ra-2 R. StammlerEngels / Kautsky    
 
EDMOND LASKINE
Die Entwicklung des
juristischen Sozialismus


"Auf welche Autorität gestützt genießt der gegenwärtige Eigentümer sein Eigentum? Aufgrund einer Gesetzgebung, deren Quelle die Gewalt war, und die trotz allen zeitlichen Abstandes noch zutage tritt in der Ausbeutung von Menschen durch Menschen, von arm durch reich. Die Ausbeutung von Menschen durch Menschen, die sich unmittelbar durch die Sklaverei vollzieht, findet in sehr hohem Maße ihre Fortsetzung in den Beziehungen zwischen Eigentümern und Arbeitern. Der Arbeiter ist der direkte Nachfolger des Sklaven und Hörigen. Trotz seines vielfachen Wandels ist das Gesetz für die Abkömmlinge der Sieger, d. h. die Besitzer des Bodens, noch immer günstiger als für die Nachkommen der Besiegten, die den Boden bebauen."

Die Schwierigkeit einer zutreffenden Definition des Sozialismus ist schon oft betont worden. Sie wird noch gesteigert durch die Einführung neuer Kunstausdrücke wie "konservativer", "christlicher", "munizipaler", "juristischer" Sozialismus; wozu noch kommt, daß die Unbestimmtheit in der Erfassung des Oberbegriffs sich auch auf die Unterbegriffe überträgt. Besonders unklar ist der neue Terminus "juristischer Sozialismus". Es soll daher im Folgenden versucht werden, ihn anhan der Geschichte der sozialen Ideen festzustellen.

Eine Sonderuntersuchung über den juristischen Sozialismus oder eine bestimmtere Umschreibung von dessen Tendenz wird man vergeblich auch bei denjenigen suchen, die an der Ausarbeitung desselben mitgewirkt haben. Bald erblick man im juristischen Sozialismus eine selbständige, von anderen sozialen Tendenzen deutlich unterschiedene Lehre (1); bald wirft man ihn schlechthin mit dem "Solidarismus" zusammen (2); bald wider spricht man ihm gleichzeitig autonomen Charakter und Zugehörigkeit zu den Lehren der französischen und italienischen Solidaristen zu (3). Die einen sehen in ihm bloß eine Anpassung juristischer Methoden an sozialistischen Zwecke (4) oder eine Taktik des Sozialismus, der seine revolutionären Utopien aufgibt (5), die anderen den Sozialismus der Juristen (6). Manchen erscheint er lediglich als Bezeichnung für ein Sonderrecht der Industrie und der Arbeiterklasse, nach Analogie etwa des Photographie-, Automobil- oder Luftschiffahrtsrechts, trotzdem sie ihn in einem Atem damit erklären, daß die Sozialisten beginnen, ihre Forderungen juristisch zu formulieren (7). Andere hinwiederum, die den juristischen Sozialismus genauer von verwandten Erscheinungen unterscheiden und ihm auch größere Wichtigkeit zuerkennen, halten ihn "für die letzte doktrinäre Entwicklung des Sozialismus" (8), für jene Form desselben, die künftig die bedeutendste Rolle spielen wird, und gehen so weit, zu behaupten: der Sozialismus werde entweder Rechtssozialismus sein oder gar nicht (9).

Angesichts dieser Verschiedenheiten in der Auffassung darüber, wie die Lehre zu definieren ist, kann es nicht wundernehmen, wenn weder über ihre Bedeutung noch über ihren Ursprung und ihr Verhältnis zu den anderen sozialistischen Lehren Einigkeit besteht, sowie daß man so weit geht, zu sagen: es sei schwer, ihre Geschichte zu schreiben, und so gut wie unmöglich, ihre Ursachen festzustellen und ihre Entwicklung zu schildern (10).

I.

