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ERNST CASSIRER
Die Sprache
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Begriff der symb. Formen
Religion, Kunst und Mythos
Alle Erkenntnis geht zuletzt, so verschieden auch ihre Wege und Wegrichtungen sein mögen, darauf aus, die Vielheit der Erscheinungen der Einheit des "Satzes vom Grunde" zu unterwerfen.

Was PLATON unter dem Namen der "Idee" sucht, das war auch in den frühesten Erklärungsversuchen, bei den, Eleaten, bei den Phythagoreern, bei DEMOKRIT als immanentes Prinzip wirksam; aber bei ihm erst wird sich dieses Prinzip als das, was es ist und bedeutet, bewußt. PLATON selbst hat seine philosophische Leistung in diesem Sinne verstanden. In seinen Alterswerken, in denen er sich zur höchsten Klarheit über die logischen Voraussetzungen seiner Lehre erhebt, stellt er eben dies als die entscheidende Differenz hin, die seine Spekulation von der Spekulation der Vorsokratiker trenne: daß bei ihm das Sein, das dort in der Form eines einzelnen Seienden als fester Ausgangspunkt genommen wurde, zum erstenmal als Problem erkannt worden sei.

Er fragt nicht mehr schlechthin nach der Gliederung, nach der Verfassung und der Struktur des Seins, sondern nach seinem Begriff und nach der Bedeutung dieses Begriffs. Dieser scharfen Frage und dieser strengen Forderung gegenüber verblassen alle früheren Erklärungsversuche zu bloßen Erzählungen, zu Mythen vom Sein. Über dieser mythisch-kosmologischen Erklärung soll sich jetzt die eigentliche, die dialektische Erklärung erheben, die nicht mehr an seinem bloßen Bestand haftet, sondern die seinen gedanklichen Sinn, seine systematisch-teleologische Fügung sichtbar macht. Und damit erst gewinnt auch das Denken, das in der griechischen Philosophie seit PARMENIDES als Wechselbegriff des Seins auftritt, seine neue und tiefere Bedeutung.

Erst dort, wo das Sein den scharf bestimmten Sinn des Problems erhält, erhält das Denken den scharf bestimmten Sinn und Wert des P rinzips. Es geht jetzt nicht mehr lediglich neben dem Sein einher, es ist kein bloßes Reflektieren "über" dasselbe, sondern seine eigene innere Form ist es, die ihrerseits die innere Form des Seins bestimmt. In der geschichtlichen Entwicklung des Idealismus wiederholt sich sodann auf verschiedenen Stufen der gleiche typische Grundzug. Wo die realistische Weltansicht sich bei irgendeiner letztgegebenen Beschaffenheit der Dinge, als der Grundlage für alles Erkennen, beruhigt - da formt der Idealismus eben diese Beschaffenheit selbst zu einer Frage des Denkens um.

Nicht nur in der Geschichte der Philosophie, sondern auch in der der Einzelwissenschaften wird dieser Fortgang erkennbar. Auch hier geht der Weg nicht einzig von den "Tatsachen" zu den "Gesetzen" und von diesen wieder zu den "Axiomen" und "Grundsätzen" zurück: sondern eben diese Axiome und Grundsätze, die auf einer bestimmten Stufe der Erkenntnis als der letzte und vollständige Ausdruck der Lösung dastehen, müssen auf einer späteren Stufe wieder zum Problem werden. Demnach erscheint das, was die Wissenschaft als ihr "Sein" und ihren "Gegenstand" bezeichnet, nicht mehr als ein schlechthin einfacher und unzerleglicher Tatbestand, sondern jede neue Art und jede neue Richtung der Betrachtung schließt an ihm ein neues Moment auf. Der starre Seinsbegriff scheint damit gleichsam in Fluß, in eine allgemeine Bewegung zu geraten - und nur als Ziel, nicht als Anfang dieser Bewegung läßt sich die Einheit des Seins überhaupt noch denken.

