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HANS CORNELIUS
Zur Kritik der
wissenschaftlichen Grundbegriffe

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Wie unterscheidet sich diejenige Induktion, die richtige und sichere Ergebnisse liefert, also die richtige Induktion, von der falschen Induktion?

Der empirische Wahrheitsbegriff
In einer systematischen Untersuchung der wissenschaftlichen Grundbegriffe sollte von Rechts wegen die Untersuchung der Begriffe Erkenntnis und Wahrheit an erster Stelle stehen. Es scheint mir aber, daß solche systematische Behandlung nicht im Anfang, sondern erst zum Abschluß der erkenntnistheoretischen Untersuchung ihre Stelle finden darf. In der Tat sind wir erst durch die vorigen Betrachtungen in den Besitz des Materials gelangt, mit dessen Hilfe wir die Bedeutung der genannten Begriffe in einfacher Weise klarlegen können.

Ehe ich weitergehe, muß ich einem Mißverständnis entgegentreten, das in jüngster Zeit aufgetreten ist und auch auf der Prager Tagung seinen Ausdruck gefunden hat. Es ist nicht richtig, daß Erkenntnis nur in der "Zuordnung von Zeichen zu den Gegenständen" besteht, und nur durch diese entsteht. Wir müssen doch erst die Gegenstände haben und von ihnen wissen, ehe wir ihnen Zeichen zuordnen können. Um sie zu haben aber sind schon Erkenntnisse nötig, die also nicht in der Zuordnung von Zeichen bestehen können, sondern dieser unbedingt vorangehen. Wissenschaftliche Theorien freilich können nur durch jene Zuordnung gewonnen und zum Ausdruck gebracht werden. Aber das Vorfinden der Tatsachen selbst ist doch das letzte und unentbehrliche Fundament, auf dem alle Theorien ruhen; und es wäre zum mindesten eine Vergewaltigung der Sprache, wollte man dieses Vorfinden der Tatsachen nicht mit zum Gebiet der Erkenntnisse rechnen, sondern dieses erst mit der wissenschaftlichen Theorienbildung beginnen lassen.

Ich darf nach dieser Feststellung wohl ohne Gefahr des Mißverständnisses das Wort Erkenntnis für alles dasjenige gebrauchen, wovon wir in irgendeiner Form ein Wissen besitzen oder zu besitzen meinen; - womit ausdrücklich gesagt ist, daß es gemäß diesem Sprachgebrauch auch "falsche" Erkenntnisse geben kann, an denen wir nicht bloß zweifeln können, sondern die wir eben als irrig erkennen können; wie dies ja auch für jene "Erkenntnisse" zutrifft, die in der Zuordnung von Zeichen zu den Gegenständen bestehen.

In erster Linie ist uns vor aller Zuordnung von Zeichen jedenfalls ein Wissen von unseren Erlebnissen gegeben; und zwar nicht nur im Augenblick ihres Auftretens, sondern auch nachher in Form der "Erinnerung" - von deren genauerer Untersuchung hier abgesehen werden soll. Auch die Unterscheidung verschiedener Erlebnisse und die Unterscheidung von Arten der Erlebnisse, ebenso auch die Erkenntnis von Ähnlichkeiten der Erlebnisse, vermöge deren sie derselben Art zugehören, ist schon vor aller Zuordnung von Zeichen vorhanden. Die Bezeichnungen für diese verschiedenen Arten kommen erst zustande, nachdem die Erkenntnis ihres Vorkommens bereits gewonnen ist; an was sollten sonst die Zeichen geknüpft werden, wenn die bezeichneten Gegenstände fehlten?

Mit der Unterscheidung und dem Wiedererkennen der Erlebnisse und ihrer Arten aber geht alsbald ihre im vorigen dargelegte Einordnung in Dingzusammenhänge Hand in Hand, zu der wir durch die Faktoren des Bewußtseinszusammenhangs - in hier nicht näher darzulegender Weise - unweigerlich und unaufhörlich genötigt werden. Auch diese Dinge sind zunächst im vorwissenschaftlichen Denken schon vor jeder Zuordnung von Zeichen in ihren allgemeinsten Unterschieden und Arten bekannt, wenn auch freilich die Zuordnung sprachlicher Bezeichnungen - wenigstens innerhalb einer bestehenden Sprachgemeinschaft - schon sehr frühzeitig einsetzt.

Im unmittelbar Erlebten besitzen wir nun zunächst eine Art von Erkenntnissen, an denen zu zweifeln nicht nur keinerlei Anlaß vorliegt, sondern überhaupt keine logische Möglichkeit besteht. Mit anderen Worten: bei diesen Erkenntnissen hat die Frage nach der Wahrheit keine Stelle.