Genügte es zum Vorhandensein eines juristischen Sozialismus, daß Sozialisten ihre Forderungen in ein juristisches Gewand kleiden, so wrüde die Geschichte des juristischen mit der des Sozialismus überhaupt zusammenfallen; und zum gleichen Schluß gelangt man, wenn man mit ANDLER als sozialistische jene Lehren bezeichnet, die die Beseitigung des Elends durch eine Reform des Rechts erreichen zu können glauben (11). Jede Gesellschaftsordnung findet ihren Ausdruck in einer bestimmten Rechtsordnung. Die gegen jene gerichtete Kritik, die  pars destruens  [kritisches Argument - wp] jeglicher sozialistischer Doktrin, richtet sich also notwendig auch gegen diese; und die Schilderung der idealen Gesellschaft, durch welche die Reformer die vorhandene ersetzen wollen, die  pars aedificans  [konstruktives Argument - wp] jedes sozialistischen Systems, enthält zugleich das Ideal einer Rechtsordnung anstelle der positiven. Das meint auch STAMMLER, wenn er frägt: "Enthalten das Werk des MORUS oder die Phantasie des BELLAMY nicht etwa voll ausgeführte Rechtssysteme?" (12) Man kann nun als  Systeme eines utoptischen juristischen Sozialismus alle sozialistischen Systeme  bezeichnen,  die der herrschenden Rechtsordnung eine andere gegenüberstellen, die auf dem Naturrecht oder irgendeinem Moralideal aufgebaut ist.  Die sozialistischen Lehren, welche die Geschichte kennt, entsprechen auch in ihrer großen Mehrheit dieser Definition. Ebendeshalb pflegen sie häufig in Form iner Verfassung aufzutreten, die "Der Staat" von PLATO oder die Schrift von THOMAS MORUS "De optimo reipublicae statu" (1516), oder eines Gesetzbuches, wie der "Code de la nature" von MORELLY (1755). Nur kommt dem juristischen Gehalt dieser Systeme verschiedene Wichtigkeit zu: während in den einen eine allgemeine Kritik sowie ethische und ökonomische Schilderungen vorherrschen, begegnet man in den anderen vertiefter juristischer Kritik der hauptsächlichsten Gesellschaftseinrichtungen im Verein mit einer juristisch-systematischen Darlegung der angestrebten Ersatzeinrichtungen und der Mittel und Wege, um zu ihnen zu gelangen. Nur diesen letzteren aber gebührt insbesondere die Kennzeichnung als "juristischer Sozialismus", und sie haben mehr als die anderen zur Ausbildung dieser Lehre beigetragen. Aber auch die erstgenannten haben mehr oder weniger in gleicher Art gewirkt, indem sie ihr Augenmerk nicht mehr einzig auf die großen politischen Institutuinen, wie Monarchie, Aristokratie oder Demokratie, richteten, sondern auch auf die grundlegenden Gesellschaftseinrichtungen, wie das Eigentum.

Sämtliche sozialistische Lehren, die auf einem bestimmten rechtsphilosophischen System oder auf dem Naturrecht schlechthin beruhen, münden in die Forderung dessen, was ANTON MENGER "ökonomische Grundrechte" nennt (13). Trotzdem aber MENGER sich die Formulierung dieser Grundrechte zur besonderen Aufgabe machte (14), ist er auf ihre mehr oder weniger scharfe Prägung in der vorausgehenden sozialistischen Literatur nirgends gestoßen. Dies ist auch nicht verwunderlich, wenn, wie er selbst feststellt, der Sozialismus bis auf RICARDO dem Wesen und der Form nach eine  rechts philosophische Theorie gewesen ist, und wenn die  Rechts philosophie als die eigentliche Essenz des Sozialismus anzusehen ist. Es würde zu weit und dabei zu keinen neuen Resultaten führen, wollte man unter diesem Gesichtspunkt die Geschichte der sozialistischen Lehren darstellen. Zur Verdeutlichung dessen, was ich unter  utopischem juristischem Sozialismus  verstehe, genügen vielmehr einige Beispiele. ROUSSEAU betrachtet die Zivilisation und ihre Ursache, das Privateigentum als Quelle aller Laster, des Hochmuts und der Selbstsucht, und er entwirft den Plan einer kommunistischen Gesellschaft, in der "jeder Bürger eine öffentliche Person sein, d. h. von Staatswegen erhalten und beschäftigt werden wird". In "De la législation ou principes des lois" (1776), der Schrift, deren Titel schon anzeigt, daß es Rechtsprobleme sind, die den Verfasser beschäftigen, zeichnet MABLY den Grundriß einer sozialen Ordnung mit kommunistischer Basis. Der berühmte Jurist HUGO greift das Eigentum als ungerecht und verderblich nur an, weil er es nicht aus dem Naturrecht abzuleiten vermang. Das ökonomische System J. G. FICHTEs schließlich, in dessen "Geschlossenem Handelsstaat" (1800) bringt bloß die von ihm bereits in der "Grundlage des Naturrechts" (1796) und im "System der Sittenlehre" (1798) niedergelegten Grundsätze zur Anwendung. Wie MENGER erkannt und treffend gezeigt hat, läßt sich jede Lehre des utopischen juristischen Sozialismus auf eines der drei Grundrechte: Recht auf Arbeit, auf Existenz, auf den vollen Arbeitsertrag, zurückführen.

