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Der Wirklichkeitsgedanke [11/13]
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XII. [Fortsetzung] Ich bezeichne den Vorgang, durch den wir einem reproduzierten Komplex den Wert vergangener bzw. zukünftiger psychischer Wirklichkeit beilegen als Erinnerung bzw. (1) Nur der erstere soll hier genauer behandelt werden, da für die Theorie der Erwartung im ganzen dieselben Gesichtspunkte gelten. - Es wird von niemandem, der unseres bisherigen Erörterungen billigt, bestritten werden, daß auch die Erinnerung eine Assoziation des fraglichen Inhalts mit anderen Inhalten ist. Dieses Assoziation kann nun in doppelter Weise erfolgen. Entweder wird der betreffende Inhalt zu einem solchen in Beziehung gesetzt, dessen zeitlich bestimmte objektive Wirklichkeit wir als gegeben voraussetzen oder zu anderen Inhalten, die selbst nur als subjektiv wirklich gelten. Im ersteren Fall reproduzieren wir die Vorstellung einer als wirklich anerkannten Situation, den eigenen Körper als Glied derselben, im zweiten gelangen wir am Faden des psychischen Geschehens weiter, im günstigsten Fall bis zur Gegenwart. Erinnerungen der ersten Art will ich als gemischt, solche der zweiten als rein bezeichnen und den Anteil jeder von ihnen an den fraglichen Vorgängen zu bestimmen suchen. Es unterliegt keinem Zweifel, daß die Erinnerung an Wahrnehmungen fast immer gemischt ist. Wenn ich an eine Alpenreise, den Besuch einer Theatervorstellung, an die Beobachtung eines auf der Straße sich abspielenden Ereignisses denke, geschicht das so, daß ich zunächst der betreffenden Situation objektive Wirklichkeit beilege. Nun aber fragt es sich, was denn hinzukommen muß, daßmit ich diese objektive Wirklichkeit gleichzeitig als mein (ehemaliges) subjektives Erleben auffasse. Es wurde schon vorher angedeutet, daß das dadurch ermöglicht wird, daß ich den eigenen Körper als objektiven Bestandteil der Situation anerkenne. Allein dieses genügt noch nicht; ich kann mir beispielsweise als wirklich denken, daß gestern abend im Theater die Piccolomini gegeben wurden, daß ich im Zuschauerraum anwesend war, aber - schlafend, so ist die objektive Wirklichkeitsbewertung, so wie wir es verlangt haben, vorhanden, ein subjektiver W-Vorgang liegt aber nicht vor. Es muß also noch ein weiteres dazukommen und wir werden dieses finden, wenn wir den eben angenommenen Sachverhalt mit denjenigen vergleichen, bei welchem ich mich erinnere, die Theatervorstellung wahrgenommen zu haben. Der Unterschied ist offenbar folgender: im letzteren Falle assoziiere ich meinen Körper (K) mit der Situation (A) deswegen, weil beide Inhalte früher gleichzeitig vorhanden gewesen sind, weil ich die Aufführung sah, während ich meinen Körper spürte, im ersteren Fall liegt dieser Grund nicht vor. Wer die Aufführung verschlafen hat, kann zwar nachträglich aufgrund von fremden Mitteilungen und von Schlüssen die Situation rekonstruieren und für objektiv wirklich halten, aber die Assoziation geschieht nicht deswegen, weil die zu verbindenden Inhalte schon einmal im Bewußtsein zusammengewesen sind. Wir müssen nun weiter annehmen, daß, falls Assoziationen dem letztgenannten Grund ihre Entstehung verdanken, wir uns diese ihres Ursprungs unmittelbar bewußt sein. Erscheinungen, die aus verschiedenen Ursachen hervorgehen, sind wohl nicht völlig identisch und so muß auch in der momentan vorhandenen Assoziation ihr Ursprung irgendewie zur Geltund kommen, es muß einen Unterschied für die