p-4W. JerusalemGoedeckemeyerLippsW. Jerusalem    
 
OTTO von der PFORDTEN
Versuch einer Theorie
von Urteil und Begriff

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    I. Einleitung
II. Vorstufe des Urteils
III. Impersonalien und Existenzialsätze
IV. Wesen des Urteils
V. Gültigkeit - Definition
VI. Frage - Negation
VII. Eindruck und Begriff
VIII. Beschreibung und Erklärung

"Man kann die Zeit auffassen als die  Gesamtbewegung;  jedenfalls hört mit jeglicher Bewegung auch der Begriff der Zeit auf. Eine Summe ruhender Dinge, die unbeweglich bleiben, kann auf den Begriff des Raumes führen, aber niemals auf den der Zeit, die nur durch Veränderungen und Bewegungen der Dinge erzeugt wird."

"Der Phänomenalismus braucht z. B. nur eine reservatio mentalis zu machen  und jedem  Existenzialurteil  in Gedanken  einen Klammersatz beizufügen, etwa folgender Fassung:  Das Blatt ist  (ein Ding, das wir zwar  ansich  nicht begrifflich fassen und ausdrücken können, das aber durch Vermittlung der Sinne auf uns den Eindruck eines Ganzen hervorruft; es besitzt eine Eigenschaft, die wir nicht bezeichnen können, die aber die Ursache einer speziellen Wirkung auf unser Auge ist und diese Empfindung, bezogen auf das vermeintliche Ding, nennen wir)  grün." 


III. Impersonalien und Existenzialsätze

Von den übrigen in der Einleitung gemachten Aufstellungen wird vielleicht die Annahme einer direkten "Anschauung von Bewegungen" auffallen, die zu den Verbalsätzen führen soll. (Ich ziehe das positive Wort dem negativen: subjektlose vor und behalte das lateinische "Impersonalien" im Titel des Abschnitts nur, weil es geläufiger ist.) Hierzu muß man den Begriff (1)  Bewegung  im weitesten Sinne nehmen, der alles umfaßt, was die Naturwissenschaft so nennt und erklärt.

Die bisherige Logik (2) spricht meist von  Zuständen  und  Vorgängen,  um das Gemeinte zu treffen, was der Prädikatsbildung zugrunde liegt; SIGWART allerdings an einer Stelle der Methodenlehre (3) auch schon von der "zuerst vorhandenen Vorstellung der Bewegung, die uns empirisch gegeben ist". Während die Begriffe "Zustände" und "Vorgänge" keinen direkten Zusammenhang mit naturwissenschaftlicher Auffassungsweise darbieten, hat der Begriff "Bewegung" den Vorteil,  derselbe  zu sein, den die Naturwissenschaft entwickelt und verwendet. Die Zerlegung der Gesamtvorgänge in Materie und Kräfte, die für unsere Anschauung als Dinge und Bewegungen erscheinen, bleibt doch eine fundamentale, auch gegenüber allen weitergehenden Spekulationen, die sich mit dem Wesen der Materie, der Energie bzw. der eventuell gemeinsamen Ursache von Materie und Kraft beschäftigen. Diese können für die Logik beiseite bleiben, da nie geleugnet werden wird, daß für unsere psychische Auffassung die Unterschiede von Ding und Bewegung fundamental sind.

Nicht anders als durch Bewegung treten die Dinge mit unserem Ich in Berührung; es frägt sich nur, ob wir imstande sind, die diversen Bewegungsformen aufzufassen,  ohne zugleich  notwendig die Anschauung eines Dings damit zu verbinden. Mir erscheint das zweifellos möglich. Man muß nur festhalten, daß wir uns  gewöhnt  haben, zu jeder angeschauten Bewegung ein verursachendes Ding zu suchen und auch wenn wir es nicht finden, ohne weiteres anzunehmen.

Aber im Verbalsatz (4): "es zieht" wollen wir z. B. ganz bewußt  nur  die Bewegung ausdrücken und ignorieren ein Subjekt geflissentlich. Andererseits  fehlt  oft die  Zeit,  das Subjekt festzustellen, so beim raschen Flug eines Dings, von dem wir nicht angeben können, ob es ein Stein oder eine Kugel ist. Was da beobachtet wird, ist, daß in der Luft eine Veränderung vor sich geht und ein Sinneseindruck das Auge rasch nacheinander von verschiedenen Stellen aus, die in einer bestimmten  Richtung  liegen, trifft. Das ist das Symbol der Bewegung. Wir vereinigen die ganze Anzahl der Sinneseindrücke in eins, weil ihre Aufeinanderfolge in  einer  Richtung des Raumes (oder z. B. bei einem Feuerwerk in mehreren zugleich) stattfindet. Nur der Verstand ergänzt hier die Körper (Dinge), das Auge, die ursprüngliche Anschauung,  nicht. 

