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FRITZ MEDICUS
Fichtes Wissenschaftslehre

"Erinnern wir uns, was Fichte ehedem in Leipzig aus Kant herausgelesen hatte, was ihm Kant geworden war: der Philosoph der  Freiheit.  Die Freiheit des Ich, des autonomen Subjekts ist das höchste Prinzip. Das Ich ist frei und insofern unbedingt - alle Dinge sind von ihm abhängig. Das war das große Erlebnis von Leipzig. Und wenn Fichte nun später klar wird, daß das Problem des höchsten Grundsatzes von Kant noch nicht mit deutlich ausgesprochenen Worten aufgestellt und gelöst wurde, so ist er doch keinen Augenblick darüber im Zweifel, wo allein die Lösung gesucht werden darf: der Inhalt des höchsten Grundsatzes kann nur das Ich sein, das freie Ich."

"Reinhold meint, der höchste Grundsatz müsse eine  Tatsache  zum Ausdruck bringen. Das aber ist falsch und widerspricht dem Geist des Kritizismus. Alles Tatsächliche hat zu seiner Voraussetzung das Bewußtsein, das Ich. Kein Objekt ohne Voraussetzung des Subjekts, keine Tatsache ohne Voraussetzung des Bewußtseins, für welches eben die Tatsache - Tatsache ist. Eine Tatsache ist nicht Tatsache ansich, sondern sie ist Tatsache dadurch, daß ein Bewußtsein gewisse Vorstellungen hat und sie in ihrer notwendigen Zusammengehörigkeit denkt. Eine Tatsache kann nicht das Prinzip der Philosophie sein, jede Tatsache setzt das Bewußtsein, das Ich voraus, ist etwas Sekundäres."

FICHTEs zweiter Aufenthalt in Zürich dauerte vom Sommer 1793 bis Ostern 1794. In diese Zeit fallen zunächst die beiden demokratisch-revolutionären Sturm- und Drangschriften, von denen ich am Schluß der vorigen Stunde sprach, außerdem aber - und das ist für unsere Interessen das Wichtigere - die ersten Studien, die der  Wissenschaftslehre  gewidmet sind. In den ersten Monaten des Jahres hat FICHTE zum erstenmal Vorlesungen über die  WL  gehalten; seine Zuhörer waren Züricher Bürger, LAVATER unter ihnen. Zu Anfang dieses Jahres erschien auch das erste Dokument der  WL  im Druck: es war eine Rezension in der Jenauer "Allgemeinen Literaturzeitung", nach der damaligen Sitte anonym. Das Buch, dem die Rezension galt, trug den Titel:  "Aenesidemus  oder über die Fundamente der von dem Herrn Professor Reinhold in Jena gelieferten Elementar-Philosophie. Nebst einer Verteidigung des Skeptizismus gegen die Anmaßungen der Vernunftkritik". AENESIDEMUS war der Name eines skeptischen Philosophen aus dem 1. Jahrhundert v. Chr. Der Verfasser des von FICHTE rezensierten Buches aber, der sich hinter diesem Pseudonym verbarg, wwar der Göttingische Professor GOTTLOB ERNST SCHULZE. Sein Buch war eine scharfsinnige Polemik gegen KANT und REINHOLD.

Ich muß hier ein paar Worte über die Stellung REINHOLDs in der philosophischen Bewgung jener Zeit einschalten. REINHOLD, zuvor Mönch, war damals Professor in Jena und Schwiegersohn WIELANDs. Ein Mann vom ehrlichsten Eifer um die Wahrheit, aber ohne alle Kraft, sich als Denker zu behaupten, stets unter dem Eindruck desjenigen Buches, das er gerade gelesen hatte. Ein Mann, der sich leicht imponieren ließ, und der daher fortwährend seine systematischen Anschauungen wechselte. In einer Arbeit über die derzeitige Lage der Philosophie trägt das Schlußkapitel die bezeichnende Überschrift: "Meine gegenwärtige (!) Überzeugung vom Wesen der reinen Philosophie Transzendentalphilosophie, Metaphysik". Es versteht sich, daß dieser mann - der zuerst ganz anderen Ansichten gehuldigt hatte -, sobald er die Wucht der Kantischen Gedankenführung zu spüren bekam,  Kantianer  wurde. Als solcher bemühte er sich redlich um die Klärung der noch dunklen Punkte, und in diesem Bestreben hat er in der Tat einen Punkt aufgedeckt, an dem noch etwas zu tun war: er vermißte in KANTs Darstellungen ein systematisches Prinzip, das den schlechthin obersten Gesichtspunkt abzugeben hätte. Alles was KANT lehrt, ist richtig: aber es fehlt bei ihm der Nachweis, daß ein höchster Grundsatz den einzelnen philosophischen Erkenntnissen einen Zusammenhang gibt. KANTs System steht zwar auf einem festen Fundament, aber es verschweigt diese doch sehr wichtige Tatsache. Nur weil ein solches Fundament vorhanden ist, ist es im strengen des Wortes  System,  sind die einzelnen Erkenntnisse, die es enthält, systematisch vernküpft.

An dieser Beobachtung war etwas Richtiges, wenn man auch wird sagen dürfen, daß KANT selbst bei seinen Erörterungen über die  Autonomie  zumindest angedeutet hat, wo er den in letzter Instanz abschließenden Gesichtspunkt sucht. Doch hat REINHOLD die Frage durchaus nicht in dieser Weite erfaßt. Er hat den höchsten Grundsatz so formuliert: "Im Bewußtsein wird die Vorstellung durch das Subjekt vom Subjekt und Objekt unterschieden und auf beide bezogen" (Satz des Bewußtseins). Wenn sich die Entwicklung der Philosophie an diesen Wegweiser gehalten hätte, so wäre sie schnell beim ödesten Formelkramen angelangt.

