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CARL PRANTL
(1849 - 1893)
Reformgedanken zur Logik
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"Sehr viel scheint die Ansicht für sich zu haben, daß die Ablösbarkeit des Denkens vom sprachlichen Laut sich schon aus der Vielheit und Verschiedenheit der menschlichen Sprache ergebe, da ja, wenn Denken und Sprechen identisch wären, es nur  eine  Sprache geben könne."

Der Geschichtsschreiber der Logik darf vielleicht auf eine Entschuldigung rechnen, wenn er bezüglich des Gegenstandes seiner historischen Forschung auch Reformgedanken hegt und versuchsweise ausspricht. Wenn auch der abschließende fünfte Band der Geschichte der Logik noch nicht zur Drucklegung reif ist, so habe ich doch bereits, wie man kaum anders erwarten dürfte, von der Entwicklung der neuen und der neuesten Zeit mit Einschluß der jüngsten Erscheinungen Kenntnis genommen und darf es demnach vielleicht wagen, über die Gegenwart hinaus den Blick auf eine "Logik der Zukunft" richten, wofern insofern man diesen Ausdruck nicht als Großsprecherei befrachten und daher von vornherein abweisen will. Zur Bescheidenheit mahnt uns der Reichtum der neueren logischne Literatur, deren hervorragende Namen nicht erst genannt zu werden brauchen und in dieser Beziehung schließen wir uns gerne an einen Ausspruch an, welchen wir bei STUART MILL (Vorrede zum System der deduktiven und induktiven Logik) finden: "Angesichts der Stufe, auf der sich gegenwärtig die Pflege der Wissenschaften befindet, würde jedermann begründetem Mißtrauen begegnen, der mit der Einbildung aufträge, in der Theorie der wissenschaftlichen Forschung eine Umwälzung bewirkt oder der Ausübung derselben irgendein wesentlich neues Verfahren hinzugefügt zu haben." Doch es wird in System-Fragen (- und nur um solche möge es sich hier handeln -) gewiß stets die Befugnis zugestanden werden, prinzipielle Anschauungen, welche sich de, der sie faßte, während einer möglichst umfassenden Kenntnisnahme der ganzen betreffenden Literatur und während einer etwa dreißigjährigen Lehrtätigkeit immer mehr bekräftigten und bewährten, versuchsweise den Fachgenossen zur Prüfung vorzulegen. daß der breitgetretene Pfad der gewöhnlichen formalen Schul-Logik nicht der richtige sei und keinesfalls in philosophischer Beziehung Befriedigung gewähre, ist in neuerer Zeit  von mehreren Seiten  dargetan worden und einen lautesten Ausdruck erhielt dieses Gefühl durch zwei Werke, welche zu den Zierden der philosophischen Literatur der jünsten zwei Jahre zählen; nämlich HERMANN LOTZE und CHRISTOPH SIGWART gaben neue Darstellungen der Logik, welchen beiden - so verschiedenartig diesselben auch sind - sich gewiß jeder unserer Fachgenossen zu wissenschaftlichem Dank verpflichtet fühlt. Sowie es aber hier nicht der Zweck sein soll, über diese beiden hervorragenden Leistungen oder überhaupt über die neueste logische Literatur Bericht zu erstatten oder ein detailliertes Urteil abzugeben, so möge es gegönnt sein, "Reformgedanken" auszusprechen, welche beileibe nicht sofort hier zu einem ausführlichen System der Logik oder etwa zu einem Lehrbuch durchgearbeitet werden sollen, sondern nur die Absicht hätten, durch nähere Begründung einzelner grundsätzlicher Gesichtspunkte den andeutenden Entwurf einer Logik zu geben, welche mir als zukünftige Aufgabe der fortschreitenden Entwicklung dieser Disziplin erscheinen möchte.