Vielleicht leuchtet dies am wenigsten ein bei den  Tönen,  die doch nichts anderes sind als bestimmte Wellenbewegungen der Materie. Dennoch halte ich gerade da den Gedanken für fruchtbar; es ist eben eine Anschauung mittels des Gehörorgans. Will man den Begriff Anschauung nicht auf dieses ausdehnen, so muß man sagen: "Auffassung". (5) Die Sache bleibt sich gleich.

Ebenso löst sich, wie mir scheint, die Frage nach der logischen Bedeutung des Anschauens einzelner  Farben  (als Prädikate); es ist die Anschauung einer bestimmten Ätherwellenbewegung; und im Urteil "Blut ist rot" habe ich zugleich die Anschauung eines Dings  und  einer Bewegung, der von einem roten Ding reflektierten Sonnenstrahlen.

Der Zustand der Ruhe  erfordert noch eine besondere Beachtung. Zunächst entspricht er der Anschauung des Dings; bei ruhenden Objekten kann dieses allein ins Auge gefaßt werden, ohne Bewegung. Der Unterschied ist klar: entweder ein Objekt befindet sich in Ruhe, dann ist das Objekt  sicher,  etwaige vor- oder nachgängige Bewegung zweifelhaft (Anschauung von Dingen). Oder Objekte sind in Bewegung; dann ist zunächst nur diese  sicher  und das Objekt einstweilen zweifelhaft. Der Zustand der Ruhe kann aber dennoch  doppelt  gefaßt werden und erscheint als eine Vermittlung zwischen den beiden ursprünglichen Formen der Anschauung.

Im Urteil: das Haus liegt an der Straße - ist an der Straße gelegen - wird nur das in Ruhe befindliche Objekt angeschaut ohne jede Rücksicht auf Bewegung. Hat man aber einen Haus bau  beobachtet und urteilt dann: das Haus steht fertig, so bedeutet das das  Ende  einer Bewegung (des Hausbaues) und eine Stabilität gegenüber möglichen Bewegungen (es kann nicht mehr einfallen; die Bausteine liegen nicht mehr herum und werden nicht mehr getragen, sondern befinden sich in Ruhe; das Haus inklusive aller Bausteine steht, ist fertig; Abschluß vieler Bewegungen). Das Impersonale:  "da bauen sie"  ist also eine direkte Wiedergabe der Anschauung von  Bewegung;  ein Verbalsatz; ob ein Haus, ein Stall, ein Gerüst oder was auch immer, bleibt unentschieden. "Nun sind sie fertig mit dem Bau" bezeichnet den Abschluß einer Beobachtung von (komplizierten) Bewegungen und  nicht  die Anschauung eines ruhenden Objektes.

Ebenso in dem Satz: "da liegt ein Hund". Würden wir  nur  das Objekt anschauen, so würden wir sagen: da  ist  ein Hund oder "was dort ist (das Objekt, das dort ist), ist ein Hund". Wir haben aber den Begriff, daß ein Hund laufen, sich bewegen kann und urteilen: eben läuft er nicht,  noch nicht  oder  nicht mehr;  sondern er liegt (quasi ausnahmsweise). Hier gibt das Urteil entweder den Abschluß einer Bewegung oder  die Möglichkeit einer neuen;  die Ruhe ist hier nur eine latente Bewegung; wir  denken  aber diese eventuelle Bewegung mit. Beim Hausbau ist zunächst der Abschluß mitgedacht, nur entfernt die Möglichkeit des Einfallens; diese nur in besonderen Fällen; z. B. bei einem Kartenhaus: jetzt  steht  das Kartenhaus, d. h. die Karten sind zur Ruhe gekommen und fallen  noch nicht  wieder ein.

Die Vorstellung und Anschauung der Ruhe kann also einer  doppelten  Feststellung dienen: in den meisten Fällen der des Objekts, in anderen einer im Moment latenten Bewegung.

