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PAUL BARTH
Die Geschichte der Erziehung
[10/12]

I - II - III - IV - V - VI

"Geistliche waren die Berater, die Gesandten der Könige, sie zogen zu Felde, sie führten die laufenden Geschäfte am Hof. Die freiwillige Armee der Kirche, das Mönchstum, ordnete sich ganz ihr unter und vermehrte ihre Macht. Zwar wurden die Bistümer vom König besetzt, zwar hatte jedes Kloster einen weltlichen Grundherrn zum Schützer, aber die Anschauung des Volkes war, daß die Kirche über dem Staat steht."

"Verletzung oder Tötung eines Sklaven durch den Herrn hatte keine weiteren Folgen; wenn sie durch einen anderen geschah, nur die Folgen der Sachbeschädigung."

"Der mittelalterliche Staat war nur unter den Frankenkönigen mächtig, ehe der ausgebildete Feudalismus und der Widerstand der Kirche seine Energie lähmten. Und in der Tat, in der fränkischen Periode erhebt sich die Staatsgewalt zu der Idee, eine allgemeine Belehrung für das ganze Volk zu organisieren über dasjenige, was allen als das wichtigste galt, nämlich über den christlichen Glauben."

"Noch heute heißt im Englischen der Schreiber clerk von clericus, weil im Mittelalter der Schreibkundige immer ein Kleriker war."

V.
[ Fortsetzung ]

So gab es im wesentlichen nur zwei weltliche Stände, Grundherrn und Bauern, den zweiten aber in seinem Recht gemindert. Dieser behielt nur in denjenigen Ländern seine volle Freihei, die, von den großen Kämpfen abseits liegend, weniger Verteidigungskriege zu führen hatten, so daß kein Übergewicht der Heeresverfassung über das friedliche Leben entstand oder in solchen Gebieten, in denen der Bauer seiner Beschäftigung wegen oder endlich in solchen, wo er der unmittelbaren Landesverteidigung wegen wehrhaft blieb. Zur ersten Art gehört Skandinavien, das keine Angriffe zu erleiden hatte, zur zweiten die Schweiz und Tirol, deren Bewohner Jäger und Schützen sein mußten, zur dritten die friesischen und nordsächsischen Gebiete an der Nordküste, die in fortwährendem Kampf gegen die Dänen lagen. (1)

Über der weltlichen Gesellschaft jedoch, obgleich mitten in ihr lebend, erhob sich die religiöse Gesellschaft, die Kirche. Wie schon in den letzten Jahrhunderten des weströmischen Reiches, war sie nicht bloß eine vollendete Organisation, einheitlich durch die Herrschaft des Papstes und wirksam durch ihre Diener verschiedener Grade, sondern sie war auch mächtig durch weltlichen Besitz. Der Gottesstaat war in ihr materialisiert, gewissermaßen auf die Erde herabgestiegen. Schon für die erste Hälfte des Mittelalters ist die Schätzung des kirchlichen Besitzes kaum zu hoch, die HYPPOLYTE TAINE (2) gibt: "Der Klerus hat ein Drittel des Grundbesitzes, die Hälfte des Einkommens und zwei Drittel des Vermögens von ganz Europa in Händen gehabt." Die Ursache dieses Reichtums der Kirche war die Gläubigkeit des gesamten Volkes, das in der Geistlichkeit die Verwalterin überirdischer Gnadenmittel, im Papst den "Stellvertreter Gottes auf Erden" sah.

Somit war es kein Wunder, daß die Geistlichkeit den ersten Stand bildete. Sie hatte dasselbe Wergeld, wie die königlichen Beamten, die noch über den Grundherrn stehend betrachtet wurden. (3) Alle ihre Stellen, das Amt des Priesters, des Erzpriesters, des Archidiakonen, des Abtes, des Bischofs, des Erzbischofs, waren nicht erblich, wie sehr bald bei den weltlichen Beamten, sondern wurden mit den Tüchtigsten besetzt. Seit LUDWIG dem Frommen wurden Unfreie zu den priesterlichen Weihen nicht zugelassen. (4) Geistliche waren die Berater, die Gesandten der Könige, sie zogen zu Felde (5), sie führten die laufenden Geschäfte am Hof. Die freiwillige Armee der Kirche, das Mönchstum, ordnete sich ganz ihr unter und vermehrte ihre Macht. Zwar wurden die Bistümer vom König besetzt, zwar hatte jedes Kloster einen weltlichen Grundherrn zum Schützer, aber die Anschauung des Volkes war, daß die Kirche über dem Staat steht.

