ra-2Schweigen und Sprechen im Zen Zen-Unsinn    
 
ANAGARIKA GOVINDA
Die Magie des Wortes
und die Macht der Sprache


Alles Sichtbare haftet am Unsichtbaren, das Hörbare am Unhörbaren, das Fühlbare am Unfühlbaren: Vielleicht das Denkbare am Undenkbaren.

Worte sind Siegel des Geistes, Endpunkte - oder richtiger Stationen - unendlicher Erlebnisreihen, die aus fernster, unvorstellbarer Vergangenheit in die Gegenwart hineinreichen und ihrerseits Ausgangspunkte zu neuen unendlichen Reihen werden, die in eine ebenso unvorstellbar-ferne Zukunft tasten. Sie sind "das Hörbare, das am Unhörbaren haftet", das Gedachte und das Denkbare, das aus dem Undenkbaren wächst.

Das Wesen des Wortes erschöpft sich darum weder in seiner Nützlichkeit, als Vermittler von Begriff und Idee, noch in seiner gegenwärtigen Bedeutung, sondern besitzt zugleicher Zeit Eigenschaften, die über das Begriffliche hinausgehen - so wie die Melodie eines Liedes, obwohl mit einem gedanklichen Inhalt verbunden, dennoch nicht mit diesem identisch ist oder von ihm ersetzt werden kann. Und es ist gerade diese irrationale Eigenschaft, die unsere tiefsten Gefühle erregt, unser innerstes Wesen erhebt und es mitschwingen läßt mit anderen.

Der Zauber, den die Dichtkunst auf uns ausübt, beruht auf diesen irrationalen Faktor, gepaart mit dem aus gleicher Quelle fließenden Rhythmus. Dies ist der Grund, warum die Magie der Dichtung stärker ist als der objektive Inhalt ihrer Worte, - stärker als der Verstand mit all seiner Logik, an deren Allmacht wir so unerschütterlich glauben.

Der Erfolg großer Redner ist darum nicht nur von dem abhängig, 'was' sie sagen, sondern von der Art 'wie' sie es sagen. Wenn die Menschen durch Logik und wissenschaftliche Beweise überzeugt werden könnten, so würden die Philosophen schon längst den größeren Teil der Menschheit zu ihren Ansichten bekehrt haben. Und auf der anderen Seite würden die heiligen Schriften der Weltreligionen nie einen so gewaltigen Einfluß ausgeübt haben. Denn was sie in Form reinen Denkens vermitteln, ist gering im Vergleich mit den Schöpfungen großer Gelehrter und Philosophen. Wir können daher mit Recht sagen, daß die Macht jener heiligen Schriften auf der Magie des Wortes beruht, d.h. auf jener verborgenen Kraft, die den Weisen der Vergangenheit bekannt war, da sie den Ursprüngen der Sprache noch nahe standen.

Die Geburt der Sprache war die Geburt des Menschtums. Jedes Wort war das lautliche Äquivalent einer Erfahrung, eines Erlebnisses, eines inneren oder äußeren Stimulus. Eine gewaltige Anstrengung und schöpferische Leistung lag in dieser Lautformung beschlossen, die sich über große Zeiträume erstreckt haben muß, und derzufolge es dem Menschen gelang, sich über das Tier zu erheben.

Wenn Kunst als die Neu-Schöpfung und der formale Ausdruck der Wirklichkeit durch das Medium menschlicher Erfahrung genannt werden kann, so können wir die Schöpfung der Sprache als die höchste künstlerische Leistung der Menschheit bezeichnen. Jedes Wort war ursprüngliche ein Brennpunkt von Energien, in denen die Verwandlung der Wirklichkeit in die Schwingungen der menschlichen Stimme - dem lebendigen Ausdruck des Seelischen - vonstatten ging.

Durch diese lautlichen Schöpfungen nahm der Mensch Besitz von der Welt. Und mehr als das: er entdeckte eine neue Dimension, eine Welt in seinem Innern, wodurch sich ihm die Aussicht auf eine höhere Lebensform eröffnete, die sich ebenso weit über den gegenwärtigen Zustand der Menschheit erhebt, wie das Bewußtsein eines zivilisierten Menschen über das Tier.