In diesen Lehren fließen aber Recht und Moral zusammen: ihre Kritik des positiven Rechts entspringt nicht einer vorangegangenen Prüfung des geltenden Rechtszustandes und seiner historischen Entwicklung, und sie richtet sich auch im allgemeinen eher gegen die positivrechtliche Gesamtgestaltung als gegen eine besondere als fundamental angesehene Rechtseinrichtung. Wendet man sich von diesen Lehren zu denen der SAINT-SIMONisten, RODBERTUS' oder PROUDHONs, so fällt sofort die weit größere juristische Präzision dieser letzteren in negativer und positiver Beziehung auf.

Man hat behauptet: dem Saint-Simonismus komme in Frankreich dieselbe Bedeutung zu wie der Rechtsphilosophie in Deutschland. Das mag gelten, wenn man hinzufügt, daß zumindest die saint-simonistische Rechtsphilosophie sich nicht mehr einerseits über die Rechtsgeschichte und andererseits über die Rechtstechnik hinwegsetzt. Die Saint-Simonisten gehen auf den Ursprung des Eigentums zurück und finden die Eroberung. Sie begnügen sich aber nicht damit, sondern bemühen sich, in jeder der Gegenwartsformen des Eigentums den schöpferischen Gewaltakt aufzufinden.
    "Auf welche Autorität gestützt genießt der gegenwärtige Eigentümer sein Eigentum? Aufgrund einer Gesetzgebung, deren Quelle die Gewalt war, und die trotz allen zeitlichen Abstandes noch zutage tritt in der Ausbeutung von Menschen durch Menschen, von arm durch reich." (15)

    "Die Ausbeutung von Menschen durch Menschen, die sich unmittelbar durch die Sklaverei vollzieht, findet in sehr hohem Maße ihre Fortsetzung in den Beziehungen zwischen Eigentümern und Arbeitern. Der Arbeiter ist der direkte Nachfolger des Sklaven und Hörigen." (16)

