cr-4cr-2 Erste Einleitung i. d. WissenschaftslehreP. Hensel    
 
JOHANN GOTTLIEB FICHTE
(1762 - 1814)
Die Wissenschaftslehre
[1810]

"Ich soll sein? Wer ist dieser Ich? Offenbar der seiende, der in der Anschauung gegebene Ich, das Individuum. Dieser soll sein. Was bedeutet sein Sein? Als Prinzip in der Sinnenwelt ist er gegeben."

Vorrede

Ich habe diese Abhandlung, mit welcher ich meine in diesem Halbjahr gehaltene Vorlesung beschloß, zunächst für meine Zuhörer abdrucken lassen, um denselben die Übersicht des Ganzen bei der Wiederholung zu erleichtern. Sollte dieselbe noch an die Hände Anderer fallen, und etwa unter anderen auch in die Hände solcher, die über Philosophie mitzusprechen sich berechtigt halten: so könnte diesen bei einiger Erwägung hier ein Licht aufgehen, welch einen verkehrten Begriff sie sich bisher von der Wissenschaftslehre gemacht, und durch welche ungeheure Irrtümer sie selbst dem philosophierenden Verstand auf den rechten Weg haben helfen wollen. Das werden sie freilich nicht einsehen, daß man, um zu philosophieren, sich zu einem wirklich freien und schöpferischen Denken erheben muß; keineswegs befangen bleiben darf in der Anschauung irgendeines durch das Ungefähr in uns gebildeten Denkens; welch Letzteres allein sie bisher vermocht, und dadurch alle ihre Ungereimtheiten zustande gebracht haben. Und so werden sie denn, was allein man ihnen zumuten könnte, niemals aufhören, sich in eine Sphäre zu drängen, zu denen sich ihnen ihr Vermögen versagt.



§ 1.

Die Wissenschaftslehre, fallen lassend alles besondere und bestimmte Wissen, geht aus vom Wissen schlechthin, in seiner Einheit, das ihr als seiend erscheint; und gibt sich zuerst einmal die Frage auf: wie dasselbe zu sein vermag und was es darum in seinem inneren und einfachen Wesen ist.

Es kann sich ihr Folgendes nicht verbergen. Nur  eines  ist schlechthin durch sich selbst: Gott, und Gott ist nicht der tote Begriff, den wir soeben aussprachen, sondern er ist in sich selbst lauter Leben. Auch kann dieser nicht in sich selbst sich verändern und bestimmen, und zu einem anderen Sein machen; denn durch sein Sein ist alles sein Sein und alles mögliche Sein gegeben, und es kann weder in ihm, noch außer ihm ein neues Sein entstehen.

Soll nun das Wissen dennoch sein, und nicht Gott selbst sein, so kann es, da nichts ist als Gott, doch nur Gott selbst sein, aber außer ihm selber; Gottes Sein außer seinem Sein; seine Äußerung, in der er ganz ist, wie er ist, und doch in ihm selbst auch ganz bleibt, wie er ist. Aber eine solche Äußerung ist ein Bild oder ein Schema.

Ist ein solches Schema, - wie denn dies nur durch das unmittelbare Sein desselben klar werden kann, da es nur unmittelbar ist, - so ist dasselbe schlechthin dadurch, daß Gott ist, und es kann, so gewiß er ist, nicht nichtsein. Keineswegs aber ist es zu denken als eine Wirkung Gottes, durch einen besonderen Akt desselben, wodurch sich derselbe in sich selbst verwandeln würde; sondern es ist als eine unmittelbare Folge seines Seins zu denken. Es ist, der Form seines Seins nach, schlechthin, so wie er selbst schlechthin ist, und dabei ist er es nicht selbst, sondern sein Schema.

Wiederum kann außer Gott schlechthin nichts sein, als dieses; kein inneres auf sich beruhendes Sein, denn das ist er allein; nur sein Schema kann sein außer ihm, und ein Sein außer ihm heißt eben sein Schema, und beide Ausdrücke dagen dasselbe.


§ 2.