Um sich hiervon zu überzeugen, muß man sich nur klarmachen, was es überhaupt heißt, an einer Sache zu zweifeln. Jeder Zweifel schließt seinem Sinne nach den Gedanken an die Möglichkeit seiner Erledigung in sich: um an etwas zu zweifeln, müssen wir denken, daß daran etwas anders sich zeigen könnte, als wir es zunächst annehmen - daß wir also dieses "anders", das dem jetzigen Meinen nicht entspricht, irgendwie aufzuweisen imstande sein könnten. Wir brauchen das hiermit Gesagte nur etwas anders auszudrücken, um sogleich das Gemeinsame aller möglichen Gegenstände eines Zweifels allgemein bezeichnen zu können. Daß an einer Sache etwas sich anders zeigen könnte, als wir vermuten, kann nur soweit geschehen, als diese Sache irgend etwas in sich schließt, was wir erst unter gewissen Bedingungen anzutreffen erwarten. Wenn wir bei Erfüllung dieser Bedingungen tatsächlich etwas anderes antreffen, als wir gemäß der ersten in Zweifel gezogenen Auffassung annehmen mußten, so zeigt dieser Zweifel sich als berechtigt: unsere Erwartung, die sich auf jene Auffassung gründete, ist enttäuscht, und eben hierdurch ist jene Auffassung als irrig erwiesen. Nicht an gegebenen Tatsachen, sondern an unserem Denken über diese Tatsachen lag es, daß wir uns täuschten; nur auf dieses unser Denken konnte sich daher auch der Zweifel richten.

Gemäß dieser Überlegung hat ein Zweifel stets nur bei solchen Gegenständen Sinn, die auf irgendeine Weise Erwartungen in sich schließen, und er kann sich sinngemäß immer nur auf diese Erwartungen, d. h. darauf richten, ob sie sich wirklich erfüllen, wenn die dafür maßgebenden Bedingungen eintreten, die stets irgendwie in dem betreffenden Gegenstande mitgedacht sind oder mitzudenken sind. Ich kann etwa zweifeln, ob ein vor mir liegendes weißes Pulver NaHCO3, ist - und wenn es beim Begießen mit verdünnter Salzsäure nicht aufbraust, bin ich sicher mit meinem Zweifel im Recht gewesen. Denn als NaHCO3 bezeichnen wir nur einen Gegenstand von solcher Beschaffenheit, daß er sich in der Säure unter Aufbrausen löst, d. h. das Urteil "dies ist NaHCO3," behauptet, daß diese Erwartung sich erfüllt. Ob dagegen das Pulver weiß aussieht, daran kann ich nicht zweifeln, während ich es vor Augen habe; denn diese Qualität liegt mir in unmittelbarer Wahrnehmung vor, und es wird daran nichts erst erwartet. Und da allgemein das unmittelbar Erlebte, ebenso wie hier die weiße Farbwahrnehmung, nichts von Erwartungen Abhängiges enthält, kann an ihm da, wo es vorgefunden wird, niemals gezweifelt werden. Ein solcher Zweifel würde sinnlos sein. Aus eben diesem Grunde sind die unmittelbar erlebten Tatsachen die letzten Grundlagen aller weiteren Erkenntnisse - und die unmittelbar erlebten sinnlichen Inhalte insbesondere die letzten Grundlagen aller physikalischen Erkenntnis.

In aller dinglich geformten Erkenntnis dagegen sind, gemäß der Natur des Dingbegriffs, Erwartungen enthalten. Hier ist also die Möglichkeit des Zweifels immer gegeben. Auch soweit irgendeine Eigenschaft eines Dinges oder seiner Erscheinungen in der bisherigen Erfahrung uns bekanntgeworden ist, kann doch stets an ihrem Fortbestehen sinnvoll gezweifelt werden.

Die hier besprochenen Tatsachen sind so einfach, daß ich fast fürchte, den Leser damit zu langweilen. Aber die Korrektur der herkömmlichen unrichtigen Auffassungen des Wahrheitsbegriffes ist ohne diese Betrachtungen nicht zu gewinnen. Aus dem Gesagten dagegen ergibt sie sich durch eine bloße Umformung des sprachlichen Ausdrucks.

Zweifeln heißt tatsächlich immer an der Wahrheit von etwas zweifeln. Kann der Zweifel sich nur auf zu Erwartendes richten, so kann also auch Wahrheit und Irrtum sich immer nur auf Erwartetes beziehen und nur in Erfüllung oder Enttäuschung von Erwartungen erwiesen werden.