In dem Maße, als sich diese Einsicht in der Wissenschaft selbst entfaltet und durchsetzt, wird in ihr der naiven Abbildtheorie der Erkenntnis der Boden entzogen. Die Grundbegriffe jeder Wissenschaft, die Mittel, mit denen sie ihre Fragen stellt und ihre Lösungen formuliert, erscheinen nicht mehr als passive Abbilder eines gegebenen Seins, sondern als selbstgeschaffene intellektuelle Symbole. Es ist insbesondere die mathematisch- physikalische Erkenntnis gewesen, die sich dieses Symbolcharakters ihrer Grundmittel am frühesten und am schärfsten bewußt geworden ist. HEINRICH HERTZ hat in den Vorbetrachtungen, mit denen er seine "Prinzipien der Mechanik" einleitet, das neue Erkenntnisideal, auf das diese gesamte Entwicklung hinweist, auf den prägnantesten Ausdruck gebracht.

Er bezeichnet es als die nächste und wichtigste Aufgabe unserer Naturerkenntnis, daß sie uns befähige, zukünftige Erfahrungen vorauszusehen: - das Verfahren aber, dessen sie sich zur Ableitung des Zukünftigen aus dem Vergangenen bediene, bestehe darin, daß wir uns "innere Scheinbilder oder Symbole" der äußeren Gegenstände machen, die von solcher Art sind, daß die denknotwendigen Folgen der Bilder stets wieder die Bilder seien von den naturnotwendigen Folgen der abgebildeten Gegenstande.
"Ist es uns einmal geglückt, aus der angesammelten bisherigen Erfahrung Bilder von der verlangten Beschaffenheit abzuleiten, so können wir an ihnen, wie an Modellen in kurzer Zeit die Folgen entwickeln, welche in der äußeren Welt erst in längerer Zeit oder als Folgen, unseres eigenen Eingreifens auftreten werden . . . Die Bilder, von welchen wir reden, sind unsere Vorstellungen von den Dingen; sie haben mit den Dingen die eine wesentliche Übereinstimmung, welche in der Erfüllung der genannten For-derung liegt, aber es ist für ihren Zweck nicht nötig, daß sie irgend/eine weitere Übereinstimmung mit den Dingen haben. In der Tat wissen wir auch nicht und haben auch kein Mittel, zu erfahren, ob unsere Vorstel-lungen von den Dingen mit jenen in irgend etwas anderem übereinstimmen, als allein in eben jener einen fundamentalen Beziehung."
So fährt die naturwissenschaftliche Erkenntnistheorie, auf der HEINRICH HERTZ fußt, - so fährt die Theorie der "Zeichen", wie sie zuerst von HELMHOLTZ eingehend entwickelt worden ist, fort, die Sprache der Abbildtheorie der Erkenntnis zu sprechen ; - aber der Begriff des "Bildes" hat nun in sich selbst eine innere Wandlung erfahren.. Denn an die Stelle einer irgend-wie geforderten inhaltlichen Ähnlichkeit zwischen Bild und Sache ist jetzt ein höchst komplexer logischer Verhältnisausdruck, ist eine allgemeine intellektuelle Bedingung getreten, der die Grundbegriffe der physikali-schen Erkenntnis zu genügen haben. Ihr Wert liegt nicht in der Abspiegelung eines gegebenen Daseins, sondern in dem, was sie als Mittel der Erkenntnis leisten, in der Einheit der Erscheinungen, die sie selbst aus sich heraus erst herstellen.

Der Zusammenhang der objektiven Gegenstände und die Art ihrer wechselseitigen Abhängigkeit soll im System der physikalischen Begriffe überschaut werden, - aber diese Überschau wird nur möglich, sofern diese Begriffe schon von Anfang an einer bestimmten einheitlichen Blickrichtung der Erkenntnis angehören. Der Gegenstand läßt sich nicht als ein nacktes Ansich unabhängig von den wesentlichen Kategorien der Naturerkenntnis hinstellen, sondern nur in diesen Kategorien, die seine eigene Form erst konstituieren, zur Darstellung bringen. In diesem Sinne werden für HERTZ die Grundbegriffe der Mechanik, insbesondere die Begriffe von Masse und Kraft zu "Scheinbildern", die, wie sie von der Logik der Naturerkenntnis geschaffen sind, auch den allgemeinen Forderungen dieser Logik unterstehen, unter denen die apriorische Forderung der Klarheit, der Widerspruchslosigkeit und der Eindeutigkeit der Beschreibung den ersten Platz einnimmt.

