Beziehungen zwischen Geist und Außenwelt, Denken und Sein zu erklären, immer auch von der Bedeutsamkeit der die Sprache selbst betreffenden Probleme überzeugt.

Jedoch wurden bis in die zweite Hälfte des 19. Jahrhunderts die Probleme einer Philosophie der Sprache als abgeleitete und gegenüber den "eigentlich" philosophischen Gegenständen zweitrangige behandelt.

In einer philosophiegeschichtlich weiten Perspektive erweist sich vor allem das Werk IMMANUEL KANTs als die treibende Kraft, der eine Änderung dieser Auffassung zu verdanken ist. Während der hundert Jahre nach der "Kritik der reinen Vernunft" beherrschten die Implikationen seines kritischen Programms allmählich die deutsche Philosophie und Naturwissenschaft. Als eines der Resultate gerieten die Probleme der Sprache ins Zentrum der philosophischen Aufmerksamkeit.

Vorher waren "Sinneswahrnehmungen" und "Gedanke" die vorrangigen Themen der philosophischen Erkenntnistheorie gewesen. Sie wurden als primäre und unabhängige Elemente der Erfahrung angesehen, während die Sprache als dienendes Instrument oder Mittel galt, einer einmal gewonnenen Erfahrung öffentlichen Ausdruck zu geben. KANTs Betonung der Funktion der subjektiven "Formen des Urteils" bei der Strukturierung von Erkenntnis implizierte bereits die (von KANT selbst nicht aufgenommene) Herausforderung, Sprache und Grammatik aus ihrer bisher untergeordneten Rolle herauszulösen.

Nach KANT waren die logischen Formen des Urteils zugleich Formen jeder genuinen (angeborenen) "Erfahrung". Erkenntnis enthält nicht bloß die begrifflichen Interpretationen formloser, vorsprachlicher Sinneseindrücke oder Wahrnehmungen. Vielmehr weisen unsere Sinneserfahrungen selbst bereits eine epistemische (erkenntnistheoretische) Struktur auf; diese Struktur ist nur vermittels der Formen des Urteils faßbar, und diese Formen selbst können nur in den Termini der gültigen logischen Grammatik ausgedrückt werden.

Daher müssen wir - statt unsere philosophische Analyse der Erkenntnis mit (vermeintlich) rohen Sinneseindrücken beginnen zu lassen, wie es die Empiristen getan haben - bereits die Anfangsdaten unserer Erfahrung als etwas auffassen, das aus strukturierten sinnlichen Darstellungen besteht, in traditioneller Terminologie: aus Vorstellungen. Die allgemeinen Formen von Sprache und Denken sind gewissermaßen a priori (von vornherein) eingelassen in unsere Sinneserfahrungen und Vorstellungen. Die Grenzen der Vernunft sind in dieser Perspektive implizit zugleich die Grenzen von Vorstellung und Sprache.

FRITZ MAUTHNER wurde 1849 in Horzitz in Böhmen als Sohn eines mittelständischen jüdischen Unternehmers geboren. 1855 übersiedelte die Familie nach Prag, von da aus ging MAUTHNER 1876 nach Berlin, wo er bis 1905 blieb. Von Beruf war er eher Schriftsteller und Journalist als Philosoph. In den fast 30 Jahren seiner Berliner Wirksamkeit hatte er als Theaterkritiker eine herausragende Bedeutung, errang aber auch als Schriftsteller - vor allem mit den zwischen 1876 und 1880 geschriebenen literarischen Parodien "Nach berühmten Mustern" - einige große Publikumserfolge.