    "Trotz seines vielfachen Wandels ist das Gesetz für die Abkömmlinge der Sieger, d. h. die Besitzer des Bodens, noch immer günstiger als für die Nachkommen der Besiegten, die den Boden bebauen." (17)
Auch bei PIERRE LEROUX (18) findet man dieses Thema in interessanter Weise variiert. Überdies aber bemüht, aus der Geschichte des Eigentums dessen Zukunft herauszulesen, bemerken die Sain-Simonisten, daß das Eigentumsrecht stetig einschrumpft, so daß es heute bei den zivilisierten Völkern nicht mehr wie einst Menschen und Sachen, sondern nur mehr die gegenständliche Welt erfaßt. Gleichermaßen knüpft die saint-simonistische Kritik des Erbrechts an dessen Geschichte an, in deren Verlauf wir einer immer stärkeren Einschränkung des Erblasserwillens durch das Gesetz und die stetig zunehende Zahl der Pflichtteilsberechtigten begegnen: erst besteht absolute Testierfreiheit des Eigentümers; dann bezeichnet ihm das Gesetz seinen Erben; schließlich erscheint nicht mehr der älteste Sohn allein erbberechtigt, sondern sämtliche Kinder zu gleichen Teilen (19). Am meisten haben jedoch die Saint-Simonisten den Fortschritt des juristischen Sozialismus durch die beiden Gedanken gefördert, daß das Eigentum ein gesellschaftliches und dabei ein dem Wechsel unterworfenes Phänomen ist (20). Gedanken, auf denen auch heute noch der juristische Sozialismus basiert. "Das Individualeigentum kann nur auf dem Gemeinnutzen begründet sein, der sich mit der Zeit ändert." (21) Wie alle anderen sozialen Tatsachen ist auch das Eigentumsrecht im Wechsel oder, genauer, im Fortschritt begriffen, "und es ist eitel, es auf göttliches oder ein Naturrecht zurückzuführen, denn auch dieses wie jenes schreiten fort" (22). Trotzdem als die Saint-Simonisten noch in dem Sinne "Utopisten" sind, daß auch sie im Namen eines "höheren und allgemeinen Gesetzes", des Naturgesetzes, sprechen, sind sie sich doch schon darüber im Klaren, daß ihre "wirtschaftlichen Dekrete" aus der Tatsache, daß die historische Entwicklung ihre Durchführung begünstigte, ihren Wert herleiten; sie suchen daher zu beweisen, daß die von ihnen vorgeschlagenen Maßnahmen den Hebel dieser Entwicklung verlängern und daß die von ihnen bekämpften Einrichtungen wie in der Vergangenheit so auch in der Zukunft einem Wechsel unterworfen sind.

Ebenso kann man bei mehreren sozialistischen Schriftstellern nach SAINT-SIMON, ob sie nun dessen Schüler sind oder nicht, neben naturrechtlichen Überbleibseln auch Spuren dieses historischen und evolutionistischen Geistes aufzeigen. Im Eigentum, sagt PECQUEUR,
    "ist die Verbindlichkeit, die Last, das soziale Ziel vor der Aneignung, vor den Sondervorteilen und dem Privatgenuß vorhanden. Hieraus erklärt sich die geschichtliche Tatsache, daß das Eigentums- und Erbrecht dem gleichen Wechsel unterliegen wie sämtliche dauernd sozialen Erscheinungen und den gleichen Fortschritt aufweisen wie die allgemeine Bewegung der Menschheit." (23)
Die Geschichte lehrt also, daß das Eigentumsrecht sich den gesellschaftlichen Bedürfnissen gemäß ändert. Und VIDAL, hierin Vorläufer der hervorragendsten Vertreter des juristischen Sozialismus unserer Zeit, zeigt, wie der Sozialismus die Normen des positiven Rechts selbst seinen Zwecken dienstbar machen kann:
    "Der Tag ist nahe, an dem man im Interesse des Gemeinwohls und um der Befreiung der Arbeit aus der drückendsten Knechtschaft willen gegen die Eigentümer das Enteignungsrecht wird anrufen müssen."
Was RODBERTUS anbetrifft, so bringen seine Ausführungen zu einem Teil zwar sein persönliches Sittlichkeitsideal zum Ausdruck, zu einem anderen aber erscheinen sie als Resultat seiner historischen Studien, die ihn überzeugt haben, daß das moderne Recht die bloß  juristische  Persönlichkeit des römischen und Feudalrechts durch die  menschliche  ersetzt, indem die gesamtgeschichtliche Entwicklung die Sozialisierung gleichzeitig ermöglicht und notwendig macht (24), indem die Wandlungen in der Arbeitsteilung stets von Umgestaltungen des Privatrechts begleitet sind (25). Eine der Tendenzen des juristischen Sozialismus ist: aus den wirtschaftlichen Erscheinungen das herauszuschälen, was sich als Wirkung der von Individuen oder Klassen aus historischen Gründen erworbenen Machtstellungen darstellt, was nicht Ergebnis des Spiels der wirtschaftlichen Kräfte allein ist, sondern des positiven Rechts. RODBERTUS hat nun stehts in diesem Sinne unterschieden, weil ihn, anders als LIST und THÜNEN - juristische Probleme beschäftigen (26). Von anderer Seite her betrachtet aber erscheint der juristische Sozialismus des RODBERTUS so recht eigentlich utopisch: seine Aufmerksamkeit gilt der menschlichen Persönlichkeit und der Freiheit; ein ideales Gerechtigkeitsprinzip beherrscht ih; er hält Grundrente und Kapitalzins für naturrechtlich illegitim (27), für dem Arbeiter entrissen mit Hilfe des auf Gewalt gebauten und durch sie aufrechterhaltenen positiven Rechts. Dagegen näher er sich wieder dem juristischen Sozialismus der Gegenwart, wenn er die Mittel zu präzisieren sucht, vermöge deren der Übergang von der herrschenden zur kommunistischen Organisation der Zukunft, in der das Privateigentum an Kapital und Boden vollständig aufgehoben sein würde, sich vollziehen soll.