Gegenstände, auf die sich die Frage nach der Wahrheit richten kann, heißen in der philosophischen Terminologie Urteile - und es ist, wie nebenbei bemerkt sein mag, durchaus keine neue Entdeckung von Herrn RUSSELL, daß es Urteile gibt, die nicht aus Subjekts- und Prädikatsbegriff zusammengesetzt sind. Nach dem vorigen ist es für das Urteil wesentlich, daß darin Erwartungen gegeben sind. Es ist daher für das Urteil, d.h. für den Tatbestand, daß irgendwo die Frage nach der Wahrheit gestellt werden kann, notwendige Voraussetzung, daß jemand vorhanden ist, dem es diese Frage wecken kann, d. h. der sich durch das Urteil zu bestimmten Erwartungen veranlaßt sieht. In der Regel sind Urteile Ergebnisse willkürlicher menschlicher Tätigkeit, und in diesem Falle ist wiederum derjenige, der das Urteil hervorgebracht hat, regelmäßig zugleich der soeben geforderte Fragesteller - wenn er auch vielleicht die Frage schon so gewiß beantwortet zu haben meint, daß er sie nicht mehr zu stellen für nötig hält. Im allgemeinen wird aber neben ihm noch eine Reihe weiterer Personen diese Rolle übernehmen.

Entsprechend der Tatsache, daß Urteile meist in Form von Aussagen auftreten und von denen, die nach ihrer Wahrheit fragen, gehört oder doch gelesen und damit innerlich "gehört" werden müssen, habe ich den Standpunkt desjenigen, der nach der Wahrheit eines Urteils fragt, als den Standpunkt des Hörenden und das fragliche Urteil als das "vorgelegte" Urteil bezeichnet. Die Wahrheitsfrage hängt sinngemäß davon ab, daß der Hörende das vorgelegte Urteil versteht und als Urteil auffaßt - wobei es dahingestellt bleibt, ob er es ebenso versteht wie derjenige, der es geschaffen und vorgelegt hat. Die Auffassung als Urteil ist dadurch bedingt, daß der Hörende zur Frage nach der Wahrheit Anlaß findet, d. h. daß ihm durch das Urteil seiner Auffassung gemäß Erwartungen geweckt werden, deren Erfüllung beim Eintreten bestimmter aus dem Urteil zu erkennender Bedingungen im Urteil behauptet wird. Die Entscheidung über die Wahrheit beruht auf der Herstellung dieser Bedingungen; ich habe diese Aufgabe als die der kontrollierenden Tätigkeit des Hörenden bezeichnet. Findet sich, daß bei Erfüllung dieser Bedingungen sich die Tatbestände einstellen, die gemäß dem Urteil zu erwarten sind, so wird die Wahrheitsfrage bejaht; finden sich davon abweichende Tatbestände, so wird sie verneint. Die Ausdrücke "ja, es ist so" und "nein, es ist nicht so" sind die einfachsten herkömmlichen Feststellungen der Erfüllung oder der Enttäuschung der genannten Erwartungen.

Die Enttäuschung auch nur einer der im Urteil behaupteten Erwartungen genügt für die verneinende Entscheidung der Wahrheitsfrage, - und damit für die Verneinung des vorgelegten Urteils. Dagegen ist mit der Erfüllung nur eines Teiles der im Urteil enthaltenen Erwartungen noch keineswegs die Wahrheit des Urteiles entschieden; denn es könnte ja immer noch sein, daß irgendeine andere der Erwartungen enttäuscht und damit das Urteil als falsch erkannt würde. Darum ist bei allgemeinen Urteilen, die eine unbegrenzte Menge von Erwartungen in sich schließen, mit der Erfüllung einer noch so großen Zahl von Erwartungen im unmittelbar Erlebten die Wahrheit niemals festzustellen. Hier bedarf es anderer, allgemeiner Erkenntnisse, um die Entscheidung zu gewinnen, die aber dadurch in ihrem Wesen, nämlich in ihrer Begründung auf Erfüllung oder Enttäuschung von Erwartungen keine Änderung erleidet.

Die Theorie dieser allgemeinen Erkenntnisse wiederzugeben ist hier nicht meine Absicht; wer sich dafür interessiert, sei auf meine Erkenntnistheorie verwiesen. Im folgenden soll nur diejenige Frage dieses Gebiets behandelt werden, die für die Naturwissenschaft von besonderer Bedeutung ist und in der bisherigen Philosophie, einschließlich ihrer allerneuesten Phase, durchweg falsch beantwortet worden ist.

4. Die Induktion im dinglichen Gebiet
Unter Induktion versteht man bekanntlich den Schluß von einzelnen Erfahrungen auf einen allgemeinen Satz: der induktiv gewonnene Satz behauptet, daß es sich in allen künftigen Fällen so verhalten wird, wie wir es in den einzelnen Erfahrungen gefunden haben.