FICHTE hat sich bereits in Krockow mit REINHOLDs Schriften beschäftigt. Es wurde ihm hierbei klar, daß allerdings die Kantische Darstellung nicht völlig genügt. Aber freilich - REINHOLDs Darstellung tut das auch nicht. Der Geist der kritischen Philosophie, so heißt es in einem Briefentwurf aus jener Zeit (Kantstudien, Bd. 6, Seite 205) sei eine unüberwindliche Festung; aber diesen Geist haben weder KANT noch REINHOLD dargestellt, und ihm, FICHTE selbst, dämmere dieser Geist nur erst.

KANT gilt ihm als der geniale Bahnbrecher, REINHOLD als derjenige, der die Notwendigkeit des systematischen Zusammenschlusses aller einzelnen Deduktionen mit Recht hervorgehoben hat. Aber welches ist dieses höchste Prinzip, von dem aus alle Theoreme der kritischen Philosophie überblickt werden können, das Prinzip, von dem sie alle abhängig sind, und auf das sie alle zurückverweisen? Es muß das schlechthin Unabhängige sein, das schlechthin Unbedingte. Den wenn alles andere von ihm abhängig sein soll, so darf es selbst nicht wiederum abhängig sein: sonst wäre jenes andere, von dem es abhängig wäre, das schlechthin Höchste. Der höchste Grundsatz der Philosophie muß in jeder Hinsicht absolut, muß unbedingt sein. - Und nun erinnern wir uns, was FICHTE ehedem in Leipzig aus KANT herausgelesen hatte, was ihm KANT geworden war: der Philosoph der  Freiheit.  Die Freiheit des Ich, des autonomen Subjekts ist das höchste Prinzip. Das Ich ist frei und insofern unbedingt - alle Dinge sind von ihm abhängig. Das war das große Erlebnis von Leipzig. Und wenn FICHTE nun später klar wird, daß das Problem des höchsten Grundsatzes von KANT noch nicht mit deutlich ausgesprochenen Worten aufgestellt und gelöst wurde, so ist er doch keinen Augenblick darüber im Zweifel, wo allein die Lösung gesucht werden darf: der Inhalt den höchsten Grundsatzes kann nur das Ich sein, das freie Ich.

Jenes Buch von  Aenesidemus  SCHULZE nun hatte REINHOLD als den berufenen Interpreten KANTs behandelt. Die Streiche, die darin geführt wurden, waren beiden Denkern in gleicher Weise zugedacht. So lagen die Dinge, als FICHTE mit seiner  Rezension  auf den Plan trat.

Zunächst gibt FICHTE den REINHOLDschen "Satz des Bewußtseins" preis. Genauer: er erkennt wohl an, daß die Behauptung dieses Satzes, im Bewußtsein werde die Vorstellung durch das Subjekt vom Subjekt und Objekt unterschieden und auf beide bezogen, richtig ist; aber dieser Satz ist nicht der gesuchte Grundsatz aller Philosophie. Der Begriff der Vorstellung, so sagt er, ist überhaupt nicht der höchste. Und vor allem, um prinzipiell zu Werke zu gehen: REINHOLD meint, der höchste Grundsatz müsse eine  Tatsache  zum Ausdruck bringen. Das aber ist falsch und widerspricht dem Geist des Kritizismus. Alles Tatsächliche hat zu seiner Voraussetzung das Bewußtsein, das Ich. Kein Objekt ohne Voraussetzung des Subjekts, keine Tatsache ohne Voraussetzung des Bewußtseins, für welches eben die Tatsache - Tatsache ist. Eine Tatsache ist nicht Tatsache ansich, sondern sie ist Tatsache dadurch, daß ein Bewußtsein gewisse Vorstellungen hat und sie in ihrer notwendigen Zusammengehörigkeit denkt. Eine Tatsache kann nicht das Prinzip der Philosophie sein, jede Tatsache setzt das Bewußtsein, das Ich voraus, ist etwas Sekundäres. Das höchste Prinzip darf darum überhaupt keine Tatsache ausdrücken wollen, sondern - ja, was? - das Ich selbst. Das Ich selbst aber ist, eben weil es alles Tatsächliche erst begründet und möglich macht, nicht wiederum Tatsache, sondern sein Wesen ist ein Tun, ein Handeln. In der  Tat  des Erkennens, im  Akt  der Einsicht, der Entscheidung: da erfassen wir das Ich. Es ist kein ruhendes Sein, nichts Dinghaftes, Tatsachenartiges - es ist lediglich ein Tun, lediglich ein Handeln. Der höchste Grundsatz darf also - eben weil er das Subjekt selbst ausdrücken will - nicht eine  Tatsache,  er muß eine  Tathandlung  an die Spitze der Philosophie stellen. Das Ich ist nur eine lebendige freie Wirklichkeit, sofern es handelt. Wenn ich auf das Ich reflektiere, so kann ich mir freilich eine Vorstellung davon bilden, und diese Vorstellung wäre dann eine Tatsache, ein Objekt. Aber sie ist nun auch nicht mehr das wirkliche Ich selbst, sondern nur ein Objekt  für  das Ich. Das wirkliche lebendige Subjekt ist keine Vorstellung, sondern dasjenige Leben, dasjenige Handeln, das alle Vorstellungen, alle Tatsachen erst begründet, erst möglich macht; es ist in keinem Sinne Gegenstand, ist keine  Tatsache  der Selbstbeobachtung etwa, sondern alle solche  Tatsachen  leiten sich erst aus dem Handeln des Ich ab.