PROUDHON steht ebenfalls auf halbem Weg zwischen einem utopischen und wissenschaftlichen juristischen Sozialismus. Sicherlich ist es richtig, daß er und LASSALLE allein die juristischen Gedankenreihen des Sozialismus zu systematischer Darstellung gebracht haben (28). Auch PROUDHONs Schriften sind sehr reich an juristischen Ausführungen. Diese knüpfen jedoch - vornehmllich in den Jugendwerken - an die naturrechtliche Tradition an. Mit Recht hat man dann auch die Charakterisierung des Eigentums als Diebstahl in den "Recherches philosophiques sur le droit de propriéte et sur le vol" (1780) BRISSOTs mit den Ausführungen PROUDHONs in "Qu'est-ce que la propriete?" (1840) zusammengehalten, in dem das Eigentum als Beuterecht, d. h. als durch Gewalt erzwungenes arbeitsloses Einkommen gekennzeichnet wird, und in "De la celebration du dimanche" (1839), in der es heißt, daß
    "jede Durchbrechung des Prinzips des gleichen Erbrechts, jede willkürlich geforderte und gewaltsam erhobene Prämie sei es im Tauschverkehr, sei es von fremder Arbeit, eine Verletzung der Gerechtigkeit und erpresserische ist".
Gerade aber, weil er seine Untersuchungen speziell dem Eigentum widmete und für ihn die ganze soziale Frage auf dieses hinauslief (29), gerade weil er die Organisation des Sondereigentums als bestimmenden Faktor ansah ebensowohl der ökonomischen wie der politischen, militärischen und Verwaltungsorganisation und nicht minder der Familie, der Religion und der Philosophie (30), sah er sich zu einer scharfen Formulierung seiner juristischen Gedanken genötigt. So unterscheidet er dann sorgfältig den prekären, durch auf ihm ruhende Servituten [dingliche Nutzungsrechte - wp] beschränkten  "Besitz"  (possession) vom  "Eigentum"  (propriété), der "absolut-selbstherrlichen, ausschließlichen Herrschaft von Menschen über die gegenständliche Welt", wobei er erst dem Besitz den Vorzug gab, gegen Ende seines Lebens aber, vornehmlich aus politischen Rücksichten, dem Eigentum (31). Besitz und Eigentum sind ihm auch da nicht mehr abstrakte, willkürlich von Philosophen geschaffene Typen; vielmehr versucht er, sie anhand der Rechtsgeschichte zu konkretisieren, sie zu erörtern und miteinander nicht nur ideale Einrichtungen, sondern solche zu vergleichen, die tatsächlich eine geschichtliche Rolle gespielt haben. Nun will er gleichermaßen den Terminus "Besitz" im Sinne der klassischen Jurisprudenz Roms und des  Code civil  gebrauchen (32), wie den in Rom am schärfsten ausgebildeten und bei den älteren französischen Juristen wiederkehrenden "Eigentums"begriff übernehmen. Auch diese haben, erklärt er, nach Analogie des Prätors, der die  possessio  neben der  proprietas  anerkannte, wohl unterschieden zwischen dem Dominium und dem Nutznießungs-, Gebrauchs- und Wohnungsrecht. Diesessei, auf seine natürlichen Schranken zurückgeführt, schlechthin ein Ausdruck der Gerechtigkeit und werde zuletzt jenes verdrängen, um die alleinige Grundlage der Jurisprudenz zu werden. Zu der Zeit, da er noch für das System eintritt, in dem das Familienoberhaupt lediglich Nutznießer ist, das Obereigentum aber dem Staat vorbehalten bleibt, beruft sich PROUDHON auf das Zeugnis der Geschichte, um zu beweisen, daß dieses System ursprünglich allen Völkern - den Ägyptern, Arabern, Juden, Kelten, Germanen, Slawen und sogar den Römern - geeignet habe und keineswegs ein Phantasiebild sei. Unzweifelhaft komme dem Besitz, trotz seiner bescheidenen Form, in der bisherigen Zivilisation eine größere Wichtigkeit zu als dem Eigentum. Denn soweit die Bodenbebauer nicht schollenpflichtige Leibeigene gewesen seien, hätten sie in ihrer ungeheuren Masse ihre Ländereien als Kolonien, Erbpächter, Prekaristen, Zeitpächter usw. innegehabt: lauter Bezeichnungen, die gleichbedeutend seien mit Besitz (33).