Auch die Kirche trug sehr viel bei, den freien Bauernstand zu vernichten. Auch sie übte auf ihren Gütern durch weltliche Stellvertreter den Heeresbann und den Gerichtsbann aus; die Bauern der Markgenossenschaft waren ihr zinspflichtig. Faktisch waren sie wohl etwas besser gestellt, als die Hintersassen der Grundherren, rechtlich aber diesen völlig gleich.

Ein bürgerlicher Stand fehlt in der ersten Hälfte des Mittelalters noch ganz. Die Bewohner der Städte sind entweder Ackerbauern oder - besonders in den ehemaligen römischen Provinzen - unfreie Handwerker. Jedes Stadt steht unter dem Schutz und der Herrschaft eines weltlichen oder kirchlichen Grundherrn. (6)

Diese ständische Gesellschaft, die hier charakterisiert wurde, ist aber von jedem sozialen Zustand des Altertums dadurch verschieden, daß die oben erwähnte höhere Schätzung des Individuums, jeder Menschenseele als solcher auf allen Lebensgebieten anfing, sich durchzusetzen. Der Knecht ist zwar der niedrigste aller Volksgenossen, aber doch nicht gleich dem Servus des Zwölftafelgesetzes und der römischen Republik überhaupt. Dieser ist nur ine instrumentum vocale, ein Werkzeug mit artikulierter Stimme, wie der Ochse ein instrumentum semivocale, ein Werkzeug mit unartikulierter Stimme und der Pflug ein instrumentum mutum ist. Verletzung oder Tötung eines Sklaven durch den Herrn hatte keine weiteren Folgen; wenn sie durch einen anderen geschah, nur die Folgen der Sachbeschädigung. (7) Dagegen wird in einigen der leges barbarorum für die Tötung der Unfreien - von der Sachbeschädigung ganz abgesehen - schon als bloße Strafe ein Wergeld festgesetzt. (8) Nach den zwölf Tafeln darf der Vater das Kind töten oder aussetzen oder dreimal verkaufen. Im frühen Mittelalter aber schon wird die Gewalt über Leben und Tod des Kindes durch das Recht und durch die öffentliche Meinung beschränkt.
    "Sobald bei den Nordgermanen das Kind einmal durch Lustration (Begießung mit Wasser) und Namengebung in die Familien- und Rechtsgemeinschaft aufgenommen war, hatte es ein definitives Recht auf das Leben erworben." (9)
Anstelle der Lustration tritt in der christlichen Zeit die Taufe. Später aber drang in der kirchlichen Disziplin die entgegengesetzte Ansicht durch, daß die Tötung oder Aussetzung eines ungetauften Kindes strafwürdiger sei, als eines getauften, da jenes der ewigen Seligkeit nie teilhaftig werden kann. (10) Ferner wurden von der öffentlichen Meinung Tötung und Aussetzung gemißbilligt, wenn sie nicht großer Not wegen geschahen. (11) Charakteristisch für den rechtlichen Fortschritt in dieser Beziehung ist die Gesetzgebung in Island. Im Jahr 1000 "wurden zwar bei der gesetzlichen Annahme des Christentums außer dem Essen von Pferdefleisch und der heimlichen Opferung auch die Fortdauer der alten Gesetze bezüglich der Kinderaussetzung vorbehalten." Aber wenige Winter später wurde dieser Vorbehalt abgeschafft, nur die Aussetzung der Mißgeburten blieb erlaubt. (12) Und auch weiterhin wurde das Kind gegen allzuscharfe Behandlung seitens des Vaters geschützt. Ein gewisser Schutz fand statt durch das Aufsichtsrecht der Sippe. (13) Witwen und Waisen standen unter der Vormundschaft des Königs. (14)

