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ERNST CASSIRER
Symbolische Formen -
Religion, Kunst und Mythos


Begriff der symb. Formen
Die Sprache
Eben darin besteht das Geheimnis des wahrhaft vollendeten dichterischen Ausdrucks, daß in ihm Sinnliches und Geistiges nicht mehr einander gegenüberstehen.

Wir haben die Kraft des inneren Bildens, die sich in der Erzeugung der Welt der Kunst und der Welt der Erkenntnis, in der Erzeugung der mythischen und der sprachlichen Welt beweist, im wesentlichen als eine  Einheit  betrachtet; wir haben eine durchgehende Form des Aufbaus, gleichsam eine allgemeine Typik, in ihr herauszustellen gesucht. Aber das wahre Verhältnis der Einzelformen tritt erst zutage, wenn wir nun innerhalb dieser Typik die besonderen und spezifischen Züge jeder einzelnen Grundrichtung zu bestimmen und gegeneinander abzugrenzen versuchen.

Die Funktion der Bildgestaltung überhaupt mag immerhin als eine letzte übergreifende Einheit gedacht werden können; aber die Verschiedenheit der Formen tritt sofort wieder hervor, sobald man auf das verschiedene Verhältnis reflektiert, das der Geist in jeder von ihnen zu der von ihm erzeugten Welt der Bilder und Gestalten sich gibt.

Bleiben wir auf der Stufe des Mythos stehen, so tritt uns hier die Bildkraft des Geistes in ihrem ganzen Reichtum, in der unabsehbaren Mannigfaltigkeit und Fülle ihrer Äußerungsweisen, entgegen: aber zugleich bedeutet hier die Welt der Bilder für das Bewußtsein nur eine andere Form der objektiv-dinglichen Wirklichkeit, weil es ihr in der gleichen  Gebundenheit  wie der Welt der unmittelbaren Sinneseindrücke gegenübersteht.
    Das Bild ist nicht als solches, als eine freie geistige Schöpfung, gewußt und erkannt, sondern es kommt ihm eine selbständige Wirksamkeit zu; es geht ein dämonischer Zwang von ihm aus, der das Bewußtsein beherrscht und bannt.
Das mythische Bewußtsein wird durchweg durch diese Indifferenz von Bild und Sache bestimmt: beide können sich in der Art des  Seins  nicht voneinander trennen, weil die Art des  Wirkens  ihnen gemeinsam ist. Denn in dem allgemeinen mythisch-magischen Verflechtungszusammenhang der Dinge eignet dem Bild die gleiche Kraft wie irgendeinem physischen Dasein. Das Bild des Menschen oder sein Name  repräsentiert  hier keineswegs den Menschen, sondern es ist, vom Standpunkt des magischen Wirkungszusammenhangs und also gemäß dem magischen Begriff der "Realität", der Mensch selbst.

Wie derjenige,der sich des kleinsten körperlichen Teils eines Menschen, der sich seiner Haare, seiner Nägel usf. zu bemächtigen vermag, kraft desselben den ganzen Menschen besitzt und beherrscht, so wird die gleiche Herrschaft, durch den Besitz des Bildes oder Namens verbürgt. Der Glaube an die objektive Wesenheit und an die objektive Kraft des Zeichens, der Glaube an Wort- und Bildzauber, an Namen- und Schriftzauber, bildet ein Grundelement der mythischen Weltansicht.

Nun vollzieht sich freilich innerhalb dieser letzteren selbst eine allmähliche Loslösung und Befreiung in dem Maße, als die Welt des Mythos der eigentlich religiösen Welt zu weichen beginnt. Alle Entfaltung des religiösen Selbstbewußtseins nimmt hier ihren Ursprung. Mag die mythische Phantasie immerhin der substantielle Untergrund und gleichsam der Nährboden auf für alles Religiöse bleiben: die eigentliche charakteristische  Form  des Religiösen wird doch erst erreicht, wenn es sich in bewußter Energie von diesem Boden losreißt, und mit einer ganz neuen Kraft geistiger Kritik dem Inhalt der mythischen Bilder entgegentritt.

