ra-1ra-1E. Dubois-ReymondK. MarbeL. NelsonA. Berkowitz    
 
EMILE MEYERSON
(1859-1933)
Identität und Wirklichkeit
[4/6]

"Ich habe heute früh meinen Zug verpaßt. Was war die Ursache? Meine Uhr ging nach. - Sicherlich wäre ich, wenn meine Uhr richtig gegangen wäre, früher aufgestanden oder ich hätte mich rascher angezogen und hätte zur Zeit ankommen können. Aber wenn ich nicht so weit vom Bahnhof wohnte, wäre ich auch noch hingekommen; und auch wenn die Pariser Droschken bessere Pferde hätten oder der Zug einige Minuten Verspätung ... in dieser Weise könnte ich beinahe unbegrenzt fortfahren."

Erstes Kapitel
Gesetz und Ursache
[Fortsetzung]

Die Analyse, die wir eben für die Zeit durchgeführt haben, ist bis zu einem gewissen Grad auch auf den Raum anwendbar. Auch hier würde es, um die Ordnung in der Natur zu gewährleisten, zur Not genügen, wenn man die Gesetze in Abhängigkeit vom Ort kennen würde. Aber auch hier vereinfachen wir, indem wir die Änderung der Funktion gleich Null setzen, d. h. die Gesetze als im ganzen Raum dieselben ansehen. Es ist vielleicht nicht ganz überflüssig, darauf hinzuweisen, daß diese Homogenität des Raumes in bezug auf die Gesetze von seiner sogenannten Relativität unabhängig ist. Man könnte nämlich meinen, daß wir genötigt seien an die Indifferenz des Ortes zu glauben, weil uns der wahre Ort unbekannt ist. Man könnte nämlich meinen, daß wir genötigt seien an die Indifferenz des Ortes zu glauben, weil der wahre Ort uns unbekannt ist. Es ist sicher, daß wir ihn fortwährend wechseln. Die Erde dreht sich um ihre Achse und läuft gleichzeitig um die Sonne, diese ihrerseits bewegt sich mi beträchtlicher Geschwindigkeit durch den Raum. Die Wahrscheinlichkeit ist unendlich klein, daß wir jemals an den Ort zurückkämen, an dem wir uns in einem Augenblick befunden haben. Da wir aber imstande waren, Gesetze festzustellen, obwohl wir unseren Ort währenddessen mit großer Geschwindigkeit wechselten, so liegt das offenbar daran, daß die Ortsveränderung auf die Gesetze ohne Einfluß ist. Diese Überlegung würde zutreffen, so weit es sich um den heutigen Stand der Wissenschaft handelt. Während einer unberechenbaren Reihe von Jahrhunderten hat die Menschheit fest daran geglaubt, daß die Erde eine unbeweglich Scheibe sei und daß die Orte, die auf ihr durch gewisse große Objekte, wie z. B. Berge oder hohe Gebäude, festgelegt sind, wirkliche Orte im absoluten Raum seien und daß man zu demselben "Ort" zurückkehren könne, wenn man nur die Lage zu den erwähnten Bezugspunkten genau genug festlegt. Die Menschen glaubten auch, daß es im Raum zwei von den übrigen zu unterscheidende feste Richtungen gäbe: oben und unten. Bei einer genauen Durchforschung unserer eigenen Überzeugungen würden wir finden, daß wir selbst noch keineswegs von solchen Vorstellungen ganz frei sind: noch heute macht es uns Mühe, uns die Antipoden vorzustellen und wie wir es auch anstellen mögen, sie scheinen uns immer "auf dem Kopf" zu stehen. Aber auch als die Menschen noch glaubten, daß die Erde unten und der Himmel oben sei, waren sie dennoch fest überzeugt von der Homogenität des Raumes. Um das sicherzustellen, braucht man nur daran zu erinnern, daß dieser Gedanke die Grundlage der Geometrie bildet. Hätte man einen Griechen gefragt, in welcher Tiefe unter der Erde der und der Satz des EUKLID aufhöre wahr zu sein, so wäre ihm diese Frage sicher ebenso paradox erschienen wie uns.

Aber die Geometrie beweist uns auch, daß unser Glaube an die Homogenität des Raums mehr als die bloße Unveränderlichkeit der Gesetze enthält. Wir sind in der Tat davon überzeugt, daß nicht nur die Gesetze, d. h. die Beziehungen zwischen den Dingen, sondern daß auch die Dinge selbst durch einen bloßen Ortswechsel und einer der Meister des wissenschaftlichen Denkens der Gegenwart hat sehr richtig gesagt, daß die Geometrie nicht existieren würde, wenn es keine sich ohne Veränderung bewegenden festen Körper gäbe. (1) Nun ist es aber sehr wichtig, festzustellen, daß die Geometrie, wie im allgemeinen die Wissenschaften, die wir unter dem Namen der "reinen Mathematik" zusammenfassen, obwohl sie es mit abstrakten Gebilden unseres Denkens zu tun haben, offenbar den Vorzug einer absoluten Anwendbarkeit auf die Wirklichkeit genießen. Wir werden später eine Wissenschaft kennen lernen, die auf den ersten Blick der Geometrie sehr nahe verwandt zu sein scheint, die reine Mechanik. Auch sie beschäftigt sich mit abstrakten Begriffen, aber sie genießt nicht denselben Vorzug wie die reine Mathematik; denn wir können uns vorstellen (und müssen es sogar, wie wir später sehen werden), daß sich die Wirklichkeit nicht genau nach ihr richtet. Wir untersuchen hier nicht den Grund für dieses Vorrecht der reinen Mathematik; es ist dies ein Kapitel aus der Philosophie der Mathematik, mit welcher der Gegenstand dieses Buches nichts zu tun hat. Wir wollen hier lediglich feststellen, daß die Tatsache selbst nicht bestritten werden kann und daß man unmöglich im Ernst daran zweifeln kann, daß eine geometrische Ableitung durch die Erfahrung bestätigt werden wird. (2)

Wie das Vorstehende zeigt, wäre es vergeblich, für den Raum dieselbe Ableitung zu versuchen, die wir für die Zeit durchgeführt haben. Das Postulat der Gesetzmäßigkeit allein wird nicht ausreichen; denn, wie wir soeben sahen, schreiben wir dem Raum eine größere Gleichförmigkeit zu, als die Gesetzmäßigkeit, strenggenommen, verlangen würde. Es muß also hier noch ein besonderes Prinzip oder Postulat hinzugekommen. Es ist das der "freien Beweglichkeit". Dieses Postulat bildet sicherlich einen unentbehrlichen Bestandteil unserer Raumvorstellung. Es ist übrigens klar, daß man über die Zeit keine derartige Aussage machen kann. Sie stellt sich uns als gleichförmig in derselben Richtung ablaufend dar; die Annahme, wir könnten uns in ihr frei bewegen, in die Vergangenheit und in die Zukunft reisen, enthält mindestens ebensoviel Widersinnigkeiten wie die entgegengesetzte Annahme über den Raum. (3)

In dieser Hinsicht besteht also zwischen Raum und der Zeit keine vollständige Analogie. Von diesem neugeborenen Hund weiß ich, daß er in zwei Jahren erwachsen, in zwanzig abgelebt und spätestens in dreißig Jahren tot sein wird. Bringe ich ihn aber in einen anderen Teil des Raumes, so bleibt er, was er war. Allerdings wird er sich unbehaglich fühlen, wenn ich ihn auf den Gipfel des Mont Blanc bringe und wenn ich ihn auf dem Grund eines Teiches festhalte, so wird er ersticken; das liegt aber daran, daß die physikalischen sichtbaren Verhältnisse der Umgebung sich geändert haben und nicht an dem einfachen Ortswechsel als solchem. Die Gegenstände verändern sich nicht unter der Wirkung des Raumes, wie sie das unter der Wirkung der Zeit tun; schon die Aussage erscheint im ersten Fall paradox und verletzt das Sprachgefühl, während sie im zweiten Fall banal ist. Der Raum ist wirklich eine "reine Form", die jedes Inhaltes bar ist (von der Zeit hat man das gleichfalls aber zu unrecht behauptet). (4)

Alle Postulate, die wir aufgezählt haben und die unentbehrlich sind, wenn wir Gesetze aufstellen wollen, brauchen wir auch, wenn wir von Ursachen sprechen wollen. Allein es kommt noch etwas hinzu. In der Tat, wenn stets vollkommene Gleichheit zwischen Ursachen und Wirkungen besteht, wenn nichts entsteht noch vergeht, so beweist das, daß nicht nur die Gesetze, sondern auch die Dinge in der Zeit beharren. Dieses Prinzip drückt ARISTOTELES aus, allerdings nur in der Anwendung auf die "Substanzen", wenn er sagt: "Daß die Substanzen im eigentlichen Sinn und im allgemeinen alle absolut existierenden Wesen von einem früher bestehenden Subjekt herrühren, das sieht man deutlich. Stets gibt es ein Wesen, das zuvor bestanden hat und aus dem das entstehende und werdende entsteht". (5) LUKREZ sagt ganz allgemein:  Eadem sunt omnia semper  [Alles ist immer dasselbe. - wp] Und denselben Gedanken drückt COURNOT sehr präzise folgendermaßen aus: "Überall, wo physikalische Erscheinungen zunächst auf Ursachen oder Kräften zu beruhen scheinen, die sich mit der Zeit verändern, verlangen die Gesetze unseres Verstandes, daß wir die betreffende Erscheinung erst dann als erklärt ansehen, wenn sie auf beharrliche, sich in der Zeit nicht verändernde Ursachen zurückgeführt worden ist, deren Wirkungen allein sich von einem bestimmten Zeitpunkt an infolge des Zustandes verändern, in dem sich die Welt oder die Teile der Welt zu diesem Zeitpunkt befanden; solche Zustände aber betrachtet unser Verstand nicht als Gesetze, sondern als Tatsachen". (6) HELMHOLTZ, von dem wir gesehen haben, daß er versucht hat, die Kausalität auf die Gesetzmäßigkeit zurückzuführen, hat dennoch an einer anderen Stelle erklärt, daß es das letzte Ziel der Naturwissenschaft sei, "die Naturerscheinungen zurückzuführen auf unveränderliche, anziehende und abstoßende Kräfte, deren Intensität von der Entfernung abhängt". Und er sagt weiter, daß "die Lösbarkeit dieser Aufgabe zugleich die Bedingung für die vollständige Begreiflichkeit der Natur" sei. (7)