Was nun die weltlichen Stände betrifft, so ist es sehr natürlich, daß es keine öffentliche Organisation der Erziehung gab. Der Bauernstand war durch die Hörigkeit gedrückt; ein Streben nach höherer oder gar eigener Kultur konnte in ihm nicht entstehen. Der mittelalterliche Staat aber war nur unter den Frankenkönigen mächtig, ehe der ausgebildete Feudalismus und der Widerstand der Kirche seine Energie lähmten. Und in der Tat, in der fränkischen Periode erhebt sich die Staatsgewalt zu der Idee, eine allgemeine Belehrung für das ganze Volk zu organisieren über dasjenige, was allen als das wichtigste galt, nämlich über den christlichen Glauben. KARL der Große vereinigte in sich die Staatsgewalt des römischen Imperiums, das sein Vorbild war, dessen Titel er ja am 25. Dezember 800 annahm. (15) Er war durch die Kirche nicht beschränkt, sondern ordnete, wie seine Kapitularien [kaiserliche Anordnungen - wp] zeigen, alle ihre Angelegenheiten nach eigenem Gutdünken. Die soziale und staatliche Zweckmäßigkeit erforderte es, daß der neue christliche Glaube, der das Leben beherrschen sollte, auch wirklich geistiges Eigentum jedes Einzelnen werde. Darum verordnete KARL der Große schon im Jahre 794 auf einer Synode zu Frankfurt: "daß der katholische Glaube an die heilige Dreieinigkeit und das Vaterunser und das Glaubensbekenntnis allen gepredigt und gelehrt werde." (16) Und in zwei Kapitularien des Jahres 802, die er nach einer Synode zu Aachen erließ, sowie in einem Kapitulare Missorum aus den Jahren 802 - 813 bestimmte er seine Vorschrift näher dahin, "daß jeder Priester das Vaterunser und das Glaubensbekenntnis dem ihm anvertrauten Volk sorgfältig einpräge." (17) In einem Kapitular wird verlangt, daß die Geistlichen imstande seien, den Sinn des Glaubensbekenntnisses selbst zu verstehen und anderen klar zu machen. (18) Wegen dieses Eingehens auf den Inhalt ist wohl anzuehmen, daß KARL der Große beides in deutscher Sprache gelehrt und gelernt wissen wollte, zumal er hervorhebt, daß niemand glauben soll, nur in drei Sprachen (Latein, Griechisch, Hebräisch) zu Gott beten zu dürfen". (19) Um seiner Verordnung auch einen äußeren Nachdruck zu geben, gebietet er, daß nur der zur Patenschaft berechtigt ist, der seinem Pfarrer das Glaubensbekenntnis und das Vaterunser herzusagen imstande ist. (20) So wird hier ein Minimum allgemeinen Unterrichts verlangt. Solange KARL der Große regierte, ist seine Verordnung sicherlich auch in weitem Umfang ausgeführt worden. Sie wird noch einmal im Jahr 856 von LUDWIG II. für Italien eingeschärft, (21) dann erlischt sie. Im späteren Mittelalter aber wird die Staatsgewalt immer schwächer und demgemäß hören wir nichts mehr von einem Unterricht des ganzen Volkes. Die Idee der allgemeinen Volksbildung ging hier vom Staat aus, aber die Kirche machte sie sich nicht zu eigen. Erst der Protestantismus sollte sie, etwa siebeneinhalb Jahrhunderte später, wird sie aufnehmen und der moderne, gegen Ende des 18. Jahrhunderts sich erhebende Staat sollte sie vollenden.

Somit blieb die große Masse des Volkes, die Bauernschaft und die Bürgerschaft der Städte, in Bezug auf die soziale Fortpflanzung im Zustand der Familienerziehung, die schon in der voraufgehenden Epoche, in der gentilen Gesellschaft, die herrschende gewesen war. Das Kind reifte heran durch bewußte oder unbewußte Nachahmung der Erwachsenen und durch Zucht, Unterweisung und Belehrung, die von seinen Eltern und von den Alten überhaupt ausgeübt wurden.

Aber auch der herrschende Stand, der der Grundherren, erhob sich in dieser Beziehung nicht über die Naturform des Lebens. Den Schild schütteln, Sehnen winden, Bogen spannen, Pfeileschäften, Spieße werfen, Lanzen schießen, Hengste reiten, Hunde hetzen, Schwerter schwingen, den Sund durchschwimmen, diese Fertigkeiten, die ein nordisches Lied der vorchristlichen Zeit als Beschäftigungen des aufwachsenden Helden aufzählt, (22) waren gewiß der wesentliche Gegenstand der Unterweisung, die der Ritter seinem Sohn zuteil werden ließ. Gleichzeitig lernten die Kinder von den Eltern die Regeln der Lebensführung und der christlichen Sitte; irgendwelchen anderen Unterricht erhielten sie nicht, nicht einmal den, den wir elementaren nennen. Wie im Altertumg, war er im Mittelalter für das praktsiche Leben nicht allgemeine notwendig, daher nicht öffentlich organisiert. Aber auch eine private Gelegenheit dazu gab es nicht. Noch die ritterlichen Dichter des 13. Jahrhunderts können größtenteils nicht lesen noch schreiben, (23) in der ersten Hälfte des Mittelalters waren ihnen erst recht diese Künste fremd. Immer noch herrschte hier die Auffassung, der einst die vornehmen Goten der Königin AMALASUNTA gegenüber Ausdruck verliehen hatten, mit der Mahnung, sie sollen den Schulmeistern den Abschied und ihrem Sohn Genossen und Lehrer geben, die ihn nach Volksart seine Lust am Waffenhandwerk finden ließen. (24)