Indem nun ferner der Wissenschaftslehre nicht entgehen kann, daß dennoch das wirkliche Wissen keineswegs als Eins, wie sie dasselbe gedacht hat, sondern als ein Mannigfaltiges erscheint, so entsteht ihr die zweite Aufgabe, den Grund dieser erscheindenden Mannigfaltigkeit anzugeben. Es versteht sich, daß sie diesen Grund nicht wo anders her entlehnen, sondern das ihr wohlbekannte Wesen des Wissens als solchen darlegen muß; daß daher die Aufgabe, bei ihrer anscheinenden Zweifachheit, dennoch die Eine und selbige bleibt, die: das innere Wesen des Wissens darzustellen.


§ 3.

Nämlich dieses Sein schlechthin außer Gott kann keineswegs ein in sich gebundenes, fertiges und totes System sein, wie auch Gott kein solches totes Sein ist, vielmehr Leben; sondern es muß ein bloßes reines Vermögen sein, indem gerade ein Vermögen das formale Schema des Lebens ist. Und zwar kann es sein das Vermögen zur Verwirklichung nur dessen, was in ihm liegt, eines Schemas. Da dieses Vermögen ein bestimmtes Sein ausdrückt, das Schema des göttlichen Lebens, so ist es freilich bestimmt, aber nur auf die Weise, wie ein absolutes Vermögen bestimmt sein kann, durch Gesetze, und zwar durch bedingte Gesetze. Soll das und das wirklich werden, so muß unter dieser Bedingung das Vermögen so und so wirken.


§ 4.

Zuerst also: zu einem wirklichen Sein außer Gott kommt es nur durch die Sich-Vollziehung des absoluten Vermögens; dieses aber kann sich nur in Schemen vollziehen, die durch ein zusammengesetztes Verfahren mit ihnen zu einem wirklichen Wissen werden. Was daher außer Gott da ist, ist da nur durch das absolut freie Vermögen, als Wissen dieses Vermögens, und in seinem Wissen; und ein anderes Sein außer dem wirklich in Gott verborgenen Sein ist schlechthin unmöglich.


§ 5.

Sodann, was die Bestimmung dieses Vermögens durch Gesetze betrifft; es ist dasselbe bestimmt zuerst durch sich selbst, als Vermögen eines wirklichen Wissens. Zu einem wirklichen Wissen aber gehört, daß durch das Vermögen schlechthin irgendein Schema vollzogen wird; sodann, daß durch dasselbe  eine  Vermögen in demselben  einen  Zustand dieses Schema als Schema, ein Schema überhaupt aber als unselbständig, und zu seinem Dasein eines Seins außer sich bedürftig, erkannt wird. Der unmittelbare und konkrete Ausdruck dieser Erkenntnis, die im wirklichen Wissen keineswegs zu Bewußtsein kommt, sondern die bloß durch die Wissenschaftslehre zum Bewußtsein erhoben wird, ist nun das wirkliche Wissen selbst in seiner Form; und zufolge der letzteren Erkenntnis wird, mit gänzlicher Übergeheung des Schema, ein objektiv und unabhängig vom Wissen sein sollendes, hinausgesetzt. Da in diesem Wissen vom Objekt sogar das Schema verdeckt wird, so bleibt umsomehr das Vermögen, als das Erschaffende desselben, verdeckt und ungesehen. Dies ist das Grundgesetz der Form des Wissens. So gewiß sich daher das Vermögen zu seinem solchen sich entwickelt, entwickelt es sich, wie wir beschrieben, nicht bloß schematisierend, sondern auch schematisierend das Schema als solches, und es erkennend in seinem unselbständigen Wesen; nicht daß es unbedingt müßte, sondern daß es nur durch diese Weise des Verfahrens zu einem Wissen kommt.

Es bleibt diesem zufolge in einem wirklichen Wissen manches unsichtbar, das dann doch wirklich als Äußerung dieses Vermögens  ist.  Sollte nun etwa dieses, und sollte etwa alle Äußerung des Vermögens, in das Wissen eingeführt werden, so könnte das Letztere geschehen, nur in einem anderen Wissen, als im ersterwähnten; und das gesamte Wissen würde durch den Widerstreit des Gesetzes der Form der Sichtbarkeit, mit dem, daß es sich in seiner Ganzheit sieht, notwendig in verschiedene Stücke zerfallen.