Wir können das soeben Dargelegte zusammenfassen, indem wir sagen, daß das Prinzip der Kausalität die Anwendung eines Postulates auf die Zeit erfordert, das unter der alleinigen Herrschaft der Gesetzmäßigkeit lediglich für den Raum Geltung hat.

Bevor wir weitergehen, müssen wir noch eine Schwierigkeit mehr logischer Art beseitigen. Die vorstehende Überlegung beruth offenbar auf einer Unterscheidung zwischen den Gegenständen und den Gesetzen. Ist aber ein Gegenstand etwas anderes als eine Gruppe von Erscheinungen? Nun werden aber alle diese Erscheinungen von Gesetzen beherrscht. Ist also das, was wir einen Gegenstand nennen, nicht einfach eine Gruppe von gesetzlichen Beziehungen? Man kann die Wahrheit dieses Satzes unmittelbar einleuchtend machen, wenn man bemerkt, daß wir einen Gegenstand nur durch seine Eigenschaften kennen und daß jede Eigenschaft sich durch ein Gesetz ausdrücken läßt. Was ist Schwefel? Es ist ein fester gelber Körper, der bei 114° schmilzt, bei 448° siedet, bei der Verbrennung ein Gas erzeugt, das unter dem Namen Schwefeldioxid bekannt ist usw. Nun spreche ich aber unstreitig Gesetze aus, wenn ich sage: Schwefel ist gelb, Schwefel schmilzt bei 114° usw. Wie kann ich also für die Gesetze, aber nicht für die Gegenstände, die zeitliche Unveränderlichkeit behaupten?

Betrachten wir unsere Beschreibung der Eigenschaften des Schwefels etwas genauer! Wenn wir ihn als festen gelben Körper bezeichnen, wollen wir dann damit sagen, daß er das immer ist? Sicherlich nicht. Wir wissen sehr wohl, daß er auch eine bräunliche Flüssigkeit sein kann und daß er auch als fester Körper sich als ein ziemlich weißes Pulver darstellen kann, wenn er sich aus einer Lösung von Schwefelleber niederschlägt; wenn wir übrigens ein Stück Schwefel mit monochromatischem grünen Licht beleuchten, so erscheint es grün. In Wirklichkeit verhält es sich also so, daß bei jeder der von uns angeführten Eigenschaften bestimmte Bedingungen mitgedacht wurden. Wenn wir sie in gewissen Fällen nicht ausdrücklich zu spezifizieren brauchten, so setzten wir eben das voraus, was man als die  gewöhnlichen Bedingungen  bezeichnet, d. h. diejenigen, die wir in der ungeheuren Mehrzahl der Fälle in der uns umgebenden Welt antreffen. So gehört zu diesen Bedingungen z. B. eine Temperatur, bei der der Schwefel fest bleibt, ferner die Beleuchtung durch Sonnenlicht oder Licht eines glühenden Körpers und ebenso konnten wir, da der Schwefel hauptsächlich als kompakter Körper im Handel ist, auch diese Bedingung bei der Aufzählung seiner Eigenschaften zur Not weglassen. Bei mehreren der oben angegebenen Eigenschaften kann man allerdings nicht so verfahren. Wenn ich sage, daß der Schwefel bei 114° schmilzt und bei 448° siedet, oder daß er brennbar ist, so ist es klar, daß diese Erscheinungen nur bei einer höheren Temperatur beobachtet werden können, d. h. wenn die gewöhnlichen Bedingungen zu bestehen aufhören. Zweifellos nehmen wir an, daß dieser Erscheinung, die nur unter ganz bestimmten Bedingungen auftritt, auch im Schwefel von gewöhnlicher Temperatur  irgendetwas  entspricht; übrigens etwas schlecht Definiertes, das sich nicht dauernd zeigt, sondern sich nur zeigen  kann,  wie das ja schon deutlich durch die grammatische Form unserer Worte zum Ausdruck kommt, wenn wir sagen, der Schwefel sei schmelzbar oder brennbar. Es handelt sich dabei nicht um eine aktuale Beschaffenheit, sondern um eine  Fähigkeit  und wenn man sich dessen erinnert, was wir weiter oben gesagt haben, so wird man bemerken, daß im Grund  alle  Eigenschaften, die wir den Körpern zuschreiben, nichts weiter als solche  Fähigkeiten  sind, denn sie zeigen sich alle nur unter bestimmten Bedingungen und können sich mit diesen Bedingungen ändern.

Nachdem das festgestellt ist, sieht man deutlich, wo sich in dieser Hinsicht der Unterschied zwischen der rein gesetzmäßigen und der kausalen Ansicht von der Natur befindet. Das Gesetz sagt einfach, daß, wenn sich die Bedingungen in bestimmter Weise ändern, auch die  aktualen  Eigenschaften der Körper eine ganz bestimmte Änderung erleiden müssen; das Kausalprinzip dagegen verlangt Gleichheit zwischen Ursachen und Wirkungen, d. h. daß die ursprünglichen Eigenschaften zusammen mit der Änderung der Bedingungen gleich den geänderten Eigenschaften sein müssen. Wir werden später sehen, welche Irrtümer aus diesen nur scheinbaren Schwierigkeiten entstanden sind, die wir soeben behandelt haben.

Woher entspringt das Postulat der Kausalität? Es ist zunächst einmal klar, daß der Instinkt der Selbsterhaltung dabei keine Rolle spielt. Wenn ich nur den Lauf der Ereignisse voraussehen kann, so besitze ich alles Wissen, was ich zum Handeln brauche. Die Gewißheit, daß die Wirkungen gleich den Ursachen sind, verschafft mir ansich keine Belehrung, die mir in dieser Hinsicht von Nutzen sein könnte, oder vielmehr sie verschafft mir eine solche nur insofern, als ich imstande bin, mit ihrer Hilfe Voraussagen aufzustellen, d. h. Erfahrungsregeln zu bilden. Ebenso leuchtet es ein, daß Ka das Kausalitätsprinzip nicht wie das der Gesetzmäßigkeit fortwährend durch unsere Empfindungen bestätigt wird; es wird sogar durch sie erschüttert. Alle uns bekannten Objekte verändern sich dauernd und wir haben die sehr deutliche Empfindung, daß unsere eigene Individualität derselben Regel unterworfen ist. Wenn wir von ewig unveränderlichen Dingen sprechen, so wissen wir sehr wohl, daß wir uns ungenau ausdrücken, es sei denn, daß es sich um rein ideale Gegenstände handelt. Der Planet selbst, auf dem wir leben und das ganze System, dem er angehört, erscheinen uns als in fortwährender Wandlung begriffen. (8)

Um die wahre Quelle des Prinzips zu entdecken, genügt es, sich des Namens zu erinnern, mit dem LEIBNIZ und viele andere nach ihm es bezeichnet haben. Es ist das Prinzip des bestimmenden oder zureichenden Grundes. Wo wir es zur Geltung bringen, wird die Erscheinung  rational,  unserer Vernunft angemessen; wir begreifen sie und können sie erkären. Jeder von uns fühlt in sich diesen Drang, zu erkennen und zu begreifen. COMTE leugnete zwar seine Existenz nicht, glaubte aber, daß es "einer der am wenigsten beherrschenden unserer Natur" sei. Das ist eine Behauptung, der, scheint es, das unmittelbare Gefühl all derer unbedingt widerspricht, die Wissenschaft treiben und forschen. Oft haben große Forscher bei sich die Kraft dieses Triebes anerkannt und insbesondere HENRY POINCARÉ erklärt nicht nur, daß wir uns nicht leicht dabei bescheiden, "den Grund der Dinge nicht zu kennen", (9) sondern, daß nach seiner Ansicht dieses Gefühl stärker als das ist, das uns zum Handeln treibt. "In meinen Augen", sagt er, "ist die Erkenntnis das Ziel und die Handlung das Mittel". (10) Selbst MACH gibt zu: "Das wissenschaftliche Denken schafft sich seine eigenen Ziele, sucht sich selbst zu befriedigen, jede intellektuelle Unbehaglichkeit zu beseitigen." (11) Schon ARISTOTELES hatte gesagt: "Der Mensch hat von Natur die Leidenschaft zu erkennen". (12) Und SPINOZA, daß "der Geist nur das als ihm selbst nützlich ansieht, was zum Verstehen führt". (13)