Die merowingische Hofschule, als Nachahmung der Hausschule der römischen Kaiser eingerichtet, darum schola palatina genannt, bestand nicht lange. KARL MARTELLs Söhne konnten ihren Namen nicht mehr schreiben. (25) KARL der Große, LUDWIG der Fromme und KARL der Kahle erneuerten die Hofschule nur vorübergehend.

Das Beispiel KARLs des Großen, der noch als Vierziger schreiben lernte, (26) wirkte nicht lange. WIPO, der gelehrte Kaplan KONRADs II., klage noch um die Mitte des 11. Jahrhunderts, daß es den Deutschen als "vacuum vel turpe (als Zeitverlust oder Schande) gelte, jemanden etwas zu lehren, wenn er nicht zum Kleriker bestimmt sei." (27) In der Tat, wer eine höhere Bildung anstrebte, mußte zeitweilig seinen Stand verlassen und sich dem Priesterstand anschließen.

Dieser Stand, aus der christlichen Religion emporgewachsen, die nicht urwüchsig, sondern aus dem römischen Reiche eingewandert war, unterhielt naturgemäß eine gewisse Erinnerung an die Kultur, aus der das Christentum entstanden war, freilich nicht an die ganze römische Kultur, der ja, wie oben erwähnt wurde, das Christentum sich teilweise feindlich entgegengestellt hatte, sondern an gewisse Reste, die sich trotz der Feindseligkeit des römischen Christentums erhalten hatten. Und da es keine andere Kultur als diese gab, so war der Klerus der alleinige Inhaber geistiger Bildung überhaupt. Wer an ihr Teil hatte, wurde, obgleich weltlichen Standes, "Pfaffe" genannt. (28) Und noch heute heißt im Englischen der Schreiber clerk von clericus, weil im Mittelalter der Schreibkundige immer ein Kleriker war.

Die Erziehung im geistlichen Stand mußte für die Fortdauer des Standes sorgen, also Kinder zu Klerikern bilden. Das war für die Kirche von größter Wichtigkeit. Darum sehen wir, wie sie sehr bald die Erziehungsarbeit zu organisieren sucht, da ja die Organisation zugleich Assoziation ist und mit gleichen Mitteln mehr leisten kann, als Einzelarbeit.

Schon im Jahre 443 verordnete eine Synode zu Vaison im burgundischen Gallien, daß die  Priester  und die Bischöfe, nach dem Vorbild der Italiener, Jünglinge in Haus nähmen, um sie zu ihren Nachfolgern heranzubilden. (29) Bald wurde es Sitte, daß besonders die Bischöfe Knaben aufnahmen, von den Pfründen des Stifts unterhielten und von einem der Priester des Doms, dem scholasticus, unterrichten ließen. Es entstanden so allmählich an allen bedeutenden Bischofssitzen Domschulen, scholae cathedrales. (30) Wie aber schon im römischen Reich die Klöster, die sich in der Erziehung hervortaten. Sie wurden ale nach der Benediktinerregel eingerichtet, die zwar ausdrücklich nur Handarbeit, Gebet und Lesung der heiligen Schriften gebietet, bei den neu Eintretenden nur Lesen und Schreiben voraussetzt, aber weiteren Unterricht, der über Lesen und Schreiben hinausgeht und weitere wissenschaftliche Beschäftigung wenigstens nicht direkt verbietet, (31) so daß das Vorbild, das CASSIODOR in seinem Kloster Vivarium und das die irischen, von Gallien aus gegründeten Klöster gegeben hatten, In den Gründungen fortwirken konnt. Beide, CASSIODOR wie die Iren, hatten die Abschrift heidnischer und kirchlicher Schriftsteller sehr gepflegt (32), die Iren waren außerdem in der Bildung der Jugend sehr gewesen. (33) Beides setzte sich in den neuen Klöstern fort. Reichenau, St. Gallen und viele andere Abteien hatten bald ihre schola interior und schola exterrior, die erste für die künftigen Mönche, die pueri oblate, die zweite für diejenigen Kinder, die nur auf einige Jahre ins Kloster kamen, um dann ihrem weltlichen Beruf zu leben oder Weltpriester zu wirken. Auch die Nonnenklöster unterhielten dieselben zwe verschiedene Schulen. Und es scheint, daß bald die Klosterschulen ein gewisses Übergewicht über die Domschulen erlangten. Die Disziplin der ersten dient zum Vorbild für die zweiten. Das ist der Sinn der berühmten regula des Bischofs CHRODEGANG von Metz. (34)