§ 6.

Ferner ist innerhalb dieses seines formalen Seins das Vermögen bestimmt durch ein unbedingtes Soll. Es soll sich sehen als Schema des göttlichen Lebens, was es ursprünglich ist, und durch welches Sein allein es Dasein hat: somit ist dies seine absolute Bestimmung, durch die es selbst als Vermögen vollendet erschöpft ist. - Es soll sich sehen als Schema des göttlichen Lebens; nun aber ist es ursprünglich nichts mehr als ein Vermögen, wiewohl ganz sicher dieses bestimmte Vermögen des Schemas von Gott; sollte es sich nun als solches Schema sehen in der Wirklichkeit, so müßte es sich selbst durch die Vollziehung des Vermögens wirklich dazu machen.


§ 7.

Das sich Sehen als sollendes und könnendes Vermögen, und die wirkliche Vollziehung dieses Vermögens, falls auch die letztere gesehen werden soll, fallen auseinander, und die faktische Möglichkeit des letzteren ist durch die geschehene Vollziehung des ersteren bedingt.

Es soll sich ja sehen als göttliches Schema nicht durch sein bloßes ihm gegebenes Sein, wie es auch kein solches gegebenes Sein ist, sondern durch die Vollziehung des Vermögens. So muß ihm, daß es ein solches Vermögen sei, und woran es in der Vollziehung desselben sich erkennt, schon vorher bekannt sein, damit es hierauf seinen Blick richten, und nach jenen Kennzeichen die Vollziehung beurteilen kann.

Oder sehe man es so an: durch die Vollziehung des Vermögens wird ihm ein Schema entstehen, und ein Bewußtsein desjenigen, was im Schema liegt, und mehr durchaus nicht (§ 5). Der über den unmittelbaren Inhalt des Schemas hinaugehende formale Beisatz, daß es das Schema Gottes sei, liegt darin nicht, und könnte nur zufolge eines an der unmittelbaren Vollziehung wahrgenommenen Kennzeichens darauf übertragen werden. Dieses Kennzeichen aber ist gerade das, daß sich das Vermögen mit absoluter Freiheit, zufolge des erkannten allgemeinen Soll, vollzieht.


§ 8.

Soll es sich sehen, als sollend, so muß es vor diesem bestimmten Ersehen seiner als Prinzip schon überhaupt sehen; und da es nur durch seine Sich-Entwicklung sieht, muß es sich entwickeln, ohne sich als Prinzip in dieser Entwicklung unmittelbar sehen zu können. Das ausgesprochene Muß liegt in der Absicht, daß das Soll ihm sichtbar wird; man kann es darum ein Sollen des Soll nennen, nämlich ein Soll seiner Sichtbarkeit: mithin liegt dieses Soll in der ursprünglichen Bestimmung des Vermögens durch sein Sein aus Gott. Da, wenn es sich überhaupt nicht als Prinzip sieht, es sich in demselben  einen  Zustand nicht zugleich als solches sehen kann, so ist klar, daß diese beiden Weisen des Wissens auseinanderfallen. Wir nennen das Wissen durch das unmittelbar unsichtbare Prinzip  Anschauung. 


§ 9.

Da in der Anschauung weder das Vermögen schlechthin als solches, noch auch das göttliche Leben, schematisiert wird, indem die Anschauung erst die faktische Möglichkeit eines solchen Schematisierens herbeiführt, so ist klar, daß von derselben nichts übrig bleibt, als die bloße Gestalt des Vermögens in seiner Gegebenheit. Es ist (§ 5) ein Vermögen des Hinschauens, und zwar ohne die Richtung auf das  eine  göttliche Leben, die auf diesem Standpunkt verborgen bleibt, ein  unbestimmtes  und durchaus ungebundenes, jedoch absolutes Vermögen, also ein unendliches. Es schematisiert sich darum als hinschauend ein Unendliches in einem Blick (den Raum);  sich  schematisiert es also, demnach in derselben ungeteilten Anschauung sich zusammennehmend und zusammenziehend auf ein in der ersten Unendlichkeit Begrenztes, in sich selber gleichfalls unendlich Teilbares, einen verdichteten unendliche Raum, in einem anderen einfachen unendlichen Raum, oder Materie; - auch hier als ein unendliches Vermögen, sich zusammenzuziehen, und so eine unbegrenzte materielle Welt im Raum: welches alles nun zufolge des angeführten Grundgesetzes des Wissens (§ 5) ihm als ein wirklich und ansich daseiendes Sein erscheinen muß.