Man hat die Induktion seit ARISTOTELES für eine unsichere Erkenntnisquelle gehalten. Die Erfahrung gilt demgemäß bis auf unsere Tage den Philosophen als eine unlautere, unzuverlässige Grundlage wissenschaftlicher Einsicht. Man weiß, wie strenge KANT jede Einmischung der Erfahrung in die Philosophie als "Verunreinigung" der Erkenntnis ausschließen wollte was ihm freilich in seinem eigenen System keineswegs so vollkommen gelungen ist, wie er meinte. Auch HUSSERL ist noch der Meinung, daß Erfahrung keine allgemeingültige Erkenntnis liefern könne.

Wenn man freilich die Aufgabe der Induktion darin sehen will, daß sie aus dem Verlauf einer Anzahl bisheriger Fälle von Ereignissen auf den gleichen Ablauf ähnlicher Ereignisse in der Zukunft schließen soll, so werden RUSSELL und HUSSERL, ebenso wie KANT und ARISTOTELES, im Rechte bleiben. Solche Induktion gibt immer nur mehr oder minder große - im allgemeinen recht geringwertige - Wahrscheinlichkeit. Auch der berühmte Fall von den tausend weißen Schwänen, die keine Garantie geben, daß alle Schwäne weiß sind, ist nur eben ein Beispiel solcher unrichtiger, unberechtigter Induktion: einer Art von Induktion, die in exakter Wissenschaft keine Stelle hat und haben kann.

Aber es gibt Tausende von Beispielen allgemeiner Sätze, die sicher durch Induktion gewonnen und unbestreitbar richtig sind. Man braucht nicht weit zu suchen, um sie zu finden. Daß Gold von Papier verschieden ist, kann sicher als ein Satz von unumstößlicher Gewißheit gelten. Woher aber sollten wir ihn haben, wenn nicht aus der Erfahrung?, ohne die wir doch weder von Gold noch von Papier etwas wissen könnten. Selbst wenn es einmal gelänge, Papier in Gold zu verwandeln, würde doch damit die Gültigkeit jenes Satzes nicht umgestoßen; denn gerade die Verwandlung des einen in das andere setzt ja voraus, daß beide von vornherein verschieden sind, da es sonst keiner Verwandlung bedürfte. Ebenso allgemeingültig und doch aus der Erfahrung gewonnen ist etwa der Satz, daß Kochsalz in Wasser löslich ist - und mit ihm die Millionen allgemeiner Aussagen auf chemischem Gebiet, wie sie täglich an die Berichte der Deutschen Chemischen Gesellschaft eingesandt werden. Wenn der Chemiker etwa eine neue Säure gefunden hat und nach bestimmten Methoden die Reinigung derselben durchgeführt hat, so darf er den Satz, daß sie sagen wir, bei 40 Grad schmilzt, auch wenn er die Schmelzpunktsbestimmung nur einmal gemacht hat, mit ruhigem Gewissen als allgemeingültigen Satz niederschreiben.

Wie kommen wir zu solchen allgemeingültigen Sätzen? Oder anders ausgedrückt: wie unterscheidet sich diejenige Induktion, die richtige und sichere Ergebnisse liefert, also die richtige Induktion, von der falschen Induktion, wie sie in dem typischen Beispiel von den tausend weißen Schwänen vorliegt?

Es wurde oben bereits einmal daran erinnert, daß unser Denken überall bestrebt ist, daß Mannigfaltige unserer Erfahrungen unter zusammenfassende Gesetze einzuordnen. Die Wissenschaft führt hier nur das weiter, was das vorwissenschaftliche Denken mit seinen Begriffsbildungen begonnen hat. Ihre Aufgabe ist, eine klare begriffliche Ordnung der gefundenen Tatsachen zu schaffen. Solche Ordnung wird vor allem dadurch gewonnen, daß das Gemeinsame an den gemachten Erfahrungen durch bestimmte Namengebung zusammengefaßt wird, so daß durch diese Namen zugleich jene Erfahrungen von allen anderen geschieden werden, die jene gemeinsamen Eigenschaften der ersteren nicht aufweisen. So und nur so erhalten die eingeführten Bezeichnungen ihren unzweideutigen Sinn: soweit wir solche besitzen, haben wir in ihnen die gesuchte begriffliche Ordnung unserer Erfahrungen. Damit aber diese gewonnene Ordnung nicht wieder verlorengehe, darf in Zukunft mit den ein für allemal in bestimmter Bedeutung eingeführten Namen nichts anderes bezeichnet werden, als was abermals jenes Gemeinsame an sich trägt, durch das die Bedeutung des fraglichen Namens ihre Bestimmung gefunden hat. Daß Kochsalz in Wasser löslich ist, gilt deswegen allgemein, weil der Name Kochsalz so bestimmt worden ist, daß er nicht einen unlöslichen Körper, sondern nur einen löslichen bezeichnet. Und ebenso verhält es sich mit der Allgemeingültigkeit aller jener oben erwähnten chemischen Aussagen.