Mit dieser kritischen Einsicht gibt die Wissenschaft freilich die Hoffnung und den Anspruch auf eine "unmittelbare" Erfassung und Wiedergabe des Wirklichen auf. Sie begreift, daß alle Objektivierung, die sie zu vollziehen vermag, in Wahrheit Vermittlung ist und Vermittlung bleiben muß. Und in dieser Einsicht liegt nun eine weitere und folgenreiche idealistische Konsequenz beschlossen. Wenn die Definition, die Bestimmung des Erkenntnisgegenstandes immer nur durch das Medium einer eigentümlichen logischen Begriffsstruktur erfolgen kann, so ist die Folgerung nicht abzuweisen, daß einer Verschiedenheit dieser Medien auch eine verschiedene Fügung des Objekts ein verschiedener Sinn "gegenständlicher Zusammenhänge entsprechen muß.

Selbst innerhalb des Umkreises der "Natur" fällt sodann der physikalische Gegenstand nicht schlechthin mit dem chemischen, der chemische nicht schlechthin mit dem biologischen zusammen - weil die physikalische, die chemische, die biologische Erkenntnis je einen besonderen Gesichtspunkt der Fragestellung in sich schließen und die Erscheinungen gemäß diesem Gesichtspunkt einer spezifischen Deutung und Formung unterwerfen. Fast kann es den Anschein haben, als sei durch dieses Resultat der idealistischen Gedankenentwicklung die Erwartung, mit der sie begonnen hatte, endgültig vereitelt.

Das Ende dieser Entwicklung scheint ihren Anfang zu negieren - denn wieder droht nun die gesuchte und geforderte Einheit des Seins in eine bloße Mannigfaltigkeit des Seienden auseinanderzugehen. Das Eine Sein, an dem das Denken fest hält und von dem es nicht ablassen zu können scheint, ohne seine eigene Form zu zerstören, zieht sich aus dem Gebiet der Erkenntnis mehr und mehr zurück. Es wird zu einem bloßen X, das, je strenger es seine metaphysische Einheit als "Ding an sich" behauptet, um so mehr aller Möglichkeit des Erkennens entrückt und schließlich völlig ins Gebiet des Unerkennbaren abgedrängt wird. Diesem starren metaphysischen Absolutum aber steht nun das Reich der Erscheinungen, das eigentliche Gebiet des Wiss- und Kennbaren, in seiner unveräußerlichen Vielheit, in seiner Bedingtheit und Relativität gegenüber. Schärfer betrachtet aber ist freilich eben in dieser schlechthin unreduzierbaren Mannigfaltigkeit der Wissensmethoden und der Wissensgegenstände die Grundforderung der Einheit nicht als nichtig abgewiesen, sondern sie ist hier vielmehr in einer neuen Form gestellt.

Die Ein -heit des Wissens kann jetzt allerdings nicht mehr dadurch verbürgt und sichergestellt werden, daß es in all seinen Formen auf ein gemeinsames "einfaches" Objekt bezogen wird, das sich zu diesen Formen wie das transzendente Urbild zu den empirischen Abbildern verhält, - aber statt dessen ergibt sich jetzt die andere Forderung, die verschiedenen methodischen Richtungen des Wissens bei all ihrer anerkannten Eigenart und Selbständigkeit in einem System zu begreifen, dessen einzelne Glieder, gerade in ihrer notwendigen Verschiedenheit, sich wechselseitig bedingen und fordern. Das Postulat einer derartigen rein funktionellen Einheit tritt nunmehr an die Stelle des Postulats der Einheit des Substrats und der Einheit des Ursprungs, von dem der antike Seinsbegriff wesentlich beherrscht wurde.