Aus dieser Haltung heraus, aus dem Kampf gegen den Bilderdienst, wird im israelitischen Prophetismus der Inhalt und die Form der Gottesidee gewonnen. Das Verbot des Bilderdienstes bildet die Grenzscheide zwischen dem mythischen und dem prophetischen Bewußtsein. Das unterscheidet das neue monotheistische Bewußtsein, daß für dasselbe die beseelende, die geistige Kraft des Bildes wie verloschen ist; daß alle Bedeutung und Bedeutsamkeit sich in eine andere, rein geistige Sphäre zurückzieht und damit vom Sein des Bildes nichts anderes als das leere materielle Substrat zurückläßt.

Von der heroischen Abstraktionskraft, die dem prophetischen Denken eignet, und die auch das prophetische religiöse Gefühl bestimmt, werden die Bilder des Mythos zum "lautern Nichts". Und doch bleiben sie nicht auf die Dauer in dieser Sphäre des "Nichts" beschlossen, in die das prophetische Bewußtsein sie zurückzudrängen sucht; sondern immer aufs neue brechen sie aus ihr hervor und machen sich als eine selbständige Macht gelten.

Immer wieder werden, im Fortgang und in der Entfaltung des religiösen Bewußtseins, die religiösen Symbole zugleich als Träger religiöser Kräfte und Wirkungen gedacht. Für die gesamte Entwicklung des christlichen Dogmas bis zum Protestantismus, bis zu Luther und Zwingli hin, ist es von entscheidender Bedeutung geworden, daß schon in den ersten Anfängen der Begriff des Symbols mit dem des Sakraments und dem des Mysteriums verschmilzt.

"Das Symbolische" - so schildert z.B. HARNACK den Glauben der Urzeit - "ist für jene Zeit nicht als der Gegensatz des Objektiven, Realen zu denken, sondern es ist das Geheimnisvolle, Gottgewirkte, dem das Natürliche, profan Klare gegenübersteht." Freilich auch hier dringt immer wieder die Scheidung zwischen dem Bild selbst und der geistigen und bildlosen Wahrheit, die es darstellen will, hervor. Aber es liegt in der Natur des Religiösen begründet, daß dieser Kampf der Motive in ihm selbst nicht zum Abschluß geführt werden kann; denn eben dieser Widerstreit: dieser ständige Versuch, sich vom bloß Bildhaften zu lösen und die ständige Notwendigkeit, zu ihm zurückzukehren, bildet ein Grundmoment des religiösen Prozesses selbst, wie er sich in der Geschichte vollzieht.

Aber eine neue Freiheit der Auffassung tritt uns nun entgegen, wenn wir uns von der mythisch-religiösen zur  ästhetischen  Betrachtung wenden; ja diese letztere entsteht und besteht eigentlich darin, daß hier der Geist zu der ganzen Sphäre des Bildes in ein neues Verhältnis tritt. Auch die Kunst ist freilich gerade in ihren großartigen Leistungen mit der mythischen Weltansicht noch aufs engste verwachsen.
    "Werke wie die indischen und ägyptischen Monumente - sagt SCHELLING in der "Einleitung in die Philosophie der Mythologie" - entstehen nicht wie Stalaktytenhöhlen durch die bloße Länge der Zeit; dieselbe Gewalt, die nach innen die zum Teil kolossalen Vorstellungen der Mythologie erschuf, bracht nach außen gewendet die kühnen, alle Maßstäbe der späteren Zeit übersteigenden Unternehmungen der Kunst hervor.Die Gewalt, die das menschliche Bewußtsein in den mythologischen Vorstellungen über die Schranken der Wirklichkeit erhob, war auch die erste Lehrmeisterin des Großen, Bedeutungsvollen in der Kunst."
Was hier aus einer allgemeinen spekulativen Überzeugung heraus gesagt ist: das hat die empirische Forschung im Gebiet der Kunstgeschichte und der Mythengeschichte durchaus bestätigt. Und doch bleibt bei aller wechselseitigen Durchdringung der  Inhalte  von Kunst und Mythos ihre beiderseitige  Form  klar geschieden. Im mythischen und religiösen Bewußtsein besteht auf der einen Seite eine völlige Indifferenz zwischen dem Bild und seinem Bedeutungsgehalt; auf der anderen Seite eine ständige Spannung zwischen beiden. Bald ist der ideelle Gehalt in den Bildgehalt eingeschmolzen und in ihm gleichsam versunken; bald versucht er, sich dem sinnlich-bildlichen Ausdruck zu befreien, um seiner Gewalt doch stets von neuem zu unterliegen.

