p-4A. RiehlK. LewinHönigswaldE. BoutrouxC. Prantl    
 
KURT LEWIN
Der Übergang von der
aristotelischen zur galileischen Denkweise

(in Biologie und Psychologie)
[3/4]

Man hat die Feststellung des "Allgemein-Menschlichen" dadurch erreicht, daß man diejenigen Vorgänge im Kinde aufgesucht hat, die im täglichen Leben möglichst häufig bei allen Kindern vorkommen.

a) ARISTOTELISCHE BEGRIFFSBILDUNG

Gegenüber der aristotelischen Begriffsbildung, wie ich sie kurz zu charakterisieren versucht habe, zeigt sich nun auch in der Psychologie und Biologie eine Entwicklung, die mitunter in radikalen oder scheinradikalen Ansätzen, in der Regel in kleinen halben Schritten, bisweilen in die Irre gehend (und zwar vor allem dann, wenn der Versuch gemacht wurde, möglichst genau "nach dem Vorbild der Physik" zu verfahren) aber im ganzen, wie mir scheint, doch deutlich und unaufhaltsam genug auf Veränderungen hindrängt, die letzten Endes nichts weniger bedeuten als den Übergang von der aristotelischen zur galileischen Begriffsbildung.

1. Keine "Wertbegriffe". Keine "Zweischnitte". Homogenisierung des Gebietes.
Die wichtigsten allgemeinen Sachverhalte, die für die Anbahnung der galileischen Begriffsbildung in der Physik kennzeichnend waren, lassen sich auch in der Psychologie klar und deutlich aufzeigen.

Die Überwindung der "wertartigen", "anthropomorphen", nicht aus der Natur der psychischen Prozesse selbst stammenden Gruppierung der Phänomene ist noch keineswegs vollendet, aber auf manchen Gebieten, insbesondere auf dem der Sinnespsychologie, wenigstens in den Hauptzügen durchgeführt.

Ebenso wie in der Physik tritt an die Stelle der Gruppierung des Gegenstandsmaterials mit Hilfe von Gegensatzpaaren und ähnlichen logischen "Zweischnitten" - zum Teil einfach infolge der zunehmenden Breite der Erfahrung und der Einsicht, daß sich schließlich allemal Übergänge finden - eine Gruppierung mit Hilfe von "Reihenbegriffen", die eine kontinuierliche Abwandlung gestatten. Am weitesten durchgeführt ist diese Begriffsbildung, wie erwähnt, innerhalb der Sinnespsychologie. Aber auch auf anderen Gebieten zeigen sich die Ansätze dieser Wandlung.

In der Trieb-, Affekt- und Charakterlehre hat vor allem die Lehre FREUDs - das ist vielleicht ihr Hauptverdienst - die Grenzen zwischen normal und pathologisch, zwischen Alltag und Außergewöhnlichem beseitigt, und damit eine Homogenisierung des Gesamtgebietes der Objekte der Psychologie angebahnt, die, wennschon sie sicherlich noch nicht durchgeführt ist, ihrem Ausmaß nach jener Homogenisierung der "himmlischen" und "irdischen" Vorgänge durchaus an die Seite gestellt werden kann, die die neue Physik einleitet.

Auch in der Kinderpsychologie und in der Tierpsychologie wird allmählich jene Alternative überwunden, die entweder im Kinde einen kleinen Erwachsenen, im Tier einen unentwickelten, minderwertigen Menschen sah oder aber einen unüberbrückbaren Wesensunterschied zwischen Kind und Erwachsenem, zwischen Tier und Mensch zu stabilisieren versucht. Immer deutlicher zeigt sich auf allen Gebieten jene Homogenisierung, die nicht rein abstraktiv, simplifizierend, "philosophisch" irgendwelche durchgehenden Gleichheiten behauptet, sondern die auch die Unterschiede voll bestehen läßt.

2. Unbedingte Allgemeingültigkeit der psychologischen Gesetze
Der wichtigste Ausdruck dieser Wandlung ist (neben dem Übergang von Klassen- zu Reihenbegriffen) der Umstand, daß die Gültigkeit der einzelnen psychischen Gesetze nun nicht mehr auf einzelne Gebiete (etwa auf die Normalpsychologie) beschränkt bleibt. Es ist nicht mehr angängig, in pathologischen Fällen oder beim Genie im Grunde Beliebiges zu erwarten oder anzunehmen, daß dort jedenfalls "nicht die gleichen Gesetze gelten" wie beim Normalen. Vielmehr soll jedes psychologische Gesetz wirklich ausnahmslos gelten.