So gibt FICHTE dem Skeptiker zu, daß REINHOLDs Satz des Bewußtseins nicht zum ersten Grundsatz aller Philosophie taugt, weil er eben eine Tatsache behauptet, eine Tatsache aber nie unbedingt sein kann. Übrigens sind alle diese Ausstellungen mit sehr viel Hochachtung gegenüber REINHOLD vorgetragen. FICHTE hat es ihm hoch angerechnet, daß er überhaupt auf die Notwendigkeit eines ersten Grundsatzes gedrungen hatte.

Im weiteren Verlauf der Rezension kommt FICHTE auf die Frage nach den  Dingen ansich  zu sprechen. KANT hatte deren Unerkennbarkeit behauptet, und FICHTE war zu jener Zeit geneigt anzunehmen, KANTs Meinung sei gewesen: Dinge ansich, d. h. Objekte, die kein Subjekt zur Voraussetzung haben, absolute Objekte gibt es nicht. Der Begriff ist insich widersprüchlich. Alle Dinghaftigkeit gründet sich auf eine Handlung, auf eine Synthesis des Bewußtseins. Jedes Ding ist eine Tatsache, und mithin gibt es Dinge nur für das Bewußtsein, aber keine absoluten, an sich seienden, unabhängigen Dinge. Absout, unbedingt ist nur das freie Ich. Wenn außer dem absoluten Ich noch absolute Dinge angenommen würden, so würden dies sich überdies gegenseitig bedingen müssen, und es wäre mithin keines von beiden wirklich unabhängig, und es müßte nach einem tieferen Grund der Realität gefragt werden, in dem jene doch noch immer bedingten Faktoren verankert wären.

Wenn nun KANT gleichwohl von Dingen ansich redet, so geschieht dies deswegen, weil er diesen Ungedanken sozusagen allmählich vernichten will. KANTs Unterscheidung von Dingen, wie sie uns erscheinen, und Dingen, wie sie uns erscheinen, und Dingen, wie sie ansich sind, soll, so meint FICHTE, nur vorläufig gelten. Das Ziel, dem KANTs Gedankenreihe zustrebt, könne kein anderes sein als die völlige Aufhebung des Ding-ansich-Begriffs.

Es ist kein Zweifel, daß FICHTE in dieser Interpretation fehlgegriffen hat. KANT hat den Dingen ansich durchaus nicht bloß eine vorläufige Stelle angewiesen, aus der sie durch den Forgang der Untersuchung von selbst verdrängt werden sollten, sondern er hat die Meinung gehabt, daß die Dinge, die uns erscheinen, ihrem Inhalt nach bestimmt seien von Dingen ansich, Dingen, die vom Bewußtsein unabhängig bestehen. KANT hätte geglaubt, ins leere Nichts hinausgeschleudert zu sein, er hätte die Welt der Erscheinungen für eine Phantasmogorie angesehen, wenn man ihn zur Einsicht gebracht hätte, daß es keine Dinge ansich gibt. Er sah nur die Alternative: entweder ist die in Raum und Zeit erscheinende Welt eine Realität: dann liegen den Erscheinungen Dinge ansich zugrunde; oder die Erscheinungen sind bloß Erscheinungen, sind nicht auf Dinge ansich gegründet: dann ist die in Raum und Zeit erscheinende Welt eine Jllusion, eine Scheinwelt, keine Wirklichkeit. Darum betont er energisch: der kritische Idealismus lehrt zwar, die empirische Welt ist  Erscheinung,  er lehrt aber nicht, die empirische Welt ist  Schein Sie ist mehr als ein bloßes Phänomen, sie ist Erscheinung von Dingen ansich.

Es ist interessant zu sehen, wie FICHTE schon in der Rezension des  Aenesidemus  diese, auch heute unter den Kantianern noch weit verbreitete Meinung ablehnt: Gerade wenn ich an reale Dinge ansich glaube und diese von den Objekten der Erfahrungswelt unterscheide, so gerate ich auf den schwankenden Boden des Jllusionismus. Denn nun muß ich folgern: Die Dinge ansich erkenne ich nicht; die eigentliche Wahrheit bleibt mir unzugänglich. Ich erkenne bloß die sekundäre Wahrheit, die - eben weil sie von der wirklichen Wahrheit verschieden ist - letzten Endes keine Wahrheit ist; ich erkenne bloß eine in den ansich irrealen Anschauungsformen Raum und Zeit gültige Phänomenalwahrheit. Von den allein wahrhaften realen Dingen ansich gilt etwas anderes als von den Erscheinungen - aber was jene höchste Wahrheit besagt, das weiß ich nicht. Die Wahrheit für mich ist nur die Wahrheit der Erscheinungen, d. h. nur eine bedingte Wahrheit, bedingt nämlich durch die Gesetze des Bewußtseins. Die wahre Wahrheit ist für mich unerkennbar. Der Dualismus von Erscheinungen und Dingen ansich bedingt einen Dualismus der Wahrheit. Von jenen gilt etwas anderes als von diesen. Und zwar muß selbstverständlich  die  Wahrheit, die von den Dingen ansich gilt und die vom Bewußtsein unabhängig ist, den höheren Wert haben: sie allein betrifft die Realität selbst. Die Wahrheit über die Objekte der Erscheinungswirklichkeit mag formal wahr, d. h. konsequent und in sich übereinstimmend sein: es fehlt ihr doch zuletzt die reale Bedeutung. Die Realität liegt bei den Dingen ansich, beim Unerkennbaren.