Während es wohl nur auf geringen Widerspruch stoßen dürfte, wenn überhaupt eine philosophische Begründung der Logik und hiermit eine passende Einverleibung derselben in das System der Philosophie gefordert wird, mag es bereits als eine vieldeutigere und darum streitige Wendung erscheinen, wenn behauptet wird, daß die Logik grundsätzlich als Wissenschaftslehre zu fassen sei. Jedenfalls aber weist die Wissenschaftslehre auf einen Wissenstrieb des Menschen zurück und zwar dürfte dieser Wissenstrieb bezüglich einer prinzipiellen Auffassung und Durchführung als ein wesentlich Positives zu betrachten und der Umweg über das Negative zu vermeiden sein, d. h. - um mich deutlicher auszudrücken - ich möchte die Wissenschaftslehre nicht auf das Motiv der Vermeidung des Irrtums begründen, sowie mir auch die Ableitung des Rechts aus dem Mißfallen am Streit als eine verfehlte erscheint und sowie ich die Ethik nicht aus der Vermeidung des Bösen oder die Kunst nicht aus der Vermeidung des Häßlichen und dgl. ableiten zu dürfen glaube. Der Wissenstrieb selbst (- um ihn gleichsam zu definieren -) ist darauf gerichtet, daß durch die Tätigkeit des menschlichen Denkens eine abschließende umfassende Gestaltung des Gegenständlichen für das Denken verwirklicht werde. Eben darum aber muß um des Abschließens willen und um der Gestaltung willen die abschließend und gestaltende Form in wirklich wirksames Dasein heraustreten und es involviert demnach der Wissenstrieb den auf diese Form gerichteten logischen Trieb. Das heißt für das System der Philosophie hat die volle Durchführung und Entwicklung des Wissenstriebes die zwei Fragen zu erledigen:
    1) wie verwirklicht sich die Form der Wissenschaft überhaupt? - Wissenschaftslehre oder Logik, und

    2) wie entwickelt sich systematisch der in dieser wissenschaftlichen Form gewußte Inhalt des gesamten Gegenständlichen - die sogenannte Enzyklopädie der Philosophie.
Indem aber der Wissenstrieb nach der obigen Auffassung auf das menschliche Denken und somit auf das Wesen des Menschen zurückweist, müssen die prinzipiellen Anschauungen über letzteres für die ganze Darlegung der Wissenschaftslehre von größtem Belang sein. In dieser Beziehung nun kann ich mich nur den Gegnern des Dualismus anschließen, welcher mir überhaupt als eine Verneinung der Philosophie erscheint und ich möchte demnach an eine Reform der Logik denken, welche den für die wahre Philosophie unerläßlichen Anforderungen eines Monismus entspräche. Sowie aber nach monistischer Anschauung eine Wesens-Einheit ( unitas naturae,  nicht  unitas compositionis)  der Gegensätze, welche wir in ihren größten Gruppierungen mit den Worten "Natürliches" und "Geistiges" zu bezeichnen pflegen, zugrunde gelegt und sonach auch die menschliche Seele nicht als ein substanzielles Wesen, sondern als eine immanente Kraft des wesenseinheitlichen unzerstückelten Menschenwesens gefaßt wird, muß auch die gedankenhaltige Sprache des Menschen nicht als ein Compositum aus dem physiologisch-leiblichen Laut und einem begrifflich Geistigen, sondern gleichfalls als eine untrennbare Wesenseinheit betrachtet werden. Und durch eine solche Auffassung des Denkens als einer von der Sprache unzertrennlichen Kraftäußerung muß die gesamte Gliederung und Entwicklung der sogenannten Denklehre, welche sich uns zu einer Wissenschaftslehre gestalten soll, in sehr erheblicher Weise berührt werden.

Diesen Punkt nun in mehreren Beziehungen näher zu erörtern, möge für dieses Mal gestattet sein, während es einer späteren Gelegenheit vorbehalten bleiben möge, auf gleicher prinzipieller Grundlage die nicht unbeliebte Scheidung zwischen reiner und angewandter Logik zu prüfen und uns bezüglich der "Methodenlehre" mit der etwas ruhmredigen "induktiven Logik" auseinanderzusetzen.