Die Vorahnung, ja Gewißheit, solch höherer Daseinszustände ist mit gewissen Erlebnissen verbunden, die von so grundlegender Natur sind, daß sie weder erklärt noch beschrieben werden können. Sie sind so subtil, daß es nichts gibt, womit man sie vergleichen könnte, nichts, woran Gedanke oder Vorstellung haften könnten. Und doch sind die Erfahrungen wirklicher als irgendetwas, das wir sehen, denken, berühren, schmecken, riechen oder hören können; und zwar deshalb weil sie erfüllt sind von dem, was allen Einzelempfindungen vorausgeht und sie umfaßt, aus welchem Grunde sie nicht mit irgendeiner derselben identifiziert werden können. Darum können solche Erlebnisse nur durch Symbole angedeutet werden. Und diese Symbole sind nicht willkürliche Erfindungen, sondern spontane Ausdrucksformen, die aus den tiefsten Regionen des menschlichen Geistes hervorbrechen.

Sie
    "brechen aus dem Seher als Gesicht, aus dem Sänger als Laut und sind im Bann von Gesicht und Laut unvermittelt und schlechthin da. Ihr wesenhaftes Da-sein ist der Inbegriff priesterlicher Gewalt des Seher-Dichters. Was aus seinem Mund erklingt, ist nicht Allerweltswort, Schall (schabda), aus dem das Reden besteht. Es ist 'mantra': Zwang zum Denkbild, Zwang über das Seiende, so da zu sein, wie es wirklich in seinem unmittelbaren Wesen ist. Es ist also Erkenntnis. Ist unmittelbares gegenseitiges Innesein von Wissendem und Gewußtem.

    Wie es im ersten Lautwerden beschwörender Zwang war, mit dem Unmittelbares den Seher-Dichter als Bild und Wort überkam, Zwang, mit dem der Dichter Unmittelbares in Bild und Wort bewältigte, - so ist für alle Folgezeit, die mantra-Worte zu brauchen weiß, beschwörender Zwang, magisches Mittel, um unmittelbar Wirklichkeit - Erscheinung der Götter, Spiel der Kräfte - zu wirken.

    Im Wort 'mantra' ist die Wurzel 'man' = 'denken' (zu griech. 'menos', lat. 'mens') mit dem Element -tra vereint, das Werkzeugworte bildet. - So ist 'mantra' = Werkzeug zum Denken, ein Ding, das ein Denkbild zuwege bringt. Mit seinem Klange ruft es seinen Gehalt zu unmittelbarer Wirklichkeit auf. 'Mantra' ist Gewalt, kein meinendes Sagen, dem der Geist widersprechen oder sich entziehen kann. Was in 'mantra' verlautet, ist so, ist da, begibt sich. Hier, wenn irgendwo, sind Worte Taten, wirken unmittelbar Wirkliches." [HEINRICH ZIMMER: Ewiges Indien]
So war das Wort in der Stunde seiner Geburt ein Zentrum der Kraft und der Wirklichkeit, und erst die Gewohnheit hat es zu einem bloß konventionellen, stereotypen Ausdrucksmittel gemacht. Das Mantra-Wort ist diesem Schicksal bis zu einem gewissen Grade entgangen, weil es keine konkrete Bedeutung hatte und daher nicht Nützlichkeitszwecken dienstbar gemacht werden konnte.

Obwohl jedoch die Mantra-Worte weiterlebten, ist ihre Tradition fast ausgestorben und es gibt heutzutage nur noch Wenige, die sich derselben bewußt sind und die wahre Natur mantrischer Worte verstehen und sich ihrer zu bedienen wissen. Die moderne Menschheit ist nicht einmal fähig, sich vorzustellen, wie tief die Magie des Wortes und der Sprache von den Kulturen des Altertums erlebt wurde, und welch gewaltigen Einfluß sie auf das gesamte Leben, besonders aber das religiöse ausübte.

Im Zeitalter des Rundfunks und der Tageszeitungen, in dem das gesprochene und geschriebene Wort millionenfach vervielfältigt und wahllos in die Welt geschleudert wird, hat die Wertung des Wortes einen solchen Tiefstand erreicht, daß es schwer ist, dem heutigen Menschen auch nur einen entfernten Begriff von der ehrfürchtigen Haltung zu geben, die der Mensch vergeistigterer Zeitalter oder religiöserer Kulturen dem Wort als Träger geheiligter Tradition und Verkörperung des Geistes entgegenbrachte.

