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JOHANN FRIEDRICH HERBART
Psychologie als Wissenschaft
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"Gewöhnlich ist es die Selbstbeobachtung selber, von der aus wieder eine neue Gedankenreihe anhebt, die sich wenige Augenblicke später aufs neue zum Objekt einer wiederholten Reflexion anbietet. Will man verhüten, daß der Zuschauer nicht in die Handlung eingreift? Will man sich absichtlich gehen lassen, um rein aufzufassen, was selbst innerlich geschieht? Nur umso eher wird alles, was zu sehen war, sich verdunkeln und sehr bald wird nur noch der Zuschauer sich und sein eigenes Warten beschauen. Eine Stunde lang, wohl gar einen Tag lang unablässig und streng sich selbst beobachten, um in jedem Augenblick den eben vorhandenen inneren Zustand unmittelbar wahrzunehmen: das könnte als eine der stärksten Selbstpeinigungen denen empfohlen werden, die darin ein Verdienst suchen."

"In der Psychologie sind unsere Aussagen vom innerlich Wahrgenommenen schon unwillkürlich Abstraktionen, ehe wir es wissen, und sie werden es noch immer mehr, je bestimmter wir und darüber erklären wollen. Sie sind schon Abstraktionen, ehe wir es wissen. Denn die genaue Bestimmung des Fließenden unserer Zustände fehlt schon, indem wir dieselben zum Objekt unseres Vorstellens machen. Sie verliert sich immer mehr, je länger wir die Erinnerung an ein innerlich Wahrgenommenes aufbehalten wollen. Sie verfälscht sich, je mehr wir uns anstrengen, sie fest zu halten; denn eben dadurch mischt sie sich mit dem übrigen Vorrat unserer verwandten Vorstellungen. Aber auch je bestimmter wir uns darüber erklären wollen, desto weiter kommen wir ab von der Wahrheit dessen, was eigentlich wahrgenommen wurde und desto tiefer geraten wir in die Abstraktion hinein."


I.

Von den verschiedenen Weisen,
wie die gemeine Kenntnis der Tatsachen
des Bewußtseins gewonnen wird.


§ 1.

Die Tatsachen des Bewußtseins (unter welchen sich die psychologischen Prinzipien befinden müssen) werden entweder unwillkürlich gefunden oder sie werden absichtlich gesucht. Man könnte hinzufügen, entweder durch Beobachtung unserer selbst oder anderer: allein es ist bekannt, daß die Äußerungen anderer nur mit Hilfe der Selbstbeobachtung ihre Auslegung erhalten können; daher wird es ratsam sein, zunächst bei der Selbstbeobachtung stehen zu bleiben.

Die Absicht, unser Inneres wahrnzunehmen, kommt zwar im gemeinen Leben nicht sehr häufig vor. Desto mehr wird man aber durch psychologische Beschäftigungen dazu veranlaßt und selbst angetrieben, indem man den Gegenstand, wovon die Rede ist, unmittelbar auffassen möchte. Aus diesem Grund wird es  hier  ganz passend sein, von der absichtlichen Betrachtung der Tatsachen des Bewußtseins auszugehen.


§ 2.

Den Versuch, in sein Inneres zu blicken, kann man jeden Augenblick anstellen. Immer wird sich etwas finden, woran gerade jetzt gedacht wurde; immer wird sich auch ein körperliches Gefühl entdecken lassen, wäre es auch nur das, welches mit dm Stehen, Sitzen, Liegen, überhaupt der notwendigen Unterstützung des Körpers verbunden ist. Ferner wird das, woran gedacht wurde, nicht einfach sein. Auf der Mannigfaltigkeit des Denkens wird die Selbstbetrachtung umherlaufen und es einigermaßen verdeutlichen, aber nicht nur das Hervorgehobene wird alsbald wieder verschwinden und alles, was die innere Wahrnehmung gefunden hatte, wird sich schon bald wieder verdunkeln und es wird sich irgendeine Veränderung in diesem Schauspiel zeigen. Gewöhnlich ist es die Selbstbeobachtung selber, von der aus wieder eine neue Gedankenreihe anhebt, die sich wenige Augenblicke später aufs neue zum Objekt einer wiederholten Reflexion anbietet.

Das eben Beschriebene wird sich mannigfaltig abändern, wenn wir uns mitten im Geschäft, in der Leidenschaft, während des Sprechens mit anderen selber belauschen. Das Geschäft gerät dadurch ins Stocken und die Leidenschaft mäßigt sich und macht gar oft einem Affekt Platz, der aus dem Urteil über uns selbst entspringt. Das Zuhören bei der eigenen Rede hemmt ihr rasches Fortströmen und es regt sich ein Bestreben, den Gedanken zu konzentrieren, den die Worte auseinanderlegen, den Ausdruck entsprechender, ja den Ton der Stimme anklingender zu machen.

Will man verhüten, daß nicht der Zuschauer in die Handlung eingreift? Will man sich absichtlich gehen lassen, um rein aufzufassen, was selbst innerlich geschieht? Nur umso eher wird alles, was zu sehen war, sich verdunkeln und sehr bald wird nur noch der Zuschauer sich und sein eigenes Warten beschauen. Eine Stunde lang, wohl gar einen Tag lang unablässig und streng sich selbst beobachten, um in jedem Augenblick den eben vorhandenen inneren Zustand unmittelbar wahrzunehmen: das könnte als eine der stärksten Selbstpeinigungen denen empfohlen werden, die darin ein Verdienst suchen.


§ 3.

Unabsichtlich ist jeder sein eigener Zuschauer während seines ganzen Lebens und eben dadurch gewinnt er seine eigene Lebensgeschichte. Er bringt diese Geschichte und die aus ihr geschöpfte Kenntnis seiner Person, zu jeder Selbstbeobachtung mit. Jene ergibt das Subjekt, zu welchem diese nur die Prädikate liefern soll. Und schon aus diesem Grund kann die absichtliche Selbstbetrachtung niemals reine Resultate liefern. Der Beobachter kennt sich, den er kennen lernen will, schon viel zu gut im Voraus.

Die eigene Lebensgeschichte ist jedoch weder eine völlig zusammenhängende Kenntnis, noch aus bestimmt begrenzten Teilen zusammegesetzt. Ihre Partien treten durch Anstrengung sich ihrer zu erinnern oder durch zufällige Veranlassungen, heller und ausführlicher hervor. Wieviele aber der übrig gebliebenen Lücken sich noch möchten ausfüllen lassen, dazu gibt es keine genaue Angabe.