Sobald wir es unternehmen, eine grundsätzliche Wesenseinheit des Denkens und des Sprechens als unseren Ausgangspunkt zu wählen, drängt eine Anzahl bedeutenderer oder geringerer Einwände auf uns heran, welche wohl vorerst zu beseitigen sind, um für das Weitere positiven Boden zu gewinnen. Einen Kampf gegen das "reine Denken" oder "reine Sein" HEGELs zu führen oder zu erneuern, dürfte heutzutage kaum mehr notwendig sein; dieses reine Denken möge von vornherein beiseite bleiben. Hingegen ernster ist manches andere Bedenken zu nehmen (1). Sehr viel scheint die Ansicht für sich zu haben, daß die Ablösbarkeit des Denkens vom sprachlichen Laut sich schon aus der Vielheit und Verschiedenheit der menschlichen Sprache ergebe, da ja, wenn Denken und Sprechen identisch wären, es nur  eine  Sprache geben könne und man durfte zu dieser Annahme wohl auch noch das weitere Motiv hinzufügen, daß beim Erlernen einer fremden Sprache und bei allem Übersetzen die begriffliche Bedeutsamkeit vom phonologischen Element sichtlich losgeschält werde. Aber ein solcher Beweis ist darum mißlungen, weil nicht gezeigt ist, daß sich die erwähnten Umstände ausschließlich durch eine postulierte Lostrennung des Denkens erklären lassen. Meines Erachtens bleibt sehr wohl auch eine andere Möglichkeit der Erklärung übrig, welche auf der Grundlage einer untrennbaren Wesenseinheit des Sprechens und des Denkes dahin ginge, daß der in der Wort- und Satzbildung liegende Prozeß der Gestaltung einer wesenseinheitlichen Verbindung infolge einer verschiedenen Begabung und einer verschiedenen Umsetzung notwendig selbst ein verschiedener sein mußte. Daher möchte ich einen gegründeten Zweifel hegen, ob denn wirklich der sogenannte Gedanke bei verschiedener Sprachbezeichnung des nämlichen Gegenstandes ein so ganz einheitlich gleicher sei oder ob nicht vielmehr dasjenige, was man den selbständigen Gedanken zu nennen liebt, von vornherein bei seiner ursprünglichen Entstehung bereits phonologisch bedingt gewesen sei. Das Erlernen einer fremden Sprache aber (welches vom wissenschaftlichen Studium eines Linguisten gewiß sehr verschieden ist) enthält zunächst ansich keine andere Funktion, als wenn ich z. B. einem Kind sage, daß ein preußischer Taler 1 Florin [süddeutsch. Gulden - wp] 45 Kreuzer gilt und es dürfte hierbei von einem Abschälen oder Lostrennen ebensowenig eine Rede sein als z. B. bei der Gleichung 3 x 6 = 18. Auch das Übersetzen, welches stets eine längere vorangehende Übung erfordert, beruth nur darauf, daß irgendein Gefüge der einheitlichsten Verbindung statt eines anderen mehr oder minder zutreffenden Gefüges gesucht und gewählt wird, woraus sich auch die häufig eintretende Quale der Wahl erklärt. Überhaupt sollte man stets bedenken, daß das Übersetzen in absolut vollgültigem Sinn eine Unmöglichkeit ist; wir wissen sehr wohl, daß "luna" ganz adäquat mit "Mond" und "taurus" mit "Stier" übersetzt wird, aber an die Frage, ob z. B.  polis  "Stadt" oder "Staat" heißen soll oder wie man  nous  übersetzen soll, ließen sich Tausende von Beispielen anreihen, um zu zeigen, daß es gerade nicht der nämliche Gedanke ist, welcher in einem zu übersetzenden Wort und in dem zur Übersetzung gewählten Wort waltet, sondern daß der Gedanke völlig untrennbar mit dem Sprachlaut verflochten ist. Das gleiche gilt auch, wenn man meinte, in ein und derselben Sprache könne eine Gedanke durch mehrere Synonyma ausgedrückt werden; denn hierauf ist zu erwidern, daß es in einem voll streng genommenen Sinn überhaupt keine wahrhaften Synonyme gibt, weil das verschiedenartige phonologische Element der angeblichen Synonyma auf einen verschiedenartigen Ausgangspunkt der Wortbildung zurückweist, welcher wohl allmählich in eine teilweise Vergessenheit geraten kann, aber doch stets bleibend gewisse Schattierungen zurückläßt. Kurz den erwähnten Einwänden liegt immer die naive Anschauung zugrunde, daß, wie unsere Kinder mit ihren Puppen verfahren, ebenso ein sogenannter Gedanke ausgekleidet und dann wieder anders angekleidet werden könne; da aich aber an der Existenz eines nackten Gedankens verzweifeln zu müssen glaube, erscheint mir eine solche Grundansicht als ein duralistischer Wahn.