Daß sich auf die erstere die einfachsten Existenzialurteile gründen, leuchtet ein; daß die Impersonalien ( reine  Verbalsätze) auf der Anschauung von Bewegung beruhen, bedarf noch einiger Worte. Man muß nur den Begriff  Bewegung  im weitesten naturwissenschaftlichen Sinne fassen, dann erledigen sich sämtliche Impersonalien mit dieser Auffassung. Die uns bekannten Bewegungsformen lassen sich einteilen in  mechanische  (Gefühl, Elektrizität),  chemische  (Geschmack und Geruch),  akustische  und  optische.  Ich habe sämtliche in SIGWARTs (6) Spezialabhandlung erwähnten Beispiele durchgenommen und sie in diese Klassen eingeteilt. Von dieser Arbeit ist nur das folgende zu bemerken.

Ich fasse sogar das Urteil: "es war Nacht" in diesem Sinne: Nacht ist eine Pause vieler am Tag stattfindenden Bewegungen, im Gegensatz  nicht  zu den Objekten des Tages, sondern zu seinen Bewegungen (Licht und Lärm). Daher immer die Prädikate:  stille  Nacht usw. (7)

In "es donnert nicht" wird die akustische Bewegung verneint. "Es regnet" ist optisch  und  akustisch zugleich; "es ist kalt" nur mechanisch; Kältereiz der Haut.

Sogar: "es ekelt mir" und "es ist mir bange"  kann  man mechanisch erklären, als die Fixierung der körperlichen Bewegung: zusammenziehendes Angstgefühl; Unruhe im Kopf. Dagegen ist:  "ich  fürchte mich" die Anschauung des  psychischen  Erfolges.

Die Mustersammlung (Seite 23) aus SCHILLERs Taucher besteht aus  lauter optischen  Verbalsätzen.

Bei einer ganzen Reihe von Beispielen (Seite 24), die SIGWART noch gar nicht zu den  echten  Impersonalien rechnet, kann man ebensogut ein Verbum ergänzen, das auf eine  Bewegung  deutet, als mit SIGWART ein Subjekt. Es ist glatt, es ist noch weit - zu gehen; es ist steil - zu steigen; tief oder seicht - zu waten usw. "Um die Linde war es voll" gibt die Anschauung der gemeinsamen Bewegung vieler Menschen wieder. "Es ist so schwül, so dampfig hier": chemisch, Geruch. "Es gefriert, es taut": mechanische Bewegung verschiedener Objekte; nicht etwas Bestimmtes taut, sondern alles Mögliche; bezeichnet ist der mechanische Vorgang. "Es blieb still; es ist ruhig": Negation von Bewegungen. "Eben wird gespeist": Bewegung des Essens vieler. Diese Beispiele werden genügen, um das Gesagte zu erläutern.

Für  geistige Zustände  muß man die Annahme machen, daß die entsprechenden Abstrakta von mechanischen Eindrücken  übertragen  sind; hier wird die Erklärung natürlich weniger einleuchtend. Aber auch hier scheint sie mir einfacher als SIGWARTs gezwunge Erklärungen.

"Mich drängt's,  den Grundtext aufzuschlagen" ist  übertragen  von der mechanischen Bewegung: mich drängt es, vorwärts zu gehen, oder  man  drängt mich. - "Mir ist seltsam zumute": innere Unruhe, Gemütsbewegung, übertragen von unruhigen Bewegungen. - Derartige Gefühle  kommen über uns,  gegen unseren Willen, wie äußere Anstöße: sie sind diesen analog und werden deshalb auch mit Verbalsätzen ausgedrückt. Bei anderen tritt eine körperliche Bewegung immer als  Begleiterscheinung  auf: bei  Hungern  und  Dürsten  die Kontraktion des Magens, die Austrocknung des Schlundes; bei  pudet  [ich schäme mich - wp] das Rotwerden im Gesicht. "Es steht" ist der Ausdruck der Anschauung einer beendeten oder noch nicht begonnenen Bewegung; übertragen dann "steht es so um mich?" von Geistigem: die Feststellung des gegenwärtigen Zustandes als Summe früherer und Möglichkeit künftiger Bewegungen.

Endlich gibt (Seite 67) schon GRIMM eine Erklärung von "es gibt" aus Bewegungen, da er seinen Gebrauch aus Wendungen mit "ergeben, hervorbringen, zur Folge haben" ableitet; es sind dies aber sämtlich Übertragungen vorgestellter, erwarteter, kommender  Bewegungen. 

Besonders fallen auch die Zeit-Impersonalien (SIGWART, Seite 47) ohne Zwang unter diesen Gesichtspunkt. Man kann die Zeit auffassen als die  Gesamtbewegung;  jedenfalls hört mit jeglicher Bewegung auch der Begriff der Zeit auf. Eine Summe ruhender Dinge, die unbeweglich bleiben, kann auf den Begriff des Raumes führen, aber niemals auf den der Zeit, die nur durch Veränderungen und Bewegungen der Dinge erzeugt wird.