Der Faden der Lebensgeschichte ist überdies sehr vielfältig der Faden äußerer Begebenheiten, die in ihrem Zusammenhang mit Interesse betrachtet wurden und wozu nur  hinterher hinzugedacht ist,  daß man all das erlebt hat. Wiewohl nun auch die äußeren Begebenheiten innerlich aufgefaßt werden mußten und alle inneren Auffassungen zu den Tatsachen des Bewußtseins zu rechnen sind, so kann man doch keineswegs behaupten,  daß das Auffassen selbst wiederum innerlich wahrgenommen wird,  - ebensowenig, daß dieses Wahrnehmen des Auffassens abermals Gegenstand einer höheren Wahrnehmung geworden ist, - welches ins Unendliche laufen würde!  Demnach ist der Gegenstand der Wahrnehmung keineswegs immerfort "wir selbst". Vielmehr wird die innere Wahrnehmung häufig durch die äußere oder auch nur durch eine andere Gemütsbewegung unterbrochen.  Überdies läßt sich das Eintreten einer  erneuerten,  also früher erloschen gewesenen Aufmerksamkeit auf uns selbst oft genug deutlich wahrnehmen.


§ 4.

Was aber in solchen Zeiten in uns vorging, da wir weder willkürlich noch unwillkürlich auf uns achteten, das erfahren wir sehr häufig aus dem Munde anderer oder wir schließen es aus den Produkten unserer eigenen Tätigkeit und daraus ergibt sich eine dritte Art, wie wir zur Kenntnis der Tatsachen unseres Bewußtseins gelangen. Wir sind zum Beispiel eine Strecke gegangen; ganz in Gedanken vertieft; aber die Stelle, wo wir uns jetzt befinden, verrät, wie weit unsere Schritte uns getragen haben. Oder wir haben jemanden die Zeitung vorgelesen, ohne Interesse und Aufmerksamkeit; so wissen wir vielleicht nicht von mehreren Zeilen, die doch der Zuhörer gar wohl vernommen hat. Oder mitten im Phantasieren an einem Instrument sind unsere Gedanken von der Musik abgekommen und während wir uns mit ganz anderen Gegenständen lebhaft beschäftigen, stört uns ein Anwender mit Bemerkungen über das, was wir soeben gespielt haben. So erfahren wir hinterher, was alles durch unseren Kopf gegangen ist. - Es ist hier der Ort, einer Zweideutigkeit zu gedenken, auf welche der Leser wohl kaum selbst gestoßen sein wird. Tatsachen des Bewußtseins würden im engsten Sinne nur die innerlich  beobachteten  sein. Durch diese Bestimmung des Begriffs wären nicht bloß diejenigen Vorstellungen ausgeschlossen, welche wegen ihrer Dunkelheit unbemerkt bleiben, sondern auch das aktive  Beobachten,  sofern es nicht wiederum in einer höheren Reflexion ein Beobachtetes wird. Aber das aktive Wissen gehört gewiß mit zum Bewußtsein, wenn es nicht selbst ein Gewußtes wird. Und die dunklen Vorstellungen verdunklen sich so allmählich, daß das innerlich Beobachtete von dem, was sich der Beobachtung entzieht, nicht scharf abgeschnitten werden kann. Überdiese wir niemand bezweifeln, daß das Beobachtete mit dem Nichtbeobachteten in einem unzertrennlichen Zusammenhang fortlaufender Gemütstätigkeit steht.  Daher rechenen wir zu den Tatsachen des Bewußtseins alles wirkliche Vorstellen;  und folglich zu den Arten, sie zu erfahren, auch die Beobachtung der Produkte unserer vorstellenden Tätigkeit, sollte auch die innere Wahrnehmung unseres Tuns gefehlt haben.

Bekannte Beispiele zu häufen wäre unnütz. Aber desto notwendiger muß bemerkt werden,  daß ganze Massen unserer geistigen Tätigkeit uns nicht eher als solche bekannt werden, als bis die Betrachtungen über unser inneres Produzieren, von wo die idealistischen Systeme ausgehen, uns darauf führen.  Ein Reisender erzählt wohl von dem was er gesehn hat, aber indem er sein Sehen erwähnt und was er dabei empfunden hat, beschreibt, fällt ihm nicht ein, von  denjenigen  Tätigkeiten seines Geistes zu sprechen,  vermöge deren  er das, an sich intensive Wahrnehmen, in ein räumliches Vorstellen ausgedehnter Gegenstände verwandelt hat. Un in unseren Psychologien lesen wir zwar von der Form der Anschauung und des Denkens, welche die gegebene Materie der Empfindungen in sich aufgenommen hat, allein man unterläßt die ebenso wichtig wie weitläufige Erörterung, durch welche Stufenfolge die sogenannten reinen Formen des Anschauens allmählich zu klarem Bewußtsein gelangen; wie die Unterscheidung bestimmter Figuren möglich geworden ist, wie sich das Augenmaß, wie das rhythmische Gefühl sich ausbildet.

Man kann die Frage, was für eine Bewandtnis es mit den behaupteten Formen des Anschauens und Denkens haben mag, hier noch ganz unentschieden lassen: gleichwohl steht der Satz fest, daß in den Anwendungen und im deutlichen Vorstellen dieser Formen eine Menge psychologischer Tatsachen verborgen liegen, die ohne Zweifel in einem wesentlichen Zusammenhang mit den übrigen Tatsachen des Bewußtseins stehen und schon deshalb der Aufmerksamkeit der Psychologie keineswegs entgehen dürfen. Allein, sowohl diese, als überhaupt die ganze Klasse derjenigen Tatsachen, welche nicht unmittelbar wahrgenommen, sondern aus den Produkten unserer Tätigkeit erst erschlossen werden, entfernen sich eben dadurch von der Eigenschaft der  Prinzipien;  sie sind vielmehr  Probleme,  welche die Wissenschaft durch  Lehrsätze  zu lösen hat und  wobei  wir uns wohl hüten müssen, den "Erschleichungen" Tür und Tor zu öffnen!


§ 5.

Über die Beobachtung anderer, als ein Mittel zur Auffindung psychologischer Tatsachen, läßt sich wohl kaum etwas sagen, das nicht in die vorstehenden Erörterungen zurückliefe. Denn, abgesehen von der Frage nach der Glaubwürdigkeit der Zeugnisse, wird alles darauf ankommen, wieviel und wie genau jene anderen von sich selbst auffassen und erzählen und wie richtig wir teils ihre Erzählungen verstehen, teils die äußeren Zeichen ihrer inneren Zustände auslegen. Mit ihren eigenen Auffassungen nun sind jene in eben der Lage, wie wir mit den unsrigen: um aber ihre Beschreibungen zu verstehen, können wir unsere eigenen inneren Wahrnehmungen zuhilfe rufen. Daher beurteilt auch jeder die andern nach sich selbst; und die selteneren Zustände der Leidenschaft oder der Begeisterung, die zarteren Regungen empfindlicher Gemüter, werden von der bei weitem größeren Menge der Menschen nicht verstanden.