Wenn also von illusionistischer Erkenntnistheorie gesprochen werden kann, so hat das einen recht guten Sinn bei der Lehre, die eine Realität nur durch unerkennbare Dinge ansich garantieren zu können vermeint. Ganz anders aber, wenn - wie FICHTE das tut - gelehrt wird: die Dinge, die wir vor uns sehen, die wir mit unseren Händen greifen: das sind die wirklichen Dinge selber. Andere Dinge als diese sichtbaren und greifbaren, überhaupt sinnlich wahrnehmbaren Dinge gibt es nicht. Die wahren Urteile, die ich über solche Dinge ausspreche, sind darum nicht von bloß bedingter Wahrheit, sondern sie sind  überhaupt wahr.  Von Jllusionismus ist gar keine Rede. - Oder sollte der Jllusionismus darin liegen, daß gelehrt wird, diese realen Dinge haben zu ihrer Voraussetzung das Bewußtsein? sie seien nicht ansich, sondern sie seien Objekte nur dadurch, daß sie Objekte für ein Subjekt sind? Ja, wenn es nur einen Sinn hätte, von einem absoluten Objekt, einem absoluten Ding zu sprechen! Aber ein solches Ding kann überhaupt nicht gedacht werden: "Man denkt allemal sich selbst als Intelligenz, die das Ding zu erkennen strebt, mit hinzu". Über diese  absolute  Voraussetzung aller Dinghaftigkeit (die bei KANT zur bloß sekundären Voraussetzung der empirisch erkannten Phänomene herabgedrückt ist) kommt man nicht hinweg. Die Dinge sind nun einmal nichts anderes als Dinge für ein Subjekt. Aber gerade darum, weil sie  nichts anderes  sind, ist unsere Welt keine Scheinwelt, sind die Dinge genau das, als was wir sie erkennen: und wir erkennen sie doch wahrhaftig nicht als Wesenheiten, die vom Bewußtsein unabhängig wären, sondern alle Wahrheit über die Dinge, jedes Urteil, mit dem wir etwas vom Wesen eines Dings erfassen, liegt selbstverständlich innerhalb der Gesetzmäßigkeit des Bewußtseins. Das Wesen der Dinge sprechen wir aus in wahren Urteilen, und diese wahren Urteile sind nirgends als im Bewußtsein. Könnte ich das Bewußtsein wegdenken, so müßten auch die wahren Urteile über das Wesen der Dinge und damit das Wesen der Dinge selbst verschwinden. Denn was  ist  das Wesen der Dinge? Ganz genau das, was ich in diesen wahren Urteilen  ausgesagt  habe. So sind die Dinge durchaus, mit ihrem ganzen Wesen, auf das Ich gegründet; das Ich ist ihre absolute Voraussetzung.

Das sind die wichtigsten systematischen Gedanken aus jener Rezension des  Aenesidemus.  FICHTE hat sie allerdings nur mehr andeutend als ausführend hingestellt, und ich glaube nicht, daß auch nur ein einziger von all denen, die damals zu Beginn des Jahres 1794 jene Besprechung lasen, imstande gewesen ist, sie ganz zu verstehen. Auf wenig Seiten drängt sich eine Fülle von Gedanken zusammen; teilweise sind sie völlig neu, überdies ringt FICHTE noch mit dem Ausdruck, so daß es durchaus nicht überall gelungen ist, die Präziseste Formulierung zu treffen. Kurz, die Rezension ist selbst dann keine ganz einfache Lektüre, wenn man die späteren Arbeiten FICHTEs kennt und bereits weiß, worauf diese enigmatischen [rätselhaften - wp] Äußerungen hinauswollen. Denn man kann wohl sagen: in den hier dargelegten Gedanken liegen die Fundamente der Wissenschaftslehre.

Traten hier diese Gedanken noch in der anspruchslosen Form der anonymen Rezension auf, so dauerte es nun doch nur noch wenige Wochen, bis der erste Schritt in die volle Öffentlichkeit getan wurde, und dieser Schritt geschah nicht nur mit offenem Visier, er geschah auch weithin hörbar. In den letzten Tagen des Dezembers 1793 erhielt FICHTE die  Berufung nach Jena.  Ostern 1794 sollte er eintreffen und REINHOLDs Lehrstuhl übernehmen. Kurz vor ihm selbst traf die "Einladungsschrift" ein, die er schnell zu diesem Zweck hatte drucken lassen. Die erste Absicht dieser Blätter sollte, wie FICHTE im Vorwort sagt, sein, "die studierenden Jünglinge der hohen Schule, auf welche der Verfasser gerufen ist, in den Stand zu setzen, zu urteilen, ob sie sich seiner Führung auf dem Weg der ersten unter den Wissenschaften anvertrauen, und ob sie hoffen dürften, daß er so viel Licht über dieselbe zu verbreiten vermag, als sie bedürfen, um ihn ohne gefährliches Straucheln zu gehen". Der Titel der wenig umfangreichen Abhandlung lautete:  Über den Begriff der Wissenschaftslehre oder der sogenannten Philosophie.  Hier war es, wo der Name der Wissenschaftslehre zum erstenmal an die Öffentlichkeit gebracht wurde. Doch bevor wir uns der Besprechung dieser Schrift zuwenden, wollen wir noch das Ergebnis etwas genauer kennenlernen, durch das die Abhandlung hervorgerufen wurde: FICHTEs  Berufung. 