Beide Einrichtungen, die Domschule wie die Klosterschule, dienten der Fortpflanzung der Hierarchie, zumal sich ja die Klöster ganz und gar der kirchlichen Gewalt unterordneten. Daß auch Laienkinder an der klösterlichen Erziehung teilnahmen, war eine Erweiterung derselben, die, ohne beabsichtigt zu sein, sich doch auf ganz natürliche Weise durchsetzte, da es unmöglich ist, die Stände eines Volkes ganz voneinander abzuschließen.

Und wie die Organisation, mußte auch der Inhalt dieser Erziehung demselben kirchlichen Zweck dienen, der Fortpflanzung der christlichen Gesinnung und des christlichen Wissens.

Was zunächst die Bildung der Gesinnung, des Willens betrifft, so müßte sie naturgemäß auf Einpflanzung der christlichen Tugenden gerichtet sein. Die erste derselben war nach den Kirchenvätern und nach den Regeln der Mönchsorden die Demut. AUGUSTINUS setzte sie der Liebe zu Gott gleich in seinem kurzen Gebet: "Noverim te, noverim me, ut amem te et contemnam me." (35) Die Benediktinerregel nennt nur eine Tugend, die Demut (humilitas), alle anderen Tugenden sind nur ihre verschiedenen Stufen, deren sie zwölf aufzählt. (36) Und HRABANUS MAURUS nennt in seiner Schrift "de clericorum institutione, dem ersten Lehrbuch der mittelalterlichen Pädagogik, "die Hoffart (superbia) die Königin aller Laster", aus der sieben Hauptlaster entspringen. Das erste dieser sieben ist der Stolz (Gloria), dem der die Demut entgegenstellt. (37) Wie also der Stolz das erste Laster, so ist auch bei ihm die Demut (humilitas) die erste Tugend.

Die ganze Willensbildung, die sogenannte Zucht, war darum auf die Einpflanzung der Demut gerichtet. Sie sollte besonders gefördert werden durch Gebet und durch demütigende Strafen. Gebete fanden jede Nacht zwei, jeden Tag sechs statt und zwar nicht einzelne, sondern Chorgebete; sie dauerten im ganzen täglich vier Stunden. (38) Die Rutenschläge auf den nackten Leib waren etwas sehr Alltägliches. Nicht bloß für kleinere und kleinste Verfehlungen, für unbedeutende Übertretungen der Klostergesetze, sondern auch für kleine Unachtsamkeiten im Unterricht wurde die Rute, für schwerere Vergehen die Peitsche geschwungen. (39) Dieser Tendenz kam fördernd entgegen, was das Alte Testament über die Erziehung sagte (40), die im Neuen Testament (41) enthaltenen Mahnungen zur Milde blieben unbeachtet.

Wie die Demut im Verhalten gegen andere und gegen Gott, also gewissermaßen in sozialer Hinsicht, so sollte in individualer Hinsicht die Askese herrschen, die in der Benediktinerregel vorgeschrieben war. Die Nahrung war nicht reichlich, in manchen Klöstern nur vegetabilisch, die freie Zeit kurz, gegenseitige Unterhaltung der Schüler selten gestattet, die Unterhaltung mit den Mönchen fast immer verboten. (42) Die Domschulen unterschieden sich bis zum 10. Jahrhundert nur wenig von den Klosterschulen. (43)