Einen Übergang von den Impersonalien zu den einfachsten Existenzialsätzen (8) erblicke ich in der für diese in der lebendigen Sprache gebräuchlichen Form:  "es gibt"  z. B. einen Gott, anstelle des einfachen "Gott ist". (Poetisch: es lebt ein Gott, zu strafen und zu rächen.) Gott wird hier gleichsam zunächst als  Allbewegung  gefaßt; der Beginn der Anschauung ist: es lebt, es bewegt sich, es gibt (vielerlei auf Erden, aber auch) einen Gott, ein Ur-Ding oder All-Subjekt (Theismus). Die Empfindung führt aber auch dazu, die Ur-Ursache der vielerlei Bewegung zu suchen, das All-Prädikat; "es gibt" ist  plastischer,  als "es ist", anschaulicher. (Pantheismus)

Dennoch halte ich in der Entwicklung die Anschauung von Dingen (Subjekten) für das Primäre; die von Bewegungen für einen Fortschritt der Denk-Entwicklung. Wo man die  Dinge  vor Augen hat, fällt man überhaupt keine Existenzialurteile mehr; und sagt deshalb in den Fällen, wo sie in der Sprache auftreten, meist "es gibt", weil es sich da um nicht direkt angeschaute Dinge handelt (oft um Abstrakta). Zum Beispiel es gibt (auch) einen stillen Ozean (nicht nur den atlantischen). Es gibt eine Tugend (sie ist kein "leerer Wahn") und dgl. mehr.

Aber das  Kind  fällt Existenzialurteile wohl sicher zunächst über  Dinge:  z. B. Mutterbrust oder Milchflasche. Auch die weiteren würden, wenn ausgesprochen, etwa lauten: Kissen ist, Decke ist, Spielzeug ist, meine Finger, meine Zehen sind; Mutter ist; Vater ist usw. WUNDT (9) gibt als sicher an, daß im Vokabular des sprechenlernenden Kindes die Substantive überwiegen, was ich mir selbst am Wortschatz eines eben zwei Jahre alt gewordenen Knaben bestätigte, der zu drei Vierteln aus Substantiven bestand. Und auch späterhin ist zu beobachten, daß Unsicherheit und Unklarheit weit länger unter den Prädikaten herrscht, die ein Kind anwendet, als unter den Substantiven.

So findet auch WUNDT (10) "das Prädikat sei ein variablerer Bestandteil des Gedankens. Das Subjekt sei der konstant gedachte Begriff, das Prädikat bliebe eine  veränderliche  Vorstellung, wenigstens für unser Denken". Das konstanter Gedachte ist aber wohl auch das  zuerst  Gedachte. Und wenn er später ausführt, "das Urteil gewinne (in der sprachlichen Fassung) eine größere Lebendigkeit des Ausdrucks, wenn das Prädikat vorausgeht (11), dagegen wenn das Hauptwort voransteht, eine größere  Anschaulichkeit"  - so spricht dieser Gedanke auch für den zeitlichen Vorrang der Subjektsvorstellung, denn alle ersten Eindrücke des Kindes beruhen auf Anschaulichkeit.

So sagt auch SIGWART (12): "Die Subjektsvorstellung erscheint für die erste und allgemeinste Auffassung als dasjenige, was mir  zuerst  gegenwärtig ist ... zu ihr tritt als zweites in unserem Bewußtsein die Prädikatsvorstellung". Im vollendeten Denken und Sprechen erst tritt dann ein Zustand ein, von welchem gilt, daß (13) "die Bewegung des Denkens in den Urteilen teils so vor sich geht, daß das ...  Subjekt,  teils so, daß das  Prädikat zuerst  im Bewußtsein gegenwärtig ist."

Ich lege aber darum Wert darauf, diese Frage zu erörtern, weil mir der Existenzialsatz als das fundamentalste, als das Ur-Urteil erscheint, während manche ihn ganz aus der Logik verbannen wollen. Diese Auffassung wird dadurch unterstützt, daß der Erwachsene, volldenkende Mensch keine Existenzialurteile mehr fällt, weil sie alle  selbstverständlich  geworden sind. Darum mußten sie aber doch alle einmal gefällt werden; einst in den Anfangsstadien der Entwicklung des Menschengeistes und heute noch täglich vom Kind, das sie nur nicht in logischer Form ausspricht. Zu hören bekommt man allerdings fast nie ein Existenzialurteil, außer in den seltenen Fällen, die ich erwähnte. Diese  Seltenheit  ist aber kein Grund, das Existenzialurteil zu negieren.