GOETHE schreibt hierüber in den Tages- und Jahresheften: "Nach REINHOLDs Abgang, der mit Recht als ein großer Verlust für die Akademie erschien, war mit Kühnheit, ja Verwegenheit FICHTE an seine Stelle berufen worden, der sich in seinen Schriften mit Großheit, aber vielleicht nicht ganz gehörig über die wichtigsten Sitten- und Staatsgegenstände erklärt hatte."

Was es mit den im Urteil des Wirklichen Geheimen Rates nicht ganz gehörigen Äußerungen über die wichtigsten Sitten- und Staatsgegenstände auf sich hat, wissen wir bereits: es sind die demokratischen Schriften, deren Anonymität schlecht gewahrt worden war. Man muß anerkennen, daß sich GOETHE in diesen Worten sogar sehr schonend ausdrückt, daß es eine außerordentliche Weitherzigkeit dieses Staatsmannes verrät, wenn er die Großheit gerade in diesen demokratischen Schriften zu würdigen weiß. Aber GOETHE bezeichnet FICHTEs Berufung nicht etwa nur als einen Beweis außergewöhnlicher Liberalität, er sagt, die Berufung ist mit Kühnheit, ja Verwegenheit geschehen, und das heißt mehr. In der Tat hatte GOETHE recht, diese Wendungen zu gebrauchen: es war nicht bloß liberal, es war verwegen, den Demokraten FICHTE zu berufen.

Die Universität Jena stand zu jener Zeit in hoher Blüte. Von weither kamen die Studierenden, und das war für die Regierungen keine unwichtige Sache. Denn die thüringischen Kleinstaaten, die die Universität zu erhalten hatten, waren keineswegs reich. Es war von der größten Bedeutung, daß eine tüchtige Anzahl von Ausländern da war, die Geld hereinbrachten. Bedingung dafür, daß der starke Besuch der Hochschule nicht zurückging, war natürlich, daß gute Lehrkräfte da waren, daß der Wissenschaftsbetrieb in jedem Sinn des Wortes frei war. Auf der anderen Seite lag aber gerade in dieser Freiheit eine Gefahr. Im Ausland dachte man viel weniger liberal, man sah in der Jenauer Universität eine Brutstätte staatsgefährlicher Tendenzen. Daher mußte man in Weimar stets gewärtig sein, daß diese oder jene auswärtige Regierung ihren Landeskindern den Besuch der Jenaer Hochschule untersagte. Daß man beobachtet wurde, war leicht zu merken, und man gab sich Mühe, einen offenen Zusammenstoß zu vermeiden. So wurde im Jahre 1793 dem Professor der Jurisprudenz HUFELAND, der eine Vorlesung über die französische Revolution angekündigt hatte, von Weimar aus bedeutet, daß man lieber sehe, wenn die Vorlesung unterbleibt. Aber trotz aller Vorsicht ließen sich unliebsame Zwischenfälle nicht ganz vermeiden, und so war man in Weimar sehr darauf angewiesen, jede Möglichkeit einer Erhöhung der schon bestehenden Spannung zu verhindern. Und doch berief man FICHTE, den Demokraten. KUNO FISCHER hat gewiß recht, wenn er sagt, eine solche Kühnheit war "wohl nur in einem Land möglich, wo CARL AUGUST Herzog und GOETHE Minister war" (Fichtes Leben, Werke und Lehre, 3. Auflage, Seite 158).

Woher die Beziehungen zwischen FICHTE und der Universität Jena stammten, haben wir schon gehört: von der Kritiker aller Offenbarung und deren Rezension in der Jenauer "Allgemeinen Literaturzeitung". FICHTE war inzwischen selbst Mitarbeit an diesem Organ geworden. Von dieser Seite her gesehen war es selbstverständlich, daß man an ihn als den prädestinierten Nachfolger für REINHOLD denken mußte. SCHILLER schrieb am 4. Oktober 1793 an KÖRNER: "Ich bin neugierig, welchen Nachfolger man REINHOLD in Jena geben wird. FICHTE würde gewiß eine sehr gute Akquisition sein und ihn, wenigstens dem Gehalt des Geistes nach, mehr als ersetzen." Und alsbald begannen dann auch die Verhandlungen zwischen der Weimarer Regierung und den in Betracht kommenden Mitgliedern der Jenaer Universität. Geheimer Rat VOIGT schrieb an Professor HUFELAND: "Ist wohl FICHTE, selbst allenfalls mit Ratscharakter, zu haben? Er privatisiert in Zürich. Ist er klug genug, seine demokratische Phantasie oder Phantasterei zu mäßigen?"