Diese Ausführungen entstammen der "Theorie de la propriété", die erst nach PROUDHONs Tod veröffentlicht worden ist, aber - wie wir von ihm selbst wissen - auf geschichtlichen Studien über die Rechtszustände Roms, des Mittelalters und Polens beruth (34). PROUDHON verdeutlicht in dieser Schrift seinen Besitzbegriff durch den Hinweis auf das Lehen, das Eigentum durch den Hinweis auf das Allod [Lehen in völligem Besitz - wp] und gibt zuletzt diesem den Vorzug vor jenem.

Er bedient sich aber der Rechtsgeschichte nicht nur zur begrifflichen Abgrenzung der wichtigsten sozialen Einrichtungen, sondern auch, um deren Entwicklung vorauszusehen. Mit Recht ist auf "dieses stetige Streben nach Beobachtung der Tatsachen und der Tendenzen in ihnen sowie nach Erfassung der Richtung, in der sich die Gesellschaft bewegt, als für den Historismus und Reformismus PROUDHONs charakteristisch" hingewiesen worden (35). So konstatiert auch PROUDHON eine objektive Tendenz, wenn er im Hinblick auf Darlehen und Zins bemerkt, daß "das schöpferische Prinzip des alten Rechts, die Autorität, vollständig zurückgetreten sei hinter der allgemeinsten Formel, dem synthetischen Ausdruck des neuen Rechts: dem Mutualismus" (36). In der Tat, das Recht ist nicht unbeweglich, sondern paßt sich unaufhörlich und auch uns selbst wahrnehmbar den neu entstehenden Bedürfnissen und ökonomischen Gestaltungen an.
    "Der Code Napoleon entspricht ebensowenig der neuen Gesellschaft wie die Republik PLATOs und  da dank dem ökonomischen Element allüberall das relative und bewegliche Recht der industriellen Mutualität das absolute Eigentumsrecht verdrängt,  so wird man dieses Kartenhaus von Grund auf rekonstruieren müssen" (37).
Das Recht des Eigentums namentlich hat, wie seine stetigen geschichtlichen Wandlungen lehren, nichts ansich Absolutes.
    "Seit dem Beginn der Zivilisation wächst es und schrumpft wieder ein  ad libitum,  [ganz nach Belieben - wp] so daß zwischen Eigentum und Servitut überhaupt keine deutliche Scheidungslinie besteht und man diese wie jenes nur in ihrer extremen Ausbildung klar zu erfassen vermag." (38)
Wie sollte es auch anders sein? Verträgt sich ja das Eigentum mit allen anderen sozialen Einrichtungen und wandelt sich parallel mit ihnen. "Das Eigentum, so groß auch seine soziale Wirklichkeit sein mag, existiert nicht allein als politische Funktion, als wirtschaftliche und soziale Institution ... es lebt in einem organisierten Mittel, innerhalb einer gewissen Zahl analoger Funktionen und besonderer Einrichtungen, ohne die es nicht bestehen könnte, auf die es also angewiesen ist." (39)