Inhaltlich bedeutet dieser Übergang zum Begriff der strengen ausnahmslosen Gesetzlichkeit zunächst eine endgültige und allumfassende Homogenisierung und Harmonisierung des Gesamtgebietes; jene Homogenisierung, die der galileischen Physik das berauschende Lebensgefühl unendlicher Weite gegeben hat, weil sie nicht wie die abstraktiven Klassenbegriffe die Verschiedenheiten, die den Reichtum der Welt ausmachen, nivelliert, und weil man mit der Erkenntnis eines Gesetzes nun zugleich immer auch das Gesamtgebiet umspannt.

Gerade in der jüngsten Zeit haben sich auch in der Psychologie Ansätze zu einer derartigen auf der ausnahmslosen Gültigkeit der Gesetze beruhenden Homogenisierung gezeigt, die eine außerordentlich weite Perspektive ergeben.

Vor allem hat die Untersuchung der Gestaltgesetze - und zwar gerade die experimentelle Untersuchung der Ganzheiten - gezeigt, daß sich die gleichen Gesetze nicht nur innerhalb der verschiedenen Gebiete der psychologischen Optik, sondern auch in der Akustik, überhaupt im Gesamtgebiet der Sinnespsychologie nachweisen lassen. Schon damit hat sich eine ungeahnte Homogenisierung angebahnt. Darüber hinaus haben sich sehr enge gesetzliche Verwandschaften etwa zwischen den Prozessen an optischen Kippfiguren und dem Vorgang der intellektuellen Einsicht ergeben. Wichtige und in sich wiederum gleichartige Gesetze hat die experimentelle Untersuchung der Handlungsganzheiten, der Willensprozesse und der psychischen Bedürfnisse ergeben. Auf dem Gebiete des Gedächtnisses, des Ausdrucks, der psychischen Entwicklung scheint sich Analoges anzubahnen. Kurz die These von der "Allgemeingültigkeit" der psychologischen Gesetze hat gerade in der jüngsten Zeit eine solche Konkretisierung erfahren, gewisse begriffliche Ansätze scheinen eine solche Kraft fruchtbarer Anwendung in qualitativ zunächst durchaus getrennten Bezirken des Seelischen zu zeigen, daß die These von der Homogenität alles Psychischen (in bezug auf die Gesetze) ungeahntes Leben gewinnt und die Schranken früher getrennter Gebiete niederreißt.

3. Steigerung des Anspruchsniveaus
Auch methodisch ist die These von der ausnahmslosen Gültigkeit der psychischen Gesetze von weittragender Bedeutung. Sie führt zu einem außerordentlichen Steigen des Anspruchsniveaus an den Beweis. Es ist nicht mehr möglich, "Ausnahmen" leicht zu nehmen. Sie "bestätigen" keineswegs mehr die "Regel", sondern sind als vollgültige Gegenbeweise anzusehen und zwar auch dann, wenn sie selten vorkommen, ja wenn nur eine einzige Ausnahme nachweisbar ist. Die These von der Allgemeingültigkeit erfordert eine Berücksichtigung aller derartigen Ausnahmen im ganzen Bereich des Psychischen, also beim Kind wie beim Erwachsenen, in der normalen wie in der pathologischen Psychologie.

Andererseits schafft erst die These von der ausnahmslosen Gültigkeit der psychischen Gesetze die Möglichkeit, auch solche Prozesse in die Forschung, insbesondere in die experimentelle Untersuchung einzubeziehen, die eine ausgeprägte Individualität zeigen, die sich (wie etwa bestimmte Affektverläufe) auch bei demselben Individuum nicht in gleicher Weise wiederholen lassen oder jedenfalls nicht häufig in gleicher Weise wiederkehren.

4. Vom Durchschnitt zum "reinen" Fall
Die klare Einsicht in diesen Sachverhalt ist gegenwärtig allerdings noch keineswegs Allgemeingut der Psychologie.