Ferner, es ist eben durch sein bloßes formales Sein Vermögen, absolut anfangendes Prinzip. Um sich als solches zu schematisieren für die Anschauung, muß es, seiner Wirksamkeit voraus, ein mögliches Wirken erblicken, das es, - so nämlich müßte es ihm erscheinen, - vollziehen könnte, oder auch nicht. Dieses mögliche Wirken kann es nicht erblicken an einem absoluten Soll, das in diesem Standpunkt unsichtbar ist: also nur an einer gleich blind schematisierten Kausalität, die doch nicht unmittelbar Kausalität ist, die aber schlechthin durch die erscheinende Vollziehung des Vermögens es zu werden erscheint. Eine solche Kausalität aber ist ein  Trieb.  Es müßte sich getrieben fühlen zu diesem oder jenem Wirken; ohne daß jedoch die Wirksamkeit dadurch  unmittelbar  gegeben ist, indem eine solche Unmittelbarkeit ihm die Erscheinung seiner Freiheit, auf die es ja hier ankommt, verdecken würde.

Diese durch den Trieb geforderte Wirksamkeit kann nur eine Wirksamkeit auf die Körperwelt sein. Der Trieb zur Wirksamkeit wird daher angeschaut in einer unmittelbaren Beziehung auf die Körper; diese werden demzufolge in dieser unmittelbaren Beziehung gefühlt, und erhalten, durch diese Beziehung, ihre innere, mehr als raumfüllende  Qualität;  und es wird durch diese Bemerkung die oben unvollendet gebliebene Bestimmung der Körper vollendet.

Sollte zufolge dieses Triebes, und der Erscheinung der Selbstbestimmung, das Vermögen sich als in der Tat wirkend erblicken, so würde es in dem Erblicken dieser Wirksamkeit mit der Körperwelt in dieselbige  eine  Form der Anschauung zusammenfallen: es würde darum in dieser mit der Körperwelt vermittelnden Anschauung sich selsbt als einen Körper erblicken; in seiner doppelten Beziehung derselben auf seinen Trieb zu fühlen, teils als Organ, um seine Wirksamkeit darauf anzuschauen.

In dieser Wirksamkeit ist es sich nun gegeben als das Eine und selbige Vermögen in der  Selbstbestimmung aber durch kein  Wirken  zu erschöpfen, und so Vermögen bleibend ins Unendliche. Es entsteht ihm in dieser Anschauung seines  einen  unendlichen Vermögens eine Unendlichkeit, nicht wie die ersterwähnte, in  einem  Blick, sondern eine solche, in der es sein unendliches Wirken anschauen kann; eine unendliche Reihe aufeinanderfolgender Glieder: die Zeit. Da ins Unendliche fort diese Wirksamkeit nur auf die Körperwelt gehen kann, so wird in der Einheit der Anschauung auch auf diese die Zeit übertragen, ungeachtet dessen, daß diese Welt ihren eigentümlichen Unendlichkeitsausdruck schon hat an der unendlichen Teilbarkeit des Raumes und aller seiner Teile.

Es ist klar, daß der Zustand, da das Vermögen sich lediglich der Anschauung der Körperwelt hingibt, und in derselben aufgeht, mit demjenigen, da es auf seinen Treibe auf die schon erkannte zu wirken aufmerkt, auseinanderfällt; daß jedoch auch in diesem letzten Zustand ein Schema der vorhandenen seinsollenden Dinge bleibt, damit der Trieb auf sie bezogen werden kann: und dies bilden den Zusammenhang zwischen diesen beiden auseinanderfallenden Zuständen der Anschauung.