Was nun die geistige Bildung betrifft, so ist es selbstverständlich, daß sie, wie die Willensbildung, die Vorbereitung zum mönchischen Leben oder zum kirchlichen Amt zum Ziel hatte, daß also der Unterricht wesentlich religiös war. Da es keine öffentliche Gelegenheit zum Elementarunterricht mehr gab - die literatores der Römer waren gegen Ende des Kaiserreichs ausgestorben - so mußte die Kloster- wie die Domschule auch diesen übernehmen. Es folgte darauf der Kirchengesang, besonders der Teil, der zur Messe gehörte, Erlernung des Lateins, der Kirchensprache, die den schwierigsten Gegenstand des Unterrichts bildete, des  computus,  d. h. der Berechnung der Termine für die beweglichen Feste, des Vaterunser, des Apostolicums, der Taufformel und der Psalmen.

Über dieses Maß, das selbst in theologischer Hinsicht nicht groß war ging der durchschnittliche Unterricht wohl nicht hinaus. Bisweilen kam aber durch Nachahmung des Altertums noch ein weltlicher Stoff hinzu. Es ist überhaupt eine in der Geschichte häufige Erscheinung, daß die Nachahmung zu dem, was sich aus den bestehenden Verhältnissen ergibt, ein nicht in diesem begründetes, heterogenes Element entweder aus der Vergangenheit oder aus der gleichzeitigen Umgebung hinzusetzt. Ein solches Element war hier das System der sieben artes liberales, der sieben freien Wissenschaften, das - allerdings mehr in der Theorie als in der Praxis - der Gegenstand des vollständigen mittelalterlichen Unterrichts war. Es stammte aus der spätesten Zeit des römischen Altertums. Beim allgemeinen Verfall der Studien war die "enzyklopädische" Bildung schließlich auf den Inhalt kleiner Kompendien der sieben artes liberales zusammengeschrumpft. Solche Kompendien gab es nicht bloß von dem Heiden MARTIANUS CAPELLA, sondern auch vom vermeintlichen Christen BOETHIUS und den wirklichen Christen AUGUSTINUS und CASSIODORUS, ein Umstand, der ihre Einführung in den mittelalterlichen Schulunterricht sehr erleichterte. Freilich wollte man die sieben artes nicht als weltliche Fächer anerkennen, sondern suchte sie als unentbehrliche Hilfsmittel der geistlichen Bildung zu erweisen. Die Grammatik bedurfte keiner Rechtfertigung, sie war ja die Methode der Erlernung des Lateins, der kirchlichen Sprache. Doch vergißt HRABANUS MAURUS nicht zu betonen, daß die Kenntnis der Redefiguren, die von der Grammatik gelehrt wird, zum Verständnis der heiligen Schrift notwendig und daß die ebenfalls zur Grammatik gehörige Metrik unentbehrlich ist, um die vermeintlichen kunstvollen Versmaße der Schriften des Alten Testaments zu verstehen. (44) "Daher hat diese Kunst, mag dieselbe auch eine weltliche sein, nichts Verächtliches an sich." Die Rhetorik ist auch "der kirchlichen Unterweisung nichts Fremdartiges". Sie lehrt in wirksamer Weise "kurz und klar" Gottes Wort zu verkünden. Man solle dieses Mittel der Überzeugung nicht den Gegnern überlassen, sondern, wer Anlage dazu hat, solle die Kunst der Rede studieren. Die Dialektik (oder Philosophie) "müssen die Geistlichen verstehen und über die Gesetze derselben unablässig nachsinnen, auf daß sie die Verschlagenheit der Irrlehrer scharfsichtig zu durchschauen vermögen, auf daß sie die auf verderbliche Trugschlüsse sich aufbauenden Worte derselben zu widerlegen imstande sind." Die Arithmetik ist notwendig "für die Deutung mancher Stellen in der heiligen Schrift", besonders aber für die allegorische Erklärung der in der Bibel vorkommenden Zahlen, z. B. der vierzig Tage, die MOSES, ELIAS und CHRISTUS fasteten. Die Geometrie ist dem Geistlichen wertvoll, weil "sie bei der Erbauung der Stiftshüte und des Tempels Verwertung gefunden hat". Die Musik, "die Wissenschaft von den Zeitteilen, wie dieselben an den Tönen wahrgenommen werden, ist eine ebenso hochstehende, wie nutzbringende. Derjenige, welchem sie fremd bleibt, vermag es nicht, die Pflichten eines kirchlichen Amtes in angemessener Weise zu erfüllen." (45) Astronomie und Astrologie, "Teile einer und derselben Wissenschaft", sind beide nötig. Die Astronomie ist "für die Frommen ein gewichtiges Beweismittel", die Astrologie aber ist notwendig, "um den Zeitpunkt des Osterfestes und aller anderen Feste und Feiertage anzusetzen und der Gemeinde behufs der gebotenen Feier dieser Fete kund zu tun."