Daraus folgt, daß das Wort "Eigentum" zunächst nur ein Wort ist, dessen Sinn inhaltlich und umfänglich sehr wechseln kann, so daß es methodisch verfehlt ist, sich begrifflich über ihn herumzustreiten. "Was ist das Eigentum heute? Ein häufig nur nomineller Titel, dessen Wert nicht wie einst auf persönlicher Arbeit des Eigentümers, sondern auf der allgemeinen Zirkulation beruth und der für sich allein ebensowenig Anwartschaft auch nur auf eine Mahlzeit gewährt wie die alten Titel "Marquis" oder "Baron" (40). Ebendeshalb kann auch PROUDHON gegen Ende seines Lebens, ohne sich zu widersprechen, als Verteidiger des Eigentums auftreten.
    "Grund und Boden kann man auf fünf oder sechs verschiedene Arten besitzen. Sollen wir nun das Wort  Eigentum  proskribieren [ächten - wp]? Keineswegs! Nicht Worte gilt es anzugreifen, sondern in unsere Gedankenwelt den Begriff der Bewegung einzuführen." (41)
Gerade dieses Element der Bewegung aber finden wir an der Wurzel des zeitgenössischen juristischen Sozialismus, bei JEAN JAURES wie bei EMMANUEL LÉVY.