Übrigens wird die Entwicklung der Wissenschaften zu einem Rätsel, wenn man von diesem Streben des menschlichen Geistes absieht. Wir haben allerdings gesehen, daß  jedes  Wissen unter dem Gesichtspunkt der Voraussicht nützlich ist oder bestimmt einmal wird. Das aber ist eine Wahrheit, die weit davon entfernt ist, unmittelbar einleuchtend zu sein; vielmehr wäre sie zu den Zeiten, da die Naturwissenschaften noch wenig entwickelt waren, als paradox erschienen. Wie soll man also den sehr großen Eifer erklären, den die Menschheit beim Erwerb eines Wissens bewiesen hat, "dessen Gegenstand weder das Vergnügen noch das Bedürfnis sein konnte", wie ARISTOTELES sagt, der ausdrücklich die mathematischen Wissenschaften in diese Kategorie einreiht? (14) Was konnte man sich in der alexandrinischen Zeit für eine Vorstellung von einer möglichen Verwendung der Kegelschnitte machen? Ist es so sicher, daß die physikalischen Lehren der alten Atomisten oder die des ARISTOTELES praktische Anwendung unter dem Gesichtspunkt der Voraussicht gestatteten? Man könnte allerdings einwenden, daß es sich hier nicht um Naturwissenschaft, sondern um Metaphysik gehandelt habe. Nun, dann wollen wir gleich sagen, daß das Vorhandensein dieses Zweiges des menschlichen Wissens allein schon genügen würde, um die Wirklichkeit des Triebes zu beweisen, von dem wir reden. In der Tat, so sehr man auch von der Unfruchtbarkeit dieser Untersuchungen überzeugt sein mag, man kann doch nicht verkennen, daß die Menschheit ihnen eine ungeheure Summe von Anstrengungen gewidmet hat und daß die stärksten Geister sie zu ihrer Lieblingsbeschäftigung erwählt haben. Nun aber geht die Metaphysik nach ihrem eigenen Geständnis darauf aus, das Wesen der Dinge zu erkennen und zu verstehen, und das, wie ARISTOTELES hervorhebt, ohne jeden Nützlichkeitszweck. Dieses Sehnsucht muß doch also sehr stark in uns sein und wenn es wahr ist, daß das Ziel unerreichbar ist, so bildet gerade die Unfruchtbarkeit der immer wiederholten Anstrengungen einen weiteren Beweis für die Macht, mit der die Menschheit dahin strebt.

Es ist übrigens leicht, den Zusammenhang festzustellen, der zwischen der Vorstellung des Rationalen und der der Beharrung in der Zeit besteht. Das Prinzip der Identität ist die wahre Quintessenz der Logik, die Form, in die der Mensch seine Gedanken gießt. "Ich gebe zu", sagt CONDILLAC, "daß man in dieser Sprache (der des Kalküls) wie in allen anderen nur identische Sätze ausspricht, sofern nur die Sätze wahr sind", (15) und in seiner "Logik" behauptet er, daß "die Evidenz der Vernunft ausschließlich in der Identität besteht." (16)

Immerhin, der Satz, daß ein Gegenstand mit sich selbst identisch ist, scheint ein Urteil der reinen Logik zu sein und dazu noch eine einfache Tautologie oder, wenn man lieber will, ein analytisches Urteil, nach KANTs Terminologie. Sowie man aber die Zeit hinzunimmt, verdoppelt sich sozusagen der Begriff; denn er gewinnt zum analytischen noch einen synthetischen Sinn, wie SPIR das in ausgezeichneter Weise sagt. Der Satz ist analytisch, "wenn er bloß das Resultat einer Analyse des Begriffs ausdrückt, synthetisch dagegen, wenn er als eine Behauptung über die Natur realer Gegenstände gemeint ist." (17) Aber diese Beziehung zwischen dem Prinzip des bestimmenden Grundes und dem der Identität war schon LEIBNIZ völlig klar, wie man aus der Darstellung COUTURATs (18) entnehmen kann, und wie es übrigens auch schon die Art andeutet, wie LEIBNIZ an der oben von uns angeführten Stelle die beiden Prinzipe in Parallele stellt.

Demnach ist also das Prinzip der Kausalität weiter nichts als das auf das Dasein der Gegenstände in der Zeit angewandte Prinzip der Identität. Wir haben nach dem Ausdruck von LEIBNIZ etwas gesucht, "was dazu dienen kann,  a priori  zu begründen, weshalb die Sache gerade so und nicht anders existiert". Was kann den Bestimmungsgrund für das durch die Zeit bedingte Sein abgeben? Es gibt nur einen, der möglich wäre: die Präexistenz. Die Dinge sind so, wie sie sind, weil sie schon zuvor so waren.

Aus dem vorstehenden geht, wie uns scheint, klar hervor, daß das Prinzip der Kausalität von dem der Gesetzmäßigkeit grundverschieden ist. Aber ein Irrtum wie die Verwechslung dieser beiden Prinzipe, der so schwerwiegend durch seine Folgen und so allgemein verbreitet ist und den so viele gute Köpfe teilen, ein solcher Irrtum kann nur dann als beseitigt angesehen werden, wenn wir auch in der Lage sind, ihn zu erklären. Vor allem scheint er uns auf der ungenauen Bedeutung zu beruhen, in der wir im allgemeinen den Ausdruck  Ursache  gebrauchen. Nicht als ob wir uns seiner wirklich falsch bedienten. Aber notwendigerweise und in den meisten Fällen, ohne uns dessen bewußt zu sein, wenden wir, wenn wir von Ursachen sprechen, die stilistische Figur an, die die Griechen  Synekdoche  [Mitverstehen - wp] nannten, d. h. wir setzen den Teil für das Ganze.

Ich habe heute früh meinen Zug verpaßt. Was war die Ursache? Meine Uhr ging nach.

Sicherlich wäre ich, wenn meine Uhr richtig gegangen wäre, früher aufgestanden oder ich hätte mich rascher angezogen und hätte zur Zeit ankommen können. Aber wenn ich nicht so weit vom Bahnhof wohnte, wäre ich auch noch hingekommen; und auch wenn die Pariser Droschken bessere Pferde hätten oder der Zug einige Minuten Verspätung ... in dieser Weise könnte ich beinahe unbegrenzt fortfahren.

Was ist nun aber das, was ich zunächst mit dem Wort "Ursache" bezeichnet habe? Es ist  eine  der Bedingungen, die die Erscheinung bestimmen. Wollte ich denn aber sagen, es sei die einzige? Keineswegs! Sie erschien mir nur im Augenblick einfach als die  bemerkenswerteste;  und man erkennt sofort, daß es dafür mannigfache Gründe geben kann: es ist diejenige Bedingung, die der Person, mit der ich spreche, am wenigsten bekannt ist; es ist auch die am wenigsten feststehende, diejenige, von der mir schien, daß sie am leichtesten abzuändern gewesen wäre. Auf die Züge und die Pariser Droschken habe ich gar keinen Einfluß und ein Umzug zu dem Zweck näher am Bahnhof zu wohnen, wäre sehr umständlich gewesen; aber der Besitz einer besser gehenden Uhr oder auch nur eine am Vorabend vorgenommene Kontrolle ihres Ganges hätte genügt, um zu verhindern, daß das von mir bedauerte Ergebnis eintrat. (19) Dennoch habe ich keinen Augenblick daran gezweifelt, daß die es bestimmenden Bedingungen sehr zahlreich waren und daß jede von ihnen wieder durch eine Menge anderer bestimmt wurde, die sich sehr weit in die Vergangenheit erstreckten. Denn schließlich mußte es, damit ich durch die Schuld meiner Taschenuhr meinen Zug versäumen konnte, erst Eisenbahnen und Taschenuhren geben, zwei Erfindungen, die sicher sehr direkte Folgen jener großen geistigen Bewegung sind, die man Renaissance nennt und die das Werk wieder aufgenommen und fortgesetzt hat, das vor mehr als zweitausend Jahren der griechische Geist in so bewundernswerter Weise begonnen hatte. Wenn ich also die Analyse nur weit genug treibe, komme ich zu der Überzeugung, daß daran, daß ich heute früh meinen Zug versäumt habe, Marathon und Salamis nicht ganz unbeteiligt waren; denn diese beiden Schlachten haben den persischen Despotismus daran gehindert, die griechische Kultur im Keim zu ersticken. Wie MILL gesagt hat: "die wirkliche Ursache ist die Gesamtheit der Antezedentien" [des Vorausgegangenen - wp]. (20)

All das fühlen wir in unbestimmter Weise. Aber gerade weil wir das Gefühl haben, daß da eine Verkettung vorliegt, in der wir Gefahr laufen, uns zu verlieren, vereinfachen wir. Wir abstrahieren von allen Bedingungen, so wesentlich sie auch sein mögen, zugunsten einer einzigen, die wir hervorzuheben die Absicht haben. Ich habe es unterlassen, von der Erfindung der Eisenbahn und der Taschenuhr zu reden und bin dadurch jeder Versuchung ausgewichen, bis zur Schlacht von Marathon zurückzugehen und ebenso habe ich eine Menge anderer Umstände unerwähnt gelassen, weil ich annahm, daß sie für die Person, mit der ich sprach, ohne Interesse wären.