Das Gleichnis vom Kleid oder von einer Einkleidung liegt (- vielleicht ohne daß man sich hierüber genau bewußt war -) auch jenen Meinungsäußerungen zugrunde, welche die Trennbarkeit der Gedanken-Arbeit und des lautlichen Ausdrucks darauf begründen wollen, daß der Wortlaut ein Zeichen des begrifflichen Gedankens sei oder daß der Gedanke durch Lautbilder gegenständlich werde. Solches ist immer wieder der alte Dualismus zwischen Innerem und Äußerem mit der Wendung, daß letzteres ein Kennzeichen des ersteren sei, d. h. daß man den Gedanken an seinem Kleid, ans seinem Zeichen, an seinem Lautbild erkennen soll; aber da hiermit notwendigst die Annahme verbunden ist, daß der Gedanke vorerst rein für sich bereits da war, ehe er eingekleidet oder bezeichnet oder vergegenständlicht wurde, so ist mir der Kausalzusammenhang solcher angeblicher Vorgänge unfaßbar und ich fühle mich durch solche Ausdrucksweisen, welche nur eine trügerisch Überbrückung der dualistischen Kluft darbieten, durchaus nicht in höherem Grad befriedigt, als durch den alten Okkasionalismus [Lehre von den Gelegenheitsursachen - wp]. Daß, wenn man an der gedankenhaltigen Sprache das Denken vom Sprechen trennt, auf ersteres das entscheidende Hauptgewicht zu legen sei (z. B. betreffs der Selbstgleichheit einer Benennung und wieder der Vergleichbarkeit derselben), wird gewiß jeder zugestehen, aber die Frage ist, ob überhaupt grundsätzlich so getrennt werden kann oder darf, wenn man nicht unrettbar in alle erdenklichen Schwierigkeiten eines Dualismus geraten will.

Von geringem Wert dürften jene gegen die Untrennbarkeit des Denkens und des Sprechens gerichteten Einwände sein, welche darauf hinweisen, daß der Mensch im Traum denkt ohne zu sprechen oder daß das Gleiche der Fall sei bei Anhörung einer Symphonie oder Betrachtung eines Gemäldes oder z. B. selbst beim Betreten einer Treppe usw. oder daß sich z. B. beim Anblick der üblichen Bezeichnungen in der Syllogistik (MP, SM bzw. Obersatz Untersatz und dgl.) oder der Schreibweise der chemischen Formeln eine Gedankenarbeit ohne Sprachausdruck fortspinnt. Diesen Einwänden gebricht es einfach an der tatsächlichen Richtigkeit, denn in all diesen Fällen wird eben doch in Worten gedacht, wenn auch in unhörbarer und abgekürztester Weise; durch fortgesetzte Gewohnheit stellt sich beim heranreifenden Menschen eine Beschleunigung und Abkürzung der an Worte geknüpften Denktätigkeit ein, welche des ausdrücklichen Aussprechens entbehren kann, aber darum nicht minder auf vorhergegangenen tausendfältigen Gebrauch von Worten zurückweist, ohne welchen der ganze betreffende Gedankenkreis gar nicht enstanden wäre. In gleicher Weise muß der Mensch auch das Sehen lernen und der Geübte sieht in einem sehr abgekürzten Verfahren; ebenso wird z. B. auch das Gehen gelernt, welches dann in so mechanischer Weise geübt wird, daß neben demselben die intellektuelle Tätigkeit des Sprechens unbehindert stattfinden kann.

Endlich aber kaum verständlich ist es mir, wenn selbst von hervorragenden Denkern auf die Taubstummen hingewiesen wurde, um darzulegen, daß es ein Denken ohne Sprache gebe. Denn einerseits kann doch das Zugeständnis nicht verweigert werden, daß auch eine Zeichensprache sicher eine Sprache ist, wenn auch als kümmerliches Surrogat für unglücklich Verstümmelte gewählt; und andererseits dürfte hinreichend bekannt sein, daß auch die Taubstummen (wenigstens bei Kulturvölkern) am Sprachschatz der Menschheit teilnehmen, indem sie, - wenn auch mit unsäglicher Mühe -, lesen und schreiben lernen, sodaß für sie an Stelle des Ohres und der Sprachwerkzeuge das Auge und die Hand treten und dieselben somit nach längerer und schwerer Übung auf die nämliche Stufe gelangen, auf welcher die nicht Verstümmelten das Lesen und Schreiben betätigen, ohne dabei die Lippen und dgl. zu bewegen. Durch das letztere wäre ebenso auch das von einem Linguisten erhobene Bedenken beseitigt, daß z. B. die ältere chinesische Literatur nur eine Zeichen-Literatur sei und von den Chinesen nicht durch Hören, sondern durch Sehen verstanden wird. Sprache ist auch solches jedenfalls und wird daher auch als Sprache aufgenommen und wir begnügen uns hierbei an der Gewißheit, daß kein Tier es zu so einer Zeichensprache oder etwa zu einer Taubstummensprache gebracht hat.