In der Tat scheint von der vorhergehenden aristotelischen Einstellung her gesehen das neue Verfahren jenen tiefen Widerspruch in sich zu bergen, den wir oben erwähnt haben: Man gibt an, die konkrete volle Wirklichkeit in höherem Grade erfassen zu wollen, als es mit der aristotelischen Begriffsbildung möglich ist und betrachtet doch diese Wirklichkeit in ihrem einmaligen geschichtlichen Ablauf und den sich dabei ergebenden geographischen Konstellationen im Grunde als "zufällig". Das "Allgemeingültige", z.B. der Bewegung auf der schiefen Ebene, wird nicht so festgestellt, daß man von möglichst viel tatsächlich vorkommenden Fällen, in denen Steine herabrollen, den Durchschnitt nimmt und dann diesen Durchschnitt als das am wahrscheinlichsten anzutreffende Geschehen anerkennt. Vielmehr wird auf das "reibungslose" Herabrollen einer "idealen" Kugel auf einer "absolut geraden" und harten "Ebene" zurückgegriffen, also auf einen Vorgang, der selbst im Laboratorium nur annähernd zu realisieren und im täglichen Leben außerordentlich unwahrscheinlich ist. Man gibt an, Allgemeingültigkeit, Konkretheit und Empirie anzustreben und benutzt dazu eine Methode, die sich, wenn man sie mit den Augen der vorangehenden Epoche betrachtet, über die geschichtlich gegebenen Fakten hinwegsetzt und sich auf individuelle Zufälligkeiten, ja auf ausgesprochen seltene "Ausnahmen" stützt.

Von der aristotelischen Haltung der gegenwärtigen Psychologie aus gesehen mutet dieses Vorgehen doppelt paradox an. Wird doch z.B. von manchen Forschern etwa bei der Aufstellung gewisser Tests mit besonderer Betonung hervorgehoben: Man habe die Feststellung des "Allgemein-Menschlichen" dadurch erreicht, daß man diejenigen Vorgänge im Kinde aufgesucht hat, die im täglichen Leben möglichst häufig bei allen Kindern vorkommen.

Wie die Physik zu ihrem Vorgehen kommt, beginnt verständlich zu werden, wenn man sich die Konsequenzen vergegenwärtigt, die die Wandlung der Vorstellungen von der Ausbreitung der Gesetzlichkeit in methodologischer Hinsicht haben mußten. Ist die Gesetzlichkeit nicht mehr auf jene Fälle beschränkt, die regelmäßig oder häufig vorkommen, sondern ist sie eine Eigentümlichkeit jedes physikalischen Geschehens, so entfällt die Notwendigkeit, die Gesetzlichkeit eines Geschehens auf Grund eines besonderen Kriteriums (nämlich dem der Häufigkeit des Vorkommens) jeweils nachzuweisen. Auch ein "Einzelfall" also ist dann ohne weiteres als gesetzlich aufzufassen. Historische Seltenheit ist kein Gegenargument, historische Regelmäßigkeit kein Beweis für Gesetzlichkeit, weil der Begriff der Gesetzlichkeit streng von dem der Regelmäßigkeit, der Begriff der Ausnahmslosigkeit des Gesetzes streng von dem Begriff der historischen Konstanz (des "Immer") getrennt wird.

Auch die Feststellung des Inhalts der Gesetze kann dann nicht mehr auf dem Wege einer Durchschnittsberechnung aus den historisch vorkommenden Fällen gewonnen werden. Für ARISTOTELES sprach sich in dem, was den historisch vorkommenden Fällen gemeinsam ist, das Wesen der Sache aus. Die galileische Begriffsbildung dagegen, die geschichtliche Häufigkeit als "Zufall" betrachtet, muß es auch als ein Produkt des Zufalls ansehen, zu welchen Eigentümlichkeiten man bei einer Durchschnittsbildung aus den historischen Fällen gelangt. Soll das konkrete Geschehen begrifflich erfaßt werden und die These der ausnahmslosen Gesetzlichkeit nicht nur als philosophische Maxime gelten, sondern für die tatsächliche Forschung maßgebend sein, so muß es eine andere Möglichkeit geben, in die Natur eines Geschehens einzudringen, einen anderen Weg als den, alle individuellen Eigenheiten des Einzelfalls fortzulassen. Die Lösung dieser Frage ergibt sich erst bei der positiven Aufklärung des paradoxen Vorgehens der galileischen Methodik durch eine Betrachtung der Probleme der Dynamik.


B. Die Behandlung der dynamischen Probleme
a) WANDLUNG DER DYNAMISCHEN BEGRIFFE DER PHYSIK

Der aristotelischen Begriffsbildung in der Physik waren die dynamischen Probleme im Grunde fremd. Schon daß für die Galileische Physik dynamische Probleme überhaupt eine so große Bedeutung gewinnen, läßt sich als ein charakteristischer Zug dieser Denkweise auffassen.