Dieses ganze Gebiet der Anschauung ist, wie gesagt, Ausdruck und Schema des bloßen Vermögens. Da das Vermögen, ohne Schema des göttlichen Lebens, nichts ist, hier aber dasselbe in dieser seiner Nichtigkeit schematisiert wird, so ist dieses ganze Gebiet nichts, und nur in seiner Beziehung auf das wirkliche Sein, indem dessen faktische Möglichkeit dadurch bedingt ist, erhält es seine Bedeutung.


§ 10.

Es liegt im Vermögen ferner die Bestimmung, sich zu erheben zum Ersehen des Soll, dessen faktische Vollziehung nun, nachdem das gesamte Gebiet der Anschauung da ist, unmittelbar und schlechthin möglich ist. Wie aber und auf welche Weise wird diese Erhebung geschehen? Was in der Anschauung festhält, und die eigentliche Wurzel derselbe ist, ist der Trieb; diesem zufolge hängt das Vermögen am Anschauen, und bleibt in demselben gefangen. Die Bedingung und der eigentliche Akt des nun vollziehbaren Vermögens wäre daher das Sichlosreißen vom Trieb, die Vernichtung desselben, als unsichtbaren und blinden Triebes des Schematisierens; und so würde, da das Prinzip wegfällt, auch die Folge, das Gehaltensein in der Anschauung, wegfallen. Das Wissen stände nun da, als Eins, so wie die Wissenschaftslehre bei ihrem Beginnen es erblickt; es würde in dieser seiner Wesens-Einheit eingesehen als unselbständig und bedürftig eines Trägers, des Einen, das da ist schlechthin durch sich. - Ein Wissen in dieser Form ist kein Anschauen mehr, sondern ein Denken, und zwar das reine, oder das Intelligieren.


§ 11.

Ehe wir dies weiter verfolgen, müssen wir von diesem Mittelpunkt aus der erst dargelegten Sphäre der Anschauung eine ihr noch ermangelnde Bestimmung hinzufügen. - Lediglich durch den blinden Trieb, der der einzig möglichen Richtung des Soll ermangelt, wird das Vermögen in der Anschauung zu einem unbestimmten; wo es als absolut schematisiert wird, unendlichen, wo es als bestimmtes, wie als Prinzip, gegeben wird, wenigstens zu einem mannigfaltigen. Von diesem Trieb reißt sich nun durch den eben angegebenen Akt des Intelligierens das Vermögen los, um sich auf Eins zu richten. So gewiß es nun zur Hervorbringung dieser Einheit, und zwar zuerst innerlich und unmittelbar im Vermögen selbst, weil nur unter dieser Bedingung sie auch äußerlich im Schema erblickt werden konnte, eines besonderen Aktes bedurfte, so gewiß war in der Sphäre der Anschauung das Vermögen nicht als Eins angeschaut, sondern als ein Mannigfaltiges, dieses Vermögen, das nun durch die Selbstanschauung zum Ich geworden ist, war in dieser Sphäre nicht  ein  Ich, sondern es zerfiel notwendig in eine Welt von Ichen.

Dies zwar nicht in der Form der Anschauung selbst. Das ursprünglich schematisierende und das dieses Schema unmittelbar und in der Tat seines Werdens als Schema erkennend Prinzip sind notwendig numerisch Eins, nicht zwei; und so ist dann auch auf dem Gebiet der Anschauung das unmittelbar sein Anschauen Anschauende nur ein einziges, in sich verschlossenes, gesondertes, in dieser Hinsicht jedem anderen zugängliches: das Individuum eines jedweden, deren aus diesem Grund jedweder nur Eins haben kann. Wohl aber muß diese Trennung der Ich einfallen in derjenigen Form, in welcher allein auch die Einheit hervorgebracht wird, in der  des  Denkens: daß daher das beschriebene Individuum, so einzeln es auch in der unmittelbaren Selbstanschauung bleibt, wenn es sich im Denken auffaßt, in diesem Denken sich finden würde als ein Einzelnes, in einer Welt ihm gleicher Individuen; welche letztere, da es dieselben nicht als freie Prinzipien, so wie sich selbst, unmittelbar anschauen könnte, es als solche nur durch einen Schluß aus ihrer Wirkungsweise auf die Sinnenwelt erkennen könnte.