Es bedeutet also eine unerfüllbare Aufgabe, die Ursachen irgendeiner Erscheinung aufzuzählen. Man muß die Aufgabe begrenzen und sich mit einer teilweisen Erfüllung zufrieden geben. Aus diesem Grund gleichen wir alle, wenn wir von Ursachen sprechen, den Kindern, die mit den unmittelbarsten Antworten auf ihre Fragen zufrieden sind; oder besser noch: jenem gläubigen Hindu, dem die Brahmanen erklären, daß die Erde auf dem Rücken eines Elefanten ruht, der seinerseits auf einer Schildkröte steht; diese aber sitzt auf einem Walfisch. Alles, was uns als ein Schrittt auf dem Wege zur Erklärung erscheint, das schmücken wir mit dem Namen der Ursache. Wir nehmen daher auch keinen Anstoß daran, wenn dieser Ausdruck da gebraucht wird, wo es sich in Wirklichkeit um ein Gesetz handelt. Es ist nämlich die Erforschung des Gesetzes in der Erforschung der Ursache mit enthalten. In der Tat werden alle Bedingungen, welche die Gesetzmäßigkeit hinsichtlich der Zeit und des Raumes verlangt, auch für die Kausalität gefordert; nur fügt diese eine neue Forderung hinzu, nämlich die der Identität der Gegenstände in der Zeit. Es ist also ganz sicher, daß von der Herstellung einer ursächlichen Verknüpfung solange keine Rede sein kann, als das gesetzliche Band die Erscheinungen noch nicht verbindet; andererseits bildet die Herstellung dieser Verbindung stets einen Schritt auf dem Weg, der zu jener führt. Wir werden z. B. sagen, daß die tiefe Lage des Siedepunktes des Petroleums die Ursache dafür ist, daß Petroleumflecke nach einiger Zeit verschwinden. Wir haben nämlich damit das Verschwinden des Flecks mit den Erscheinungen des Siedens in Verbindung gebracht. Sollten diese Erscheinungen (wie wir das annehmen) einmal erklärt sein, würden wir ihre Ursachen kennen, so würden damit gleichzeitig auch die Ursachen für das Verschwinden des Flecks bestimmt sein.

Wir verfahren übrigens ebenso auch außerhalb der eigentlichen Naturwissenschaften. Wollen wir eine Erscheinung erklären, ihre Ursachen erforschen, so suchen wir entweer ihre Präexistenz in der Zeit zu erkennen - das heißt wahrhaft das Postulat der Kausalität anwenden - oder wir suchen die empirische Regel, die ihre zeitliche Änderung beherrscht, was darauf hinausläuft, daß wir - vorläufig und bis wir mehr leisten können - nur das Postulat der Gesetzmäßigkeit anwenden. Nun haben wir es aber hier mit Erscheinungen zu tun, die uns vom eigentlich wissenschaftlichen Standpunkt aus als sehr kompliziert erscheinen - das ist ja der Grund, aus dem wir ihre Erforschung nicht zum Gebiet der eigentlichen Naturwissenschaften rechnen. Daher betrachten wir eine Erklärung dieser Erscheinungen gemäß dem Postulat der Kausalität als in weiter Ferne - man möchte sagen, in unendlicher Ferne - liegend. Aus diesem Grund scheinen hier Ursache und Gesetz gleichbedeutend zu sein und beinahe ineinander zu fließen. Wenn ein Historiker, um den Untergang des Römerreiches zu erklären, ähnliche Tatsachen aus der Geschichte anderer Völker heranzieht oder wenn der Verfasser eines psychologischen Romans seinen Helden "seziert", um uns zu zeigen, daß seine Handlungen, mögen sie uns auch noch so seltsam vorkommen, dennoch durch die gleichen Beweggründe bestimmt werden, die wir an den Menschen unserer Umgebung und an uns selbst kennen, so berufen sich alle beide auf die Gesetzmäßigkeit. Trotzdem werden sie natürlich, wo sie die Möglichkeit haben, versuchen, dem Postulat der Kausalität Genüge zu tun. Da wird der Historiker uns auseinandersetzen, daß die Ausbreitung des Christentums die Folge einer Tendenz zum Mystizismus war, die schon vorher in der antiken Welt allgemein verbreitet war und der Romanschriftsteller wird uns zeigen, daß die verhängnisvolle Verblendung seines Helden eine Folge seines im Grund leidenschaftlichen Temperaments war, wenn auch die Äußerungen dieses Temperaments war, wenn auch die Äußerungen dieses Temperaments vorher durch sein tätiges Leben unterdrückt worden waren. Gesetz oder zeitliche Identität, sie liegen allen unseren Erklärungen auch außerhalb der Naturwissenschaften zugrunde; hier die eine, dort die andere, meistens aber beide vermischt, ohne daß wir uns sozusagen dieser Vermengung bewußt würden.

Außer der erwähnten Synekdoche gibt es noch einen anderen Umstand, der unsere Einsicht in die Bedeutung der Kausalität trübt. Das ist der Mangel an Präzision, der dem Ausdruck "Ursache" anhaftet. Die soeben festgestellte Bedeutung erschöpft seinen Inhalt nicht. Um sich davon zu überzeugen, braucht man nur an einen freien Willensakt zu denken. Wenn ich durch einen Willensakt eine äußere Veränderung hervorbringe oder wenn der Gläubige eine Erscheinung dem Eingreifen der Gottheit zuschreibt (wir haben oben gezeigt, daß diese beiden Vorstellungen nahe verwandt sind), so zögert man sicherlich nicht von Ursache und Wirkung zu sprechen. Nun ist aber hier keine irgendwie geartete Identität möglich, und, was noch mehr bedeutet, diese Tatsache ist mir unmittelbar evident. Nicht einen Augenblick kann ich mich der Täuschung hingeben, daß mein Wille etwas wäre, was der von ihm hervorgerufenen Bewegung analog ist. Es liegt also hier ein Begriff der Kausalität vor, der sich von Grund aus von jenem unterscheidet, den wir zuvor untersucht haben und der auf die Identität gegründet ist. Um den Unterschied hervorzuheben, wollen wir diesen letzten Begriff als den der  wissenschaftlichen Kausalität  und im Gegensatz dazu den anderen als den der  theologischen Kausalität  bezeichnen, weil er ja auch, wie wir soeben gesehen haben, bei der Annahme eines Eingreifens der Gottheit in die Naturereignisse zur Anwendung kommt.

Darf man sich darüber wundern, daß zwei Begriffe, die so verschieden, ja einander so entgegengesetzt sind, wie der der wissenschaftlichen und der der theologischen Kausalität, mit dem gleichen Ausdruck bezeichnet werden? Was sie miteinander gemein haben, sieht man ja deutlich: die Ursache ist, was die Wirkung hervorbringt, was sie hervorbringen soll. In dem einen Falle gewinne ich die Überzeugung von der Verknüpfung der Ursache mit der Wirkung aus dem Beweis, daß die beiden im Grunde identisch sind: dieser Beweis beruth also auf Schlüssen; in dem andere Fall dagegen schöpfe ich diese Überzeugung aus meinem Willensakt, der ja, wie SCHOPENHAUER hervorgehoben hat, das Wesen des Ich ausmacht. Der Begriff der Ursache ist also in Wirklichkeit ein doppelter und gehört zum Teil der Welt des Verstandes, zum anderen Teil der des Willens an. Es könnte sogar sein, daß dieser letztere Begriff psychologisch betrachtet der frühere wäre, d. h. daß die Vorstellung von der Verknüpfung ursprünglich aus dem Gefühl entsteht, daß ich imstande bin, nach Belieben eine Wirkung auszuüben; die Identität dann erst nachträglich auf diese ursprüngliche Vorstellung aufgepfropft werden, um angesichts der Unmöglichkeit, den Dingen einen Willen ähnlich dem meinen zuzuschreiben, das Bedürfnis nach Begreiflichkeit zu befriedigen. Mag es nun aber um dieses Problem der metaphysischen Psychologie stehen, wie es wolle, sicher ist, daß in der Wissenschaft der Begriff der aus der Identität abgeleiteten Kausalität - den wir deswegen den der wissenschaftlichen Kausalität genannt haben - der herrschende ist. (21)

Wir haben vorhin gesehen, daß der Wilde und sogar das Tier das Prinzip der Gesetzmäßigkeit anwenden. Steht es mit dem der Kausalität ebenso? Es erscheint kaum möglich, dies für ein Tier zu bejahen. Die Sehnsucht, zu begreifen, der philosophische Instinkt, "die Verwunderung über sein eigenes Dasein", wie SCHOPENHAUER sagt, (22) scheinen uns ein Vorrecht des Menschen zu sein; wir werden jedoch später sehen, daß wir genötig sind, auch den Tieren in gewissen Sinne kausale Deduktionen zuzuschreiben. Jedenfalls aber können wir uns keinen menschlichen Verstand vorstellen, wie primitiv wir ihn auch annehmen mögen, ohne bei ihm solche Deduktionen vorauszusetzen. Das Kind stellt, sobald es sich nur auszudrücken versteht, einen solchen Überfluß an Fragen nach dem  Warum,  daß man zu der Ansicht kommt, das Streben nach der Kausalität habe bei ihm dunkel längst vor der Sprache bestanden.