In Wirklichkeit freilich war der Unterricht schon ein sehr hochstrebender, wenn er das trivium umfaßte, Grammatik, Rhetorik und Dialektik. Die Rhetorik änderte zudem sehr bald ihren Inhalt. Sie blieb nicht die Wissenschaft von den Kunstmitteln der Rede, sondern wurde zur bloßen ars dictandi, d. h. der Fertigkeit, Urkunden und Briefe abzufassen. Das Quadrivium, Arithmetik, Geometrie, Musik und Astronomie, wurde in den seltensten Fällen wirklich gelehrt.

Aber wie viel oder wie wenig auch von den sieben Wissenschaften der Alten wirkliches Lehrfach wurde, es wurde in das geistliche System der Erziehung eingeordnet. Die weltliche Bildung hatte in der organisierten Erziehung nicht die kleinste Stätte. Erst in der folgenden Weiterbildung und Umbildung der mittelalterlichen Gesellschaft gelangte das weltliche Leben zu seinem Recht.
LITERATUR - Paul Barth, Die Geschichte der Erziehung in soziologischer Beleuchtung, Zeitschrift für wissenschaftliche Philosophie und Soziologie, Bd. 30, Leipzig 1906
    Anmerkungen
    1) In den genannten Gebieten hatte der Bauernstand das ganze Mittelalter hindurch Vertreter auf den Landtagen. Vgl. R. SCHRÖDER, Lehrbuch der deutschen Rechtsgeschichte, 4. Auflage, Leipzig 1902, Seite 616
    2) HYPPOLYTE TAINE, Origins de la France contemporaine, deutsch von L. KATSCHER unter dem Titel "Die Entstehung des modernen Frankreich", Leipzig o. J., Seite 53. Die Schätzung TAINEs trifft, soweit sie den Grundbesitz betrifft, zusammen mit ROTH, Geschichte des Benfizialswesens, Seite 249: "Ich sage gewiß eher zu wenig als zu viel, wenn ich annehme, daß zu Ende des siebenten Jahrhunderts ein Drittel allen Grundeigentums in Gallien Kirchengut war." Soweit TAINE von Einkommen und Vermögen spricht, stimmt er überein mit L. FELIX, Der Einfluß der Religion auf die Entwicklung des Eigentums, 1889, Seite 220 - 225. Nach LAMPRECHT a. a. O. Seite 703 hatte die Abtei Prüm im 9. Jahrhundert 1600 Hufen, das Stift Bamberg im Jahr 1007 tausend Hufen.
    3) R. SCHRÖDER, Lehrbuch der deutschen Rechtsgeschichte, 4. Auflage, Leipzig 1902, Seite 146
    4) SCHRÖDER, a. a. O., Seite 147
    5) Vgl. ROTH, Geschichte des Benefizialwesens, Seite 356
    6) Vgl. SCHRÖDER, a. a. O., Seite 621: "Dem fränkischen Staatsrecht waren Städte im Rechtssinn ebenso unbekannt wie dem altgermanischen." Seite 628: "Freie Städte, die ganz ihre eigenen Herrn gewesen wären, gab es ursprünglich ebensowenig, wie früher freie Märkte." Seite 632: "Allodiale Grundbesitzer gab es unter den Bürgern freilich im allgemeinen nur in den ehemaligen Römerstädten sowie in solchen Städten oder Märkten, in denen den Ansiedlern die Baustellen schon bei der Gründung zu zinsfreiem Eigentum überlassen worden waren."
    7) In der römischen Republik galt die lex Aquilia, die lautete: Wer einen fremden Sklaven oder eine fremde Sklavin oder ein fremdes Herdentier oder ein sonstiges fremdes Tier zu Unrecht getötet hat, ist dem Besitzer so viel zu zahlen verurteilt, als der höchste Preis der genannten Gegenstände im Jahre der Tötung beträgt.
    8) SCHRÖDER, a. a. O., Seite 346
    9) W. PLATZ, Geschichte des Verbrechens der Aussetzung, Stuttgart 1876, Seite 37