Die Entwicklung der ganzen Angelegenheit war sehr schnell abgeschlossen: FICHTE wurde als ordentlicher Honorarprofessor - dieselbe Stellung hatte REINHOLD inne gehabt - mit 200 Talern Besoldung berufen. Über dieses Gehalt schrieb FICHTE ein paar Jahre später: "Meine Besoldung ist so gering, daß ich durch sie kaum Holz und Licht bestreiten kann. Ich muß von meiner Arbeit leben." Das mag er sich wohl schon in Zürich gesagt haben, daß 200 Taler nicht gerade viel ist, oder vielmehr: sein Schwiegervater wird es ihm gesagt haben; denn Fichte selbst verstand von solchen Dingen sehr wenig. Allein es war selbstverständlich, daß er den Ruf annahm. Ein Mann, dem die Tätigkeit alles war, konnte nicht anders als hoch erfreut darüber sein, daß er aus der Stille des Literatendaseins heraus und in einen Wirkungskreis hineingerufen wurde. So kam er Ostern 1794 nach Jena; am 18. Mai spät abends traf er ein. Am andern Tag, seinem 32. Geburtstag, machte er Besuche bei den nächsten Kollegen. Überall wurde er mit größter Freundlichkeit empfangen. Und als er ein paar Tage darauf, am 23. Mai, seine erste Vorlesung hielt, da war "das größte Auditoriums in Jena zu eng; der ganze Hausflur, der Hof stand voll, auf Tischen und Bänken standen sie übereinander" und der Beifall war allgemein. Es war die erste von den fünf Vorlesungen über  die Bestimmung des Gelehrten,  die FICHTE bereits mitten im Semester als Buch erscheinen ließ, lange ehe der ganz Zyklus beendet war. Im "Vorbericht" sagt FICHTE: "Eine äußere Veranlassung, die weder zur richtigen Beurteilung noch zum richtigen Verstehen dieser Blätter etwas beitragen kann, bewog den Verfasser, diese fünf ersten Vorlesungen abgesondert abdrucken zu lassen, und zwar gerade so wie er sie gehalten hat, ohne ein Wort daran zu ändern." Hiermit verhielt es sich folgendermaßen: FICHTE hatte kaum das Katheder bestiegen, als bereits die abenteuerlichsten Gerüchte über seine demokratischen Lehren durch die Stadt und das Land schwirrten. In Weimar und namentlich in Gotha wurde man in den Ministerien nun doch recht nervös. Es wurde bestimmt versichert, FICHTE habe gelehrt, in 20 bis 30 Jahren gebe es nirgendwo mehr Könige oder Fürsten. Der Geheime Rat VOIGT war zwar überzeugt, daß dies Entstellungen sein müßten; aber er schrieb doch besorgte Briefe an HUFELAND. Um dem albernen Gerede ein Ende zu machen, ließ FICHTE die erwähnten fünf ersten Vorlesungen ihrem vollen Wortlaut nach erscheinen.

Wieviel der Name FICHTE damals bereits galt, kann man daraus ersehen, daß der Buchhändler für dieses kleine Buch - es füllt bei Reclam noch nicht einmal 60 Druckseiten - 30 Louisdor zahlte - fast ebensoviel, wie FICHTEs Jahresgehalt betrug. (Die Schrift ist so bequem zugänglich, daß ich hier nur noch etwas über sie sagen will: sie verdient es unbedingt, von Ihnen gelesen zu werden.) -

Und nun zur Einladungsschrift "Über den Begriff der Wissenschaftslehre". Wie der Titel besagt, wird hier über die Philosophie selbst philosophiert. Was will die Philosophie eigentlich? Worin besteht ihr Wesen? Zunächst ist sie  Wissenschaft,  und Wissenschaft ist eine Verknüpfung gewisser Sätze derart, daß diese miteinander so zusammenhängen, daß immer der eine die Gewißheit des anderen begründet. In der Wissenschaft sind die einzelnen Sätze durch Gewißheit miteinander verbunden.

Offenbar bedarf es in einer jeden Wissenschaft der Voraussetzung eines Satzes, der diese Kette der Gewißheitsbegründung irgendwie zum Abschluß bringt. Ein wissenschaftlicher Satz, der nicht aus sich selbst gewiß ist, weist zurück auf einen anderen, von dem er seine Gewißheit entlehnt hat; wenn aber auch dieser den Grund seiner Gewißheit nicht in sich selbst trägt, so fordert er seinerseits die Gewißheit eines dritten Satzes, auf den er sich stützen kann. Diese Reihe kann nun nicht ins unbestimmt Unendliche gehen: sonst gäbe es überhaupt keine Gewißheit und somit auch keine Wissenschaft. Irgendwo müssen wir auf  Grundsätze  stoßen, die als schlechthin gewiß anzusprechen sind, und diese Grundsätze sind das Thema der  WL.  Denn die Einzelwissenschaft selbst bekümmert sich um ihr Fundament nicht; sie setzt es bei all ihren Untersuchungen schon voraus. Wenn der Naturforscher nach der Berechtigung des Kausalprinzips fragt, so treibt er nicht Naturwissenschaft sondern Philosophe. Für die Naturwissenschaft ist das Kausalprinzip nicht Problem sondern Voraussetzung.

Die Philosophie stellt jeder Wissenschaft gegenüber zwei Hauptfragen, die innig miteinander zusammenhängen: die erste ist die Frage nach dem Grundsatz selbst und nach seiner Gewißheit, und die zweite betrifft die Art und Weise, wie aus dem Grundsatz gefolgert wird. Denn angenommen, wir hätten die erste Frage beantwortet, wir würden den Grundsatz kennen und wüßten, warum er gewiß ist, so bliebe noch immer folgendes zu erwägen: der Grundsatz ist nicht die ganze Wissenschaft, sondern von ihm aus sollen andere Sätze ihre Gewißheit erhalten. Es wird gefolgert:  Wenn  der Grundsatz gewiß ist,  Dann  ist auch ein bestimmter anderer Satz gewiß. Worauf gründet sich dieses  Dann?  Welches sind die Bedingungen dieses Zusammenhangs?