Aus dieser weiteren Bestimmung der Sphäre der Anschauung, daß in ihr das durch sein Sein aus Gott einige Prinzip in mehrere zerfällt, folgt noch eine andere. Dieses Zerfallen selbst im  einen  Denken, und die dabei dennoch stattfinden müssende gegenseitige Anerkennung wäre nicht möglich, wenn nicht das Objekt der Anschauung und des Wirkens aller  eine  und die selbige, ihnen  allen  gleiche Welt wäre. Die Anschauung einer Sinnenwelt war nur dazu da, daß an dieser Welt das Ich, als absolut sollends, sich sichtbar machen würde. Dazu bedarf es nicht mehr, als daß eben die Anschauung einer solchen Welt nur schlechthin ist;  wie  sie ist, darauf kommt durchaus nichts an, indem zu jedem Zweck jede Gestalt derselben gut ist. Aber, das Ich soll sich noch überdies als  eines  in einer gegebenen Vielheit von Ichen erkennen, und dazu gehört, außer den schon angegebenen allgemeinen Bestimmungen der Sinnenwelt, auch noch diese, daß sie für jedes anschauende Individuum dieselbe ist. Derselbe Raum, und dieselbe Erfüllung desselben für alle; ungeachtet dessen daß es der individuellen Freiheit überlassen bleibt, diese gemeinsame Erfüllung in einer eigentümlichen Zeitfolge aufzufassen. Dieselbe Zeit und ihre Ausfüllung durch sinnliche Begebenheiten für alle; obwohl es jedem in seinem eigenen Denken und Wirken freisteht, sie auf seine eigene Weise auszufüllen. Das Soll der Sichtbarkeit des Soll (§ 8), wie es aus Gott ausgeht, ist ja an das  eine  Prinzip gestellt, wie denn aus Gott nur  ein  Prinzip ausgeht; und so ist es denn, zufolge der Einheit des Vermögens, jedem Individuum schlechthin möglich, zu schematisieren, - und es muß jedes, unter der Bedingung, daß es auf dem Weg der Erblickung des Soll befindlich sei, schematisieren - seine Sinnenwelt nach dem Gesetz jener ursprünglichen Übereinstimmung. Ich könnte sagen: es kann schlechthin und es muß, unter der angegebenen Bedingung, die  wahre  Sinnenwelt konstruieren, diese nämlich hat, außer den oben abgeleiteten allgemeinen und formalen Gesetzen gar keine andere Wahrheit und Realität, als diese allgemein Übereinstimmbarkeit.


§ 12.

Kehren wir nun zum reinen Denken oder Intelligieren (§ 10.) zurück. - Das Wissen ist durch dasselbe eingesehen, als sein könnend allein Schema des göttlichen Lebens. In diesem Denken habe ich das Wissen nicht unmittelbar, sondern nur in einem Schema; noch weniger unmittelbar das göttliche Leben, sondern dieses nur in einem Schema des Schema, in einem doppelt ertöteten Begriff. Besinne ich mich, - und ein solches Vermögen unmittelbar mich zu besinnen muß, um des sogleich anzugebenden Grundes willen, im allgemeinen Vermögen liegen - besinne ich mich, daß  ich  das soeben Gesagte einsehe, daß ich es daher einsehen  kann,  daß, da laut der zustande gebrachten Einsicht das Wissen Ausdruck Gottes ist, auch dieses Vermögen selbst sein Ausdruck ist, daß das Vermögen da ist, um vollzogen zu werden, daß ich demnach, zufolge meines Seins aus Gott, es einsehen  soll.  Nur auf dem Weg dieser Besinnung komme ich zur Einsicht, daß ich schlechthin soll; aber ich soll zu dieser Einsicht kommen; es muß daher, wie erwiesen werden sollte, ein absolute Vermögen dieser Besinung, gleichfalls zufolge meines Seins aus Gott, im allgemeinen Vermögen liegen. Diese gesamte jetzt beschriebene Sphäre offenbart sich demnach als ein Soll des Ersehens: daß  ich,  das in der Sphäre der Anschauung schon ersehene Prinzip, daß  ich  soll. In ihr ist das durch die bloße Besinnung unmittelbar als Prinzip sichtbar zu machende Ich Prinzip des Schemas, wie sich dies an der hervorgebrachten Einsicht vom Wissen in seiner Einheit, und vom göttlichen Leben, als dem Träger desselben zeit, wo ich, nach unmittelbarer Besinnung, hinzusetzen vermag: ich denke das, ich bringe diese Einsicht hervor. Dieses Wissen durch das unmittelbar als Prinzip sichtbare Prinzip heißt, wie gesagt, reines Denken, zum Unterschied von dem durch das unmittelbar unsichtbare Prinzip, dem Anschauen.