Immerhin handelt es sich auch hier nicht nur um eine äußere Verschiebung des Interesses, sondern auch um eine inhaltliche Wandlung der Theorien. Auch ARISTOTELES betont ja seinen Vorgängern gegenüber gerade das "Werden". Es ist also vielleicht richtiger zu sagen, daß in der aristotelischen Begriffsbildung Statik und Dynamik noch undifferenziiert sind.

1. Teleologie und physikalischer Vektor
Ein Hauptcharakteristikum der aristotelischen Dynamik ist der Umstand, daß das Geschehen mit Hilfe von Begriffen erklärt wird, die wir heute als spezifisch "biologisch" oder psychologisch empfinden: Jeder Gegenstand strebe, sofern er nicht durch andere Gegenstände daran gehindert wird, zu seiner Vollendung, zur Realisierung seines eigentlichen Wesens. Dieses Wesen ist, das hatten wir oben gesehen, für ARISTOTELES das, was der "Klasse" dieser Gegenstände gemeinsam ist. So kommt es, daß für ihn die Klasse zugleich Begriff und Ziel (telos) eines Gegenstandes ist.

In dieser teleologischen Theorie des physikalischen Geschehens kommt nicht nur zum Ausdruck, daß Biologie und Physik noch nicht getrennt sind. Sie zeigt, daß auch die Dynamik der aristotelischen Physik in wesentlichen Punkten an die animistische und artifizielle Denkart der Primitiven erinnert, die jede Bewegung als Leben auffaßt und die das künstliche "Herstellen" zum Grundtyp des Werdens macht. Denn für hergestellte Dinge ist ja in der Tat in irgendeinem Sinne der Begriff, den der Hersteller von dem Gegenstand hat, zugleich Ursache und Ziel des Geschehens.

Für die aristotelische Begriffsbildung hat also ganz generell die Ursache eines physikalischen Geschehens eine enge Verwandtschaft mit psychologischen "Trieben": Der Gegenstand strebt auf ein bestimmtes Ziel zu; soweit es sich um Bewegungen handelt, tendiert er zu jenem Ort, der dem Gegenstand wesensmäßig zukommt. So strebt das Schwere nach unten, und zwar um so stärker, je schwerer es ist, das Leichte aber nach oben.

Man pflegt diese aristotelische Begriffsbildung in der Physik dadurch abzutun, daß man sie als "anthropomorph" bezeichnet. Aber es ist vielleicht richtiger, zumal wenn wir daran denken, daß in der Psychologie und Biologie die gleichen dynamischen Grundvorstellungen auch gegenwärtig durchaus herrschend sind, den Versuch zu machen, möglichst unabhängig von dem "Stil" der Darstellung den eigentlichen Gehalt der aristotelischen Thesen herauszustellen.

Den wesentlichsten inhaltlichen Unterschied zwischen der "teleologischen" Erklärung und der "Kausalerklärung" pflegt man darin zu sehen, daß die Teleologie eine Zielgerichtetheit des Geschehens annimmt, die die Kausalerklärung nicht kennt. Eine derartige Auffassung ist aber unzulässig. Denn auch die Kausalerklärung der modernen Physik benutzt gerichtete Größen, also mathematisch ausgedrückt: Vektoren. Die physikalische "Kraft", die als "Ursache einer physikalischen Veränderung" definiert wird, wird als gerichteter, vektorieller Faktor betrachtet. In der Benutzung vektorieller Fakten als Grundlage der Dynamik besteht also zwischen der modernen und der aristotelischen Auffassung kein Unterschied.

Der entscheidende Unterschied liegt vielmehr darin, daß Art und Richtung des physikalischen Vektors in der aristotelischen Dynamik durch die Natur des in Frage kommenden Gegenstandes bereits vollkommen definiert ist. In der modernen Physik dagegen beruht das Auftreten physikalischer Vektoren allemal auf einem Zueinander mehrerer physikalischer Fakten, insbesondere auf einer Beziehung des Gegenstandes zur Umgebung.