Die erste Bemerkung, die sich hier aufdrängt, ist wohl diese, daß die Unsicherheit in den, auf dem Weg der Überlieferung erworbenen psychologischen Kenntnissen, in einem zusammengesetzten Verhältnis steht und deshalb größer ist, als bei der Selbstbeobachtung. denn hier vereinigen sich die Mängel und die Erschleichungen in der überlieferten Nachricht mit denen in unserer Auslegung und so laufen wir die Gefahr einer doppelten Täuschung. Sie kann auch noch größer werden, wenn die Überlieferung durch eine ganze Reihe von Menschen fortläuft, deren jeder das Seinige hinzutut. Sollte dieser Fall da stattfinden, wo einer von seiner intellektuellen Anschauung redet und die Tradition davon ihren Weg durch Kopf und Mund verschiedentlich gestimmter Schwärmer nimmt, die alle in sich selbst wiederfinden wollen, was sie vernahmen?

Zu einer zweiten Bemerkung veranlaßt die Neigung einiger Psychologen, bei den seltenen und sonderbaren Erscheinungen der Nachtwandler und Wahnsinnigen länger zu verweilen, als bei denen, die sich im gewöhnlichen Zustand ereignen oder auch nur, sich über die Träume und ihre Sprünge mehr zu verwundern, als über den regelmäßigen Gedankengang der Wachenden. Natürlich ist es zwar, daß außerordentlich Erscheinungen zuerst die Aufmerksamkeit wecken und auf sich ziehen; allein schon aus der Physik weiß man, daß von den gewöhnlichsten Begebenheiten (z. B. von den Veränderungen des Wetters) die Gründe oft am tiefsten verborgen liegen. Und in der Psychologie finden sich die größten Schwierigkeiten eben da, wo man am schnellsten mit einem  Wort  fertig zu werden glaubt. Ich erinnere nur an das Wort  Vernunft dieses allbekannte Wort, dessen Erklärung gewiß jeder in seinem eigenen Bewußtsein anzutreffen, behauptet, während er die psychologischen Kuriosa meistens bei anderen aufsucht. - Es dürfte sich finden, daß wir nicht so sehr Ursache hätten, die Nachrichten von den ungewöhnlichen Gemütszuständen zu sammeln. Der Reichtum von Auffassungen, die wir täglich an uns selbst machen können, ist ebensogroß, als dessen Verarbeitung schwierig und weitläufig ist und in dem Maß, wie wir für die Erscheinungen in uns, die allgemeinen Gesetze erkennen, muß es uns auch möglich werden, aus den nämlichen Gesetzen viel besser, als aus bloßer Übertragung eigener Gefühle die Gemütszustände anderer, selbst in ihren weitesten Abweichungen vom Gewöhnlichen, zu verstehen und zu erklären. So braucht der Astronom nur den Lauf der bekanntesten Planeten auf die Kegelschnitte zurückgeführt haben, um sein Kalkül gar bald auch den neuesten und fremdartigsten Phänomenen am Himmel anpassen zu können.

Hiermit leugne ich jedoch keineswegs irgendeiner echten psychologischen Beobachtung ihren Wert ab. Für alle Erfahrungen muß sich irgendwo eine Stelle in den Wissenschaften finden, wo sie willkommen sein können. Nur ist ein sehr großer Unterschie zwischen dem, was am meisten auffällt und dem, was die tiefsten Untersuchungen fordert, so wie zwischen dem, was am weitesten hergeholt wird und dem, was die reichsten oder die ersten und nötigsten Aufschlüsse bietet.

§ 6.

Es kann von Nutzen sein, wenn der Leser die vorhin gewiesenen Wege, wie wir zur Kenntnis der inneren Tatsachen gelangen, weiter verfolgen will; besonders um sich Rechenschaft davon zu geben, wie der Vorrat psychologischer Kenntnisse, den man  schon zu besitzen  glaubt, aus absichtlicher oder unabsichtlicher Selbstauffassung, aus Deutung der vorgefundenen Produkte eigener Tätigkeit, aus Zeugnisse und aus Beobachtung anderer, sich allmählich zusammengesetzt hat. Diese Überlegung soll nicht auf einen Lehrsatz hinführen; aber sie soll heraushelfen aus dem Glauben an die Abstraktionen der Schulen; sie soll das unmittelbare Bewußtsein dessen zurückführen, was den Erklärungen von Sinnlichkeit und Verstand, von Begehrungsvermögen und Gefühlsvermögen und wie diese Gedankendinge weiter heißen, eigentlich an echter Erfahrung zugrunde liegt.

Gesetzt nun, der Vorrat der psychologischen Tatsachen sei beisammen: welche Art von  Regelmäßigkeit  läßt sich im Allgemeinen an ihnen erkennen oder doch vermuten? Das ist die erste Frage der  spekulativen  Psychologie.


II.

Von einer allgemeinen Eigenschaft alles dessen,
was innerlich wahrgenommen wird.


§ 7.

Erinnert man sich der Veränderlichkeit des Schauspiels, was die absichtliche Selbstbeobachtung antrifft, ohne es in ein und demselben Zustand festhalten zu können und erinnert man sich überdies der Abwechslungen ineinander überfließender Gemütslagen, welche den Stoff unserer eigenen Lebensgeschichte ausmachen: so zeigt sich alles als kommend und gehend, als schwankend und schwebend - mit einem Wort - als etwas, das  stärker  und  schwächer  wird.

In jedem der eben gebrauchten Ausdrücke liegt ein  Größenbegriff.  Also ist in den Tatsachen des Bewußtseins entweder keine genaue Regelmäßigkeit oder sie ist durchweg von  mathematischer  Art; und man muß versuchen, sie mathematisch auseinanderzusetzen.

Warum ist dies nicht längst unternommen werden? Darauf könnten die älteren Zeiten, sich entschuldigend, antworten: die Mathematik sei, vor Erfindung der Rechnung des Unendlichen, noch zu unvollkommen gewesen. Allein folgende Bemerkungen sind allgemeiner.


§ 8.