Sätze, die aus einer durch Definition ein für allemal festgelegten Bedeutung eines Wortes folgen, nennt man nach KANTs Vorgang analytische Urteile; und es ist ohne weiteres deutlich, daß analytische Sätze niemals falsch sein können. Aber aus bloßen Definitionen hergeleitete analytische Sätze sind keine wissenschaftlich wertvollen Wahrheiten, sondern nur Binsenwahrheiten. Sollte demnach etwa die richtige Induktion, deren Wesen wir hier ergründen wollen, auch nur Binsenwahrheiten liefern? Dann wären die oben erwähnten Forscher mit ihrer Geringschätzung dieser Methode zur Gewinnung allgemeingültiger Sätze freilich im Recht.

Allein tatsächlich findet sich ein tiefgreifender Unterschied der in Rede stehenden induktiv gewonnenen Sätze gegenüber den wertlosen analytischen Binsenwahrheiten. Dieser Unterschied besteht darin, daß in unseren Beispielen die Begriffsbestimmung an Hand der Erfahrung gewonnen ist. Das Wertvolle sind nicht die analytischen Sätze, in welchen man nur jene Begriffsbestimmungen mehr oder minder ausführlich wiederholt, sondern gerade die Begriffsbestimmungen selbst und ihre Herkunft aus der Erfahrung. Daß es in der Welt etwas Derartiges gibt, wie es die Begriffe des Goldes und des Papiers, des Kochsalzes und der Dioxyphenylessigsäure und all der Legionen anderer bestimmter Begriffe chemischer Substanzen bezeichnen: das ist das synthetische Urteil, das in jeder dieser Induktionen allgemein ausgesprochen wird und das den wissenschaftlichen Wert der induktiv gewonnenen Erkenntnisse ausmacht. Die Induktion ist nichts anderes als Formulierung der Erfahrungen in festen Begriffen und in den mit Hilfe dieser Begriffe ausgesprochenen allgemeinen Existentialurteilen.

Die Allgemeingültigkeit der auf Grund der Erfahrung gewonnenen Existentialurteile aber ist leicht einzusehen. Die Erkenntnis, daß es Gegenstände einer gewissen Beschaffenheit gibt, daß sie also in unserer Erfahrung vorkommen, ist durch ein einziges Beispiel solcher Gegenstände sofort unwiderleglich, d.h. allgemeingültig gewonnen. Denn die Verneinung dieser Erkenntnis - die Behauptung: "es gibt keine solchen Gegenstände" - ist ja mit dem einmaligen Vorkommen eines solchen Gegenstandes allgemein widerlegt. So wie wir schon im Gebiet der unmittelbaren Erlebnisse das einmalige Vorkommen eines Erlebnisses bestimmter Art (etwa eines besonderen Geruches) für alle Zukunft wissen, daß es Derartiges gibt - auch wenn uns in unserem weiteren Leben nie wieder dieselbe Qualität vorgekommen sein sollte so gilt Entsprechendes auch für das Gebiet der dinglichen Welt. Ein Begriff, der für die Ordnung unserer Erfahrung einmal sich als notwendig erwiesen hat, kann diese Bedeutung nie wieder verlieren: denn die Aufgabe der begrifflichen Ordnung unserer Erfahrung umfaßt alles, was jemals in unserer Erfahrung aufgetreten ist. Auch wenn sich in Zukunft nie wieder etwas finden sollte, was jenem Begriff entspricht, so hat es doch einmal etwas Solches - der Voraussetzung gemäß - gegeben, und darum ist die Gesamtheit unserer Erfahrung nie ohne jenen Begriff von unserem Denken zu umspannen.

Allerdings aber ist - und dies ist von größter Wichtigkeit eine solche Veränderung der Dingwelt, wie sie der eben angenornmenen Art von Erfahrungen entspräche, auch ihrerseits etwas, was dringend der Erklärung bedürftig erscheint. Was diese Forderung bedeutet, ist am leichtesten an einem anderen, weit häufigeren Falle zu erkennen.