Also 1) die Gewißheit des Grundsatzes und 2) die Befugnis, aus dem Grundsatz die Gewißheit anderer Sätze auf eine bestimmte Art zu folgern: das sind Fragen, von denen die wissenschaftliche Forschung jederzeit annimmt, sie seien in einem positiven Sinn entschieden. Aber so lange wir das bloß annehmen, kommen wir nicht zu einer  Überzeugung.  Wir durchschauen unsere Vorstellungsverknüpfungen nicht. Wir denken und folgern vielleicht ganz richtig; aber das, was im tiefsten Grund die Gewißheit unseres Wissens bedingt, ist uns unbekannt. Hier liegen die Aufgaben der Philosophie, die da ist die Wissenschaft von der Wissenschaft, die Wissenschaft von der Gewißheitsbegründung, die Wissenschaftslehre.

FICHTE bezeichnet die beiden prinzipiellen Fragen, mit denen die  WL  an jede Wissenschaft herantritt, als die Fragen nach dem  inneren Gehalt  und nach der  Form.  Diese Unterscheidung ist von hoher Wichtigkeit, und man versteht nichts von der  WL  - egal an welche Bearbeitung man sich halten möchte -, solange man über diesen Punkt im Unklaren ist. Wer darauf beharrt, die Ausdrücke "Gehalt" (oder "Materie") und "Form" bei FICHTE in derselben Bedeutung zu nehmen, die sie bei KANT haben, kommt mit der Interpretation ebenso weit wie der, der den Terminus "transzendental" bei KANT im gleichen Sinn nehmen will, in dem er bei den Scholastikern zu nehmen ist.

Der "innere Gehalt" des Grundsatzes einer jeden Wissenschaft ist das gewißheitsbegründende Moment; auf dem inneren Gehalt beruth es, daß eine Überzeugung stattfindet. Die "Form" einer Wissenschaft ist die Art, in der die Übertragung der Gewißheit von einem Satz auf den anderen geschieht, die Art, in der sich der Gewißheitszusammenhang entwickelt. Diese systematische Form hat aber für eine Wissenschaft lediglich die Bedeutung des Mittels: der Zweck ist stets die Gewißheit. Den Sinn einer Wissenschaft erkennen wir mithin nicht aus der Form sondern aus dem Gehalt. Der Gehalt, der in einem Grundsatz liegt und den die auf ihn gebaute Wissenschaft darzustellen strebt, macht den Sinn und Zweck dieser Wissenschaft aus. Ich treibe Wissenschaft, nicht um zu folgern, sondern um gewiß zu werden. Was an einer Wissenschaft gewiß ist, liegt im Grundsatz, - und im Grundsatz liegt - die  Aufgabe,  nach bestimmter ins Unendliche weisender systematischer Form Vorstellungen zu verknüpfen.

Doch diese letzte Andeutung hat dem Gang der Untersuchung vorgegriffen.

Gehalt und Form einer jeden Wissenschaft werde begründet in der  WL.  Nun ist die  WL  selbst eine Wissenschaft; sie hat selbst Gehalt und Form, die in diesem Fall ihren Grund nicht außerhalb ihrer selbst mehr finden können. Ihr höchster Grundsatz "ist schlechterdings keines Beweises fähig, d. h. er ist auf keinen höheren Satz zurückzuführen, aus dessen Verhältnis zu ihm sich seine Gewißheit erhellt. Dennoch soll er die Grundlage aller Gewißheit abgeben; er muß daher doch gewiß, und zwar in sich selbst, und um seiner selbst willen, und durch sich selbst gewiß sein." Der oberste Grundsatz der  WL  muß das in allem Wissen absolut Vorausgesetzte sein. Was dies ist, wissen wir bereits aus der Rezension des AENESIDEMUS: die Ichheit, genauer: das absolute Handeln, worin das Wesen des Subjekts besteht, die absolute Tathandlung.

Der absolut-erste Grundsatz allen Wissens schließt allen überhaupt möglichen Gehalt in sich. Alle überhaupt mögliche Gewißheit ist in seiner Gewißheit begründet und beschlossen, sein Gehalt ist "der Gehalt schlechthin, der absolute Gehalt". Selbstverständlich ist "aller mögliche Gehalt" im ersten Grundsatz der  WL  nicht als  gewußter  Gehalt enthalten: der oberste Grundsatz der  WL  macht die Grundsätze der besonderen Wissenschaften und deren empirische Durchführung nicht überflüssig; sondern im System des Wissens folgt auf den ersten Grundsatz ein zweiter und dritter und dann die Reihe der abgeleiteten Sätze der  WL,  bis sich der Kreis schließt: in ihrem letzten Resultat kommt die  WL  auf ihren Ausgangspunkt zurück, wodurch sie den Beweis der Vollendung erbringt. Das System des möglichen Wissens wird in seinen Grundsätzen von ihr umspannt. Von jedem solchen Satz aus, den sie erreicht hat, geht der Weg der  WL  zum Grundsatz einer anderen Wissenschaft fort - den absoluten Gehalt des schlechthin obersten Grundsatzes weiter differenzierend. Erst wenn die Bahn durchlaufen und der Ausgangspunkt wieder erreicht ist, ist der absolute Gehalt vom Bewußtsein erfaßt.