Erstlich: die psychologischen Größen sind nicht dergestalt gegeben, daß sie sich  messen  ließen; sie gestatten nur eine unvollkommene Schätzung. Dies schreckt ab von der Rechnung; jedoch mit Unrecht. Denn man kann die Veränderlichkeit gewisser Größen und sie selbst, insofern sie veränderlich sind, berechnen, ohne sie vollständig zu bestimmen; hierauf beruth die ganze Analysis des Unendlichen. Man kann ferner Gesetze der Größenveränderung hypothetisch annehmen, und mit den berechneten Folgen aus den Hypothesen die Erfahrung vergleichen. Sind die einzelnen Erfahrungen wenig genau, so ist dagegen ihre Menge in der Psychologie unermeßlich groß, und es kommt nur darauf an, sie geschickt zu benutzen. Übrigens werden wir keiner Hypothese bedürfen, sondern auf einem festen Weg der Untersuchung diejenigen Voraussetzungen finden, deren Kreis zum Behuf der Psychologie mathematisch durchlaufen werden muß.

Die Schwierigkeit des Messens kommt daher fürs Erste nicht in Betracht; aber wichtiger ist das Folgende.


§ 9.

Zweitens: Gerade das Schwanken und Fließen der psychologischen Tatsachen, welches eine mathematische Regelmäßigkeit derselben im Allgemeinen vermuten läßt, erschwert gar sehr den Anfang der Untersuchung. Denn hierzu sind fest, genau bestimmte und  begrenzte  Prinzipien die erste Bedingung; was aber soll man aus jener allgemeinen Schwankung dergestalt herausheben, daß man es mit Sicherheit gesondert betrachten könne? Muß man nicht fürchten, Zusammengehöriges auseinander zu reißen und Bruchstücke eines unheilbaren Ganzen als selbständig zu behandeln? - Man sagt z. B. vom Menschen:  er habe Verstand und Willen;  man handelt in den Psychologien zuerst vom Erkenntnisvermögen, dann vom Begehrungsvermögen. Wie wenn man von einem  Dreieck  sagte:  es  habe Seiten und Winkel? und wenn man dem gemäß die Trigonometrie in zwei Abschnitte zerlegen wollte, deren einer von den Seiten, der andere von den Winkeln handle? Wer bürgt uns dafür, daß unsere Psychologien weniger ungereimt seien, als eine solche Trigonometrie sein würde? Stehen nicht vielleicht diejenigen Tatsachen des Bewußtseins, die wir zu trennen pflegen, durch gewisse unbemerkte Mittelglieder in eben so genauer Beziehung, als Seiten und Winkel im Dreieck?

Diese Betrachtung müssen wir erst weiter führen, ehe von Prinzipien der Psychologie und von deren wissenschaftlicher Behandlung die Rede sein kann.


III.

Weshalb sind wir so geneigt, uns in
der Psychologie mit Abstraktionen zu behelfen?


§ 10.

In anderen Wissenschaften ist die Abstraktion ein absichtliches Verfahren; wobei man weiß,  was  man zurücklegt und  warum  man anderes hervorhebt. Die Reflexion hält gerade diejenigen Begriffe fest, unter welchen gewisse merkwürdige Relationen statt finden; und nachdem dieselben untersucht sind, steht es der Determination frei, die gesetzmäßige Anwendung davon auf den Umfang der Begriffe zu machen. - In der Psychologie sind dagegen unsere Aussagen vom innerlich Wahrgenommenen schon unwillkürlich Abstraktionen, ehe wir es wissen, und sie werden es noch immer mehr, je bestimmter wir und darüber erklären wollen.

Sie sind schon Abstraktionen, ehe wir es wissen. Denn die genaue Bestimmung des Fließenden unserer Zustände (durch Ordinaten, zu denen die Zeit als Abszissenlinie gehören würde,) fehlt schon, indem wir dieselben zum Objekt unseres Vorstellens machen. Sie verliert sich immer mehr, je länger wir die Erinnerung an ein innerlich Wahrgenommenes aufbehalten wollen. Sie verfälscht sich, je mehr wir uns anstrengen, sie fest zu halten; denn eben dadurch mischt sie sich mit dem übrigen Vorrat unserer verwandten Vorstellungen.

Aber auch je bestimmter wir uns darüber erklären wollen, desto weiter kommen wir ab von der Wahrheit dessen, was eigentlich wahrgenommen wurde und desto tiefer geraten wir in die Abstraktion hinein. Aus einem zweifachen Grund.

Erstlich,  je mehr wir uns bemühen, recht getreulich nur  das  zu berichten, was wir erfahren haben: desto lieber verschweigen wir alles was wir nicht genau bemerkten, was wir nicht gewiß verbürgen können; wir heben demnach nur das Gewisseste heraus. Daher lassen wir in der Erinnerung an die inneren Wahrnehmungen absichtlich los von dem, dessen Schwankung wir fühlen, dessen bestimmte Angabe wir nicht zu erreichen hoffen. Was wir übrig behalten, ist ein Abstraktum. - Dieses Verfahren herrscht sichtbar in allen Psychologien. Die Verfasser derselben sprechen z. B. recht gern vom  Gedächtnis;  denn daß es  überhaupt  ein solches gebe, daran zu zweifeln fällt ihnen nicht ein; jeder Mensch muß ja unzählige Tatsachen dafür anführen können! Aber schon von den nächsten Arten, welche der Gattung:  Gedächtnis,  untergeordnet sind, als vom Ortsgedächtnis, dem Namengedächtnis, dem Zahlengedächtnis, dem Gedächtnis für Begriffe und Lehrsätze, für Urteile und Schlüsse, für die Empfindungen während des Denkens, Überlegens und Beschließens, für das Wünschen und Wollen, für das was man getan oder gelitten hat: hiervon getrauen sich die Psychologen nicht, uns viel zu sagen. - Warum denn nicht? Doch wohl nicht darum, weil das Gedächtnis schon beim niederen Vorstellungsvermögen abgehandelt wird und es an diesem Ort in den Büchern ein  hysteron-proteron  [das Spätere ist das Frühere - wp] sein würde, schon auf Begriffe, Urteile, Schlüsse, auf Fühlen und Wollen, Rücksicht zu nehmen? Denn hieraus würde bloß folgen, daß die Stellung der Lehre vom Gedächtnis eine Veränderung erleiden müsse. Aber daran liegt der Fehler, daß beim genaueren Eingehen auf das Spezielle und auf die einzelnen Tatsachen, sich das Gedächtnis nicht so bequem würde losreißen und abgesonder als eine eigene Seelenkraft hinstellen lassen; indem in jedem einzelnen Fall sich eine Menge von schwer zu bemerkenden und noch schwerer zu beschreibenden, - daher gern mit Stillschweigen übergangenen - Nebenumständen geltend machen, die teils auf das erste Auffassen, teils auf das Merken, teils auf das Verknüpfen mit anderen Vorstellungen, teils auf die Zeit, während welcher das Gemerkte noch vor dem ersten Verschwinden im Bewußtsein gegenwärtig blieb, teils auf die Gemütszustände in der Zwischenzeit bis zur Reproduktion selbst, ihre Geschwindigkeit, Lebhaftigkeit und Treue, - Einfluß gehabt haben und die bei jenen Arten des Gedächtnisses sehr verschieden zu sein und zu wirken pflegen. Der Erste, der das alles gehörig in Erwägung zieht und dabei mit der Genauigkeit eines tüchtigen Physikers zu Werke geht, wird finden, daß die vermeinten Nebenumstände die Hauptsache sind und daß vom sogenannten Gedächtnis nichts als der leere Name übrig bleibt.