Nach 30 Jahren publizistischer Wirksamkeit zog er sich allerdings angeekelt vom lügenhaften "Worthandel" des Journalismus in die Einsamkeit nach Freiburg und später, 1909, nach Meersburg zurück. In einem Brief an seine Cousine, die Schriftstellerin AUGUSTE HAUSCHNER, schreibt er dazu am 23. September 1905:
"28 Jahre hatte ich an diese Flucharbeit (sc.: den Journalismus) ausgegeben und habe das Recht, müde zu sein."
Vor allem seine täglichen Erfahrungen mit dem journalistischen und politischen Lügenspiel der Sprache brachten ihn zur philosophischen Position eines radikalen skeptischen Nominalismus, den er zu einer vollständigen und konsistenten Erkenntnistheorie auszubauen versuchte. Nach dem Erscheinen seines philosophischen Hauptwerks, der dreibändigen "Beiträge zu einer Kritik der Sprache", an denen er mehr als 25 Jahre neben seinem journalistischen und schriftstellerischen "Brotberuf" gearbeitet hatte, gab er 1904 in einem Artikel für MAXIMILIAN HARDENs "Zukunft" genaueren Aufschluß über "Die Herkunft des sprachkritischen Gedankens":
"Hier möchte ich nur darüber berichten, wie vor etwa dreißig Jahren die Arbeit in der Gedankenwerkstatt begann, wie bei der Entbindung der sprachkritischen Idee zwei merkwürdige Bücher und eine große Persönlichkeit mithalfen. OTTO LUDWIG und FRIEDRICH NIETZSCHE hatten die beiden Bücher geschrieben. Der FÜRST BISMARCK war die große Persönlichkeit."
Die Rede ist von OTTO LUDWIGs "Shakespearestudien" und von NIETZSCHEs zweiter "Unzeitgemäßer Betrachtung" "Vom Nutzen und Nachteil der Historie für das Leben". Seine große Verehrung für BISMARCK und die daran geknüpfte deutschnationale Gesinnung (allerdings eher liberaler Spielart) bewahrte sich MAUTHNER bis zu seinem Tod im Jahr 1923. Auf die vierte große, wissenschaftlich bedeutsamste Quelle seiner Sprachkritik wies MAUTHNER ebenfalls deutlich hin: die physikalischen Theorien und den philosophischen Empirismus ERNST MACHs, mit dem MAUTHNER als junger Student der Rechtswissenschaft schon 1872 in Prag bekannt geworden war und dem seither seine stets ungebrochene Hochschätzung galt. Bereits sechs Jahre vor Erscheinen des ersten Bandes seiner  Kritik der Sprache,  am 17. September 1895, schrieb MAUTHNER an MACH:
"... und in meinem dritten Bande werden Sie mich (falls es nicht schon im zweiten geschehen ist, was ich auswendig nicht weiß) vielleicht als einen Schüler erkennen."
In seinem Bemühen, einen vollständig schlüssigen Nominalismus zu konzipieren, kam MAUTHNER zu dem Ergebnis, daß alle philosophischen Probleme in Wahrheit Probleme der Sprache seien. Für den strengen Nominalisten sind "Begriffe" nichts anderes als Worte, die zur Benennung oder anderweitigen Kennzeichnung von "Individuen" und deren Konfigurationen verwendet werden, und nicht etwa zur Benennung von "Wesenheiten". MAUTHNER ging davon aus, daß es keinen echten Unterschied zwischen Begriff und Wort gebe, lediglich einen psychologischen "in der Richtung der Aufmerksamkeit", und daß konsequenterweise Sprechen und Denken identisch seien:
"Es ist einer der Ausgangspunkte dieser Schrift, daß es kein Denken gebe außer dem Sprechen, daß das Denken ein totes Symbol sei für eine angeblich, falsch gesehene Eigenschaft der Sprache..."
Bis an sein Lebensende war er sich bewußt, daß er dafür kein unumstößliches Argument hatte (denn der aus dieser These resultierende radikale Skeptizismus mußte sich schließlich auf sie selbst [die Sprache - wp] erstrecken); aber es schien jedenfalls eine viel vernünftigere Auffassung zu sein als die Gegenposition, die Begriff und Wort, Denken und Sprache für unabhängig voneinander hält. Ein Teil von MAUTHNERs argumenativen Schwierigkeiten entstand aus der Tatsache, daß einerseits kein derartiger Zusammenhang zwischen Denken und Sprache in der Gehirnphysiologie nachweisbar war, MAUTHNER andererseits aber daran festhielt, daß alle Psychologie, eigentlich "Metaphysiologie" sei, also das, "was die Physiologie noch nicht weiß".

GERSHON WEILERs Studie  Mauthner's Critique of Language enthält eine exzellente Untersuchung der subtilen Zusammenhänge der naturwissenschaftlichen und der philosophischen Seite von MAUTHNERs Ideen.