Wir wollen annehmen, ein Ding, das bisher bestimmte physikalische und chemische Eigenschaften zeigte, habe sich über Nacht plötzlich verändert. Es zeige jetzt in einer oder mehreren Hinsichten andere Eigenschaften als vorher. Dann kann es uns nicht genügen, nur einfach zu konstatieren, welche neuen Eigenschaften ihm jetzt zukommen und ihm demgemäß eine neue Stelle in unserer begrifflichen Systematik anzuweisen: sondern wir müssen für die eingetretene Änderung selbst eine Erklärung fordern. Wie alle Erklärung, so muß auch diese darin bestehen, daß wir den zu erklärenden Tatbestand einem uns bekannten allgemeinen Gesetz unterordnen, als dessen Fall wir ihn erkennen: so daß er uns vermöge dieser Erkenntnis nicht mehr als ein unerwarteter erscheint, daß wir vielmehr seinen Eintritt auf Grund dieses Gesetzes und der für seine Anwendung geltenden Bedingungen vorauszusagen imstande sind. Die Erklärung ist erst gegeben, wenn wir nicht nur das fragliche allgemeine Gesetz kennen, sondern uns auch überzeugt haben, daß die für dessen Anwendung geltenden Bedingungen im vorliegenden Falle tatsächlich erfüllt sind.

Die Erklärung aber muß unbedingt gefordert werden. Ohne sie würde der Zusammenhang unserer begrifflichen Ordnung der Erfahrung zerstört sein. Die unerklärte Veränderung hat in diesen Zusammenhang eine Lücke gerissen: die Ordnung, die wir durch unsere bisherigen Formulierungen geschaffen hatten, erweist sich als unzulänglich, und die gesamte Gedankenarbeit, die wir darauf verwendet hatten, würde vergebliche Mühe gewesen sein, wenn es uns nicht gelänge, die Lücke wieder zu schließen.

Beispiele trivialer Art sind tausendfältig zu finden. Wenn mein eiserner Schlüssel, der bisher beim Loslassen stets zur Erde fiel, jetzt zur Zimmerdecke aufsteigt und dort hängenbleibt, so ist diese Änderung erklärt, wenn wir erstens die magnetischen Gesetze kennen und zweitens erfahren, daß wirklich ein Elektromagnet von so eminenter Stärke im Stockwerk über uns in Tätigkeit gesetzt ist, daß er den Schlüssel hinaufzuziehen imstande ist.

Was sich hier als notwendige Bedingung für die Beseitigung der Störung unserer begrifflichen Ordnung der Erfahrung erweist, dafür hat die Sprache längst eine Bezeichnung eingeführt, die wir regelmäßig ebenso unbesehen hinnehmen wie den Dingbegriff. Die veränderte Bedingung, nach der wir durch jede unerwartete Änderung zu fragen genötigt werden, ist nichts anderes, als was man herkömmlicherweise als die Ursache für diese unerwartete Änderung bezeichnet.

Dieser Begriff der Ursache und das Gesetz, nach welchen wir stets nach der Ursache zu fragen genötigt werden - das "Kausalgesetz" - hat in rein empirischer Wissenschaft keine andere Bedeutung als die soeben dargelegte. Es ist die Forderung, die wir stets zu erfüllen haben, um die Einheit der begrifflichen Ordnung unserer Erfahrung wiederherzustellen, wo sie durch unerwartete Änderungen gestört erscheint. Wenn wir diese Forderung bei der Formulierung der jeweils gefundenen Gesetze für den Ablauf der Veränderungen in der dinglichen Welt mit aussprechen, so können wir diese Gesetze stets in allgemeingültige Form bringen: wir haben dafür nur nötig, jedesmal die Erinnerung an das Kausalgesetz in der Weise hinzuzufügen, daß wir sagen, die gefundenen Naturgesetze gelten allgemein, soweit nicht durch eine neue Ursache eine Änderung bedingt wird. Damit ist nicht etwa bloß gesagt: "es kann auch einmal anders kommen", sondern es ist gesagt: "wenn es anders kommt, so muß sich das bisher gültige Gesetz als Spezialfall eines umfassenderen Gesetzes erweisen, und die wissenschaftliche Aufgabe ist dann immer nur dadurch zu erfüllen, daß dieses allgemeinere Gesetz gefunden und die Bedingung als erfüllt nachgewiesen wird, von der die jeweilige Abweichung von der bisher bekannten Regelmäßigkeit der Erscheinungen abhängt. Alle andere Anwendung des Kausalbegriffs ist dogmatisch und hat daher in der Wissenschaft keine Stelle; - so namentlich auch die Frage nach einer "letzten Ursache".