Soll nun aber die positive Begründung versucht werden, daß die Sprache eine untrennbare Wesenseinheit des Gedankens und des Lautes sei und es kein selbständig reines Denken außerhalb des Sprechens gebe, so wird es sich zunächst darum handeln müssen, einen "Unterschied" des Menschen vom Tier festzustellen, welcher derartig gefaßt ist, daß wir jedem Dualismus, welchen wir ja gründlichst vermeiden wollen, völlig fern bleiben; d. h. es muß der Versuch gewagt werden, den großen Gedanken der "Entwicklung", welcher bekanntlich in den jüngsten Kundgebungen der Wissenschaft so leuchtend hervortritt, aufrecht zu halten und da, wo der Dualismus eine Kluft oder einen Sprung statuiert, einen Übergang und eine Steigerung aufzuzeigen, durch welche sich gewiß gleichfalls "Abstände" ergeben, jedoch das Wunder eines plötzlichen Eingriffes, an welches der Dualismus stets appellieren muß, ausgeschlossen bleibt.

Auch die Tiere sind zur mannigfaltigsten Kundgebung ihrer psychischen Zustände befähigt und sowohl die gestikulativen Bewegungen derselben als auch die von ihnen hervorgebrachten Töne und Laute sind schlechterdings nichts anderes als eine sichtbare oder hörbare Manifestation psychischer Reize; nur für eine uns deutlichere und frappantere Erscheinungsweise hiervon liegt in der unbestrittenen Tatsache, daß Tiere auch förmlich Signale geben, denn bei richtigem Verständnis sehen wir bald ein, daß eigentlich durch jedes Brüller und jedes Zwitschern oder durch jede Schweifbewegung irgendeetwas signalisiert wird. Will man hierfür das Wort "Sprache" gebrauchen (wie schon oft geschehen ist), so mag diese Befugnis wohl vergönnt werden; aber daß hierbei dennoch immer eine kleine Übertragung mitspiele, erweist sich im Bedürfnis, bei einer einigermaßen genauen Redeweise lieber die Bezeichnung zu wählen, daß sich die Tiere eben in  ihrer  Weise ausdrücken, wobei dann der Unterschied zwischen der menschlichen Sprache und den tierischen Kundgebungen eingehalten bleibt. In diesem Sinne möchte auch ich hiermit nur darauf hingewiesen haben, daß sich bereits in den Tieren etwas findet, was in einem sehr hohen Grad der Steigerung beim Menschen Sprache genannt wird; und in Anerkennung des Abstandes, welcher sich durch eine hochgradige Steigerung ergibt, kann man mit MAX MÜLLER übereinstimmen, welcher die Sprache als die wahre Grenze zwischen Tier und Mensch bezeichnet. Jedenfalls aber müßte ich bitten, abgesehen von dieser Gradualität der Steigerung Mensch und Tier mit gleichem Maßstab zu messen, d. h. bei keinem von beiden einen Dualismus zwischen Innerem und Äußerem zu statuieren. Allerdings glauben die Dualisten nach ihrem alten Vorbild und Lehrmeister CARTESIUS bei den Tieren einer solchen Scheidung entbehren zu können, da das Tier lediglich eine belebte Maschine sei und den Dualisten dünkt es jedenfalls glaubhaft, daß erst beim Menschen eine ansich getrennt und später wieder trennbare eigene Seelensubstanz auf Zeitdauer in den tierischen Leib eingesperrt werde. Hingegen wird, sowie ich oben in Bezug auf die Sprache die dualistische Trennung zwischen einem vorher daseienden Gedanken und einer nachfolgenden Lautbezeichnung ablehnen zu müssen glaubte, meinerseit das Gleiche bezüglich der tierischen Kundgebungen geschehen müsse und ich schließe mich daher nur einem gewöhnlichen Sprachgebrauch an, wenn ich das Wort "Signal" wählte, denn auch beim Tier gilt mir natürlich der psychische Vorgang als wesenseinheitlich verbunden mit der lautlichen oder gestikulativen Funktion.