2. Die Bedeutung der Gesamtsituation in der aristotelischen und galileischen Dynamik
Für die aristotelische Begriffsbildung spielt die Umgebung nur insofern eine Rolle, als sie "Störungen", "zwanghafte" Veränderungen jener Geschehnisse berbeiführen kann, die aus der Natur des betreffenden Gegenstandes an sich folgen. Die Vektoren, die das Verhalten eines Gegenstandes leiten, sind durch diesen Gegenstand vollkommen bestimmt. Das heißt sie beruhen nicht auf der Beziehung dieses Gegenstandes zur Umgebung und sie kommen daher diesem Gegenstand unabhängig von seiner momentanen Umgebung ein für allemal fest zu: Dem Leichten wohnt eben an sich die Tendenz nach oben, dem Schweren an sich die Tendenz, nach unten inne. In der modernen Physik dagegen wird nicht nur die Tendenz nach "oben", die ein leichter Körper mitunter zeigt, auf das Verhältnis dieses Körpers zur Umgebung zurückgeführt, sondern auch die "Schwere" der Körper beruht auf einer solchen Relation.

Dieser, wie mir scheint, entscheidende Umschwung kommt in den klassischen Untersuchungen GALILEIs über das Fallgesetz deutlich genug zum Ausdruck. Schon, daß nicht der schwere Körper an sich, sondern der Vorgang des "freien Falles oder der Bewegung auf der schiefen Ebene" untersucht wird, bedeutet die Benutzung von Begriffen, die überhaupt nur durch die Bezugnahme auf bestimmt geartete Situationen definiert werden können (nämlich durch das Vorhandensein einer schiefen Ebene von bestimmter Steilheit oder einer hindernislosen Erstrecktheit eines Fallraumes in der Vertikalen). Der Gedanke, die für die Beobachtung ungünstige, zu rasche Fallbewegung durch den Übergang zur langsameren Bewegung auf der schiefen Ebene zu untersuchen, hat zur Voraussetzung, daß man die Dynamik des Geschehens nicht mehr dem isolierten Gegenstand als solchem zuordnet, sondern primär als abhängig von der jeweils vorliegenden Gesamtsituation ansieht.

In der Tat enthält das Vorgehen GALILEIs eine eingehende Untersuchung gerade der Situationsfaktoren. Die Neigung der schielen Ebene, also das Verhältnis von Höhe und Länge, wird bestimmt. Der Umkreis der in Frage kommenden Situationen (freier Fall, Bewegung auf der schiefen Ebene, Bewegung in der Horizontalen) wird aufgesucht und (durch "Variation des Neigungswinkels") begrifflich geordnet. Die Abhängigkeit der wesentlichen Momente des Geschehens (etwa der Geschwindigkeit) von den wesentlichen Eigentümlichkeiten der Situation (etwa dem Neigungswinkel der Ebene) tritt begrifflich und methodologisch in den Mittelpunkt.

Diese Auffassung über die Dynamik bedeutet nicht, daß die Natur des Gegenstandes nun bedeutungslos wird. Eigenart und Gestalt des jeweiligen Gegenstandes bleiben auch für die Galileische Theorie der Dynamik wichtig. Nur tritt neben den Gegenstand durchaus gleichwertig die Situation, in der er sich befindet. Erst durch die konkrete, Gegenstand und Umgebung umfassende Gesamtsituation sind die Vektoren bestimmt, die die Dynamik jeweils beherrschen.

In Durchführung dieser Auffassung versucht die galileische Begriffsbildung die Eigenart der jeweiligen Gesamtsituation in möglichster Konkretheit und Strenge zu charakterisieren. Gerade in diesem Punkte liegt eine prinzipielle Umkehr gegenüber der aristotelischen Denkweise vor. Die Abhängigkeit eines Geschehens von der jeweiligen Situation bedeutet für die aristotelische Begriffsbildung notwendig ein Störungsmoment. Die wechselnden Situationen erscheinen für sie, die das "Allgemeine" dadurch ermitteln will, daß sie das Gleiche an den verschiedenen Fällen heraussucht, als etwas Zufälliges, als etwas, das das Wesen des Gegenstandes trübt. Für sie galt es also, die "Einflüsse der Situation" möglichst auszuschalten, von der Situation zu abstrahieren, wenn man das Wesen des Gegenstandes und die ihm zugehörige Zielrichtung erkennen wollte.

3. Überwindung des Historismus
Die faktische Ermittlung derartiger "situationsunabhängiger" Vektoren setzt nun in der Tat voraus, daß die betreffenden Vorgänge mit einer gewissen Regelmäßigkeit und Häufigkeit vorkommen. Denn sonst bleiben bei einem Absehen von den Verschiedenheiten der Situation keine Gleichheiten übrig. Geht man von den Grundbegriffen der aristotelischen Dynamik aus, so muß die Erforschung der Dynamik eines Vorgangs um so mißlicher sein, je "mehr" er von der Natur der jeweils vorliegenden Situation abhängt - man denke etwa an die Affekte in der Psychologie. Das Einmalige bekommt schon deshalb die Positition prinzipieller Ungesetzlichkeit, weil es keinen Weg gibt, seine Dynamik zu erforschen.