Qualität des Vorganges ausmachen, ob derselbe durch frühere Kontiguität [Angrenzung - wp] der zu verbindenden Elemente, oder durch Kontiguität von ihnen ähnlichen oder durch Eingreifen des Willens usw. veranlaßt ist. Damit führen wir einen neuen Unterschied zwischen Assoziationstätigkeiten ein, der, wie sich immer deutlicher herausstellen wird, für die Erklärung subjektiver W-Vorgänge von entscheidender Bedeutung ist - Wir können jetzt die Antwort auf die gestellte Frage geben; sie lautet: einen Inhalt für frühere Wahrnehmung halten heißt, ihn durch Gleichartigkeitsassoziation mit einer für objektiv wirklich geltenden Situation, der auch der eigene Körper angehört, verknüpfen, falls diese Assoziation mit dem Bewußtsein auftritt, früher Kontiguität ihre Entstehung verdanken. Doch ist es wahrscheinlich, daß der Wirklichkeitsgedanke in unserem Falle noch ein weiteres Moment enthält; dasselbe, was der vorhandenen Wahrnehmung den Charakter der subjektiven Wirklichkeit aufdrückt, nämlich das Bewußtsein, daß es nur vom Willen abhängt, die Wahrnehmung zur gedankenhaften Vorstellung zu machen, dürfte auch hier auftreten. Zwar ist hier ein direkter Vergleich zwischen Wahrnehmung und Vorstellung nicht möglich, da nach Voraussetzung nur reproduzierte Inhalte vorhanden sind, jedoch dürfen wir auch hier, wie schon so oft, die Annahme machen, daß Beziehungen, die zwischen Inhalten einmal eingeübt sind, auch da erhalten bleiben, wo die Wirklichkeitsfarben nicht in Einklang mit diesen Beziehungen stehen. So gut ich während einer Theateraufführung den Gedanken haben kann, vom Willen hängt es ab, die Wirklichkeitsfarbe des Wahrgenommenen zu ändern, so gut ist dieser Gedanke auch möglich, wenn die Aufführung nicht in der momentanen Wahrnehmung, sondern in der Erinnerung vorhanden ist. Die Kategorie der Ungleichartigkeit ist so wenig wie die der Gleichartigkeit an die gerade vorhandenen Wirklichkeitsfarben gebunden. Wir fragen endlich, wie die Bewertung eines Komplexes als vergangene Vorstellung zustande kommt. Die Erfahrung zeigt, daß auch hier die Erinnerung zumindest in vielen Fällen gemischt ist. Ich werde im allgemeinen nicht imstande sein, festzustellen, daß ich mich früher einmal einer Reise oder einer Oper erinnert habe, wenn ich nicht mehr die Situation (Gespräch mit einem Bekannten, Vorbereitung für eine neue Reise usw.) feststellen kann, in der diese Erinnerung erfolgte. Der Faden des von der objektiven Wirklichkeit losgelösten psychischen Geschehens ist im allgemeinen nicht fest genug, um einen Inhalt mit der anerkannten Wirklichkeit zu verknüpfen. Wir wollen also annehmen, daß wir auch in diesem Fall zunächst die Situation, in der wir, d. h. unser Körper, sich zur fraglichen Zeit befand, reproduzieren und als objektiv wirklich bewerten. Der fragliche Inhalt gilt hier jedoch nicht als Glied der Situation, im Gegenteil, er ist von ihrer Wirklichkeit ausgeschlossen, er wird also mit ihr nach der Kategorie der Ungleichartigkeit assoziiert. Ferner ist notwendig, daß auch hier die Assoziation mit dem Bewußtsein auftritt, auf früherer Kontiguität zu beruhen, sonst wäre der fragliche Inhalt nicht als der Situation zugehörige Wirklichkeit bewertet, er könnte ebensogut ein durch die Erinnerung erzeugter momentaner Einfall sein. Es ist ein großer Unterschied, ob man sich erinnert, beim gestrigen Spaziergang an ein dem Charakter der Landschaft entsprechendes Gedicht gedacht zu haben oder ob man erst bei der Erinnerung an den Spaziergang an dieses Gedicht