Ebenso verhält es sich mit dem Wollen der Tiere und desgleichen mit dem Denken derselben. Daß die Tiere tun wollen, was sie tun (gewiß mit Einschluß des "coactus voluit" [Willensbeugung - wp]), sowie daß sie auch ein Nichtwollen deutlich und selbst energisch betätigen, wird ohne Zweifel zugegeben werden; denn wenn z. B. ein sitzender Vogel plötzlich auffliegt, so will er eben auffliegen und wenn der Hund den Weg nach Hause einschlägt, so will er eben heimkehren und wenn ein Esel nicht zum Aufstehen zu bewegen ist, so will er eben nicht. Hierüber auch nur ein Wort zu verlieren, ist überflüssig und in gleicher Weise wäre es töricht, verneinen zu wollen, daß das Tier, wann und wo es eine Wahl hat, wirklich wählt. Aber ebenso gewiß ist es, daß der Wille des Tieres durch sein Wesen determiniert und bedingt ist. Und falls ich, um hier mit gleichem Maßstab zu messen, das Nämliche vom Menschen sage, so ist ersichtlich, daß alles darauf ankommt, wie das Wesen des Menschen gefaßt wird (siehe unten); vielleicht ließe es sich dann hören, daß das Wollen des Tieres eine äußerst niedere primitive Stufe desjenigen sei, was in hoher Steigerung beim Menschen mit Recht als freier Wille bezeichnet wird. Im Wollen der Tiere liegt jedenfalls ebenso sehr wie in jenen Kundgebungen, welche ich als Signale bezeichne, das Moment einer Beabsichtigung, welche auf individuelles Wohl gerichtet ist. Ja, eine solche Beabsichtigung oder Zweckverfolgung zeigt sich unverkennbarst bereits in jenem unwillkürlichen Tun, welches Reflexbewegung genannt wird, d. h. in jenen Bewegungen, welche bei Wirbeltieren ohne mitwirkende Tätigkeit des Gehirns lediglich im Rückemark durch Einwirkung der sensitiven Nerven auf die motorischen Nerven erfolgen (denn z. B. das Zurückziehen eines Gliedes von einem schmerzerregenden Außending oder das Ausstoßen eines störenden fremden Körpers dient im Organismus dem Zweck der Herstellung des normalen Zustandes). Durch die Gehirntätigkeit aber wird der Wechselverkehr der beiderartigen Nerven fortwährend zum Zweck des individuellen Wohls zentralisiert und hierin bewegt sich der Wille des Tieres. Und wenn bisweilen schon gefragt wurde, ob die Tiere auch zur Reue befähigt sind, so möchte ich diese Frage nicht verneinen. Allerdings hat das Zeitwort "reuen" einen doppelten Sinn; einerseits nämlich bedeutet es ein Abgehen von einer weiteren Verfolgung eines Vorsatzes (z. B. wenn jemand, der einen Gang machen wollte, wieder umkehrt, sagt man, es habe ihn gereut) und in diesem Sinne gilt es zweifellos auch von Tieren; aber auch in der zweiten eigentlichen Bedeutung, wonach wir an Betrübnis über eine bereits verübte Tat und den lebhaften Wunsch, dieselbe nicht begangen zu haben, denken müssen, scheint die Reue den Tieren nicht abgesprochen werden zu können, denn auf dem Gesagten beruhen all jene Fälle, in welchen wir z. B. von einem Hund sagen, daß er ein böses Gewissen habe. Jedoch auch bei solchen Zugeständnisse bleibt uns für den Menschen im Unterschied vom Tier immer noch eine hochgradige Steigerung offen.