Der galileische Weg der Feststellung der Dynamik eines Geschehens ist diesem Verfahren durchaus entgegengesetzt. Ist die Dynamik des Geschehens nicht nur vom Gegenstand, sondern primär auch von der Situation abhängig, so ist es in der Tat sinnwidrig zu den allgemeinen Gesetzen des Geschehens dadurch aufsteigen zu wollen, daß man die Einflüsse der Situationen möglichst ausschaltet. Es wird sinnlos, möglichst viele Situationen heranzuziehen und nur diejenigen Vektoren als allgemein gültig anzusehen, die sich "unter allen Umständen", in jeder "beliebigen" Situation beobachten lassen. Es muß im Gegenteil darauf ankommen, die jeweilige Gesamtsituation in allen ihren Eigentümlichkeiten möglichst präzis zu erfassen.

Der Aufstieg vom einzelnen Fall zum Gesetz, von "diesem" Geschehen zu "einem solchen" Geschehen bedarf nicht mehr jener Begründung durch historische "Regelmäßigkeit", die für die aristotelische Begriffsbildung charakteristisch ist. Dieser Aufstieg zum "Allgemeinen" ist mit der These der ausnahmslosen Gesetzlichkeit der physikalischen Gegenstände ohne weiteres gegeben. Worauf es nunmehr bei der Erforschung der Dynamik ankommt, ist nicht: Absehen von der Situation, sondern: solche Situationen aufsuchen, in denen sich die für die dynamische Gesamtstruktur maßgebenden Faktoren möglichst deutlich, klar und unverfälscht zeigen. An Stelle der Bezugnahme auf den abstrakten Durchschnitt einer möglichst großen Vielheit historisch gegebener Fälle tritt die Bezugnahme auf die volle Konkretheit der einzelnen Situation.

Wir können auf die Frage, warum für die Untersuchung der Dynamik nun doch nicht jede Situation gleichwertig ist, warum gewisse Situationen einen methodologischen Vorzug besitzen und warum man diese Situationen nach Möglichkeit experimentell herstellt, nicht ausführlich eingehen, zumal ja manches geläufig oder aus dem Vorhergehenden ersichtlich sein dürfte. Nur auf einen Sachverhalt sei noch kurz verwiesen, der, wie mir scheint, fast nie richtig gesehen wird und der gerade für die Psychologie zu sehr schwerwiegenden Mißverständnissen Veranlassung gegeben hat.

Wir haben oben gesehen, wie die galileische Begriffsbildung die zuvor undifferenzierten Fragen nach den historischen Abläufen einerseits und den Gesetzen des Geschehens andererseits sondert. Sie verzichtet (bei den "ahistorischen" Problemen, insbesondere bei der Frage nach den Gesetzen) auf jede Beziehung zu der Häufigkeit des Vorkommens des betreffenden Gegenstandes oder Geschehens. Daß damit nicht, wie es zunächst scheinen könnte, ein Verfahren eingeschlagen wird, das der Tendenz zur "Empirie", zum Erfassen der vollen Wirklichkeit zuwiderläuft, dürfte an unserer letzten Überlegung bereits deutlich geworden sein: In Wirklichkeit bedeutet gerade die aristotelische unmittelbare Beziehung zu den historisch-geographischen Gegebenheiten einen Verzicht auf die Erkenntnis des einzelnen allemal situationsgebundenen Geschehens. Erst wenn man diese Beziehung radikal aufgibt, wenn an die Stelle der historischen Konstanz und der Häufigkeit des Vorkommens in geographisch bestimmten Bezirken die Lage des Einzelnen in der Gesamtsituation tritt und wenn es begrifflich wie für die experimentelle Methodik nicht mehr entscheidend ist, ob diese Situation häufig vorkommt und konstant ist oder ob sie selten vorkommt und flüchtig ist, erst dann läßt sich die Aufgabe in Angriff nehmen, das wirkliche, also letzten Endes immer "einmalige" Geschehen zu verstehen.
LITERATUR - Kurt Lewin, Der Übergang von der aristotelischen zur galileischen Denkweise in Biologie und Psychologie, in Erkenntnis Bd.9, Heft 6, Leipzig 1931