Beide, das reine Denken und das Anschauen, fallen also auseinander, daß das letztere durch das erstere bis in sein Prinzip aufgehoben und vernichtet wird. Ihr Zusammenhang aber wird dadurch gebildet, daß das letztere die faktische Möglichkeit des ersten bedingt; auch daß das im letzteren erschienene Ich in seinem bloßen Schema (denn in seiner Wirklichkeit ist es zugleich mit dem Trieb vernichtet) auch im ersteren bleibt, und darauf sich besonnen wird.


§ 13.

In diesem beschriebenen Denken denke ich bloß das Wissen, als Schema des göttlichen Lebens sein  könnend,  und da dieses Können der Ausdruck Gottes ist, der auf das Sein geht, als dasselbe sein  sollend;  keineswegs aber  bin  ich es. Es wirklich zu sein, kann keine Gewalt mich nötigen; wie denn auch früher keine mich nötigen konnte, auch nur die Anschauung der wahren sinnlichen Welt zu vollziehen, oder zum reinen Denken, und dadurch zur wirklichen, aber leeren Einsicht des absolut-formalen Soll, mich zu erheben. Dies steht in meinem  Vermögen;  aber nun, da alle faktischen Bedingungen schon vollzogen sind, steht es auch unmittelbar in meinem Vermögen.

Wenn ich nun, von einer Seite fallen lassend das nichtige Anschauen, von der anderen das leere Intelligieren, mit absoluter Freiheit und Unabhängigkeit davon, mein Vermögen vollziehe, was wird erfolgen? Ein Schema; ein Wissen demnach, das durch das Intelligieren ich schon kenne, als das Schema Gottes, das aber im jetzt vollzogenen Wissen unmittelbar mir erscheint als das, was ich schlechthin soll. Ein Wissen, dessen Inhalt weder hervorgeht aus der Sinnenwelt, denn diese ist vernichtet, noch aus der Betrachtung der leeren Form des Wissens, denn auch diese habe ich fallen lassen; sondern das da ist durch sich selbst, schlechthin, wie es ist, sowie das göttliche Leben, dessen Schema es ist, schlechthin durch sich selbst, wie es ist.

Ich weiß nun, was ich soll. Aber alles wirkliche Wissen führt durch sein formales Wesen seinen schematischen Beisatz mit sich; obwohl ich also nun weiß vom Schema Gottes, so bin ich dennoch nocht nicht unmittelbar dieses Schema, sondern ich bin nur Schema des Schema. Das geforderte Sein ist noch immer nicht vollzogen.

Ich  soll sein? Wer ist dieser Ich? Offenbar der seiende, der in der Anschauung gegebene Ich, das Individuum. Dieser soll sein.

Was bedeutet sein Sein? Als  Prinzip  in der Sinnenwelt ist er gegeben. Der blinde Treibe ist zwar vernichtet, und stattdessen steht nun da das hell ersehene Soll. Aber die Kraft, die erst den Trieb in Bewegung setzte, bleibt, daß nun das Soll sie in Bewegung setzt, und ihr höheres bestimmendes Prinzip wird. Durch diese Kraft soll ich daher darstellen in der Sphäre dieser Kraft, der Sinnenwelt, und in ihr anschaubar machen, was ich als mein wahres Wesen anschaue in der übersinnlichen Welt.