Jede andere Seelenkraft würde auf gleiche Weise zum Beispiel dienen können. Überall werden die obersten Gattungsbegriffe mit der größten Dreistigkeit hingestellt; allein überall fehlt die Achtsamkeit auf das Spezielle, und die genaue Beschreibung des Einzelnen;  und doch ist es eben dies, worauf in einer  empirischen  Wissenschaft alles ankommt!  Oder hat schon jemand vollständig nachgewiesen, wie sich die Einbildungskraft verschiedentlich in Dichtern, in Gelehrten, in Denkern, in Staatsmännern, in Feldherren, äußere? Was den Verstand der Frauen, der Künstler und der Logiker unterscheide? Welche Abstufungen die Vernunft in ihrer Entwicklung zeige, bei Kindern und Erwachsenen, bei Wilden, Barbaren, Gebildeten, bei Bauern, Handwerkern und bei den höheren Ständen? Doch die Erwähnung des Verstandes und der Vernunft, zweier Namen, die neuerlich so verschiedene Auslegungen erhalten haben, daß kaum noch etwas Gemeinsames übrig bleibt, - erinnert mich, fortzugehen zum zweiten Grund, der uns in den psychologischen Abstraktionen festhält und uns immer mehr darin vertieft.

Nachdem einmal die Seelenvermögen da sind, sollen sie auch gebraucht werden zur Erklärung dessen was in uns vorgeht. Aber je weniger von den näheren Bestimmungen der Tatsachen in den Begriffen jener Vermögen enthalten ist: desto schlechter gelingt die Erklärung. Es fehlen die Mittelglieder zur Verknüpfung. Es entstehen unbeantwortliche Fragen über das  Kausalverhältnis der Seelenvermögen untereinander,  wodurch sie beim Zusammenwirken eins in das andere eingreifen und sich gegenseitig zur Wirksamkeit auffordern oder veranlassen oder nötigen. Jede solche Frage, in dem sie mit einem Geständnis der Unwissenheit endigt, bringt den Schein hervor, als liege eine dunkle, unübersteigliche Kluft zwischen den Seelenvermögen, die nun gleich Inseln aus einem unergründlichen und unfahrbaren Meer herausragen. Was Wunder, wenn man es endlich müde wird, um das Zusammenwirken der Seelenvermögen sich zu bekümmern, wenn man vielmehr sich darin gefällt, die weite Trennung derselben durch recht große Unterschiede des einen Vermögens vom andern, deutlich zu beschreiben? Und hierin hat man es in der Tat weit gebracht. Die Seelenvermögen scheinen in einem wahren  bellum omnium contra omnes  [Krieg aller gegen alle - wp] begriffen zu sein.

Die Einbildungskraft sich selbst überlassen, erschafft Phantome; aber die Sinne verscheuchen sie; doch manchmal auch lassen sie sich von jener betören, so daß wohl gar Gespenster mit Augen gesehen werden. Starkes Gedächtnis findet sich bei schwachem Verstand und umgekehrt; die Ausbildung des einen läßt einen Nachteil besorgen für das andere. Noch weniger Friede hält der Verstand mit den Sinnen; er entdeckt ihren Trug, er zeigt, daß die Sonne still steht und das Ruder auch im Wasser gerade ist; er erblickt einfache Gesetze, wo die Sinne lauter Unordnung sahen. Nicht besser vertragen sich Verstand und Einbildungskraft; er findet sie töricht und flatterhaft, sie ihn unbehilflich und trocken. Besser als beide dünkt sich die Urteilskraft; der Verstand wußte nur die Regel, sie erst erkennt das Rechte und Wahre mit Bestimmtheit im Einzelnen. Aber die Vernunft erscheint; sie schwingt sich auf zum Übersinnlichen, Unendlichen, zur eigentlichen Wahrheit, während alle jene auf dem Boden der Erscheinungswelt kriechen. Bei diesen Streitigkeiten bleiben Gefühl und Begehrungsvermögen nicht müßig. Die letzte Entscheidung über Wahrheit und Irrtum behauptet am Ende das Gefühl; insbesondere spricht es bald für, bald wider den Verstand; der doch seinerseits gegen die Einmischungen des Gefühls in seine Untersuchungen sich nachdrücklich verwahrt. Die Begierden bedienen sich des Verstandes, wo er ihnen nützlich sein kann, aber sie verweisen ihm seine  difficiles nugas  [kompliziert dummes Zeug -wp], seine brotlosen Künste. Er will von ihnen nicht gestört, am wenigsten verblendet sein; doch er muß weichen oder fröhnen, da sogar die Vernunft sich ihrer kaum erwehren und das Vernünfteln der Leidenschaften nicht verhindern kann. Die ästhetische Urteilskraft kämpft wider die Sinnenlust; und sie verteidigt zuweilen die Einbildungskraft wider den Verstand. Aber die Vernunft pflegt ihr zu widersprechen und das Schöne mit dem Häßlichen in den Rang bloßer Erscheinungen zurückzustellen. - Unser eigenes Ich ist der Kampfplatz für alle diese Streitigkeiten! Ja, es ist selbst die Gesamtheit aller dieser streitenden Parteien!