denkt. In beiden Fällen findet eine Assoziation zwischen Gedicht und dem objektiv bewerteten Spaziergang statt, aber nur im ersteren halte ich es für vergangene psychische Wirklichkeit. Der Unterschied wäre unerklärlich, wenn die auf ehemaliger Gleichzeitigkeit beruhende Assoziation nicht eine besondere Qualität hätte. Wenn man einem früher erlebten Komplex bei späterer Reproduktion neue Elemente aufgrund von Ähnlichkeitsverhältnisse hinzufügt, z. B. das Gedicht dem Spaziergang, so hat man eben das Bewußtsein des Hinzufügens, wovon sich das Bewußt sein des Hinzufügens, wovon sich wesentlich das Bewußtsein unterscheidet, das zu zusammen zu fügen, was schon einmal zusammen war. - Ich glaube, daß die genannten Momente den hauptsächlichen Sinn des Wirklichkeitsgedankes in unserem Fall wiedergeben. Hinzutreten können jedoch noch die Reproduktionen von Empfindungen, die, wie wier gesehen haben, für die Bewertung eines Inhaltes als "meiner" momentanen Vorstellung von Bedeutung sind, wodurch dann der subjektive Akzent, der auf dem Inhalt liegt, noch verstärkt wird. Wer sich erinnert, am vergangenen Abend wissenschaftlich gearbeitet zu haben, wird leicht Anstrengungs- und Ermüdungsempfindungen, wer sich erinner, eine spannende Erzählung gelesen zu haben, Spannungsempfindungen,das Gefühl der sogannten Gänsehaut und dgl. reproduzieren. Durch diese Bezugnahme auf den eigenen Körper wird, wie gesagt, das subjektive Moment noch stärker hervorgehoben. Wir müssen uns jetzt die Frage vorlegen, ob die Bewertung eines Inhaltes als frühere Vorstellung auch durch reine Erinnerung möglich ist. Der Vorgang kann dann nur der sein, daß der Inhalt mit demjenigen, der tatsächlich unmittelbar auf ihn folgte, der jedoch keine objektive Bewertung zu erfahren braucht, assoziiert wird und daß das Bewußtsein vorhanden ist, daß diese Assoziation aufgrund der Kontiguität erfolgt. Man könnte freilich geneigt sein, im Wirklichkeitsgedanken, wofern er auf reiner Erinnerung beruth, noch ein weiteres zu erblicken, nämlich dieses, daß vom fraglichen Inhalt bis zur Gegenwart eine Kette von reproduzierten Inhalten führt, deren sämtliche Glieder, so wie eben angegeben, untereinander verbunden sind. Und in der Tat schwebt uns, wenn wir von vergangener psychischer Wirklichkeit reden, die Möglichkeit, eine derartige Brücke zu schlagen, als Ideal vor. Dennoch zeigt uns, wie wir später sehen werden, die Erfahrung, daß Erinnerungen auf diesem Wege nur in seltenen Fällen zustande kommen. Indem wir von ihnen absehen, fragen wir uns, ob und wie denn sonst reine Erinnerungen zustande kommen können. Man wird vielleicht glauben, daß schon die Assoziation beliebig weniger im Grenzfall zweier Glieder, wofern sie mit dem Bewußtsein früherer Kontiguität erfolgt, eine reine Erinnerung bildet, da sie ja genügt, die frühere subjektive Wirklichkeit des Verbundenen unabhängig von seiner Beziehung zur Gegenwart zu garantieren. Allein in der Tat bildet ein derartiger Vorgang weniger eine eigentliche Erinnerung, als vielmehr einen Ansporn, eine solche zu versuchen und darf daher nicht den echten W-Vorgängen zugezählt werden. Wenn ich z. B. eine wohlbekannte Melodie reproduziere, so weiß ich sehr wohl, daß ich sie in diesem Augenblick nicht komponiere. Die Leichtigkeit und Selbstverständlichkeit, mit der sich die Töne aneinander schließen, zeigt mir vielmehr, daß ich sei deswegen aneinander füge, weil sie früher einmal oder öfter zusammen waren. Ich ziehe also den Schluß, daß ich ein früheres