Daher kam MAUTHNER von einem durchaus traditionellen Ausgangspunkt zu radikalen Schlußfolgerungen über das eigentliche Programm der Philosophie:
"Die Philosophie ist Erkenntnistheorie, Erkenntnistheorie ist Sprachkritik; Sprachkritik aber ist die Arbeit an dem befreienden Gedanken, daß die Menschen mit den Wörtern ihrer Sprachen und mit den Worten ihrer Philosophien niemals über eine bildliche Darstellung der Welt hinausgelangen können."
Die philosophische Sprache war nur eine Verfeinerung der gewöhnlichen Sprache und genauso metaphorisch wie diese. Wie alle rigorosen Nominalisten war MAUTHNER Skeptiker in bezug auf unsere Fähigkeit, die Welt zu erkennen. Traditionelle Nominalisten haben manchmal versucht, Namen als die Korrelate von Sinneserfahrungen und damit als die einzige sichere Grundlage der Erkenntnis zu interpretieren.

MAUTHNER ging, wie wir sehen werden, erheblich weiter und behauptete auf der Grundlage seiner Bedeutungstheorie, daß Namen bestenfalls Metaphern für die sinnlichen Perzeptionen seien. Die resultierende extreme Variante eines HUMEschen Skeptizismus führte ihn zu seiner Aufgabe, die er selbst als eine KANTische, wenn auch in gewandelter Form, ansah: das Wesen und die Grenzen der Sprache zu bestimmen.

Was MAUTHNER vor allem störte, war die Neigung des normalen Sprachgebrauchs, den Bedeutungen abstrakter und genereller Terme Realität zuzuschreiben. Diese in der Sprache selbst angelegte und damit natürliche Tendenz der "Reifikation" des Abstrakten sah er als einen Hauptquell nicht bloß von spekulativen Verwirrungen, sondern auch von praktischer Ungerechtigkeit und verschiedensten Übelständen in der Welt an. Die Reifikation (um bei dieser MACHschen Wendung zu bleiben) erzeugt alle möglichen Arten von "begrifflichen Gespenstern".

In den Wissenschaften stehen beispielhaft dafür so irreführende Begriffe wie "Kraft", "Naturgesetze", "Materie", "Atom" und "Energie"; in der Philosophie etwa "Substanz", "Objekt" oder "das Absolute"; in der Religion "Gott", "Teufel", "Naturrecht"; in der politischen und gesellschaftstheoretischen Sphäre die oft fanatisch verwendeten Ausdrücke "Rasse", "Kultur", "Muttersprache" (etwa der Kampf um deren "Reinheit", gegen ihre "Profanierung"). In all diesen Fällen führt die Reifikation zur Annahme einer Existenz metaphysischer Wesenheiten. Für MAUTHNER waren Metaphysik und Dogmatismus (und mit ihnen Intoleranz und Ungerechtigkeit) zwei Seiten derselben Medaille.

Das waren die Grundlagen seiner Sprachkritik. Sie war ein KANTisches Unternehmen insofern, als sie antimetaphysisch war und die Grenzen des möglichen Wissens, und das hieß für MAUTHNER des Sagbaren, zu zeigen unternahm. Aber ihre geistigen Wurzeln lagen eher im englischen als im deutschen Denken. KANT hatte einen genialen Schritt in die richtige Richtung getan, aber er blieb doch den Abstraktionstendenzen innerhalb des Deutschen verhaftet, die LEIBNIZ und WOLLFF mit Unrecht für einen Vorzug der deutschen Sprache gehalten hatten, welcher sie besonders für die Entwicklung der Wissenschaften qualifizierte.

MAUTHNER dagegen sah sein eigenes Werk (mit gewissen Einschränkungen) durchaus in der englischen Tradition des Nominalismus und des Empirismus. Er betrachtete LOCKE als den Pionier der Sprachkritik, als den "ersten Philosophen, der psychologische Sprachkritik trieb", vor allem in seinem "Essay Concerning Human Understanding". (Dieser Aufsatz hätte nach MAUTHNERs Auffassung eher  Ein grammatischer Essay  oder  Ein Essay über, Wörter, über Sprache  genannt werden sollen.) Auch bezeichnete er ARTHUR SCHOPENHAUER, der als der intellektuelle Anglophile unter den deutschen Philosophen des 19. Jahrhunderts galt, als seinen unmittelbaren geistigen Vorläufer.