Von hier aus ergibt sich die neue Aufgabe, die der philosophischen Kritik der Erkenntnis gestellt ist. Sie muß den Weg, den die besonderen Wissenschaften im einzelnen beschreiten, im ganzen verfolgen und im ganzen überblicken. Sie muß die Frage stellen, ob die intellektuellen Symbole, unter denen die besonderen Disziplinen die Wirklichkeit betrachten und beschreiben, als ein einfaches Nebeneinander zu denken sind, oder ob sie sich als verschiedene Äußerungen ein und derselben geistigen Grundfunktion verstehen lassen.

Und wenn diese letztere Voraussetzung sich bewähren sollte, so entsteht weiter die Aufgabe, die allgemeinen Bedingungen dieser Funktion aufzustellen und das Prinzip, von dem sie beherrscht wird, klarzulegen. Statt mit der dogmatischen Metaphysik nach der absoluten Einheit der Substanz zu fragen, in die alles besondere Dasein zurückgehen soll, wird jetzt nach einer Regel gefragt, die die konkrete Mannigfaltigkeit und Verschiedenheit der Erkenntnisfunktionen beherrscht und die sie, ohne sie aufzuheben und zu zerstören, zu einem einheitlichen Tun, zu einer in sich geschlossenen geistigen Aktion zusammenfaßt.

Aber noch einmal weitet sich an dieser Stelle der Blick, sobald man erwägt, daß die Erkenntnis , so universell und umfassend ihr Begriff auch genommen werden mag, doch im ganzen der geistigen Erfassung und Deutung des Seins, immer nur eine einzelne Art der Formgebung darstellt. Sie ist eine Gestaltung des Mannigfaltigen, die von einem spezifischen, damit aber zugleich von einem in sich selbst klar und scharf begrenzten Prinzip geleitet wird. Alle Erkenntnis geht zuletzt, so verschieden auch ihre Wege und Wegrichtungen sein mögen, darauf aus, die Vielheit der Erscheinungen der Einheit des "Satzes vom Grunde" zu unterwerfen. Das Einzelne soll nicht als einzelnes stehen bleiben, sondern es soll sich einem Zusammenhang einreihen, in dem es als Glied eines sei es logischen, sei es teleologischen oder kausalen "Gefüges" erscheint.

Auf dieses wesentliche Ziel: auf die Einfügung des Besonderen in eine universelle Gesetzes- und Ordnungsform bleibt die Erkenntnis wesentlich gerichtet. Aber neben dieser Form der intellektuellen Synthesis, die sich im System der wissenschaftlichen Begriffe darstellt und auswirkt, stehen im Ganzen des geistigen Lebens andere Gestaltungsweisen. Auch sie lassen sich als gewisse Weisen der "Objektivierung bezeichnen : d. h. als Mittel, ein Individuelles zu einem Allgemeingültigen zu erheben ; aber sie erreichen dieses Ziel der Allgemeingültigkeit auf einem völlig anderen Wege als auf dem des logischen Begriffs und des logischen Gesetzes.

Jede echte geistige Grundfunktion hat mit der Erkenntnis den einen entscheidenden Zug gemeinsam, daß ihr eine ursprünglich-bildende, nicht bloß eine nachbildende Kraft innewohnt. Sie druckt nicht bloß passiv ein Vorhandenes aus, sondern sie schließt eine selbständige Energie des Geistes in sich, durch die das schlichte Dasein der Erscheinung eine bestimmte "Bedeutung", einen eigentümlichen ideellen Gehalt empfängt. Dies gilt für die Kunst, wie es für die Erkenntnis gilt; für den Mythos wie für die Religion. Sie alle leben in eigentümlichen Bildwelten, in denen sich nicht ein empirisch Gegebenes einfach widerspiegelt, sondern die sie vielmehr nach einem selbständigen Prinzip hervorbringen.