Auf den folgenden Seiten werden wir die Rolle untersuchen, die das Postulat der Kausalität in den Naturwissenschaften spielt. Wir hoffen zeigen zu können, daß diese Rolle von sehr großer Bedeutung ist und daß weder die Entwicklung der Wissenschaft in der Vergangenheit noch ihr heutiger Zustand erklärbar sind, wenn man von diesem Prinzip absieht.

Wir wenden das Kausalitätsprinzip an, wenn wir die Erscheinung zu begreifen suchen. Wir werden also seine Auswirkungen am deutlichsten in demjenigen Teil der Wissenschaft finden, der der Erklärung gewidmet ist.

Gibt es denn aber überhaupt einen solchen Teil? Es leuchtet jedenfalls ein, daß er vom Standpunkt BERKELEYs, TAINEs und HELMHOLTZs eine Anomalie darstellen würde; erklärt das Gesetz die Erscheinung, so ist nicht einzusehen, was man darüber hinaus noch suchen könnte. Um aus der Wissenschaft jeden Versuch einer Erklärung im eigentlichen Sinne zu verbannen, braucht man sich übrigens nur auf den Standpunkt zu stellen, daß das Ziel, das wir oben als das des empirischen Teils der Wissenschaft bezeichnet haben, d. h. desjenigen Teiles, der die Gesamtheit der Gesetze umfaßt, das Ziel der Wissenschaft überhaupt sei. Diese Ansicht ist sehr klar von AUGUSTE COMTE ausgesprochen worden. (23) Es ergibt sich in der Tat aus dem Zusammenhang, in dem die oben von uns zitierte Stelle steht, daß er den von ihm definierten "Gebrauch der Gesetze" als das Ziel "aller Wissenschaft" ansah. Daher untersagt COMTE aufs strengste jeden Versuch, etwas jenseits des Gesetzes Liegendes zu suchen. Er kommt auf dieses Verbot mehrmals zurück, bildet es doch bekanntlich einem der Ecksteine seiner Philosophie:
    "Offenbar können wir nicht wissen, was im Grunde diese Wechselwirkung der Gestirne und diese Schwere der irdischen Körper eigentlich ist: jeder Versuch in dieser Richtung wäre ganz notwendig von Grund aus illusorisch sowie vollkommen müßig; nur Köpfe, die jeder wissenschaftlichen Beschäftigung völlig fremd gegenüberstehen, können sich heute noch damit abgeben." (24)

    "Alle tüchtigen Köpfe erkennen heute an, daß unsere wirklichen Forschungen streng auf die Analyse der Erscheinungen beschränkt sind und daß sie das Ziel haben, deren wirkliche Gesetze, d. h. die zwischen ihnen bestehenden konstanten Beziehungen der Sukzession und der Ähnlichkeit zu entdecken, daß sie sich aber in keiner Weise auf die innere Natur der Erscheinungen, noch auf ihre ersten oder ihre Endursachen, noch auch auf die wesentliche Art ihrer Entstehung erstrecken." (25)

    Selbst wenn wir genötigt sind, Annahmen oder Hypothesen aufzustellen, soll deren einziger Gegenstand eine noch unbekannte empirische Regel sein.

    "Jede physikalische Hypothese darf, um wirklich beurteilt werden zu können, sich ausschließlich auf die Gesetze der Erscheinungen und niemals auf die Art ihrer Entstehung erstrecken." (26)
Auch für MACH ist die "Denkökonomie" das einzige und endgültige Ziel der Wissenschaft. Er hat dieses Prinzip mit großer Strenge auf die Darstellung verschiedener Zweige der Physik angewendet und hat besonders auf der Meinung bestanden, daß die Wissenschaft nicht anders als beschreibend verfahren könne. Unabhängig von ihm hat KIRCHHOFF, einer der größten Physiker des XIX. Jahrhunderts, denselben Gedanken vertreten. Beide scheinen übrigens nicht von COMTE gewußt zu haben, der ja, wie wir soeben gesehen haben, sehr ähnliche Ansichten ausgesprochen hat. (27) (28)

Die Stellung, die COMTE gegenüber den erklärenden Theorien eingenommen hat, führt zu ihrer völligen Ausscheidung aus der Wissenschaft. Der Schöpfer des Positivismus ist vor dieser Konsequenz nicht zurückgeschreckt. Von diesem Gesichtspunkt aus gelangt er dahin, zu bestreiten, daß die Wellentheorie des Lichts, die von seinem großen Zeitgenossen FRESNEL in so glänzender Weise ausgebildet worden war, auf die Entwicklung der Optik irgendeinen Einfluß ausgeübt hätte. (29) Aber diese radikale Lösung hat den Nachteil, daß sie mit den Tatsachen in Widerspruch steht; es genügt, einen Blick auf die Entwicklung der Wissenschaft zu werfen, um sich davon zu überzeugen, daß die Praxis der Naturforscher eine ganz andere war. NEWTON drückt sich in den  Principia  folgendermaßen aus: "Ich habe bisher die Erscheinungen der Himmelskörper und die Bewegungen des Meeres durch die Kraft der Schwere erklärt." (30) Und an anderer Stelle: "Ich habe noch nicht dahin gelangen können, aus den Erscheinungen den Grund dieser Eigenschaften der Schwere abzuleiten und Hypothesen erdenke ich nicht." (31) Man hat zuweilen in diesem "hypotheses non fingo" eine Art von Glaubensbekenntnis sehen wollen, als hätte NEWTON das Suchen nach einer erklärenden Hypothese als unberechtigt bezeichnen wollen. Man hat sich sogar manchmal eingebildet, NEWTON habe die Ausführung dieses Programms ermöglicht. "Verbannt sind nun alle Hypothese", behauptet MUSSENBROEK 1731 (32), d. h. in einem Augenblick, wo die Autorität NEWTONs auf ihrem Höhepunkt steht und dieser Ausruf entschlüpft ihm gerade bei der Darstellung der Theorien der NEWTONschen Schule über die Fernwirkung, Theorien, deren hypothetischer Charakter auf der Hand liegt. Übrigens scheint NEWTON selbst gegen Ende seines Lebens geneigt gewesen zu sein, seinem berühmten Ausspruch einen etwas anmaßenden Sinn zu unterlegen. (33) Nun beweist aber der Wortlaut der soeben von uns angeführten Stelle deutlich, daß NEWTON eine Hypothese gesucht hatte, ohne sie zu finden; später werden wir sehen, daß uns die  Optik  Spuren dieses Suchens aufbewahrt hat. (34) Im Grunde waren über diesen Punkt alle Zeitgenossen mit NEWTON einig. Die einen nahmen die Existenz von Fernkräften an, während die anderen äußerst verwickelte Theorien erdachten, die diese scheinbare Fernwirkung auf eine Wirkung durch Berührung zurückführten. Aber mochten sie nun Anhänger oder Gegner der sogenannten "Newtonschen" Ansichten sein, sie waren sich jedenfalls darüber einig, daß die Erscheinung der Gravitation eine Erklärung verlange. Nun kann man aber, wenn man im Bereich der reinen Gesetzmäßigkeit bleiben will, sich nur schwer vorstellen, was sie eigentlich suchten. NEWTONs Gesetz ist von wunderbarer Einfachheit: es ist im übrigen absolut allgemein, da es die gesamte Materie umfaßt. Ohne Zweifel kann man sich noch allgemeinere Gesetze vorstellen und NEWTONs Zeitgenossen hätten voraussehen können, daß die Gravitationserscheinungen eines Tages durch eine gemeinsame Regel mit der oder jener anderen Gruppe von Erscheinungen verknüpft werden würden. Merkwürdig erscheint es aber, daß sie einstimmig und gebieterisch  hic et nunc  [hier und jetzt - wp] diese "Erklärung", d. h. etwas über das Gesetz Hinausgehendes verlangten und es ist beinahe überflüssig, zu betonen, daß jedermann, angefangen mit NEWTON selbst, die Ausdrücke "Ursache" und "Grund" benutzte, um den Gegenstand dieser Nachforschungen damit zu bezeichnen. Wir können ihn noch näher charakterisieren, indem wir bemerken, daß LEIBNIZ, HUYGHENS und viele andere nach ihnen eine mechanische Theorie der Gravitation suchten und daß, wenn man eine brauchbare derartige Theorie hätte vorlegen können, die Anhänger der Fernwirkung alsbald genötigt gewesen wären sie anzuerkennen.

Bildet das angeführte Beispiel eine Ausnahme? Im Gegenteil, es ist durchaus typisch. Es ist allgemein bekannt, daß die Wissenschaft von derartigen mechanischen Theorien oder Hypothesen voll ist. Ohne Zweifel gibt es wissenschaftliche Arbeiten und sogar Bücher mit Darstellungen ganzer Kapitel der Wissenschaft, in denen nur Gesetze oder Annahmen über solche vorkommen. Aber wieviele andere unterscheiden sich in dieser Hinsicht von ihnen! Die Werke der berühmtesten Vertreter der Wissenschaft - wir haben die Wahl zwischen den Arbeiten von LAPLACE, LAGRANGE, LAVOISIER, FRESNEL - sind voller Hypothesen und auch Männer, die uns zeitlich näher stehen, MAXWELL, Lord KELVIN, HERTZ, CORNU, HENRY POINCARÉ, um nur ein paar berühmte Namen zu nennen, haben einen bedeutenden Teil ihrer Arbeiten diesen Theorien gewidmet.