Es würde zuweit führen, wollten wir alle Punkte aufzählen, in denen PROUDHON sich mit dem wissenschaftlichen juristischen Sozialismus berührt. So sei denn zum Schluß nur festgehalten, daß er sehr früh schon aufgezeigt hat: wie es die "gesetzliche Sanktion, d. h. die gesellschaftliche Anerkennung" war, welche die brutale Tatsache der "von Jedermann bestreitbaren" Okkupation in ein Recht verwandelt hat (42); daß er für seine Kritik des Eigentumsrechts der TROPLONGschen Theorie über den Bestandvertrag, die dem Mieter ein dingliches Recht an der Bestandsache einräumt (43), benützt und damit eine der fruchtbarsten Methoden des juristischen Sozialismus erstmals angewendet hat; daß er schließlich durch seine Zurückführung aller Erklärungen der Menschenrechte und -pflichten sowie aller Verfassungen und sonstigen Gesetze auf zwei Artikel: das Recht auf Arbeit und das Recht auf Austausch (44), die wesentliche Aufgabe des juristischen Sozialismus umschrieben hat: ein "Recht der Wirtschaft" zu begründen.
LITERATUR: Edmond Laskine, Die Entwicklung des juristischen Sozialismus, Archiv für die Geschichte des Sozialismus und der Arbeiterbewegung, Bd. 3, Leipzig 1913
    Anmerkungen
    1) C. BRUOUILHET. Le conflit des doctrines dans l'écononmie politique contemporaine, Paris 1910.
    2) CHARLES GIDE / CHARLES RIST, Geschichte der volkswirtschaftlichen Lehrmeinungen, Paris 1909, Seite 691 und 692, Anm. 2
    3) SERGIO PANUNZIO, Critique du socialisme juridique, in "Le mouvement socialiste", Bd. 18, 1906, Seite 308f.
    4) ANDRÉ MATER, Le socialisme juridique, in "La revue socialiste", 1904, Seite 1
    5) ALBERT SCHATZ, L'individualisme économique et social, Paris 1907, Seite 314
    6) ENGELS und KAUTSKY, Juristensozialismus, in "Die neue Zeit", Stuttgart 1887, Heft 2
    7) EDMOND PICARD, Le droit nouveau, in "Pandectes belges", 1907, Seite 11
    8) J. HITIER, Le socialisme juridique, in "Revue de'écon. politique", 1906
    9) BROUILHET a. a. O. Seite 242
    10) MATER a. a. O. Seite 2
    11) Vgl. CHARLES ANDLER, Les origines du socialisme d'état en Allmagne, Paris 1897, Seite 6
    12) RUDOLF STAMMLER, Wirtschaft und Recht nach der materialistischen Geschichtsauffassung, Leipzig 1896, Seite 175
    13) Vgl. ANTON MENGER, Das Recht auf den vollen Arbeitsertrag, Stuttgart 1886, Seite 5f
    14) MENGER, a. a. O., Seite 6
    15) BAZARD, Exposition de la doctrine de Saint-Simon, 1830, Seite 187
    16) BAZARD, a. a. O., Seite 175f
    17) L'industrie, Teil 2, Moyens etc. Oeuvres de Saint-Simon et D'Enfantin, Bd. 19, Seite 86
    18) Vgl. LEROUX, Malthus et les économistes, 1849, Seite 39 - 41.
    19) Vgl. BAZARD, Exposition, Seite 181. Es ist klar, daß im weiteren Verlauf dieser Entwicklung das Erbrecht schließlich nicht mehr auf die Familie beschränkt sein, sondern auf den Staat und die Assoziation der Arbeiter übergehen wird (ebd. Seite 45).
    20) Vgl. hierzu die interessanten Bemerkungen bei FOURNIÉRE, Les systémes socialistes, in "La Revue socialiste", 1903 / II, Seite 263f.
    21) L'industrie etc. a. a. O., Bd. 28, Seite 89f
    22) BAZARD, Exposition, 2. Jahr, erste séance.
    23) PECQUEUR, Des intérêts du commerce, 1839, Bd. 2, Seite X.
    24) Vgl. RODBERTUS, Zur Geschichte der römischen Tributsteuern, in "Jahrbücher für Nationalökonomie", Bd. 8, 1867; vgl. auch ANDLER, a. a. O., Seite 64f
    25) Vgl. RODBERTUS, Dritter sozialer Brief, 1851
    26) Vgl. ANDLER, a. a. O. Seite 355. Soe erklärt sich auch für RODBERTUS die Grundrente nicht durch die ökonimische Funktionierung der Güterwelt, sondern durch die rechtliche Verteilung des Eigentums. Vgl. ANDLER, ebd; MENGER, a. a. O. Seite 83f.
    27) Vgl. RODBERTUS, Zur Beleuchtung der sozialen Frage, Bd. 1, Seite 115
    28) Vgl. ANDLER, Introduction zur französischen Übersetzung des "Systems der erworbenen Rechte": "Theorie systématique des droits acquis", Paris 1904, Seite V.
    29) Vgl. PROUDHON, Resumé de la question sociale (Oeuvres complétes, Bd. VI, Seite 170
    30) Vgl. PROUDHON, Qu'est-ce que la propriété?, Seite 281
    31) Vgl. hierzu die treffliche Schrift von AIMÉ BERTHOUD, P.-J. Proudhon et la propriété, Paris 1910, Seite 159f
    32) PROUDHON, Memoire I, Seite 313. Übrigens zeigt BERTHOUD a. a. O., Seite 30, daß sich PROUDHON in diesem Punkt geirrt hat.
    33) PROUDHON, ebd. I, Seite 284; Théorie de la propriété, Seite 88, 90, 91.
    34) Vgl. PROUDHONs Brief an GRANDCLÉMENT vom 28. 2. 1863 (Correspondance XII, Seite 312).
    35) Vgl. BERTHOUD, a. a. O., Seite 118
    36) PROUDHON, Idée générale de la revolution, Werke X, Seite 201f
    37) PROUDHON, Révolution sociale, Werke VII, Seite 149
    38) PROUDHON, Théorie de la propriété, Seite 173
    39) PROUDHON, Théorie de la propriété, Seite 176
    40) PROUDHON, Banque d'éxchange, VI, Seite 50
    41) PROUDHON, Correspondance, Werke XII, Seite 8
    42) PROUDHON, Contradictions économiques, Werke II, Seite 188f.
    43) PROUDHON, ebd. Werke II, Seite 240
    44) PROUDHON, Philosophie du progrés (Werke, Bd. XX, Seite 56)