Die letzten Überreste solcher Kulturen klingen noch in den Ländern des Ostens nach. Aber nur einem Lande ist es gelungen mantrische Tradition bis auf den heutigen Tag lebendig zu erhalten, und dieses Land ist Tibet. Hier ist nicht nur das "Wort", sondern jeder Buchstabe des Alphabetes, jeder Laut, ein heiliges Symbol. Auch wenn es profanen Zwecken dient, wird sein Ursprung und Wert nie vergessen oder völlig außer acht gelassen. Das geschriebene Wort wird darum immer mit Respekt behandelt und niemals achtlos fortgeworfen, wo Menschen oder Tiere es mit Füßen treten könnten. Und wenn es sich gar und Worte oder Schriften religiöser Natur handelt, so wird selbst das kleinste Fragment von ihnen mit der Ehrfurcht einer kostbaren Reliquie behandelt und nicht willkürlich zerstört, selbst, wenn es keinem Zweck mehr dient, sondern in besonders dafür errichteten Sanktuarien und Behältnissen abgelegt oder in Höhlen seiner natürlichen Auflösung überlassen.

Dies mag dem Außenstehenden als primitiver Aberglaube erscheinen, wenn er solche Handlungen aus dem Zusammenhange mit ihrem weltanschaulichen Hintergrunde gelöst betrachtet, denn worauf es ankommt, ist nicht das Stück Papier und die darauf geschriebenen Zeichen, sondern die Haltung des eigenen Geistes, die in jeder dieser Handlungen zum Ausdruck kommt und die ihren Grund in der Anerkennung einer stets gegenwärtigen höheren Wirklichkeit hat, die durch jeden Kontakt mit ihren Symbolen aufgerufen und in uns wirksam gemacht wird.

Das Symbol wird somit niemals zum bloßen Mittel alltäglichen Gebrauchs herabgewürdigt oder nur zur "sonntäglichen" Erbauung aus der Versenkung gezogen, sonder ist lebendige Gegenwart, der alles Profane, Materielle und Lebensnotwendige untergeordnet ist. Ja, was wir "profan" und "materiell" nennen, wird durch eine solche Haltung seiner Profanität, seiner Weltlichkeit und Materialität entkleidet und wird zum Ausdruck eines hinter aller Erscheinung liegenden Wirklichen, das unserem Leben und Tun erst Sinn verleiht und selbst das Geringste und Unscheinbarste einordnet in den großen Zusammenhang alles Geschehens und alles Daseienden.

"Im Kleinsten wirst du einen Meister finden, dem du tiefinnen nie genug tun kannst." (RILKE). Würde diese Geisteshaltung an irgendeiner Stelle unterbrochen, so würde sie ihre Einheit verlieren und damit ihren Halt und ihre Stärke einbüßen.

Der Seher, der Dichter und Sänger, der geistig Schöpferische, der seelisch Empfindsame, der Heilige: sie alle wissen um das Wesen der Form in Wort und Laut, im Sichtbaren und Tastbaren. Sie sind keine Verächter des Kleinen, denn sie können im Kleinen das Große sehen. In ihrem Munde wird das Wort zum Mantra und die Laute und Zeichen, die es formen, zum Träger geheimnisvoller Kräfte; in ihren Augen wird das Sichtbare zum Symbol, das Dinghafte zum schöpferischen Werkzeug des Geistes und das Leben zu einem tiefen Strom, der von Ewigkeit zu Ewigkeit fließt: "Alles ist Siegel, - alles ist Spiegel, - doch alles verhüllt getrübtem Blick", wie MELCHIOR LECHTERs Mantra aus dem Märchen vom Sinn so schön und schlicht sagt.

Es ist gut, uns von Zeit zu Zeit daran zu erinnern, daß die Einstellung des Ostens auch in Europa zu Hause war und daß die Tradition des verinnerlichten Wortes und der Symbolwirklichkeit bis in die neueste Zeit ihre Verkünder hatte. Ich erinnere hier nur an die mantrische Auffassung des "Wortes" bei RAINER MARIA RILKE(München, Ainmiller-Straße 11), die das Wesen der Mantrik in ihrem tiefsten Wesen erfaßt:
    "Wo sich langsam aus dem Schon-Vergessen,
    Einst Erfahrenes sich uns entgegenhebt,
    Rein gemeistert, milde, unermessen
    Und im Unantastbaren erlebt:

    Dort beginnt das Wort, wie wir es meinen,
    Seine Geltung übertrifft uns still -
    Denn der Geist, der uns vereinsamt, will
    Völlig sicher sein, uns zu vereinen."
LITERATUR - Anagarika Govinda, Grundlagen Tibetischer Mystik, Weilheim 1975