Aber COMTEs Lösung ist nicht die in diesem Fall einzig mögliche. Anstatt die Theorie brutal zu unterdrücken, kann man versuchen, sie dem Rahmen der Wissenschaft, d. h. (nach Ansicht von COMTE und MACH) dem der Gesetze einzufügen, indem man sie diesen angleicht.

Die Gesetze stellen Beziehungen zwischen den elementaren Tatsachen her, die unmittelbar beobachtet und kontrolliert werden können. Wenn ich sage, daß das Benzol bei 80° siedet oder daß es einen bei 154° siedenden Stoff liefert, wenn man es unter bestimmten Bedingungen mit Brom behandelt, so behaupte ich nur eine Reihe von Tatsachen, die jeder Physiker oder Chemiker bestätigen kann; wenn über das, was ich Benzol genannt habe, kein Irrtum besteht und ich die Bedingungen des Versuchs in der richtigen Weise beschrieben habe, so wird jeder, der ihn im Laboratorium wiederholt, zum gleichen Ergebnis kommen.

Nun aber kommt eine Hypothese: das Benzolmolekül enthält sechs Kohlenstoffatome, die im Sechseck angeordnet und abwechselnd durch einfache und doppelte Verkettungen verbunden sind. Es ist offenbar ausgeschlossen, diese Hypothese irgendwie direkt zu verifizieren. Niemand hat jemals ein Molekül oder Atom gesehen, noch auch eine Verkettung von Atomen und erst recht nicht dieses Sechseck, von dem in der Hypothese die Rede ist; zweifellos wird es auch niemals jemand sehen.

Dennoch ist klar, daß man nur deshalb darauf verfallen ist, derartige Dinge anzunehmen, weil sie anscheinend einer ganzen Reihe von Tatsachen enstprechen, die uns durch Versuche bekannt sind. Wenn ich also von einem Benzolring spreche, so fasse ich eigentlich diese Tatsachen zusammen, nachdem ich sie noch durch mehr oder weniger beweiskräftige Überlegungen verknüpft habe. Mit der Benutzung eines dem Mathematiker vertrauten Bildes können wir sagen, wir haben ein imaginäres Glied eingeführt, das sich in der Folge wieder eliminieren lassen wird.

Nach dieser Auffassung kommt also den Theorien keinerlei Eigenwert, keinerlei selbständige Bedeutung zu. Ihr einziger Zweck besteht darin, daß sie in provisorischer Weise die Gesetze miteinander verknüpfen. Ihren hypothetischen Bestandteilen kommt nicht mehr Existenz zu als den mathematischen Ausdrücken, die wir bei der Formulierung gewisser Gesetze benutzen. Wenn ich etwa, um das Brechungsgesetz gewisser Gesetze benutzen. Wenn ich etwa, um das Brechungsgesetz auszusprechen, sage, daß der Quotient der beiden Sinusse gleich einer Konstanten ist, so sieht es so aus, als setze ich die Existenz dieser Funktion voraus. (35) Aber das ist nur Schein. Im Grunde bin ich vollkommen überzeugt, daß der Winkel und der Sinus nur Begriffe sind, die ich zu meiner Bequemlichkeit gebildet habe und nicht einen Augenblick habe ich angenommen, daß die Natur etwa mit einer Logarithmentafel rechnete. Ebenso sollen nun auch die Moleküle, die Atome, die Kräfte, der Äther, von denen soviel die Rede ist, bloße Begriffe wie die Winkel, die Sinusfunktionen und andere Abstraktionen sein. (36) Danach wären also die Hypothesen nicht mehr Annahmen über den wirklichen Lauf der Natur und die Entstehungsweise der Erscheinungen, wie sie von COMTE so energisch verworfen worden sind, sondern es wären einfache bildliche Darstellungen, die zur Unterstützung des Gedächtnisses dienen, zum "Fixieren der Vorstellungen", wie man in der Mathematik sagt. Wenn ich sage, daß das Benzol sechs Kohlenstoffatome enthält, die im Sechseck angeordnet sind, so drücke ich mich unrichtig aus; eigentlich meine ich nur, daß das Benzol sich in gewissen Beziehungen so verhält,  als ob  es so gebaut wäre. Es scheint nur so, als ob ich die Existenz des Sechecks behauptete. In Wirklichkeit bediene ich mich seiner nur als bequemer Abkürzung, weil es zu kompliziert wäre, zwischen den verschiedenen Tatsachen direkte Beziehungen herzustellen. "Die mathematischen Theorien", sagt POINCARÉ bei der Besprechung der Wellentheorie des Lichts, "haben nicht die Aufgabe, uns die wahre Natur der Dinge zu offenbaren; das wäre eine unvernünftige Anmaßung. Ihr einziger Zweck ist, Beziehungen zwischen den physikalischen Gesetzen herzustellen, welche die Erfahrung uns zeigt, die wir aber ohne die Hilfe der Mathematik nicht einmal aussprechen könnten". (37) Ebenso erklärt DUHEM, daß die physikalische Theorie nicht eine Erklärung, sondern ein System von mathematischen Sätzen sei, (38) sie klassifiziere die Gesetze. (39)

Man kann allerdings durch einen derartigen Kunstgriff die Hypothesen den Gesetzen angleichen, indem man diese in ähnlicher Weise ausdrückt, wie wir das mit jenen getan haben. Wir werden also sagen, daß die Himmelskörper sich so bewegen,  als ob  sie sich mit Kräften anzögen, die ihren Massen direkt und dem Quadrat ihrer Entfernung umgekehrt proportional wären; und ebenso, daß sich der Lichtstrahl so verhält,  als ob  der Sinus des Einfalls- und der des Brechungswinkels einer gewissen Beziehung genügen müßten. Man wird aber bemerken, daß diese Ausdrucksweise zwar für das Gravitationsgesetz (das ja übrigens von NEWTON ungefähr in dieser Form ausgesprochen worden ist) nicht aber für das Brechungsgesetz natürlich erscheint. Das liegt aber daran, daß das NEWTONsche Gesetz wirklich eine Hypothese, d. h. eine Annahme über das wirkliche Verhalten der Dinge enthält, während es sich bei den Winkeln und ihren Sinusfunktionen um bloße Gebilde unserer Vorstellung handelt; infolgedessen erscheint uns die Vorsicht hier ganz überflüssig.

Mit anderen Worten: die Angleichung, die wir soeben versucht haben, erweist sich als durchaus künstlich. Zwischen den physikalischen Begriffen und den mathematischen Abstraktionen klafft ein wirklicher Abgrund: wer erklärt, daß das Kohlenstoffatom ebenso wie der Punkt, die Linie oder das Unendlichkleine einen "Grenzbegriff" darstellt, der vergewaltigt wahrhaftig unseren Verstand.

Es kann übrigens nicht der geringste Zweifel darüber bestehen, welche Ansicht die Forscher früherer Zeiten über die Hypothesen vertraten. DUHEM, dessen an sich schon sehr große Autorität in diesen Fragen in unserem Fall noch durch den Umstand verdoppelt wird, daß seine eigene Meinung jener Ansicht diametral entgegengesetzt ist, schreibt: "Daß mehrere von den Genies, denen wir die moderne Physik verdanken, ihre Theorien in der Hoffnung konstruiert haben, sie könnten damit die Naturerscheinungen erklären und daß einige von ihnen sogar geglaubt haben, diese Erklärung gefunden zu haben, das unterliegt keinem Zweifel". (40) Er stellt auch fest, daß die großen wissenschaftlichen Theorien und speziell die Lehren der Peripatetiker [Anhänger des Aristoteles - wp], der Atomisten, DESCARTES' und BOSCOVICHs ganz von metaphysischen Vorstellungen beherrscht waren und in Wirklichkeit nur Fortsetzungen philosophischer Systeme sind, (41) Beweis genug, daß die einen wie die anderen dem gleichen Zweck dienten, nämlich der Erklärung der Wirklichkeit. Aber auch wenn man die Arbeiten der Naturforscher durchsieht, die sich gegenwärtig dieser hypothetischen Begriffe bedienen, so hat man selbst bei den Vorsichtigsten unter ihnen das Gefühl, daß sie diesen Begriffen einen ganz anderen Grad von Realität zuschreiben als einem rein mathematischen Begriff. Gewiß sind die ausrücklichen Realitätsbehauptungen in neuester Zeit etwas seltener geworden: die Verdammungsurteile von COMTE und MACH sind sicherlich nicht ganz unschuldig daran, ebensowenig gewisse kritische Untersuchungen wie die von STALLO (42) und HANNEQUIN, von denen weiter unten die Rede sein wird. Der wichtigste Grund ist aber wahrscheinlich in dem Umstand zu suchen, daß die wissenschaftlichen Hypothesen selbst in der letzten zeit eine tiefgreifende Umwandlung erfahren, daß sie "mutieren", wenn wir uns dieses Ausdrucks bedienen dürfen. Nichtsdestoweniger argumentieren die Naturforscher, sobald sie die Atome oder den Äther behandeln, implizit so, als wären dies nicht Begriffe, sondern wirkliche Dinge, ja sogar die einzig wirklichen Dinge, da sie ja die ganze Wirklichkeit erklären sollen. (43) Weit entfernt davon, die Wissenschaft auf die Gesetze zu beschränkten oder die Hypothesen als einen vorläufigen Ersatz für künftige Gesetze anzusehen, ordnen die Naturforscher offensichtlich die letzteren dauernd den ersteren unter. Für diese Unterordnung liefert uns DUHEM ausgezeichnete Beispiele (44). Wenn z. B. die Optik die Erscheinungen des Prismas und des Regenbogens zur gleichen Kategorie rechnet, die NEWTONschen Ringe dagegen in dieselbe Gruppe wie die Interferenzstreifen von YOUNG und FRESNEL einordnet oder wenn die Biologie die Schwimmblase der Fische als zu den Lungen der Säugetiere homolog behandelt, so richten sich beide Wissenschaften nach rein theoretischen Überlegungen und hypothetischen Vorstellungen. Ob der Physiker nun alles auf die Mechanik zurückzuführen sucht oder ob er gemäß neueren Gedankenrichtungen im Gegenteil die elektrischen Erscheinungen als grundlegend ansieht, auf jeden Fall erhebt er damit stillschweigend den Anspruch, die Natur mit Hilfe seiner Theorie zu  erklären.  Und die offensichtlichste Anomalie, die man bei der Anwendung eines Gesetzes entdecken mag, erscheint als  erklärt,  sobald die Theorie imstande ist, von ihr Rechenschaft zu geben.