Und so schafft auch jede von ihnen sich eigene symbolische Gestaltungen, die den intellektuellen Symbolen, wenn nicht gleichartig so doch ihrem geistigen Ursprung nach ebenbürtig sind. Keine dieser Gestaltungen geht schlechthin in der anderen auf oder läßt sich aus der anderen ableiten, sondern jede von ihnen bezeichnet eine bestimmte geistige Auffassungsweise und konstituiert in ihr und durch sie zugleich eine eigene Seite des "Wirklichen". Sie sind somit nicht verschiedene Weisen, in denen sich ein an sich Wirkliches dem Geiste offenbart, sondern sie sind die Wege, die der Geist in seiner Objektivierung, d. h. in seiner Selbstoffenbarung verfolgt. Faßt man die Kunst und die Sprache, den Mythos und die Erkenntnis in diesem Sinne, so hebt sich aus ihnen alsbald ein gemeinsames Problem her-aus, das einen neuen Zugang zu einer allgemeinen Philosophie der Geistes-wissenschaften erschließt.

Wir greifen hierfür zunächst wieder auf den Begriff des "Symbols" zurück, wie ihn HEINRICH HERTZ vom Standpunkt der physikalischen Erkenntnis fordert und kennzeichnet. Was der Physiker in den Erscheinungen sucht, ist die Darstellung ihrer notwendigen Verknüpfung. Aber diese Darstellung läßt sich nicht anders vollziehen; als dadurch, daß er die unmittelbare Welt der sinnlichen Eindrücke nicht nur hinter sich läßt, sondern sich scheinbar völlig von ihnen abwendet. Die Begriffe, mit denen er operiert, die Begriffe des Raumes und der Zeit, der Masse und der Kraft, des materiellen Punktes und der Energie, des Atoms oder des Äthers sind freie "Scheinbilder", die die Erkenntnis entwirft, um die Welt der sinnlichen Erfahrung zu beherrschen und als gesetzlich-geordnete Welt zu übersehen, denen aber in den sinnlichen Daten selbst unmittelbar nichts entspricht.

Aber obwohl keine derartige Entsprechung stattfindet - und vielleicht gerade weil sie nicht stattfindet - ist doch die Begriffswelt der Physik in sich selbst völlig geschlossen. Jeder Einzelbegriff, jedes besondere Scheinbild und Zeichen gleicht dem artikulierten Wort einer in sich bedeutungs- und sinnvollen, nach festen Regeln gegliederten Sprache. Schon in den ersten Anfangen der modernen Physik, schon bei GALILEI , findet sich der Vergleich, daß das "Buch der Natur" in mathematischer Sprache verfaßt und nur in mathematischer Chiffreschrift lesbar sei. Und seither zeigt die gesamte Entwicklung der exakten Naturwissenschaft, wie in der Tat jeder Fortschritt ihrer Problemstellung und ihrer Begriffsmittel mit einer zunehmenden Verfeinerung ihres Zeichensystems Hand in Hand ging. Die scharfe Erfassung der Grundbegriffe der Galileischen Mechanik gelang erst, als durch den Algorithmus der Differentialrechnung gleichsam der allgemein logische Ort dieser Begriffe bestimmt und ein allgemeingültiges mathematisch logisches Zeichen für sie geschaffen war.

Und von hier aus, von den Problemen, die mit der Entdeckung der Analysyis des Unendlichen zusammenhingen, vermochte LEIBNIZ alsbald das allgemeine Problem, das in der Funktion der Zeichengebung enthalten ist, aufs schärfste zu bestimmen, vermochte er den Plan seiner universellen "Charakteristik" zu einer wahrhaft philosophischen Bedeutung zu erheben. Die Logik der Sachen, d. h. der inhaltlichen Grundbegriffe und Grundbeziehungen, auf denen der Aufbau einer Wissenschaft beruht, kann nach der Grundüberzeugung, die er vertritt und festhält, von der Logik der Zeichen nicht getrennt werden. Denn das Zeichen ist keine bloß zufällige Hülle des Gedankens, sondern sein notwendiges und wesentliches Organ. Es dient nicht nur dem Zweck der Mitteilung eines fertiggegebenen Gedankeninhalts, sondern ist ein In-strument, kraft dessen dieser Inhalt selbst sich herausbildet und kraft dessen er erst seine volle Bestimmtheit gewinnt.