MAUTHNER nahm auch für sich in Anspruch, einen seiner philosophischen Ausgangspunkte bei SCHOPENHAUER gefunden zu haben. SCHOPENHAUERs Formulierung der erkenntnistheoretischen Fragestellung in seiner Dissertation "Über die vierfache Wurzel des Satzes vom zureichenden Grunde" hatte MAUTHNER den ersten Begriff von wirklicher Philosophie gegeben. In der Tat war SCHOPENHAUERs Wirkung auf ihn, wie er sagte, zunächst so übermächtig, daß er "blind unter dem Einfluß seines (SCHOPENHAUERs) Geistes" stand, sie "jede Frage mit seinen Worten beantwortete" und "lange Arbeit" darauf verwenden mußte, sich "von SCHOPENHAUERs Begriffen oder Worten zu befreien".

In der "Vierfachen Wurzel" hatte SCHOPENHAUER versucht, das uralte Problem der Beziehung zwischen Vernunft und Natur auf KANTische Art zu lösen, indem er behauptete, daß die Natur in der Tat ein Produkt der Vernunft sei. Es war die essentielle Funktion der Vernunft, die apriorischen Elemente zu liefern, das heißt, die notwendigen Verknüpfungen zwischen unseren Erfahrungsdarstellungen, die eine systematische (und folglich wissenschaftliche) Naturerkenntnis ermöglichen.

An sich lag hierin natürlich kein Fortschritt über die kritische Philosophie KANTs hinaus; aber SCHOPENHAUER selbst war ein kantischer Revisionist, nicht einfach ein Interpret des Meisters. Er behauptete, daß die Komplexität der Analytik unnötig sei - das heißt, die notwendigen Zusammenhänge zwischen den Phänomenen - und daß der Verstand gerade die Funktion habe, einen solchen Kausalnexus zu liefern.

Der Zweck der "Vierfachen Wurzel" war es dann, zu erklären, wie die vier Klassen von Urteilen, die unser ganzes Wissen ausmachen, ihre Grundlage in ein und demselben Kausalnexus haben, der auf die verschiedenen Klassen von Phänomenen angewendet wird; und weiterhin, wie diese vier Klassen von Urteilen unterschieden sind und bleiben müssen.

MAUTHNER zeigte sich einerseits beeindruckt von der Eleganz und Selbstsicherheit, mit der der erst 25jährige SCHOPENHAUER seine Revision von KANTs erster Kritik unternahm. Andererseits weist er ihm unnachsichtig die prinzipielle Unzulänglichkeit der Schrift nach, die für "ein Gesetz der Vernunft" halte, was nur "das Wesen der Sprache" sei. Allerdings hat - so MAUTHNER - bereits SCHOPENHAUER "manches Licht auf das Wesen der Sprache gelenkt", und besonders sein zustimmendes Zitat aus CICEROs "De Officiis", wo eine Gleichsetzung von  ratio  und  oratio  vorgenommen wird, ist dem an philosophischen Problemen der Sprache Interessierten ein Indiz für die erstaunliche Weitsicht von SCHOPENHAUERs sprachkritischem Empfinden.

Bei all seiner Tiefgründigkeit geriet jedoch auch sein Standpunkt unter den Beschuß von MAUTHNERs Kritik. Auch SCHOPENHAUER erlag der immer gegenwärtigen Versuchung, die Bedeutung abstrakter Termini zu reifizieren. Während seine Erkenntnistheorie einen beachtlichen Fortschritt bedeutete, enthielt seine Philosophie von der "Welt als Wille" ein scholastisches Element. Mit seinem Begriff des "Willens" blieb SCHOPENHAUER ein Gefangener dessen, was MAUTHNER "Wortaberglauben" nannte, des Aberglaubens, der jedem Wort ein korrespondierendes Objekt als existierend zuordnet. MAUTHNER schreibt:
"Ich habe zu zeigen versucht, daß SCHOPENHAUER mit der Gläubigkeit eines scholastischen Wortrealisten die Wirklichkeit seiner abstrakten Begriffe lehrte."
MAUTHNER argumentierte, daß der Begriff des Willens aus einer Erfahrung entstehe, die alle unsere verschiedenartigen Wahrnehmungen begleite, nämlich der, "daß all unsere Sinneseindrücke uns entweder angenehm oder unangenehm sind", und er fährt fort:
"Während bei den äußeren Sinneseindrücken ... der Gefühlswert oder die Beziehung zu unserem Interesse ein geringer ist und darum gewöhnlich keinen besonderen Namen hat, ist der Gefühlswert unserer Handlungen ein sehr starker und hat darum einen besonderen Namen erhalten: das  Wollen."
SCHOPENHAUER unterscheidet die innere Erfahrung des Angenehmen oder Unangenehmen von dem äußerlich veranlaßten Sinneseindruck, den sie begleitet: so entsteht seine Unterscheidung von "Wissen" und "Wollen". MAUTHNER wendet dagegen ein, daß diese Differenzierung unhaltbar ist: der sogenannte (substantivische) "Wille" als Kraft ist ohnehin nichts als ein "mythologisches Abstraktum"; aber auch seine einzelnen, die realen Handlungen begleitenden Erscheinungen sind selbst nur ein Gefühl, also etwas den "Sinneseindrücken" Analoges und nichts von ihnen grundsätzlich Verschiedenes. Sie sind - sagt MAUTHNER - "ein Gefühlseindruck, der sich von den spezifischen Sinneseindrücken eben nur durch seine Unbestimmtheit unterscheidet".