Daß die Naturforscher in praxi so vorgehen, ist unbestreitbar. Aber folgt daraus, daß dieses Verhalten richtig ist? Wir sind gewöhnt, die Wege, die die Wissenschaft in gewissen Zeiten gegangen ist, als Irrwege anzusehen, z. B. wenn sie versuchte, die Erscheinungen mittels der substanziellen Qualitäten zu erklären. Wäre es nicht auch möglich, daß das Bestreben der Wissenschaft, erklärende Theorien aufzustellen, ein Bestreben, dessen Vorhandensein nicht gut geleugnet werden kann, eine fehlerhafte Neigung darstellt, vor der man sie soweit wie möglich behüten müßte? Wir haben gesehen, daß dies die Ansicht von COMTE war; auch MACH ist mit ihm darin im Grunde ziemlich einig. DUHEM meint gleichfalls, daß die Naturforscher einer Täuschung zum Opfer gefallen seien, ähnlich derjenigen, der die spanischen Forschungsreisenden anheimfielen, als sie das sagenhafte Dorado suchten. Das Suchen nach der Erklärung bildet nicht den Ariadnefaden, der uns durch das Labyrinth der Erscheinungen hindurchführen könnte; der erklärende Teil der Wissenschaft ist weiter nichts als ein parasitärer Auswuchs. (45)