Das angebliche Gesetz, das in der Physik in den letzten Jahren unter dem Namen des Kausalgesetzes eine Reihe von Diskussionen hervorgerufen hat, hat mit dem hier besprochenen Kausalgesetz der empirischen Wissenschaft nichts gemein, sondern ist ihm geradezu entgegengesetzt. Die Behauptung, daß in einem geschlossenen System aus einem gegebenen Anfangszustand alle folgenden Zustände folgen müßten, setzt ja voraus, daß es keine Abweichungen von den bisher gefundenen Gesetzen gibt; gerade gegen diese dogmatische Annahme wendet sich das eben besprochene Gesetz der empirischen Wissenschaft. Ohne jene dogmatische Voraussetzung kann der Begriff eines geschlossenen Systems überhaupt nicht legitimiert werden.

5. Die physikalische Dingwelt
Ein Physiker könnte vielleicht versucht sein, gegen die bisher durchgeführten Überlegungen hinsichtlich des Dingbegriffs und der dinglichen Welt einzuwenden, sie seien für die Physik ohne Bedeutung, weil diese begonnen habe, die beharrlichen Dinge der älteren Lehre durch Vorgänge zu ersetzen. Es sei deshalb nicht mehr nötig, sich über das beharrliche Sein den Kopf zu zerbrechen.

Wer so reden würde, der hätte den Sinn der bisherigen Ausführungen mißverstanden. Selbst wenn es wirklich so weit käme, daß die Physik nur noch von Vorgängen zu reden hätte, so würden diese Vorgänge doch niemals Vorgänge im Gebiet des unmittelbar Gegebenen, sondern solche in einer dinglichen Welt sein. Denn die Behauptung, daß einer dieser Vorgänge sich vollzieht, sagt nicht bloß etwas über die Wahrnehmungen dessen aus, der diese Behauptung aufstellt, sondern sie meint etwas, was jenseits dieses besonderen Bewußtseinsverlaufes sein Dasein hat; - oder, wie wir das nach den früheren Überlegungen auch ausdrücken können, sie schließt stets Erwartungen über künftige Vorgänge mit ein. Mit anderen Worten: jede solche Behauptung setzt ihrem Sinne nach voraus, daß der Übergang von den Bewußtseinstatsachen zu einer dinglichen Welt bereits vollzogen ist. Wer aber diesen Übergang dogmatisch macht, nämlich ohne sich über die Herkunft und Bedeutung des Dingbegriffs Klarheit verschafft zu haben, wird notwendig von neuem in alle jene Probleme verwickelt werden, die sich in den vorigen Betrachtungen als Scheinprobleme entpuppt haben.

Unter den Mißverständnissen aber, mit denen die herkömmliche dogmatische Voraussetzung des Dingbegriffs die physikalischen Theorien vergiftet hat, ist eines so fest eingewurzelt und darum so schwerwiegend, daß ich Anlaß habe, es noch gesondert zu besprechen.

Im engen Zusammenhang mit der Irrlehre von der "Unerkennbarkeit der Dinge an sich" hat man sich an die Behauptung gewöhnt, daß die "wirkliche" Welt, mit deren Untersuchung es die Physik zu tun hat, nichts von dem enthalte, was wir als die bunte Farben- und Tonwelt unserer sinnlichen Wahrnehmung kennen. Man pflegt demgemäß davon zu sprechen, daß der Fortschritt der physikalischen Erkenntnis immer weiter von der Anschauung hinweg in ein Reich abstrakter und abstraktester Vorstellungen führe.

Mit der Erkenntnis, daß die "wirklichen" Dinge nichts anderes sind als Gesetze für unsere Wahrnehmungen, und zwar zunächst gerade für diejenigen Wahrnehmungen, die wir als die sinnlichen Erscheinungen der betreffenden Dinge kennen, fällt zunächst die erste dieser Behauptungen in sich zusammen. Es ist nichts unrichtiger als die Behauptung, daß die Farben- und Tonwelt unserer Empfindungen, "das Licht, das wir sehen, die Töne, wie wir sie hören", nichts mit der Welt der physikalischen Wesenheiten zu schaffen hätte. Die Dinge sind die Zusammenhänge, als deren Glieder jene sinnlichen Erscheinungen auftreten - die farbigen Bilder, die wir sehen, die Töne, die wir hören usw.: je mehr wir daher von den physikalischen Eigenschaften der Dinge kennenlernen, um so mehr erweitern sich nur eben die gesetzmäßigen Zusammenhänge, in welchen jene Wahrnehmungen mit anderen Wahrnehmungen stehen. Niemals aber können diese Zusammenhänge aufhören, auch die ersten sinnlichen Wahrnehmungen mit zu umspannen, aus denen allein wir die Kenntnis von den Dingen geschöpft haben. Auch die scheinbar sinnenfernsten hypothetischen Gebilde, wie Atomkerne und Elektronen, würden ohne jenen Zusammenhang jede Bedeutung für unsere Erkenntnis der Welt verlieren: sie würden aufhören, Theorien für die Wirklichkeit zu sein.