In der künstlerischen Auffassung und Gestaltung der Welt erst ist an Stelle dieses Wettkampfs und dieses Widerstreits von Motiven ein reines Gleichgewicht getreten. In diesem Gleichgewicht besteht das Leben des ästhetischen Bewußtseins wie in jenem Gegeneinander das Leben des mythisch-religiösen Bewußtseins besteht. Die künstlerische Anschauung blickt nicht durch das Bild hindurch auf ein anderes, das in ihm ausgedrückt und dargestellt wird, sondern sie versenkt sich in die reine Form des Bildes selbst und beharrt in ihr.

Von der Welt des Wirkens und Leidens, in die die magisch-mythische Weltansicht den Menschen einschloß, hat sich das Bild hier endgültig gelöst. Indem es der Verkettung von Ursache und Wirkung entzogen, indem es nur als das genommen wird, was es an ideellem Gehalt in sich faßt, nicht nach dem, was es leistet, tritt es aus dem Kreis der Existenz, der eben durch dieses Ineinandergreifen von Wirkungen beschlossen wird, was es an ideellem Gehalt in sich faßt, nicht nach dem, was es leistet, tritt es aus dem Kreis der Existenz, der eben durch dieses Ineinandergreifen von Wirkungen bestimmt wird, heraus. Es ist eine Welt des "Scheins", die sich in ihm darstellt, aber eines Scheines, der seine eigene Notwendigkeit und somit seine eigene Wahrheit in sich trägt.

Und noch in einem anderen Sinne zeigt sich die Kunst als die Erfüllung dessen, was in anderen Gebieten des Geistes, in anderen Richtungen symbolischer Formung als Forderung enthalten ist. Wir haben es als ein allgemeines Gesetz des sprachlichen Ausdrucks nachzuweisen gesucht, daß er mit der größten Nähe zum sinnlichen Gegenstand und zum sinnlichen Eindruck beginnt, um sich sodann fortschreitend von beiden zu entfernen. Das Wort hört mehr und mehr auf, bloßes Lautbild sein zu wollen; sein reiner Bedeutungsgehalt wird unabhängig von seinem sinnlich-faßbaren Bestand.

Auf den höchsten Punkten sprachlicher Entwicklung ist diese Trennung endgültig vollzogen; die reine Beziehung des Lautes auf die Bedeutung tritt selbständig heraus, ohne mehr der Stütze in irgendeiner "natürlichen" Ähnlichkeit zwischen beiden zu bedürfen. Aber wenn nun die Sprache nicht nur als reiner Begriffsausdruck, im Sinne objektiver Bestimmung und objektiver Mitteilung, gebraucht wird, sondern wenn sie sich gleichsam in die Innerlichkeit des Subjekts, von der sie ausgegangen war, wieder zurückwendet, um zum reinen Spiegel dieser Innerlichkeit zu werden: so tritt nun mit einem Schlage ein ganz neues Verhältnis ein.

Denn in der Sprache der  Dichtung  ist nichts mehr bloß abstrakter Begriffsausdruck, sondern jedes Wort hat hier zugleich seinen eigenen Klang- und Gefühlswert. Es geht nicht nur in der allgemeinen Leistung der Repräsentation eines bestimmten Bedeutungsgehalts auf, sondern besitzt daneben, als Klang und Ton, ein selbständiges Leben, ein eigenes Sein und einen eigenen Sinn. Mitten in der höchsten Bestimmtheit objektiver Darstellung bewahrt jetzt der Laut diese seine innere Bedeutsamkeit. Die gegenständliche Schilderung selbst streift nun alles bloß Mitteilbare, alles lediglich Repräsentative und Signifikative von sich ab, um in die Form reiner unmittelbarer Gegenwart zurückzugehen.

Eben darin besteht das Geheimnis des wahrhaft vollendeten dichterischen Ausdrucks, daß in ihm Sinnliches und Geistiges nicht mehr einander gegenüberstehen. Alles Starre des bloßen Zeichens löst sich; jedes Wort ist wieder erfüllt mit einem ihm eigentümlichen individuellen Gehalt und wird damit zum Ausdruck der inneren Bewegtheit, der reinen Dynamik des Gefühls.