Wird man dieses im Ernst glauben? - Und doch stützt sich alles zuvor Gesagte auf bekannte Tatsachen. Die Frage ist bloß, ob eine wirkliche Vielheit von Kräften, die mit einem beharrlichen Dasein in uns bestehen und wirken und einander bald helfen, bald anfeinden, aus den Tatsachen geschlossen werden soll? Ob man immer fortfahren wolle, dem augenscheinlich flüssigen Wesen aller Gemütszustände Trotz zu bieten; und, je mehr dieselben jeder Auffassung in harten und starren Formen widerstreben, desto hartnäckiger und eifriger ihnen dergleichen aufzudringen? Unseres Wissens hat die bisherige, auch die neuere und neueste, Psychologie, durchaus nichts anderes  geleistet,  als immer neue, vergrößerte, schärfer gezeichnet Spaltungen und Gegensätze unter den vermeinten Seelenkräften. - Jedoch, unsere Philosophen fangen schon an sich zu entschuldigen, wenn sie  aus Not,  wie sie meinen und weil man sich doch müsse ausdrücken können, von Seelenvermögen reden; sie wollen es schon nicht Wort haben, daß sie wirklich und im Ernst jene Trennungen vorgenommen hätten; sie verehren die  unbekannte Einheit  aller jener Vermögen. Damit haben sie nun zwar an wirklicher Kenntnis der Seele noch nichts gewonnen und die eigentliche Physik des Geistes mag wohl so bald noch nicht neben der falschen  Freiheitslehre  der neueren Zeit aufkommen können; doch sind die Zeichen vorhanden, daß die alten Götter nicht mehr lange bestehen und daß ihre Orakel bald verstummen werden. Denn in der Tat ist es, beim Licht besehen, nicht so sehr übler Wille, noch unbeugsames Vorurteil, sondern es ist Ungeschick und Mangel an Kenntnis der Möglichkeit einer besseren  Auffassung der Tatsachen,  was der besseren Psychologie im Weg steht. Unsere Philosophen sind nicht Mathematiker; darum kennen sie nicht die Geschmeidigkeit, womit sich die mathematischen Begriffe dem Fließenden anpassen; vielmehr pflegen sie sich bei den mathematischen Formeln etwas recht Steifes, Starres und Totes zu denken; - in  diesem  Punkt aber kann man ihre Unwissenheit lediglich bedauern.


IV.

Allgemeine Angabe des Verfahrens, um Tatsachen des
Bewußtseins zu Prinzipien der Psychologie zu benutzen.


§ 11.

Wollten wir schon hier einen bestimmten, schmalen, systematischen Pfad anzeigen, auf welchem man in die Psychologie eingehen könne: so würde dem nächsten und dringendsten Bedürfnis nicht Genüge geschehn. Dieses Bedürfnis besteht darin, eine richtige Ansicht  im Allgemeinen  von der Umwandlung zu fassen, welcher unsere Vorstellungsart muß unterworfen werden; und es rührt her von der Menge der psychologischen Abstraktionen, an die wir gewöhnt sind. Wir finden nun einmal uns selbst bald anschauend, bald denkend, bald wollend und so weiter; und ohne uns unter dergleichen Abstrakta, wie Anschauen, Denken, Wollen, zu subsumieren, wissen wir kaum, uns über unsere eigenen Zustände und Bestrebungen Rechenschaft zu geben. Die ganze Masse unserer Meinungen von uns selbst und von dem was in uns vorgeht, bedarf einer Totalreform: und sie muß dazu in Bereitschaft gesetzt werden. Eben deshalb ist vorhin die  unvermeidliche Mangelhaftigkeit  aller unserer unmittelbaren Kenntnisse von den inneren Tatsachen und die daraus entstehende Neigung, dieselben in abgezogenen Begriffen und zwar in den weitesten am liebsten, vorzustellen, hinterher aber diese Begriffe, samt ihren Substraten, den Seelenvermögen, so gut oder so schlecht es gehn will, wieder aneinander zu fügen, - in Betracht gezogen worden: damit es einleuchten möge, daß hier ganz andere Operationen des Denkens zur Verbesserung erfordert werden, als die bloße Klassifikation, Induktion, Analogie oder welche andere Zusammenstellung eines Vorrats von Kenntnissen  da angebracht sein würde,  wo das  erste  Material  mit Bestimmtheit gegeben  wäre und wo die Abstraktion  stufenweise von unten auf,  mit aller Besonnenheit und beliebiger Verweilung auf jeder Stufe, würden vollzogen werden können.

Diejenige Operation des Denkens, wodurch die Mangelhaftigkeit verbessert wird, heißt  Ergänzung.  Und wo die Mangelhaftigkeit der empirischen Auffassung unvermeidlich ist, da muß die Ergänzung  auf spekulativem Weg  unternommen werden. Dieses aber ist nur möglich durch Nachweisung der  Beziehungen;  das heißt, derjenigen Relationen, vermöge deren eines das andere  notwendig voraussetzt,  und, was das Zeichen davon ist, eins  ohne  das andere  nicht kann gedacht werden. 

Dergleichen Beziehungen liegen zum Teil offenbar durch den Begriff selbst vor Augen, (wie zwischen einem Logarithmus und der Basis samt dem Modus des Systems oder zwischen dem Differential und seinem Integral, nämlich abgesehen von der wirklichen Berechnung) und alsdann brauchen sie nur nachgewiesen zu werden. Zum Teil können sie leicht bei einiger Aufmerksamkeit und auf dem Weg logischer Schlüsse gefunden werden, (wie zwischen einem Paar unmöglicher Wurzeln einer Gleichung). Zum Teil aber verrät sich die Notwendigkeit, den Beziehungen nachzuforschen, erst durch das Widersprechende eines von seinen notwendigen Voraussetzungen entblößten Begriffs: welcher letztere Fall in den ersten Grundbegriffen der allgemeinen Metaphysik vorkommt. Alsdann muß die Aufsuchung der Beziehungen nach derjenigen Methode eingeleitet werden, welche ich in den Hauptpunkten der Metaphysik angegeben und  Methode der Beziehungen  genannt habe. Hiervon wird tiefer unten noch etwas vorkommen.

Die ganze Psychologie kann nichts anderes sein, als Ergänzung der innerlich wahrgenommenen Tatsachen: Nachweisung des Zusammenhangs dessen was sich wahrnehmen ließ, mittels dessen was die Wahrnehmung nicht erreicht; nach allgemeinen Gesetzen.

Während die Beobachtung nur dann erst und nur so lange die im Bewußtsein auf und niedersteigenden Vorstellungen erblickt, wann sie sich in einem gewissen höheren Grad von Lebhaftigkeit äußern: müssen sie der Wissenschaft immer gleich klar vor Augen liegen, sie mögen nun wachen und das Gemüt erfüllen oder in den Vorratskammern des Gedächtnisses ruhig schlafen und auf Anlässe zum Hervortreten warten. Denn von den geistigen Bewegungsgesetzen sind sie hier so wenig ausgenommen wie dort.

Während die moralische Selbstkritik bekennt, die Falten des eigenen Herzens nicht durchforschen zu können: muß die Wissenschaft eben so wohl von der Möglichkeit des Einflusses der schwächsten Motive unterrichtet sein, als von der Gewalt, welche die stärksten ausüben und von der Klarheit, wodurch sich die überdachtesten auszeichnen.