Und selbst wenn SCHOPENHAUER zu seiner Differenzierung berechtigt wäre, könnte von dem "Willen" nicht legitimerweise  gesprochen  werden, denn  unsere Sprache  bezieht sich (als "sinnvolle") ausschließlich auf unsere empirisch faßbaren Vorstellungen, und es erschien MAUTHNER "sinnlos, die Begriffswelt durch die Gefühlswelt erhellen zu wollen, das Halbdunkel durch das Ganzdunkel".

Zudem hatte SCHOPENHAUER den "Willensakt" (als Entität) und die Handlung, die dessen praktischer Ausdruck ist, nicht unterschieden, sondern explizit miteinander identifiziert, was MAUTHNER "von vornherein ablehnt". Nach MAUTHNER war SCHOPENHAUER in Wirklichkeit bloß metaphorisch, wo er metaphysisch zu sein glaubte. Tatsächlich ist SCHOPENHAUERs metaphysischer Wille nur ein metaphorischer Ausdruck der  Erscheinung  des menschlichen Selbstbewußtseins. Auch SCHOPENHAUER war in die sprachliche Falle der Reifikation gegangen: bei seinem Versuch, jenseits des Wortes "wollen" einen realen Gegenstand aufzuspüren, hatte er "den Willen" sogar zum einzig wirklich Realen gemacht.

MAUTHNERs Analyse des SCHOPENHAUERschen Willensbegriffes ist typisch für das ganze Programm seines "Wörterbuchs der Philosophie", das 1910 erschien. Sein Ziel in dem Wörterbuch war es, eine große Anzahl zentral wichtiger philosophischer Begriffe auf etwa die gleiche Weise wie SCHOPENHAUERs "Willen" zu analysieren. Die Methodologie des Buches ist eine Reflexion von MAUTHNERs Erkenntnistheorie. Er beginnt mit der Erläuterung des  psychologischen Ursprungs jedes Terminus,  das heißt, der spezifischen Art von Sinnesdaten aus denen dieser hervorgeht. Dann zeigt er den Prozeß der Reifikation auf, in dessen Verlauf etwa adjektivische Ausdrucksformen zu Substantiven transformiert werden.

Schließlich setzt er diese Metamorphose des Sprachgebrauchs zur Geschichte der Philosophie in Beziehung. Er wollte den Metaphysikern beweisen, daß alle Streitfragen, an die sie ihr geistiges Pathos verschwendeten, auf einem unzulässigen Schritt beruhen: auf der Behauptung, es gebe "Objekte", die den für uns allein wahrnehmbaren "Eigenschaften" entsprächen. Außerdem war es für MAUTHNER fraglos, daß die kontingente Natur unseres sensorischen Apparates, das, was er plastisch "Zufallssinne" nannte, notwendige Wahrheiten, also "für alle Zeiten wahre" Erkenntnisse, zu einer Unmöglichkeit macht.

Wie GERSHON WEILER deutlich gemacht hat, ist der Begriff der "Zufallssinne" MAUTHNERs originellste und zugleich seine wichtigste philosophische Konzeption. Sie bestimmte seine Haltung zur Wissenschaft und zur Logik, wie auch seine Auffassung, daß Sprachkritik zur "docta ignorantia" führen müsse, denn sie zeige die Unmöglichkeit ewiger Wahrheiten, somit auch ihrer eigenen. Seine Methode ist also psychologisch und historisch zugleich; als solche ist sie MACHs "historisch-kritischer" Darstellung der physikalischen Wissenschaften nicht unähnlich.