Die höchsten lyrischen Kunstwerke - in der deutschen Poesie etwa die vollkommensten Dichtungen Hölderlins - zeigen am meisten diese doppelte Fügung: die vollendete Geistigkeit, die sich zugleich den vollendeten Körper, den ihr schlechthin-gemäßen, sinnlichen Ton und Rhythmus geschaffen hat. Vor Schöpfungen dieser Art ergreift uns das Gefühl, das HAMANN in die Worte kleidet, daß die Poesie die "Muttersprache des menschlichen Geschlechtes" sei. Und doch findet hier keine Rückkehr in den primitiven Urgrund, in den ersten geschichtlichen Anfang der Sprachschöpfung statt, sondern die Sprachform hat, indem sie sich mit der Form der Dichtung durchdrungen hat, selbst einen neuen Gehalt gewonnen.

Die Stufe des bloßen Nachahmungs- oder Empfindungslautes liegt auch weit hinter uns: die Lautmalerei kann gelegentlich, in einem eng begrenzten Kreise, bestimmten dichterischen Einzelwirkungen dienen, geht aber in das Wesen des lyrischen Ausdrucks so wenig, wie in das des sprachlichen Ausdrucks ein. Denn der Laut malt auch hier niemals das Einzelne, das Besondere und zufällige des sinnlichen Eindrucks, sondern er schwingt rein in sich selbst - und erst die Gesamtheit dieser nicht auf ein anderes und Äußeres gerichteten, sondern rein aufeinander abgetönten Schwingungen schließt die Einheit der ästhetischen Stimmung in sich. So ist die scheinbare Rückwendung zum Unmittelbaren auch hier vielmehr das Ergebnis einer doppelten Vermittlung, an welcher die sprachliche und die dichterische Form, je in ihrer besonderen Eigenart, teilhaben.

Allgemein kann die philosophische Betrachtung der "symbolischen Formen" niemals dabei stehen bleiben, jede von ihnen einzeln, in ihrer bestimmten geistigen Struktur und in ihren spezifischen Ausdrucksmitteln zu beschreiben, sonder es wird zu einer ihrer wichtigsten Aufgaben, das wechselseitige Verhältnis dieser Formen zu bestimmen; - ein Verhältnis, das ebensosehr aus ihrer Entsprechung wie aus ihrem Gegensatz, aus ihrer Anziehung wie aus ihrer Abstoßung sich ergibt.

Aus dem Umkreis der Probleme, die sich für eine derartige Betrachtung ergeben, hebe ich nur noch ein einzelnes heraus. Wenn man die  mythische  Welterklärung der  wissenschaftlichen  gegenüberstellt, so zeigt sich, daß beide nicht dadurch voneinander getrennt sind, daß auf der einen Seite die höchste objektive Bestimmtheit des Denkens, auf der anderen Seite lediglich phantastische Laune und individuelle Willkür waltet. Auch der Mythos hat eine in sich geschlossene Form; auch er zeigt, in aller widerspruchsvollen Fülle seiner Bildungen, ein bestimmtes Gesetz des Bildens selbst. Und diese Form entspringt wenigstens nicht ausschließlich den Antrieben der Phantasie oder des bloßen Affekts, sondern sie faßt daneben ganz bestimmte intellektuelle Momente in sich.

Das mythische Denken hat seine "Kategorien", wie das logisch-wissenschaftliche Denken sie hat. Vor allem ist die grundlegende und beherrschende Kategorie, die Kategorie der  Kausalität die sich auch in ihm wirksam erweist. Daß es dem Mythos an dem allgemeinsten  Begriff  der Kausalität, an dem bloßen Verhältnisgedanken von "Ursachen" und "Wirkung", keineswegs mangelt, tritt in seiner ständigen Tendenz zur Ableitung und "Erklärung" der Welt deutlich zutage.