Erlebnis reproduziere. Oder ich füge einem deutschen Wort seine lateinische Bezeichnung bei, die ich natürlich noch weniger ersinnen kann als die Melodie, so weiß ich, daß ich früher einmal die Vokabel gelernt habe und ähnlich in anderen Fällen. Jedoch kann man nicht behaupten, daß das Wissen der Melodie bzw. der Vokabel als solches schon ein W-Vorgang sei. Dieser verlangt vielmehr außerdem die Reproduktion der Situation, d. h. eines objektiv bewerteten Komplexes, der mit dem fraglichen Inhalt in geeigneter Art verbunden ist. Erst wenn ich in einem Fall an das Konzert denke, in welchem ich die Melodie kennen gelernt habe, an Saal, Sänger, Nachbarn, u. a., im andern Fall an die Schulstube, Lehrer, Mitschüler, liegt eine echte Erinnerung vor. Nur hat jedoch andererseits der Gedanke, daß ich die Melodie bzw. die Vokabel einmal kennen gelernt habe, auch dann noch unzweifelhaft einen Sinn, wenn die Reproduktion der Situation unmöglich ist. Doch glaube ich nicht, daß dieser Sinn in einer besonderen gegenseitigen Assoziation der Elemente des subjektiv zu bewertenden Komplexes liegt, er liegt vielmehr im Bewußtsein, daß es eine objektive Situation gäbe oder gegeben habe, in welcher der fragliche Inhalt sich zugetragen hat. Hier begegnet uns wohl wieder das Operieren mit leeren Inhalten, von dem wir oben gesprochen haben. Auch ohne die Situation zu kennen, setze ich sei, d. h. die Situation, zu anderen Inhalten in bestimmte Beziehungen, einmal, insofern ich sie für objektiv wirklich halte, andererseits, indem ich sie als gleichzeitig mit dem fraglichen Inhalt setze. Die angeführten Fälle einer, ich möchte sagen unvollständigen Erinnerung können also nicht als reine Erinnerung angesehen werden, im Gegenteil, sie scheinen gerade darauf hinzuweisen, daß zur Erinnerung die Reproduktioin einer Situation erforderlich ist. Noch gibt es andere Fälle der Erinnerung, für die man geglaubt hat, die Unerheblichkeit der Assoziation zwischen dem subjektiven Erleben und der Situation nachweisen zu können. Wenn ich z. B. während eines Spazierganges ein Gespräch führe, so bin ich nachträglich häufig imstande, sowohl die Gedanken des Gespräches als auch die Wahrnehmungen des Spaziergangs jede für sich in richtiger Reihenfolge zu reproduzieren, dagegen nicht imstande anzugeben, an welchen Stellen des Weges die einzelnen Phasen des Gespräches stattfanden - also ist, könnte man schließen, eine Assoziation zwischen den Gedanken eines Gespräches und der Situation nicht vorhanden, was nicht verhindert, daß ich mich des Gespräches erinnere. Allein, daß beide Gruppen von Inhalten in gegenseitiger Isolierung bleiben, wird man nicht behaupten wollen, sonst wäre nicht einmal das Wissen, daß das Gespräch auf dem Spaziergang stattgefunden hat, möglich. Es kann hier also immer nur die größere oder geringere Festigkeit der Assoziation in Frage stehen. Nun ist dieselbe unter den vorausgesetzten Verhältnissen freilich zu gering, um die Reproduktion der Vorstellungen der einen Gruppe durch die gleichzeitigen der anderen Gruppe zu ermöglichen, damit ist aber nicht ausgeschlossen, daß sie genügt, den Gesprächsvorstellungen einen besonderen Wirklichkeitscharakter zu geben. Wir müssen hier unterscheiden zwischen der Frage, wie die Richtigkeit der Reproduktioin und wie die Wirklichkeitsbewertung des Reproduzierten zustande kommt. Nur zwischen Vorstellungen derselben Gruppe ist die Assoziationi hinreichend fest, um die Reproduktion in richtiger Reihenfolge zu ermöglichen. Trotzdem kann