Bevor wir jedoch der Frage auf den Grund gehen, wollen wir eine Einschränkung machen: im Verlauf des folgenden Kapitels werden wir zunächst von der neuesten Entwicklung der theoretischen Ansichten absehen, nämlich von den elektrischen Theorien; wie beschränken uns auf die Gesamtheit derjenigen Hypothesen über die Konstitution der Materie, die noch vor wenigen Jahren die Wissenschaft zu beherrschen schienen. Der Hauptgrund, der uns zu diesem Verfahren veranlaßt, liegt darin, daß die neuen elektrischen Theorien sich noch in hohem Maße im Stadium der Ausarbeitung befinden (46) und infolgedessen von unserem Standpunkt aus ein weniger geeignetes Untersuchungsobjekt bilden als ihre älteren Schwestern, die mechanischen Theorien, die in der Entwicklung bereits weiter vorgeschritten sind. Dazu kommt aber, daß es eine offensichtliche Übertreibung bedeuten würde, wollte man diese Phase der Wissenschaft bereits als gänzlich der Vergangenheit angehörig ansehen. Viele Physiker, und unter ihnen die angesehensten, würden zweifellos gegen eine solche Behauptung Einspruch erheben. Die einen würden sich so verhalten, weil sie die neuen Vorstellungen gar nicht oder nur sehr unvollständig akzeptieren, die anderen, weil sie diese zwar annehmen, sie aber in mehr oder weniger bewußter Weise als eine bloße Durchgangsstation ansehen; sie glauben, daß man wohl im Augenblick die ganze Mannigfaltigkeit der Naturerscheinungen einschließlich der mechanischen auf die Elektrizität zurückführen mag, daß sich aber später einmal die Elektrizität selbst aus einer vorläufig noch unbestimmten Modifikation des hypothetischen Mediums werde erklären lassen, aus einer Art lokaler Spannung, die man offenbar als etwas rein Mechanisches hinstellen möchte. Erst nach dem Studium der eigentlichen mechanischen Theorien gehen wir zur Prüfung der elektrischen Hypothese über, einer Prüfung, von der wir hoffen, daß sie die vorher gewonnenen Ergebnisse bestätigen wird.
LITERATUR - Emile Meyerson, Identität und Wirklichkeit, Leipzig 1930
    Anmerkungen
    1) HENRY POINCARÈ, L'espace et la géometrie. Revue de métaphysique, 1895, Seite 638. - Vgl. derselbe, La géometrie non-euclidienne. Revue générale des sciences, 1891, Seite 772
    2) Diese Beziehung zwischen der geometrischen Deduktion und den physikalischen Feststellungen hat durch die neueren Ansichten ein anderes Aussehen erhalten. Vgl. darüber mein Buch "La déduction relativiste", besonders die §§ 86, 98, 156 (Zusatz zur 3. Auflage des Originals).
    3) Vgl. weiter unten Seite 221-222. Man überzeugt sich leicht, daß die moderne Theorie der "Ortszeit", die in so vielen Beziehungen tiefe Umwälzungen herbeigeführt hat, dennoch entgegen dem Anschein, diesen fundamentalen Unterschied zwischen Zeit und Raum unberührt gelassen hat. MINKOWSKIs Ausspruch, daß "Raum für sich und Zeit für sich völlig zu Schatten herabsinken und noch noch eine Art Union der beiden Selbständigkeit bewahren soll" (Raum und Zeit, Leipzig und Berlin, 1909, Seite 1) könnte allerdings darüber Zweifel aufkommen lassen. Aber EINSTEINs fundamentales Argument, das in dem Hinweis darauf besteht, daß man, "nicht in die Vergangenheit telegraphieren kann", genügt, um einzusehen, daß sich in dieser Hinsicht nichts geändert hat. Die neue Theorie führt allerdings in ganz bestimmter Hinsicht zu einer Angleichung der beiden Begriffe von Raum und Zeit; es ergibt sich daraus, daß zwei Beobachter, die sich verschieden bewegen, die abgelaufene Zeit verschieden beurteilen. Man kann sich daher einen Beobachter vorstellen, der die Erde verlassen hat und sie nach zweihundert Jahren wiederfindet, während er selbst inzwischen nur zwei Jahre verlebt hat (vgl. LANGEVIN, L'évolution de l'espace et du temps, Revue de métaphysique et de morale, Juli 1911, Seite 459); aber diese Fiktion widerspricht durchaus nicht dem, was wir über die Unmöglichkeit einer Reise in die Zukunft gesagt habe; denn nachdem der Reisende einmal die Spanne von zwei Jahrhunderten zurückgelegt hat, kann er mit keinem Mittel den Weg wieder zurück machen. Man kann daher diese Erfindung unter die Märchen einreihen, in denen ein zeitweiliger Stillstand des animalischen Lebens angenommen wird, wie in ABOUTs "Homme á l'oreille cassée oder in WELLs "Schläfer", Phantasien, die unseren Sinn für das Mögliche nicht allzusehr verletzen.
    4) AFRIKAN SPIR, der für die Verschiedenheit des Raumes von der Zeit ein sehr klares Gefühl hatte, hat den Unterschied der beiden Begriffe nicht immer genau bezeichnet. Was er über die Unmöglichkeit sagt, sich eine leere Zeit vorzustellen (Gesammelte Werke, Bd. I, Denken und Wirklichkeit, 4. Auflage, Leipzig 1908, Seite 315f), gilt genau so gut für einen Raum, der durch nichts gekennzeichnet wäre. Das Beispiel, auf das er sicht stützt, vom einem Menschen, der geschlafen hat, hat sein Analogon in einem anderen Menschen, der mit der übrigen Welt durch einen leeren Raum transportiert worden wäre.
    5) ARISTOTELES, Physik, I. 8
    6) COURNOT, Traité de l'enchainement etc., Paris 1861, Seite 276
    7) HELMHOLTZ, Über die Erhaltung der Kraft, Berlin 1847, Seite 6
    8) SPIR hat diesen Mangel an Übereinstimmung zwischen der Wirklichkeit und dem Postulat der Identität stark betont (vgl. a. a. O., Seite 120f). Ganz mit Recht sieht er darin einen Beweis für die Apriorität dieses Postulates. - Schon WUNDT hatte hervorgehoben (Die physikalischen Axiome und ihre Beziehung zum Kausalprinzip, Erlangen 1866, Seite 125), daß bei Reflexion dagegen nur  ein  Ding gelten lassen will". Indessen erklärt er an anderer Stelle, daß diese Vorstellung von etwas, das in der Veränderung erhalten bleibt, nicht apriorisch sei, sondern im Gegenteil durch die Erscheinungen selbst nahegelegt werde (a. a. O., vgl. 2. Auflage, Stuttgart, 1910, Seite 178, wo der gleiche Gedanke in etwas anderer Form aber präziser ausgedrückt wird).
    9) POINCARÉ, La science et l'hypothés, Seite 258
    10) POINCARÉ, Sur la valeur objective de la science, Revue de métaphysique, 1902, Seite 266
    11) ERNST MACH, Erkenntnis und Irrtum, Leipzi 1905, Seite 2
    12) ARISTOTELES, Metaphysik, I, 1
    13) SPINOZA, Ethik, Teil IV, Satz 27
    14) ARISTOTELES, a. a. O. Schon PLATON hatte hervorgehoben, daß entgegen dem Augenschein die Geometrie keinen praktischen Zweck verfolgt, sondern "der eigentliche Zweck dieser ganzen Wissenschaft nichts anderes ist als die reine Erkenntnis" (Der Staat, übersetzt von OTTO APELT, Leipzig 1916, Seite 288).
    15) CONDILLAC, La langue des calculs, Paris 1906, Seite 60
    16) CONDILLAC, Logique, Paris 1906, Seite 177
    17) SPIR, a. a. O. Seite 184
    18) LOUIS COUTURAT, La logique de Leibniz, Paris 1901, Seite 186f, 208f. Siehe auch die Darstellung von demselben Verfasser in der Société francaise de philosophie, Bulletin II, Jahrgang 1902, 27. Februar. Das ist auch die Ansicht CASSIRERs (Leibniz, System in seinen wissenschaftlichen Grundlagen, Berlin 1902, Seite 325). Jedoch erscheint das Prinzip der Gleichheit von Wirkung und Ursache bei LEIBNIZ meistens als unabhängig und manchmal erhält es sogar den Anschein eines aus der Erfahrung abgeleiteten Satzes. Vgl. Mathematische Schriften, Ausgabe GERHARDT, Bd. II, Seite 308.
    19) "In der reinen physischen Ordnung ist im Grunde keine notwendige Bedingung mehr Ursache als irgendeine andere." RENOUVIER, La Méthode phénoméniste, Année philosophique, 1890, Seite 20.
    20) JOHN STUART MILL, A System of Logic, London 1884, Seite 340
    21) Wir werden weiter unten zeigen, daß in gewissen sehr engen Grenzen auch die Wissenschaft genötigt ist, von einem Begriff Gebrauch zu machen, der direkt aus dem der theologischen Kausalität abgeleitet ist.
    22) SCHOPENHAUER, Die Welt als Wille und Vorstellung, Ausgabe FRAUENSTÄDT, Bd. II, Seite 175
    23) Hat COMTE eigentlich die später von TAINE ausgedrückte Meinung im Grunde geteilt und hat er Gesetz und ursache verwechselt? Man ist versucht, es glauben, wenn man liest, daß für ihn die Identität der Schwere der irdischen Körper mit der gegenseitigen Anziehung der Gestirne die wahre gegenseitige Erklärung dieser beiden Arten von Erscheinungen zu bilden scheint (Cours, Bd. II, Seite 169). Man wird jedoch weiter unten sehen, daß COMTE den Begriff von einer "ersten oder Endursache" kennt, die vom Gesetz verschieden ist, wenngleich er das Suchen danach untersagt.
    24) COMTE, a. a. O. Bd. II, Seite 169
    25) COMTE, a. a. O. Bd. II, Seite 298
    26) COMTE, a. a. O. Bd. II, Seite 312
    27) Die Ähnlichkeit der Ansichten COMTEs einerseits und KIRCHHOFFs und MACHs andererseits ist von KOZLOWSKI beleuchtet worden (Psychologiczne zrodla, Warschau 1899, Seite 30; Przeglad filozoficzny, Warschau 1906, Seite 193).
    28) Geht der Verfasser in seiner Behauptung, was KIRCHHOFF betrifft, nicht etwas zu weit? KIRCHHOFF schreibt zwar der Mechanik eine phänomenologische Behandlung vor, indem er ihr die Aufgabe zuweist, "die in der Natur vor sich gehenden Bewegungen  vollständig  und  auf die einfachste Weise  zu beschreiben, doch nur, um sie von dem vagen Begriff der Kraf als "Ursache der Bewegung" zu befreien. (Man vergleiche den Kommentar zu KIRCHHOFFs Auffassung in meinen "Grundlagen der Hydromechanik", Berlin 1929, Seite 109, 116). "Erklärungen" im Sinne des Verfasser dieses Werkes hat sich KIRCHHOFF nicht verschlossen, sie bleiben den einzelnen Kapiteln der Physik vorbehalten. In seinen Vorlesungen über mathematische Physik gibt KIRCHHOFF beispielsweise eine vorzügliche Darstellung der kinetischen Gastheorie.  Ltn. 
    29) COMTE, a. a. O., Bd. II, Seite 442. An anderen Stellen hat sich COMTE jedoch weniger absprechend geäußert. So verwirft er zwar den Äther, läßt aber die korpuskulare Theorie der Materie gelten, die er eine "gute Hypothese" nennt (a. a. O. Seite 641). Es ist wahrscheinlich, daß er in diesem Fall weniger seinen Prinzipien und mehr seinem ausgezeichneten wissenschaftlichen Instinkt gefolgt ist. Seine Ansicht nähert sich dann merklich derjenigen, welche die Hypothesen als Kunstgriffe zur Fixierung unserer Gedanken ansieht.
    30) NEWTON, Mathematische Prinzipien der Naturlehre, Übersetzung von WOLFERS, Berlin 1872, Seite 511
    31) NEWTON, a. a. O.
    32) Vgl. ROSENBERGER, Geschichte der Physik, Braunschweig 1884, Bd. III, Seite 3
    33) Vgl. besonders EDDLESTON, Correspondence of Sir Isaac Newton etc., London 1850, den Brief von COTES vom 18. Februar 1713 und NEWTONs Antworten vom 28. und 31. März (Seite 151 - 156).
    34) Man findet gleichfalls in der "Optik" eine vollständige Darstellung der Prinzipien der Atomistik. Bekanntlich spielt übrigens in diesem Werk die Emissionstheorie, d. h. eine der Hypothesen, die am deutlichsten als solche charakterisiert sind, eine beträchtliche Rolle. Vgl. über den wahren Sinn von NEWTONs Ausspruch: Anhang I.
    35) Der Verfasser hat hier natürlich nicht die mathematische Existenz, sondern eine Art "objektiver" Existenz im Sinne. Man vergleiche die weiteren Ausführungen des Textes.  Ltn. 
    36) BERKELEY (De motu, Works, Ausgabe FRASER, Oxford 1871, Bd. III, § 39) formuliert diese Analogie zwischen den mathematischen und den physikalischen Begriffen mit großer Präzision.
    37) HENRY POINCARÉ, Lecons sur la theorie mathematique de la lumiére, Paris 1889, Seite 1
    38) PIERRE DUHEM, La théorie physique, Paris 1906, Seite 26
    39) DUHEM, a. a. O. Seite 33
    40) DUHEM, a. a. O., Seite 46 - PLANCK drückt sich noch bestimmter aus, er konstatiert, daß alle großen Physiker an die Realität ihres Weltbildes geglaubt haben (Die Einheit des physikalischen Weltbildes, Leipzig 1909, Seite 36). WUNDT vergleicht die Theorien der "Ökonomie" und der "Konvention" mit den "juristischen Fiktionen", deren es so viele in der Rechtsgeschichte gegeben hat; es sind Versuche, die Entstehung der Erkenntnis ganz unabhängig von ihrer wirklichen Geschichte festzustellen; selbst der eifrigste Anhänger dieser Ansichten wird zugeben, daß die Prinzipien der Naturlehre nicht wirklich auf diesem Weg entstanden sind (Die Prinzipien der mechanischen Naturlehre, Stuttgart 1910, Seite VII-VIII.
    41) DUHEM, a. a. O., Seite 11f
    42) PLANCK behauptet ausdrücklich, daß die Atome oder die Elektronen ebenso wirklich seien wie die Himmelskörper oder die Gegenstäne unserer Umwelt und daß die zeitgenössischen Physiker "die Sprache des Realismus und nicht die MACHs sprächen." (a. a. O., Seite 33, 37) - Ebenso erklärt H. POINCARÉ, daß in den physikalischen Wissenschaften der Ausdruck "Existenz" nicht denselben Sinn wie in der Mathematik hat, "er bedeutet nicht mehr Widerspruchslosigkeit, sondern objektives Dasein" (Science et méthode, Paris 1908, Seite 186).
    43) DUHEM, a. a. O., Seite 33, 35. - Im oben erwähnten Vortrag hebt PLANCK hervor, wie allgemein dieser Vorgang ist und wie sehr er den wahren Sinn der wissenschaftlichen Entwicklung kennzeichnet. So rechnen wir jetzt die Akustik zur Mechanik und andererseits den Magnetismus und die Optik zur Elektrodynamik. Was man früher "Wärmelehre" nannte, ist jetzt gespalten: die Wärmestrahlung gehört zur Optik (und Elektrodynamik), während der Rest in der Mechanik, speziell in der kinetischen Theorie behandelt wird (a. a. O. Seite 6).
    44) DUHEM, a. a. O., Seite 46-47
    45) JOHN BERNARD STALLO, La matiére et la Physique moderne, 3. Auflage, Paris 1889. Die Titel der anderen Werke haben wir bereits genannt.
    46) Diese Zeilen sind im Jahre 1907 niedergeschrieben worden. Man vergleiche hierzu die späteren Werke des Verfassers, vor allem "La déduction relativiste".  Ltn.