Der Akt der begrifflichen Bestimmung eines Inhalts geht mit dem Akt seiner Fixierung in irgendeinem charakteristischen Zeichen Hand in Hand. So findet alles wahrhaft strenge und exakte Denken seinen Halt erst in der Symbolik und Semiotik, auf die es sich stützt. Jedes "Gesetz" der Natur nimmt für unser Denken die Gestalt einer allgemeinen "Formel" an - jede Formel aber läßt sich nicht anders denn durch eine Verknüpfung allgemeiner und spezifischer Zeichen darstellen. Ohne jene universellen Zeichen, wie sie die Arithmetik und Algebra darbieten, wäre auch keine besondere Relation der Physik, kein besonderes Naturgesetz aussprechbar. Darin prägt sich gleichsam sinnfällig das Grundprinzip der Erkenntnis überhaupt aus, daß sich das Allgemeine immer nur im Besonderen anschauen, das Besondere immer nur im Hinblick auf das Allgemeine denken läßt.

Aber dieses Wechselverhältnis bleibt nun nicht auf die Wissenschaft beschränkt, sondern geht auch durch alle anderen Grundformen geistigen Schaffens hindurch. Für sie alle gilt, daß sie die ihnen gemäße und eigentümliche Auffassungs- und Gestaltungsweise nur dadurch zur Geltung bringen können, daß sie für sie gleichsam ein bestimmtes sinnliches Substrat erschaffen. So wesentlich ist hier dieses Substrat, daß es bisweilen den gesamten Bedeutungsgehalt, den eigentlichen "Sinn" dieser Formen zu umschließen scheint. Die Sprache scheint sich vollständig als ein System von Lautzeichen definieren und denken zu lassen - die Welt der Kunst und die des Mythos scheint sich in der Welt der besonderen, sinnlich-faßbaren Gestalten, die beide vor uns hinstellen, zu erschöpfen.

Und damit ist in der Tat ein allumfassendes Medium gegeben, in welchem alle noch so verschiedenen geistigen Bildungen sich begegnen. Der Gehalt des Geistes erschließt sich nur in seiner Äußerung; die ideelle Form wird erkannt nur an und in dem Inbegriff der sinnlichen Zeichen, deren sie sich zu ihrem Ausdruck bedient. Gelänge es, einen systematischen Überblick über die verschiedenen Richtungen dieser Art des Ausdrucks zu gewinnen - gelänge es, ihre typischen und durchgängigen Züge, sowie deren besondere Abstufungen und innere Unterschiede aufzuweisen, so wäre damit das Ideal der "allgemeinen Charakteristik", wie LEIBNIZ es für die Erkenntnis aufstellte, für das Ganze des geistigen Schaffens erfüllt. Wir besäßen alsdann eine Art Grammatik der symbolischen Funktion als solcher, durch welche deren besondere Ausdrucke und Idiome, wie wir sie in der Sprache und in der Kunst, im Mythos und in der Religion vor uns sehen, umfaßt und generell mitbestimmt würden.

Die Idee einer derartigen Grammatik schließt eine Erweiterung des traditionellen geschichtlichen Lehrbegriffs des Idealismus in sich. Dieser Lehrbegriff war von jeher darauf gerichtet, dem "mundus sensibilis" einen anderen Kosmos, den "mundus intelligibilis" gegenüberzustellen und die Grenzen beider Welten sicher zu scheiden. Im wesentlichen aber verlief die Grenze derart, daß die Welt des Intelligiblen durch das Moment des reinen Tuns, die Welt des Sinnlichen durch das Moment des Leidens bestimmt wurde. Dort herrschte die freie Spontaneität des Geistigen, hier die Gebundenheit, die Passivität des Sinnlichen. Für jene "allgemeine Charakteristik" aber, deren Problem und Aufgabe sich jetzt im allgemeinsten Umriß vor uns hingestellt hat, ist dies er Gegensatz kein unvermittelter und ausschließender mehr. Denn zwischen dem Sinnlichen und Geistigen knüpft sich hier eine neue Form der Wechselbeziehung und der Korrelation.