Die Kraft ist gegeben als ein Unendliches; was daher in der  einen  Welt des Gedankes schlechthin Eins ist, das was ich soll, - wird in der Welt der Anschauung für meine Kraft eine unendliche Aufgabe, an der ich zu lösen habe in alle Ewigkeit.

Nur in der Anschauung kann diese Unendlichkeit, die eigentlich eine Unbestimmtheit ist, stattfinden, keineswegs in meinem wahren einfachen Sein, das, als Schema Gottes, so einfach und so unwandelbar ist, wie er selbst. Wie kann, innerhalb der doch fortdauernden, und durch das absolute Soll, als gerichtet an mich Individuum, ausdrücklich geheiligten Unendlichkeit, diese Einfachheit hervorgebracht werden?

Wenn im Ablauf der Zeit in jedem neueintretenden Momente das Ich durch den Begriff dessen, was es soll, sich in einem besonderen Akt bestimmen müßte, so wäre es in seiner ursprünglichen Einheit allerdings unbestimmt, und lediglich in der unendlichen Zeit immerfort bestimmbar. Es könnte aber ein solcher bestimmender Akt in der Zeit möglich werden nur im Gegensatz mit einem Widerstand. Dieses Widerstehende aber, und durch den Akt der Bestimmung zu Bezwingende, könnte nichts anderes sein, denn der sinnliche Trieb; es wäre darum die Notwendigkeit einer solcen fortzusetzenden Selbstbestimmung in der Zeit der sichere Beweis, daß der Trieb nicht durchaus ertötet worden wie wir das doch bei der Erhebung zum Leben in Gott vorausgesetzt haben.

Durch die wirkliche und gänzliche Ertötung des Triebes ist jene unendliche Bestimmbarkeit selbst vernichtet, und in eine einzige absolute Bestimmung aufgenommen. Diese Bestimmung ist der absolut einfache Wille, der das ebenso einfache Soll zum treibenden Prinzip der Kraft erhebt. Laßt diese Kraft nun ablaufen ins Unendliche, wie sie muß; der Wandel ist nur in ihren Produkten, keineswegs in ihr selbst, sie ist einfach, und ihre Richtung ist  eine,  und diese ist mit einem Mal vollendet.

Und so ist denn der  Wille  derjenige Punkt, in welchem Intelligieren und Anschauen oder Realität sich innig durchdringen. Er ist ein reales Prinzip, denn er ist absolut, und unwiderstehlich bestimmend die Kraft, haltend aber und tragend sich selbst; er ist ein intelligierendes Prinzip, er durchschaut sich, und er schaut das Soll an. In ihm ist das Vermögen vollständig erschöpft, und das Schema des göttlichen Lebens zur Wirklichkeit erhoben.

Das unendliche Wirken der Kraft selbst ist nicht um seiner selbst willen, und als Zweck; sondern es ist nur, um das Sein des Willens in der Anschauung zu dokumentieren.


§ 14.

So endet denn die Wissenschaftslehre, welche in ihrem Inhalt die Vollziehung des soeben ausgemessenen absoluten Vermögens zu intelligieren ist, mit der Erkenntnis ihrer selbst, als eines bloßen Schema, jedoch als eines notwendigen und unentbehrlichen Mittels, in eine  Weisheitslehre,  das ist in den Rat, nach der in ihr erlangten Erkenntnis, durch welche ein sich selbst klarer und auf sich selbst ohne Verwirrung und Wanken ruhender Wille allein möglich ist, sich wieder hinzugeben dem wirklichen Leben; nicht dem in seiner Nichtigkeit dargestellten Leben des blinden und unverständigen Triebes, sondern dem an uns sichtbar werden sollenden göttlichen Leben.
LITERATUR - Johann Gottlieb Fichte, Die Wissenschaftslehre in ihren allgemeinen Grundzügen dargestellt, Sämtliche Werke, Johann Hermann Fichte (Hg), Bd. 1, Berlin 1845