    10) PLATZ, a. a. O., Seite 37, 38
    11) PLATZ, a. a. O., Seite 38
    12) PLATZ, a. a. O., Seite 39
    13) Vgl. SCHRÖDER, a. a. O., Seite 321
    14) Vgl. SCHRÖDER, a. a. O., Seite 325
    15) Seine Umgebung nannte ihn einen "zweiten Augustus" im "zweiten Rom". Und EINHART beschrieb sein Leben in der Terminologie der Kaiserbiographien SUETONs. Vgl. MASIUS, a. a. O., Seite 162 - 165
    16) Monumenta Germaniae historica Leges II, 1, Nr. 28, § 33
    17) Vgl. auch Monumenta usw. Nr. 177, §2 die Verordnung des Bischofs HAITO von Basel, der das Lernen in beiden Sprachen, Latein und Deutsch (Barbarice) verlangt.
    18) Monumenta usw. Nr. 38, § 9
    19) Monumenta usw. Nr. 28, § 52
    20) Monumenta usw. Nr. 38, § 14
    21) MASIUS, a. a. O., Seite 189
    22) Zitiert bei F. A. SPECHT, Geschichte des Unterrichtswesens in Deutschland von den ältesten Zeiten bis zur Mitte des 13. Jahrhunderts, Stuttgart 1885, Seite 232
    23) Vgl. MASIUS, a. a. O., Seite 266f
    24) MASIUS, a. a. O., Seite 100
    25) MASIUS, Seite 149
    26) Vgl. MASIUS, a. a. O. Seite 152 und SPECHT, a. a. O. Seite 17
    27) SPECHT, a. a. O., Seite 240
    28) Vgl. SPECHT, a. a. O. Seite 231
    29) Vgl. MASIUS, Seite 114
    30) Die ältesten derselben waren wohl die spanischen, z. B. in Saragossa, Bracara, Kartagena, Merida, Toledo, Sevilla. Vgl. MASIUS, Seite 103
    31) MASIUS, Seite 123
    32) MASIUS, Seite 126
    33) MASIUS, Seite 146
    34) Vgl. MASIUS, a. a. O. Seite 122
    35) "Möchte ich dich (Gott), möchte ich mich erkannt haben, damit ich dich liebe und mich verachte." Angeführt von A. LEHMKUHL, Theologia moralis I, 5. Ausgabe, Friburgi Brisgoviae, 1888, Seite 430.
    36) Vgl. Benedicti regula monachorum, E. WÖLFFLIN, Leipzig 1895, K 7. In K 5 ist zwar von obedientia die Rede, aber diese ist nur primus humilitas gradus [erste Stufe der Demut - wp], wenn sie aus Furcht vor Gott und die dritte Stufe der Demut, wenn sie aus Liebe zu Gott hervorgeht.
    37) Vgl. die Pädagogischen Schriften des HRABANUS MAURUS, übersetzt von J. FRUNDGREN (Sammlung der bedeutendsten pädagogischen Schriften V), Paderborn 1890, Seite 164 - 166.
    38) SPECHT, a. a. O., Seite 164
    39) SPECHT, a. a. O., Seite 203f
    40) Besonders Sprüche Salomos 13, 24: Wer seiner Rute schonet, der hasset seinen Sohn, wer ihn lieb hat, der züchtigt ihn bald. Vgl. auch Sprüche Salomos 29,15; 29,17; 23,13 und 14; JESUS SIRACH 30, 1.
    41) Kolosser 3,21; Epheser 6. 4
    42) Vgl. SPECHT, a. a. O. Seite 166 - 169
    43) SPECHT, a. a. O., Seite 173
    44) "Da bei den Juden, wie das der heilige HIERONYMUS bezeugt, der Psalter sich bald in jambischen Versfüßen bewegt, bald in alkäischen Weisen erklingt, bald die volltönende sapphische Weise wählt, bald selbst halbe Versfüße nicht verschmäht. Im Deuteronomium aber und bei JESAJAS, ebenso bei SALOMON und bei HIOB finden sich, wie JOSEPHUS und ORIGENES das hervorheben, Hexameter und Pentameter".
    45) HRABANUS MAURUS fährt fort: "Der angemessene Vortrag beim Lesen und der liebliche Psalmengesang in der Kirche werden durch die Kenntnis dieser Wissenschaft geregelt."