Aber was die Wissenschaft mehr weiß als die Erfahrung: das kann sie nur dadurch wissen,  daß das Erfahrene ohne Voraussetzung des Verborgenen sich nicht denken läßt.  Denn nichts anderes als eben die Erfahrung ist ihr gegeben: in dieser muß sie die Spuren all dessen antreffen und erkennen, was hinter dem Vorhang sich regt und wirkt.

In diesem Sinne also muß sie  die Erfahrung überschreiten:  welches übrigens von jeher jede Philosophie getan hat; auch jene, die zwar das Überschreiten verbot, aber gleichwohl von einem noch unverbundenen, in der Rezeptivität anzutreffenden Mannigfaltigen redete; das in der Erfahrung niemals vorkommen kann, vielmehr erst, indem es die Formen der Spontaneität annähme, sich ins Bewußtsein erhoben finden müßte: - anderer Beispiele nicht zu gedenken!

Wo nun und in wie vielen Punkten der ganzen Maße aller inneren Wahrnehmungen sich Beziehungen entdecken lassen, die auf Voraussetzungen, auf Ergänzungen, auf notwendigen Zusammenhang mit anderem, das entweder im Bewußtsein oder hinter dem Bewußtsein vorgegangen sein muß, hindeuten, und nach was immer für einer Methode mit Sicherheit darauf zu schließen erlauben: da, und so vielfach sind die Prinzipien der Psychologie.


§ 12.

Ein paar Beispiele von Beziehungen in der Psychologie, wenn auch nur von den offenbarsten, sind vielleicht nicht überflüssig; sie können wenigstens einigermaßen dienen, um von der Gestalt psychologischer Nachforschungen einen vorläufigen Begriff zu fassen.

Das Begehren steht in offenbarer Beziehung zum Vorstellen; denn es hat einen Gegenstand, auf welchen, als auf sein Ziel, es sich richtet. Denselben in Vergessenheit bringen, ist das sicherste Mittel, die Begierde zu beschwichtigen. Wiewohl nun diese Beziehung vor Augen liegt: so ist sie doch bei weitem noch nicht hinreichend bestimmt. Denn es fragt sich: unter welchen Bedingungen wird das Vorgestellte ein Begehrtes? Welche Beschaffenheit des Vorgestellten und des Vorstellens, muß man voraussetzen, wenn es unter der Form des Begehrens im Bewußtsein erscheinen soll? Läßt sich die Antwort finden, indem man vom Begehren, als dem Bedingten, zu seinen bis jetzt unbekannten Bedingungen fortschließt: so ist die Tatsache, daß wir begehren, zum Prinzip einer psychologischen Untersuchung erhoben.

Das Gedächtnis bezieht sich offenbar auf den Gegenstand, welcher behalten wird; folglich auch auf die Produktion oder erste Auffassung dieses Gegenstandes. Demnach bezieht es sich auf die Sinnlichkeit; denn  was  es aufbewahrt, das sind großenteils Anschauungen. Es bezieht sich eben so offenbar auf die Phantasie, das heißt, wir behalten viele von den Bildern, die wir selbst entworfen haben. Es bezieht sich nicht minder auf den Verstand, denn wir behalten auch die Resultate unserer Spekulationen; auf das Gefühl, denn wir erinnern uns an Lust und Schmerz; endlich auf den Willen, denn auch unsere Entschließungen halten wir fest und ihre Wirksamkeit erneuert sich nach Unterbrechungen. Mit gutem Bedacht habe ich in der Pädagogik vom Gedächtnis des Willens geredet; einem für die Erziehung höchst wichtigen Gegenstand, denn darauf beruth die Möglichkeit des Charakters und des konsequenten Handelns. Ohne Gedächtnis des Willens bleiben angefangene Arbeiten liegen und aus entworfenen Plänen entweicht das Feuer, das sie zur Reife bringen sollte. Am meisten Gedächtnis des Willens zeigt die Rache und kann dadurch auch den, welcher an der Existenz desselben zweifeln möchte, zur Überzeugung bringen. - Aber das Gedächtnis bezieht sich vor allen Dingen auf das  Vergessen,  im weiteren Sinne dieses Wortes, da es nämlich nicht den vergeblichen Versuch, sich an etwas zu erinnern,sondern überhaupt die Entweichung einer gehabten Vorstellung aus dem Bewußtsein bedeutet. Denn eben insofern schreiben wir uns ein Gedächtnis zu,  inwiefern eine Zeit verfließen kann, in welcher wir an einen gewissen Gegenstand gar nicht denken,  ohne daß doch darum uns die Kenntnis desselben verloren ginge, die vielmehr auf gegebene Veranlassung wieder hervortritt. - Wer nun aber alle diese Beziehungen des Gedächtnisses, welche nur im Allgemeinen bekannt sind, dadurch gehörig zu bestimmen und vollständig zu machen wüßte, daß er auch noch die Bedingngen, sowohl bei der Erzeugung, als bei der Entweichung, als auch endlich bei der Erneuerung einer Vorstellung, (ohne welche Bedingungen die Reproduktion ausbleibt) angäbe und bewiese: der hätte die bekannten Fakta  ergänzt,  indem er die Vorstellungen bis in den Hintergrund des Bewußtseins, wohin sie sich zurückziehn und von wo sie wiederkehren, gleichsam würde begleitet haben. Und wer diese Kenntnis sich auf solchem Weg verschafft hätte, daß vom Gedächtnis, als einem Inbegriff bekannter Tatsachen, auf dessen notwendige Voraussetzungen wäre geschlossen worden: der würde dadurch diese Tatsachen zu psychologischen Prinzipien gestempelt haben. Wer aber vom Gedächtnis nur in Namenerklärungen und in Distinktionen und in einigen Sätzen redet, die jeden die Erfahrung längst gelehrt hat. Der mißbraucht ein vielsagendes Wort, wenn er sich eine  Theorie  des Gedächtnisses zuschreibt.

 Nicht  zu den  offenbaren  Beziehungen gehört die des Selbstbewußtseins auf die Individualität eines jeden. Daher hat man den Gedanken fassen können, das Ich als Absolutum aufzustellen; ein sehr großer Fehler, der aber zu seiner Aufdeckung schon wissenschaftlicher Reflexionen bedarf. Und die Geschichte der neueren Philosophie hat nur zu gut gelehrt, wie leicht diese Reflexionen verfehlt werden können.