außerdem auch zwischen Vorstellungen der beiden Gruppen eine assoziative Beziehung vorhanden sein, die ohne ein Wissen der hier herrschenden zeitlichen Verhältnisse zu ermöglichen, dennoch den Wirklichkeitswert der einen (gedanklichen) Gruppe bedingen kann. Auch gehört zur Situation nicht nur die umgebende Landschaft, sondern auch der Freund mit den Veränderungen, die er während des Gespräches durchmacht, sowie der eigene Körper einschließlich der Spontaneitätsempfindungen, kurz alles, was im Laufe des Gespräches wahrgenommen wird. Schließlich wird wohl jede Vorstellung des Gespräches doch mit einem Teil der so aufgefaßten Situation assoziativ verbunden sein. Sollte es aber vielleicht durch Verletzung der zentralen Nervensubstanz möglich sein, alle Vorstellungen über die Situation zum Verschwinden zu bringen, so würde das Gespräch auch im günstigsten Fall keine andere Wirklichkeitsbewertung mehr erfahren, als im obigen Beispiel das frühere Anhören des Liedes, bzw. das frühere Lernen der Vokabel (in unbekannter Situation). Auch dieses Beispiel kann also nicht als Beweis für das Auftreten reiner Erinnerung angesehen werden. Zweifelhafter ist die Sache in folgendem Fall. Wenn ich in stiller Nacht, während keine äußeren Sinneseindrücke auf mich wirken, etwa an eine zweistellige Zahl denke, so vermag ich nach einer gewissen Zeit diese Vorstellung zu reproduzieren und zwar hat diese Reproduktion sehr deutlich den Charakter der Erinnerung. Hier scheint es fast, als ob keinerlei Reproduktion von Situationsempfindungen im Spiel wäre, als würde die zweite Vorstellung unmittelbar als Nachhall der ersten erkannt. "Die Fähigkeit der Unterscheidung eines Gedächtnisbildes", sagt CORNELIUS in diesem Sinne (2), "welches dem im vorhergegangenen Augenblick wahrgenommenen Bewußtseinsinhalt entspricht, von jedem anderen Phantasma ist daher als eine ebenso urprüngliche zu betrachten, wie etwa die Fähigkeit der Unterscheidung verschiedener (gleichzeitig vorhandener, Anm. G.W.) Sinnesinhalte." Nun ist es zwar sehr schwer zu sagen und wird vielleicht nie mit voller Sicherheit festgestellt werden, worauf im angegebenen Fall die Bewertung der Vorstellung als vergangener Wirklichkeit beruth, wie ich es anfange, sie in dieser Hinsicht zu unterscheiden von der Vorstellung einer anderen, neuen Zahl, doch ist es mir sehr wahrscheinlich, daß auch in diesem Fall die Assoziation an die allerletzte Vergangenheit auf Organempfindungen (außerdem Druck des Bettes u. a.) beschränken könnte, notwendig ist. Einen Beweise hierfür erblicke ich in folgender Tatsache: wenn ich mich im Laufe des nächsten Tages daran erinner, in der vergangenen Nacht gerade an die bestimmte Zahl gedacht zu haben, so ist dieses nur möglich aufgrund einer Reproduktion der Situation. Wollte ich versuchen, unter völliger Außerachtlassung der objektiven Verhältnisse, in denen sich mein Körper befand, durch Rückwärtsverfolgung des psychischen Geschehens oder auch durch unmittelbares, intuitives Erfassen der Vergangenheit, zur betreffenden Zahl zu gelangen, ich würde ins Leere greifen, statt eines Lichtpunktes bloße Dunkelheit vor mir sehen. Der Gedanke, an jene Zahl gedacht zu haben, kommt mir nicht, wenn nicht in der Begleitung des anderen Gedankens: als ich in der vergangenen Nacht in meinem Bett lag. Wer dies aber zugibt - und ich sehe nicht, wie man es leugnen will, wird auch geneigt sein zuzugeben, was wir oben behauptet haben. Es ist nämlich nicht gerade wahrscheinlich, daß die Erinnerung, wenn