Kosmogonie und Theogonie bestimmen erst das Ganze der mythischen Welt. Und schon auf niederen Stufen beweist die Fülle der Mythenmärchen, die für irgendein  einzelnes  Ding, für die Sonne oder den Mond, für den Menschen oder eine Tier- und Pflanzenart, die mythische "Entstehung" angeben, wie tief dieser Grundzug im mythischen Denken wurzelt. Nicht die Form der Kausalität als solche, sondern ihre besondere Richtung und Ausgestaltung ist es somit, die den mythischen Begriff des Seins und Werdens vom wissenschaftlichen Begriff prinzipiell unterscheidet. Denn der Mythos bleibt auch nocht in seinem kausalen Denken, und vorzugsweise in ihm, an die Form des  "komplexen  Denkens" gebunden, die für ihn überhaupt bezeichnend und bestimmend ist.

Ihm genügt jede bloße Ähnlichkeit der Dinge oder ihre zufällige Koexistenz, ihr Beisammen im Raume und ihre Berührung in der Zeit, um sie zu einer magischen Einheit des Wirkens zusammenzuschließen. Jeder "Analogiezauber" ist ein typisches Beispiel dieses Verhaltens. Der  Name  des Analogiezaubers freilich verdunkelt diesen Sachverhalt eher, als daß er ihn erhellt: denn gerade dies ist für die mythische Auffassung bezeichnend, daß sie dort, wo wir eine bloße "Analogie", eine bloße  Beziehung  der Ähnlichkeit erblicken, die zwischen zwei verschiedenen und selbständigen Elementen stattfindet, in Wahrheit nur ein einziges Ding vor sich sieht. Sie trennt nicht das verschiedenartige Besondere nach generischen Ähnlichkeiten ab; sondern jede Ähnlichkeit ist ihr der unmittelbare Ausdruck einer Identität des Wesens.

Und das Gleiche wie für die Relation der Ähnlichkeit gilt auch für die des räumlichen Beieinander und der zeitlichen Gemeinschaft. Was einmal im Raume und in der Zeit zusammentritt, das verwächst damit zu mythisch-magischer Einheit. "Es ist, als wenn das einzelne Objekt" - so charakterisiert K.Th.Preuß dieses Verhalten des mythischen Denkens - "gar nicht für sich gesondert betrachtet werden kann, sobald es das magische Interesse erregt, sondern stets die Zugehörigkeit zu anderen Objekten in sich trägt, mit denen es identifiziert wird, so daß die äußere Erscheinung nur eine Art Umhüllung, eine Maske bildet."

Eben hierin aber trennt sich nun der wissenschaftliche Begriff der Kausalität von ihrem mythischen Begriff. Denn dieser wissenschaftliche Begriff entspringt - trotz HUME und all denen, die seine psychologistische Theorie wiederholt haben - nicht dem Zug und Trieb der "Assoziation", nicht dem Walten der subjektiven Einbildungskraft, die das  post hoc  und  juxta hoc  in ein  propter hoc  verwandelt. Vielmehr zeigt er sich, schärfer betrachtet, genau in dem entgegengesetzten geistigen Verhalten begründet. Es ist die begriffliche Kraft der Analyse, die das wissenschaftliche Kausalurteil erst ermöglicht und die ihm seinen festen Halt gibt.

Wenn der Mythos ein  Ding  als komplexe Gesamtheit aus einem anderen  Ding  hervorgehen läßt, so kennt das wissenschaftliche Kausalurteil streng genommen die Beziehung von Ursache und Wirkung überhaupt nicht mehr als ein solches unmittelbares Dingverhältnis. Nicht Dinge, als komplexe sinnlich gegebene Gesamtheiten, sondern Veränderungen sind es, die zueinander in das Verhältnis von Ursache und Wirkung treten. Jeder kausale Ablauf erscheint als das Ganze eines Prozesses, der immer genauer und schärfer in seine Teilphasen und seine Teilbedingungen zerlegt wird. Diese Zerlegung schafft erst die Elemente, zwischen denen eine ursächliche Beziehung überhaupt aussagbar ist.