Was endlich das Denken der Tiere betrifft, so wird wohl zugestanden werden, daß uns auch in dieser Beziehung einerseits das Gefühl beschleicht, in einer Metapher zu sprechen, wenn von einer tierischen Denktätigkeit die Rede ist und daß andererseits dennoch zuviele Anzeichen vorliegen, um etwa den Tieren eine solche Funktion völlig abzusprechen. Das heißt es würde sich um die Feststellung eines Sprachgebrauches handeln, durch welchen wir sowohl den Unterschied zwischen Tier und Mensch ausprägen als auch zugleich die von einer niedersten Stufe zu einer höchsten Stufe führende Steigerungsfähigkeit in Sicht behalten könnten. Und sowie ich oben nicht schlechterdings Protest dagegen erheben konnte, wenn man von einer Sprache der Tiere reden will, mich aber dabei lieber zum Gebrauch des Wortes "Kundgebung" hinneigte, so soll es mir ja auch als zulässig gelten, von einem Denken der Tiere zu sprechen, während vielleicht der Ausdruck "Auffassung" oder "Auffassungsgabe sich mehr empfehlen dürfte. Lassen wir aber den Wortstreit bei Seite, so wird es in sachlicher Beziehung keinen Widerspruch finden, wenn wir sagen, daß die Tiere den faktischen Bestand der äußeren Umgebung und ihrer eigenen Lebenserscheinungen erfassen und diese ihre Auffassung auch in den Funktionen eines Vergleichens und Verbindens festhalten und durchführen; d. h. auch die Tiere gehen über den schlechthin momentanen Charakter der einzelnen Sinneseindrücke hinaus und indem sie mit Gedächtnis begabt sind, haben sie nicht bloß Begehrungen, sondern auch Erwägungen, nicht bloß Angst, sondern auch Befürchtungen. Aber sie entbehren einer jeden logischen Auffassung und eines jeden Abstraktionsvermögens, denn sie erfassen wohl in einer gewissen bleibenden Weise die Gegenstände und die wirksamen (optischen, akustischen und dgl.) Eigenschaften derselben, aber gewiß weder "Substanz" noch "Attribut" weder "Allgemeinheit" noch "Singularität", weder "Koexistenz" noch "Sukzession" usw. Das entscheidende ist, daß die Tiere auch den faktischen Kausalnexus erfassen und hiermit (wie man häufig genug und nicht mit Unrecht sagte) befähigt sind, Kausalitätsschlüsse zu machen und zwar vor- und rückwärts; d. h. sie erwarten eine Wirkung, - nicht aber eine logische Folge -, und sie suchen eine Ursache (z. B. woher ein geworfener Stein kommt), - nicht aber einen logischen Grund -, und in einer solchen Begabung werden sie behutsam und vorsichtig, aber ohne Voraussicht. Es steht der tierischen Auffassung im Faktischen und im Psychischen eine Berechtigung zur Seite, auf welche sich schließlich auch das weit höher stehende menschliche Denken berufen muß und es verbleibt auch hier nur eine hochgradige Steigerung; als zulässig aber dürfte der zugespitzte Ausdruck erscheinen: "Die Tiere denken ohne Logik, aber darum nicht unlogisch".

Hiermit aber wären wir an dem Punkt angelangt, an welchem es nötig ist, den zwischen Mensch und Tier bestehenden Unterschied präzise zu formulieren, um hierdurch ohne Beziehung dualistischer Anschauungen das Motiv der oft erwähnten Steigerung unzweifelhaft zu verstehen. Schlicht und tief möge der Satz an die Spitze gestellt sein:  "Der Mensch hat Zeitsinn."  Auch den Materialismus möchte ich um eben dieses einzige Zugeständnis bitten, damit ich gegen demselben ebensosehr eine feste Basis gewänne als ich andererseits der supranaturalistischen Beihilfe des Dualismus nicht bedarf. Wenn für sämtliche übrigen sogenannten Sinne die gemeinsame Bezeichnung "Raum-Sinne" oder "Sinnesperzeption des expansiven Seins" gewählt werden darf, so besitzt der Mensch außer diesen Raumsinnen, welche er mit der Tierwelt gemein hat, auch einen Zeitsinn, d. h. die Gehirntätigkeit des Menschen ist befähigt, auch die reine Sukzession als solche und die reine Intensität des Geschehens überhaupt zu erfassen. Sobald dies als einfache Tatsache zugestanden ist, ergibt sich in ungezwungendster Entwicklung alles weiteree, was mit Recht stets als entscheidend für das Wesen des Menschen und