Man könnte mit einiger Berechtigung sagen, daß MAUTHNER eine generelle Kritik der Sprache versuchte, während MACH sich mit einer Kritik der Sprache der Physik begnügte. Wie MACH seine Kritik auf eine Analyse der Empfindungen gründete, wurzelte MAUTHNERs Kritik in seiner Psychologie; aber auch hier komplizierte sein Skeptizismus die Untersuchung: "Seele" ist nur ein Wort, dem nichts Wirkliches entspricht; und die einzelnen geistigen Vorgänge, die darunter zusammengefaßt werden, können nicht als "Erkenntnis" aufgefaßt werden, denn sie sind unseren Sinnesorganen nicht zugänglich:
"Weil sich aber unsere Sinnesorgane nicht nach innen wenden lassen, weil wir keine Sinnesorgane für unsere  Seele  haben, darum wird es niemals eine Wissenschaft von der Seele geben können."
Genau deshalb ist auch unsere Sprache nur für die Erfassung unserer sinnlichen Erfahrungen, als der "Außenwelt"-Reize, bestimmt. Sie kann sich nicht sinnvoll auf die "inneren" Vorgänge beziehen, denn diese  sind  ja gerade die sprachlich benannten Sinneseindrücke selbst, also das geistige mit den sprachlichen Akten identisch. Anders, in MAUTHNERs eigenen Worten, ausgedrückt:
"Wir können auf keinem Wege zu einer brauchbaren psychologischen Terminologie gelangen ... Es ist ganz natürlich und gerecht, wenn die Sprache verrückt wird, sobald man sie auf die Vorgänge anwenden will, die im Menschengehirn eben erst zur Sprache oder zum Denken führen. Ein Spiegel soll sich nicht selbst spiegeln wollen."
Auch Psychologie kann also keine Wissenschaft sein. So war MAUTHNER ein wesentlich rigiderer Skeptiker als MACH, dessen geistiger Haltung er ansonsten so nahe stand. Beide Männer waren überzeugte Positivisten, die die götzenverehrende Verworrenheit der Metaphysiker bloßlegten. Für MACH waren die Hauptgegner die Naturwissenschaftler einer früheren, eher theologisch inspirierten Auffassung. Für MAUTHNER waren es die scholastischen Theologen, die materialistischen Wissenschaftler und die idealistischen Philosophen vom Schlage HEGEL und SCHELLINGs. Ausgedehnte Teile seiner 1901 erschienenen "Beiträge zu einer Kritik der Sprache" sind der Widerlegung solcher Konzeptionen gewidmet.

Auf den ersten Blick ist der erstaunlichste Aspekt von MAUTHNERs Kritik vielleicht seine Behauptung, es gebe gar nichts, was man  die Sprache  nennen könnte, vielmehr gebe es nur konkrete, individuelle Menschen, die ihre "Individualsprache" verwenden, und selbst diese erweise sich bei genauerem Hinsehen als unwirkliche Abstraktion:
"Sprache, ja selbst die schon konkretere Individualsprache ist immer nur ein Abstraktum; wirklich ist nur der augenblicklich durch Bewegung hervorgebrachte Laut..."
MAUTHNERs Nominalismus zwang ihn, das Wort "Sprache" selbst als reifizierende Abstraktion zu begreifen. Für MAUTHNER ist Sprache daher "Sprechen", also eine  Aktivität,  nicht eine besondere Art von Gegenstand. Der entscheidende Punkt dabei ist, daß Sprache eine menschliche Aktivität und als solche zweckhaft ist. Sie ordnet das menschliche Leben wie eine Regel ein Spiel ordnet.
"Die Sprache ist nur ein Scheinwert wie eine Spielregel, die auch umso zwingender wird, je mehr Mitspieler sich ihr unterwerfen, die aber die Wirklichkeitswelt weder ändern noch begreifen will."
Deshalb können wir Sprache nur als jeweils spezifische Sprache, die Teil eines spezifischen sozialen Zusammenhangs ist, angemessen begreifen. Sprache ist ein gesellschaftliches Phänomen, das zusammen mit anderen, damit assoziierten Gewohnheiten der sprachverwendenden Individuen aufgefaßt werden muß. Eine bestimmte Kultur unterscheidet sich von anderen Kulturen durch die Mittel, mit denen sie ihren inneren Zusammenhalt organisiert, und das besonders ausgezeichnete dieser Mittel ist die Sprache.
LITERATUR - Allan Janik / Stephen Toulmin, Wittgensteins Wien, München/Wien 1984