Das Beispiel der Akustik, dessen ich mich an anderer Stelle zur Beleuchtung dieses Sachverhaltes bedient habe, scheint mir ganz besonders geeignet, den Irrtum des heute üblichen, auf die falsche Lehre der Schulphilosophie von der "Unerkennbarkeit der Dinge an sich" gegründeten Gedankenganges aufzuzeigen. Wenn die Physik feststellt, daß der Ton, wie er sich von der Tonquelle in der Luft fortpflanzt, in einer longitudinalen Wellenbewegung besteht, wobei die Höhe des Tones durch die Wellenlänge, seine Stärke durch die Amplitude, und seine Klangfarbe durch die Superposition mehrerer einfacher Sinuswellen bedingt ist, so hat diese Theorie jedenfalls in allererster Linie die Bedeutung einer "Erklärung" unserer Tonwahrnehmungen: sie formuliert allgemeine Sätze über die Bedingungen, von welchen die Eigenschaften der Tonwahrnehmungen abhängen, oder, was dasselbe mit anderen Worten sagt sie gibt die allgemeinen gesetzmäßigen Zusammenhänge an, die zwischen den Eigenschaften unserer Tonwahrnehmungen und gewissen pysikalischen Vorgängen, d.h. dinglichen Veränderungen in unserer Umgebung, bestehen.

Wenn freilich der Ausdruck für diese Zusammenhänge bei den Physikern zuweilen die Form annimmt, der Ton sei die Luftschwingung, so darf man nicht vergessen, daß diese Redeweise nur eine Abkürzung ist. Diese Abkürzung ist in der Physik deshalb unschädlich, weil für den Physiker, nachdem jener Zusammenhang der Schwingung mit den Tonempfindungen einmal allgemein festgestellt ist, nur noch die weiteren Eigenschaften der Schwingungen als solcher von Interesse sind. Ließe man aber wirklich, wie es in jener Formulierung scheinbar geschieht, die ganze Welt der Tonwahrnehmungen aus der Theorie weg, so würde diese zwar nicht aufhören eine physikalische Theorie, nämlich die Theorie gewisser longitudinaler Schwingungen, zu sein; sie wäre aber nicht mehr Theorie der Tonschwingungen. Denn jene Schwingungen würden dann eben aufgehört haben, Tonschwingungen oder Ton"reize" zu sein: denn wenn man von dem Zusammenhang mit den Tonwahrnehmungen absieht, hat dieses Wort seinen Sinn verloren.

Wie bei diesem trivialen Beispiel verhält es sich, entsprechend der oben bereits gemachten Bemerkung, bei allen, auch den kompliziertesten und scheinbar anschauungsfernsten physikalischen Theorien, einschließlich ihrer hypothetischen Grundannahmen. Die letzteren sind, ganz im Gegensatz zu der Behauptung von der bloß abstrakten und aller sinnlichen Anschauung entrückten Bedeutung der physikalischen Theorien, tatsächlich Veranschaulichungen, durch die es uns gelingt, die Zusammenhänge der Wahrnehmungen der verschiedensten Gebiete in einfachster Weise darzustellen und damit der Forderung zu genügen, die GUSTAV KIRCHHOFF in seiner Definition der Mechanik aufgestellt hat. Einzig durch die Erfüllung dieser Forderung ist eine rein wissenschaftliche, von allem Dogmatismus freie Theorie unserer Erfahrung zu gewinnen.

Wenn es mir gelungen sein sollte, den Gegenstand dieser Überlegungen zu hinreichend klarem Ausdruck zu bringen, so darf ich zusammenfassend sagen: Die vorhergegangenen Ausführungen hatten die "reale" Welt als die konsequente, verstandesmäßige Durchbildung der Sinnenwelt aufgewiesen: die von der Schulphilosophie zwischen "Erscheinung" und "Wirklichkeit" aufgerichtete Scheidewand erwies sich als ein Truggebilde. Es ist nur die Fortsetzung dieser konsequenten, verstandesmäßigen Bearbeitung der Zusammenhänge der Wahrnehmungen, die im Weltbild der physikalischen Theorien ihren Ausdruck findet.
LITERATUR - Hans Cornelius, Zur Kritik der wissenschaftlichen Grundbegriffe, in Rudolf Carnap / Hans Reichenbach (Hg), Erkenntnis 2/1931, Amsterdam 1967