Der metaphysische Dualismus beider erscheint überbrückt, sofern sich zeigen läßt, daß gerade die reine Funktion des Geistigen selbst im Sinnlichen ihre konkrete Erfüllung suchen muß, und daß sie sie hier zuletzt allein zu finden vermag. Im Kreis des Sinnlichen selbst muß scharf zwischen dem, was bloße "Reaktion" und dem, was reine "Aktion" ist, zwischen dem, was der Sphäre des "Eindrucks" und dem, was der Sphäre des "Ausdrucks" angehört, unterschieden werden. Der dogmatische Sensualismus fehlt nicht nur darin, daß er die Bedeutung und Leistung der rein intellektuellen Faktoren unterschätzt, sondern vor allem auch darin, daß er die Sinnlichkeit selbst, wenngleich er sie als eigentliche Grundkraft des Geistes proklamiert, keineswegs in der ganzen Weite ihres Begriffs und in der Totalität ihrer Leistungen erfaßt. Er entwirft auch von ihr ein ungenügendes und verstümmeltes Bild, sofern er sie lediglich auf die Welt der "Impressionen", auf die unmittelbare Gegebenheit der einfachen Empfindungen beschränkt.

Darin ist verkannt, daß es auch eine Aktivität des Sinnlichen selbst, daß es, um den GOETHEschen Ausdruck zu gebrauchen, auch eine "exakte sinnliche Phantasie" gibt, die sich in den verschiedensten Gebieten gei-stigen Schaffens als wirksam erweist. In ihnen allen zeigt sich in der Tat dies als das eigentliche Vehikel ihres immanenten Fortgangs, daß sie neben und über der Welt der Wahrnehmung eine eigene freie Bildwelt erstehen lassen : eine Welt, die ihrer unmittelbaren / Beschaffenheit nach noch ganz die Farbe des Sinnlichen an sich trägt, die aber eine bereits geformte und somit eine geistig beherrschte Sinnlichkeit darstellt. Hier handelt es sich nicht um ein einfach gegebenes und vorgefundenes Sinnliches, sondern um ein System sinnlicher Mannigfaltigkeiten, die in irgendeiner Form freien Bildens erschaffen werden.

So zeigt etwa der Prozeß der Sprachbildung, wie das Chaos der unmittelbaren Eindrücke sich für uns erst dadurch lichtet und gliedert, daß wir es "benennen" und es dadurch mit der Funktion des sprachlichen Denkens und des sprachlichen Ausdrucks durchdringen. In dieser neuen Welt der Sprachzeichen gewinnt auch die Welt der Eindrücke selbst einen ganz neuen "Bestand", weil eine neue geistige Artikulation. Die Unterscheidung und Sonderung, die Fixierung gewisser Inhaltsmomente durch den Sprachlaut bezeichnet an ihnen nicht nur, sondern verleiht ihnen geradezu eine bestimmte gedankliche Qualität, kraft deren sie nun über die bloße Unmittelbarkeit der sog. sinnlichen Qualitäten erhoben sind: So wird die Sprache zu einem der geistigen Grundmittel, vermöge dessen sich für uns der Fortschritt von der bloßen Empfindungswelt zur Welt der Anschauung und Vorstellung vollzieht. Sie schließt im Keime bereits jene intellektuelle Arbeit in sich, die sich weiterhin in der Bildung des Begriffs, als wissenschaftlichen Begriffs, als bestimmter logischer Formeinheit äußert.
LITERATUR - Ernst Cassirer, Philosophie der symbolischen Formen, Bd.1 Die Sprache, Oxford 1954