sie einen Zeitraum von zwei Minuten überspannt, ein ganz anderer Vorgang sein sollte, als wenn sie zwanzig Stunden überspannt. Selbst den Fall möchte ich nicht als Ausnahme gelten lassen, in dem die Vorstellung von ihrem Auftreten ab bis zur Erinnerung an dasselbe unverändert im Bewußtsein beharrt. Die Vorstellung für sich allein genommen enthält gar keinen Hinweis auf eine abgelaufende Zeit. Soll ich mich also daran erinnern, daß das was ist, vor einer gewissen Zeit war, so muß das Bewußtsein der unterdessen abgelaufenen Zeit von irgendwo andersher kommen. Dieses andere kann aber gar nichts anderes sein, als die Wahrnehmung der Situation (das Wort im weitesten Sinne genommen), sei es die Empfindung von Pulsschlägen, von Lagenveränderungen des Körpers oder von ähnlichem. Kurz, auch dieser Fall scheint sich dem für die Erklärung gemischter Erinnerungen aufgestellten Schema einzufügen. Als Ergebnis der vorangegangenen Erörterungen glaube ich die Behauptung aufstellen zu dürfen, daß reine Erinnerungen, wenn überhaupt, nur in seltenen Fällen, vielleich aber niemals auftreten. Trotzdem läßt sich nicht leugnen, daß uns eine Rekonstruktion der psychischen Wirklichkeit, wie sie der reinen Erinnerung entspricht, d. h. ohne Anlehnung an den Körper und seine objektiven Schicksale als Ideal vorschwebt. Wir sind geneigt diese Wirklichkeit als eine Kette von Vorstellungen, Wahrnehmungen, Gefühlen und Willensakten zu denken, die von jeder Stelle ohne Unterbrechung bis zur Gegenwart hinführt. Wir glauben so das Psychische unabhängig von Objektiven als eine Wirklichkeit, die nur in sich ruht, erfassen zu können. Selbst darin finden wir keine besondere Schwierigkeit, die Fortsetzung der Kette durch Kontiguität verbundenen Inhalte über die Zerstörung des Körpers hinaus wenigstens als möglich zu denken. Alles dieses tun wir jedoch nur auf dem Wege einer uns freilich sehr geläufig gewordenen Abstraktion, die übrigen - beiläufig erwähnt - einem PAULUS noch nicht möglich war. Wenn wir hingegen in konkreten Fällen einen Inhalt als unser früheres Erlebnis anerkennen wollen, bedürfen wir stets der Anlehnung desselben an objektiv Wirliches. Die Kontinuität des Bewußtseins, die wir gern als Bürgschaft unserer persönlichen Existenz ansehen, können wir in der Tat nicht nachweisen. Selbst wenn man von der Schwäche der Erinnerung absieht, bleiben doch die Pausen bestehen, die der Schlaf im psychischen Leben eintreten läßt. An jedem Morgen beginnt der Faden des Bewußtseins von neuem, während sich der objektiv wirkliche Körper einer kontinuierlichen Existenz erfreut und jenem Faden gleichsam den Anknüpfungspunkt darbietet. Würden die psychisch bewerteten Inhalte nach der Unterbrechung von neuem anfangen, ohne daß sie den Wahrnehmungen des Körpers oder der gewohnten Umgebung assoziiert wären, so würde vom stolzen Persönlichkeitsbewußtsein wahrscheinlich blutwenig übrig bleiben. Unsere Person ist, soweit wir sie empirisch erkennen, weit eher der Körper als ein gleichsam über den Wassern schwebendes Selbstbewußtsein. Doch wir wollen nicht Gedanken nachgehen, die uns von unserer psychologischen Aufgabe wegzulocken drohen. Wir fassen zunächst das in diesem Abschnitt Ausgeführte kurz zusammen. Die subjektiven W-Vorgänge zeigen eine größere Mannigfaltigkeit als die objektiven und lassen sich nicht auf ein einziges Schema restlos zurückführen. Folgende Momente sind ihnen charakteristisch:
2. Die Assoziation geschieht mit dem Bewußtsein aufgrund von Gleichzeitigkeit ausgeführt zu werden. 3. In die entstehenden Komplexe gehen Willens- und Gefühlsvorstellungen mit ein, sowie objektiv bewertete Vorstellungen, besonders die des eigenen Körpers. Auch direkte Motive kommen bisweilen zur Geltung. Der Umstand, daß die Elemente eines sinnlich gegebenen Objektes sich mi besonderer Leichtigkeit und Sicherheit aneinanderschließen, gilt uns als Hinweis, daß dieses Objekt schon früher wahrgenomen wurde. Aufmerksam gemacht werden wir auf die Leichtigkeit der Assoziation durch ein angenehmes Gefühl, das sich an dieselbe knüpft. Noch folgendes kann hinzutreten: es werde, während ich einen Teil des Objektes, etwa den vom Anfang an mir zugekehrten betrachte, die Vorstellung von anderen Teilen reproduziert und die Reproduktion in den nächsten Momenten durch die Wahrnehmung bestätigt. Es ist klar, daß dadurch die Annahme einer früheren Bekanntschaft wesentlich an Wahrscheinlichkeit gewinnt. In manchen Fällen spielt sich dieser Vorfall gewiß so rasch ab, daß seine einzelnen Phasen nicht beobachtet werden können, in anderen wird die Richtigkeit einer Vermutung über das Bekanntsein eines Objektes in der angegebenen Weise mit voller Überlegung vorgenommen. Treten hingegen noch dunkle Vorstellungen von anderen, objektiv bewerteten Inhalten, etwa von der früheren Umgebung des Objektes hinzu und werden sie mit diesem unter dem Bewußtsein der früheren Gleichzeitigkeit assoziiert, so haben wir es nicht mehr eigentlich mit einem Motiv zum W-Vorgang, sondern schon mit diesem selbst zu tun. Der hier kurz besprochene Vorgang wird als Wiedererkennen bezeichnet und ist häufig Gegenstand psychologischer Untersuchung gewesen. Ich erblicke dem Gesagten zufolge sein Wesen in 3 Punkte:
2. Bestätigung von Reproduktionen durch nachfolgene Wahrnehmung, 3. Reproduktion und und Assoziation von Vorstellungen der früheren Situation (das Wort wieder im weitesten Sinne genommen) des Objekts. Gegen unserer Auffassung könnte man vielleich im Sinne von gewissen Theorien CORNELIUS' einwenden, daß die Auffassung eines sinnlich gegebenen Objektes im ganzen stattfindet, daß also von einer Assoziation der Teile, sowie von einer Reproduktion von noch nicht wahrgenommenen Teilen, wie wir sie annehmen, keine Rede sein könne; hierauf erwidere ich jedoch, daß sich die Auffassung des Objektes doch so abgespielt, wie wir angenommmen haben. Selbst einen kelinen Gegenstand kann ich nicht in allen Teilen zugleich sehen, ich muß ihn von verschiedenen Seiten betrachten, um eine Gesamtvorstellung zu erhalten. Noch mehr ist das der Fall bei größeren Objekten und bei solchen, die Falten, Taschen, Behälter usw. haben. Hier treten, während ich mich bemühe, über frühere Bekanntschaft ins klare zu kommen, sicher Reproduktionen von noch nicht wahrngenommenen Teilen auf. Erwähnt sei noch, daß das Wiedererkennen sich nicht auf Wahrnehmungsobjekte beschränkt. Ebensogut bezieht es sich auf Gedankengänge. Gedichte, überhaupt poetische Erzeugnisse und vieles andere. Einer neuen Erklärung bedürfen diese Fälle jedoch nicht, da sie genau in derselben Weise aufzufassen sind wie der oben besprochene Fall.
1) Im gewöhnlichen Leben wird der Ausdruck "Erwartung" auch im Sinne der Bewertung eines Komplexes als künftiger objektiver Wirklichkeit gebraucht. So sagt man: in Europa erwartet man einen baldigen Sieg der Russen über die Japaner. Im Sinne unserer Sprachweise darf jedoch nur gesagt werden, daß man die Nachricht eines Sieges erwartet. 2) HANS CORNELIUS, Habilitationsschrift, Seite 88 |