dessen Gesamtentfaltung gegolten hat und gelten wird. Nämlich: der Mensch kann zählen (sei es, daß er z. B. durch Striche die Abfolge der Tage fixiert oder daß er gestikulativ mit den Fingern die Anzahl vorliegender Gegenstände erfaßt und ausdrückt) und indem er mittels eines solchen Zeitsinnes, welchen wir der gesamten Tierwelt absprechen müssen, befähigt ist, den Faden der reinen Sukzession als solcher fortzuspinnen, zeigt er eine Begabung, für welche wir vielleicht die Bezeichnung "Kontinuitätssinn" wählen dürfen. Hieraus aber ergibt sich jene Befähigung des Menschen, vermöge deren er sich selbst bewußt ist, in späterer Zeit der nämliche zu sein, welcher er früher war (das unwandelbare Ich-Bewußtsein oder KANTs transzendentale Apperzeption) und eine Folge hiervor ist es, daß er von der inhaltlichen Fülle der durchlebten Zeitteile absehen und sonach jene Auffassung der reinen Sukzession auch über die Gegenwart hinaus fortzuspinnen vermag, sowie er aus dem gleichen Grund in den aufgespeicherten Schatz der früheren Eindrücke nach Belieben hineingreifen kann, so daß, was bereits beim Tier als Gedächtnis zu bezeichnen ist, sich hier zur spontanen Rückerinnerung steigert. Aus einer solchen Begabung aber erwächst die Befähigung, mit den äußeren Gegenständen ebenso wie mit den Eindrücken selbständig zu schalten und zu walten, d. h. Vornahmen und Vorrichtungen zu veranstalten, mittels deren er ein äußerlich Materielles seinen selbsteigenen Absichten dienstbar macht; der Mensch und nur der Mensch fertigt Waffen und Werkzeuge, macht Feuer, legt Samenkörner in die Erde, usw. Ebenso erscheint die Selbständigkeit des Schaltens und Waltens nach der negativen Seite, indem der Mensch und nur der Mensch zur Entsagung und zum Selbstmord befähigt ist. Insoweit aber die auf Kontinuitätssinn beruhende Begabung einer Selbständigkeit und Unabhängigkeit positiv in fortschreitender Steigerung dazu verwertet wird, daß der gesamte vorgefundene Zustand des Menschen und seiner Umgebung dem tatkräftigen absichtsvollen Walten anheimfällt, erwächst der "ideale Sinn", welcher kraft der Kontinuität des Selbstbewußtseins mit Blick in die Zukunft sich zum Umbildner und Beherrscher des vorgefundenen Realen macht und hierbei ideale Zwecke verfolgt. Erfassen wir nun in diesem "idealen Sinn" die Quele aller höheren Entfaltung, welche dem Tier mangelt, nämlich des Familientriebes, des sittlichen Triebes, des Rechts- und Staatstriebes, des Kunsttriebes, des Religionstriebes und des Wissenstriebes, sobedürfen wir zur Erklärung und Darlegung des gesamten Menschenwesens im letzten Grund einzig nur jenes obigen weittragenden Postulates, daß der Mensch mit Zeitsinn ausgerüstet ist. Und während wir die dualistische Anschauung, daß der Mensch aus zwei verschiedenen und trennbaren Wesen zusammengesetzt sei, grundsätzlich ablehnen, bleibt uns dennoch sehr wohl verständlich, daß eine Heterogenität zwischen den sensualphysiologischen Impulsen und den idealen Impulsen besteht; dieselben sind genau ebenso heterogen, als Raum und Zeit es sind und sowie wir trotz dieser Heterogenität es gewiß nicht unternehmen, das Universum dualistisch in Raum und Zeit zu spalten, so werden wir auch jene Wesenseinheit nicht zerstückeln, welche mit Raumsinnen und mit Zeitsinn ausgerüstete Mensch ist. Während wir aber in der Heterogenität eine feste Basis gegen den die idealen Impulse verneinenen Materialismus besitzen, bleibt uns die Philosophie andererseits bewahrt vor jedem Supranaturalismus, welcher rettungslos auf dualistische Wege führt. So wäre ein Versuch ermöglicht, für die Philosophie allseitigst den Idealismus möglichst hoch zu halten, ohne hierzu supranaturalistischer Annahmen zu bedürfen.
LITERATUR - Carl Prantl, Reformgedanken zur Logik, Sitzungsbericht der bayerischen Akademie der Wissenschaften, Philosophisch-philologische Klasse, vom 6. März 1875
    Anmerkungen
    1) Auf eine Nennung von Namen darf ich vielleicht verzichten, da es sich lediglich um die Sache handeln soll.