Aber auch a nur erst  grundsätzlich:  jeder Grundsatz enthält eine Aufgabe, und diese Aufgabe findet ihre Lösung in einer besonderen Wissenschaft. "Ein und ebenderselbe Satz ist aus zwei Gesichtspunkten zu betrachten: als ein in der  WL  enthaltener Satz, und als ein an der Spitze einer besonderen Wissenschaft stehender Grundsatz. Die Wissenschaftslehre folgert aus dem Satz als einem in ihr enthaltenen, weiter; und die besondere Wissenschaft folgert aus dem gleichen Satz, als ihrem Grundsatz, auch weiter" Es muß darum "zu einem Satz der bloßen Wissenschaftslehre noch etwas, das freilich nirgendwo anders her, als aus der  WL  entlehnt sein kann, hinzukommen, wenn er Grundsatz einer besonderen Wissenschaft werden soll". Dieses Hinzukommende ist die  Freiheit,  die dem Satz der  WL  seine  Bestimmung  gibt.

So wie die  WL  ihre Sätze hinstellt, bezeichnen sie die  notwendigen  Grundlagen der einzelnen Wissenschaften -  notwendig,  sofern die Handlungen des Ich durchaus nicht anders getan werden können, als sie eben getan werden. Wird von einem solchen Satz aus nach dieser Regel der Vernunftnotwendigkeit weiter gefolgert, so ist das Resultat der nächste Satz der  WL.  Will man dagegen aus der  WL  heraus und in das Feld einer besonderen Wissenschaft eintreten, so bedarf es eines Aktes, der das von der  WL  gegebene Notwendige als Objekt der freien Bestimmung nimmt.
    "Die  WL  gibt als notwendig den Raum, und den Punkt als absolute Grenze; aber sie läßt der Einbildungskraft die völlige Freiheit, den Punkt zu setzen, wohin es ihr beliebt. Sobald dieses Freiheit bestimmt wird, ... sind wir nicht mehr auf dem Gebiet der  WL,  sondern auf dem Boden einer besonderen Wissenschaft, welche Geometrie heißt. Die Aufgabe überhaupt, den Raum nach einer Regel zu begrenzen, oder die Konstruktion in demselben, ist der Grundsatz der Geometrie."
Ebenso gibt die  WL  als notwendig die Natur und die Gesetze, nach denen sie zu beobachten ist: "aber die Urteilskraft behält dabei ihre völlige Freiheit, diese Gesetze überhaupt anzuwenden oder nicht; oder bei der Mannigfaltigkeit der Gesetze sowohl als der Gegenstände, welches Gesetz sie will, auf einen beliebigen Gegenstand anzuwenden". Auch hier vollzieht sich der Übergang aus der  WL  in die besondere Wissenschaft dadurch, daß das von der  WL  als notwendig Aufgestellte zum Gegenstand der frei bestimmenden Betätigung gemacht, daß im Gegebenen das Aufgegebene gesehen wird.

Jede Wissenschaft ist ein Kind der Freiheit. Das gilt auch von der  WL  selbst, die als Wissenschaft nur dadurch zustande kommt, daß die Einsicht in das Wesen des Wissens als Aufgabe gefaßt wird. So  notwendig  auch jede Folgerung ist, die in der  WL  vorkommt: die Inangriffnahme der ganzen Aufgabe und jeder einzelne Fortschritt in ihr kann - wie alle wissenschaftliche Arbeit - nur mit  Freiheit  geschehen. Indem die  WL  das durchgeführte Selbstbewußtsein des Wissens ist, entdeckt sie "als höchsten Erklärungsgrund" aller notwendigen Handlungen die  Freiheit.  Alles was die  WL  deduziert, deduziert sie darum als  Sphäre der Freiheit,  und in dieser teleologischen Bedeutung der Grundsätze liegt ihr "innerer Gehalt", der alle Gewißheit begründet. Alle Gewißheit geht darauf, daß das Deduzierbare, das Notwendige meine  Aufgabe  ist: "Unsere Welt ist das versinnlichte Materiale unserer Pflicht", wie FICHTE ein paar Jahre später formuliert hat (Sämt. Werke V, Seite 185). Überzeugung ist Überzeugung davon, daß ich freies Subjekt der notwendigen Objekte sein soll. Die  WL  überzeugt mich, daß alle Überzeugung aus der Freiheit entspringt. Überzeugung ist die Überlegenheit des Subjekts über die Notwendigkeit, und Wissenschaftslehre ist die Einsicht, daß die Notwendigkeit ein Produkt der Freiheit und darum nichts Letztgültiges ist. -

Ein besonderer Paragraph der Einladungsschrift untersucht das Verhältnis der  WL  zur Logik. Die Absolutheit der  WL  fordert ihre Priorität der Logik gegenüber. In den Sätzen der  WL  sind Gehalt und Form vereinigt, die Logik reflektiert nur auf die Form und abstrahiert vom Gehalt. Die logischen Schemata sind also Abstraktionen, die die Sätze der  WL  zur Voraussetzung haben. In einer Arbeit vom Jahre 1812 hat FICHTE diese Arbeit ausführlicher untersucht; ich darf darum die Besprechung dieses Problems noch hinausschieben. Die spätere Behandlung des Themas ist radikaler, nimmt auf die "Würde" der Logik sehr viel weniger Rücksicht als die Schrift von 1794; doch sind die Grundzüge der Auseinandersetz hier schon klar vorgezeichnet, und die Entwicklung erfolgt ohne Umbruch.
LITERATUR - Fritz Medicus, J. G. Fichte - Dreizehn Vorlesungen, Berlin 1905