Ein Phänomen A gilt als Ursache eines anderen B nicht darum, weil beide in der Beobachtung genügend oft miteinander zusammengetroffen sind und ihr weiteres Zusammentreffen auf Grund eines psychologischen Zwanges erwartet wird, sondern weil aus dem Ganzen von A sich ein Moment X, aus dem Ganzen von B sich ein Moment Y herauslösen läßt, wobei X und Y so beschaffen sind, daß sich der Übergang vom einen zum andern nach einer allgemeinen Regel bestimmen läßt. Als eindeutig fixiert und als wahrhaft allgemein erscheint dabei, nach der Grundanschauung der  mathematischen  Physik, diese Regel nur dann, wenn es gelingt, X und Y als Grössen zu fassen, deren Veränderungen einem bestimmten Maßstab unterliegen, und die sich in diesem ihren Maßwert gegenseitig bedingen.

Diese Größen und die Form ihrer gesetzlichen Verknüpfung, durch welche ihr Zusammenhang als "verständlich", als notwendig erscheint, aber werden nicht unmittelbar in dem wahrgenommenen Inhalt der Phänomene vorgefunden, sondern müssen ihm gleichsam erst gedanklich substruhiert und unterbaut werden. Das Sinnlichgegebene wird mit der Form unserer kausalen "Schlüsse" durchsetzt und durchdrungen und nimmt nun kraft dieser Analysis und Synthesis des Verstandes selbst eine neue Gestalt an.

Was zuvor dicht beieinander lag, was durch qualitative Ähnlichkeit oder durch räumlich-zeitliche Nachbarschaft aufs engste miteinander verbunden schien, kann jetzt in weite Ferne rücken - wie andererseits die vom Standpunkt der unmittelbaren Beobachtung einander fernsten Erscheinungen sich auf Grund der gedanklichen Zergliederung als  einem  Gesetz untergeordnet und insofern wesensverwandt erweisen.

Während somit die Denkart des Mythos des Bezugsglieder von Ursache und Wirkung überall gleichsam mit Händen zu greifen glaubte, ist es hier eine höchst verwickelte, sondernde und scheidende, eine eigentlich "kritische" Arbeit des Geistes, die erst zu ihnen hinleitet. Durch diese kritische Arbeit tritt an die Stelle des bloßen empirischen Beisammen einzelner Inhalte eine immer schärfere Unter- und Überordnung - das bloße Dasein und seine individuelle Beschaffenheit wandelt sich immer bestimmter in einen allgemeinen Zusammenhang von "Gründen" und "Folgen".

Die Wissenschaft trennt beständig die Elemente des einfachen "Daseins" der Dinge, um für diese Trennung eine um so festere Verknüpfung nach allgemeingültigen Gesetzen einzutauschen. Sie setzt die Elemente des "Seins" derart an, und stellt sie zueinander in ein derartiges Verhältnis, daß dies höchste intellektuelle Ziel, dem sie nachstrebt, aufs vollkommenste erreicht wird. Der Zusammenhang der Wahrnehmungswelt löst sich, um in einer anderen Dimension in einer neuen Weise, weil unter einer neuen gedanklichen Form, wieder zu erstehen.

So fallen - um ein einzelnes konkretes Beispiel zu geben - sinnlich so weit abstehende Phänomene wie das Phänomen des fallenden Steines, das Phänomen der Mondbewegung und das von Ebbe und Flut für uns seit Newton unter ein und denselben physikalischen Begriff. Auf der anderen Seite geht das Zurückdrängen des spezifisch sinnlichen Elements aus den Definitionen der physikalischen Begriffe so weit, daß Gebiete der Physik, welche ursprünglich durch die Zuordnung zu einer bestimmten Sinnesempfindung als durchaus einheitlich charakterisiert wurden, theoretisch nunmehr in verschiedene ganz getrennte Stücke auseinanderfallen.

"Während z.B. die Wärme" - so betont PLANCK - "früher einen bestimmten, durch die Empfindungen des Wärmesinns charakterisierten, wohl abgegrenzten und einheitlichen Bezirk der Physik bildete, wird heute ein ganzes Gebiet von ihr, die Wärmestrahlung, abgespalten und bei der Optik behandelt. Die Bedeutung des Wärmesinns reicht nicht mehr hin, die heterogenen Stücke zusammenzuhalten; vielmehr wird jetzt da eine Stück der Optik bzw. Elektrodynamik, das andere der Mechanik, speziell der kinetischen Theorie der Materie angegliedert."
LITERATUR - Ernst Cassirer, Wesen und Wirkung des Symbolbegriffs, Darmstadt 1956