Nichtsdestoweniger sind FICHTEs ältere Werke voll von Bestrebungen, die weitgreifenden Beziehungen des Selbstbewußtseins aufzufinden; und ohne allen Zweifel wird die Nachwelt, sehr ungleich den Zeitgenossen, diesen Werken, selbst abgesehen vom Verdienst, den Idealismus mit einer bis dahin unbekannten Konsequenz zu verfolgen, schon deshalb Gerechtigkeit widerfahren lassen, weil darin das Ich als Mittelpunkt von Beziehungen aufgestellt, und der erste Versuch gemacht ist, ein  weitläufiges System  von Beziehungen nach allen Richtungen hin zu durchsuchen. FICHTEs größter Fehler bestand darin, daß er der einmal angenommenen Gewohnheit, das Ich absolut zu setzen, auch dann noch anhing, als ihn schon die Untersuchung in ihrem Verlauf durch jeden Schritt aufmerksam machte, daß er nicht mit einem Absoluten, sondern mit einem vielfach Bedingten zu tun habe; welcher Folgerung er dadurch zu entgehen meinte, daß er alle die gefundenen Bedingungen in das Ich selbst einschloß. Aber die unrichtige Ansicht verdarb selbst die Kenntnis dieser Bedingungen und daher konnte freilich nur eine unhaltbare Theorie herauskommen. Dieselbe Art der Untersuchung über denselben Gegenstand, aber nach einer ganz entgegengesetzten Methode, (welche trennt, wo FICHTE verbinden wollte,) und zu ganz entgegengesetzten Resultaten hinführend, wird einen Teil dieses Buches ausmachen; und das eben Gesagte mag als entfernte Vorbereitung dazu dienen.


§ 13.

Wenn es Methoden gibt, durch welche man verborgene Beziehungen aufdecken kann, so ist eben der Umstand, welcher zuvor der wahre Ursprung psychologischer Schwierigkeiten zu sein schien, und welcher in der Tat eine  empirische Naturgeschichte  des Geistes unmöglich macht, - für die spekulative Psychologie eher vorteilhaft als nachteilig. Der Umstand nämlich, daß alle psychologische Wahrnehmung, um festgehalten zu werden, sich unwillkürlich in eine Abstraktion verlieren muß; und daher von den wirklichen Tatsachen nur Bruchstücke liefert. Dieses ist nicht nachteilig:

Denn der abstrakte Begriff kann durch seine Beziehungen wieder ergänzt werden; und je allgemeiner er ist, ums eher ergibt er in Verbindung mit den Ergänzungen eben das, was in allen Wissenschaften zuerst gesucht wird, nämlich eine allgemeine Theorie, durch deren Hilfe eine große Mannigfaltigkeit von Tatsachen gleich Anfangs überschaut werden kann. Überdies ist ein Begriff für die spekulative Behandlung allemal umso bequemer, je allgemeiner, das heißt, je ärmer an Inhalt er ist; so lange nur die Abstraktion nicht den Keim der Beziehungen in ihm zerstört hat. Im letzteren Fall freilich wird er unbrauchbar; allein alle Überladung mit Merkmalen, welche die Untersuchung nicht fördern, bringt nur Verwirrung hervor.

Ein neuer Zuwachs an Bequemlichkeit aber ist es, wenn, der Allgemeinheit unbeschadet, ein Begriff uns nicht nötigt, sogleich in seinen Umfang hinabzusteigen und spezielle Fälle zu durchlaufen, um uns seiner Gültigkeit und seiner wesentlichen Merkmale zu versichern. Um dies deutlich zu machen, nehme man zuvörderst ein Paar Beispiele des Gegenteils. Der Begriffes des Willens ist sehr allgemein; aber ums uns seiner Gültigkeit zu versichern, (daß er aus dem Gegebenen entsprungen, nicht willkürlich gemacht ist,) müssen wir Beispiele dazu in der inneren Wahrnehmung unseres eigenen Wollens aufsuchen. Was finden wir nun hier? Sehr verschiedene, kontinuierlich ineinander fließende Grade des Wollens! Entschlüsse, aber auch Neigungen, Launen, unbestimmte Aufregungen; freie Wahl, aber auch das erzwungene Wollen wider Willen, womit der Wehrlose sich entschließt, den Räuber abzukaufen. Was heißt nun eigentlich Wollen? Die innere Wahrnehmung muß es lehren, aber ihre Belehrung ist zu weitläufig für einen Begriff, der mit Präzision aufgefaßt und der Spekulation überliefert, zum Prinzip einer Untersuchung dienen soll. - Desgleichen, der Begrif des Gedächtnisses ist sehr allgemein; wenden wir aber den Blick einwärts, um uns genau an das Gegebene zu erinnern, was dem Begriff seinen Inhalt bestimmt, so kommen uns die Anschauungen, Einbildungen, Begriffe, Urteile, Gefühle, Entschließungen, - entgegen, welche alle das Gedächtnis aufbewahrt; aber es ist dessen zuviel; und wiederum im abstrakten Begriff eines Gemütszustandes überhaupt, den das Gedächtnis erneuere, zu wenig unmittelbare Klarheit, als daß man sich einem solchen Prinzip gern anvertrauen könnte. Ist schon von anderen Seiten her Licht genug vorhanden, dann mag man auch solche Prinzipien gleichsam zu Rechnungsproben benutzen; allein für die Hauptuntersuchung bedarf es eines helleren Anfangspunktes; eines  Punktes,  der nicht zerfließe, indem man ihn in der Wahrnehmung aufsucht.

So ein Punkt nun ist ganz vorzüglich das Ich. Dieses läßt sich in einer vollkommenen Abstraktion vom Individuellen noch deutlich machen, nämlich als Identität des Objekts und Subjekts; ohne daß darum das Selbstbewußtsein aufhörte, sich für den Begriff zu verbürgen. Nun sind zwar im Selbstbewußtsein die Bedingungen verdunkelt, unter denen er Realität besitzt und man würde sich sehr täuschen, wenn man ihn darum an gar keine Bedingungen geknüpft glauben wollte. Allein die methodische Spekulation, indem sie den Begriff des Ich bearbeitet, findet gar bald seine innere Unzulänglichkeit; und weist ihm dann ferner seine Ergänzungen mit einer Bestimmtheit und Sicherheit nach, welche die innere Wahrnehmung nie zu erreichen vermöchte.

Da nun der Begriff des Ich zugleich der allgemeine Begleiter aller Gemütszustände ist, insofern wie sie uns selbst zueignen: so vereinigt er im hohen Grad die Eigenschaften eines  bequemen  Prinzips, nämlich  Allgemeinheit  und  Präzision.  Und deshalb werden wir von diesem Prinzip in der Folge vorzüglich Gebrauch machen; ohne jedoch die übrigen ganz zu vernachlässigen, und besonders ohne solche Vernachlässigung wohl gar einem künftigen Bearbeiter der ganzen Wissenschaft zu empfehlen.
LITERATUR - Johann Friedrich Herbart, Psychologie als Wissenschaft - neu gegründet auf Erfahrung, Metaphysik und Mathematik, Königsberg 1824