Wenn KANT sagt, "sein" sei kein "reales Prädikat", so ist das meines Erachtens mehr erkenntnistheoretisch als logisch gemeint. Ob dadurch etwas zur Subjektsvorstellung "hinzukommt" oder nicht, ist für eine unbefangene Urteilstheorie gleichgültig, da ja noch gar nicht gesagt ist, daß etwas hinzukommen muß. KANT und viele mit ihm (14) haben stets das vollendete, wissenschaftliche Urteil (15) vor Augen, das sich aus Begriffen zusammensetzt; erst die Durchtränkung der Logik mit Psychologie hat uns in frühere Stadien des Denkens geführt, wo fertige Begriffe noch nicht existieren. Sind diese einmal gebildet, dann sind keine Existenzialurteile mehr möglich; in der Wissenschaft gibt es keine solchen mehr. Begriffsbildung setzt diese primitivste Urteilsform als längst überwundenes Stadium voraus. Für dieses ist nur der  Eindruck  des "Seins" nötig, also auch zum Aufbau einer Urteilstheorie; noch nicht der  Begriff  des Seins (vgl. dazu Abschnitt VII). Der Begriff des Seins fixiert das im allgemeinen Wechsel aller divergierenden Eindrücke sich gleichbleibende an einzelnen Objekten; dazu sind jedenfalls mehrere Eindrücke nötig. Ein einmaliger kann das bestimmt immer wiederkehrende noch nicht festlegen, wohl aber die einfachste Form des "Seins" geben, die man ein "Vorhandensein", ein "in Betracht kommen" nennen kann. "Sein" bedeutet für das elementare Urteil lediglich einen Gegensatz zum "Ich", wie er für die Festsetzung eines zweiten Subjekts außer diesem Ich nötig ist. Ganz selbstverständlich und von jedem Denken unzertrennlich ist dem Ich nur dieses Ich selbst; jedes Ding außerhalb muß erst ausdrücklich als solches fixiert werden. Dazu gehört auch der eigene Körper; das Kind "entdeckt" auch seine eigenen Zehen. Das Sein in dieser einfachsten Form (16) umfaßt alles sogenannte Physische, was als außerhalb des Psychischen vorhanden empfunden wird und Vorstellungen und Eindrücke im psychischen Ich hervorruft.

Einen feineren  Begriff  des Seins aufzustellen, bleibt den Erkenntnistheorien überlassen; diese einfachste Form des Seins-Eindrucks muß in allen wiederkehren. Der Phänomenalismus braucht z. B. nur eine reservatio mentalis [Gedankenvorbehalt - wp] zu machen  und jedem  Existenzialurteil  in Gedanken  einen Klammersatz beizufügen, etwa folgender Fassung:  "Das Blatt ist  (ein Ding, das wir zwar  ansich  nicht begrifflich fassen und ausdrücken können, das aber durch Vermittlung der Sinne auf uns den Eindruck eines Ganzen hervorruft; es besitzt eine Eigenschaft, die wir nicht bezeichnen können, die aber die Ursache einer speziellen Wirkung auf unser Auge ist und diese Empfindung, bezogen auf das vermeintliche Ding, nennen wir)  grün. 

Durch solche oder ähnliche Einschaltungen erhält dann das "ist" für jede Erkenntnistheorie den ihr entsprechenden Wert, ohne doch seine Grundbedeutung einzubüßen, festzustellen, daß unser Ich nicht die ganze Welt ohne weiteres bedeutet, sondern noch anderes vorhanden ist, das im einzelnen in Urteilen irgendwie festzulegen versucht wird.

Will man aber am Begriff "Realität" beim Existenzialurteil noch deshalb Anstoß nehmen, weil bei allen  Abstraktis  von einer Realität nicht gesprochen werden könne, so ist darauf zu sagen, daß Abstrakte immer auf Realitäten fußen,  von denen  sie abstrahiert sind. Das Urteil behauptet nur die Existenz dieser; ich komme darauf noch bei der sogenannten Kopula-Frage zurück. Hier genügt als Beispiel der lateinische  est-Modus  (in rebus),  sunt  (certi denique)  fines  [Es ist ein Maß (in allen Dingen). Es gibt (mit einem Wort) bestimmte Grenzen. Horaz - wp], der in schärfster Form die "Realität" der Abstrakta behauptet, d. h. von menschlichen Handlungen, die ihnen zugrunde liegen; oder das deutsche "die Tugend ist (doch) kein (leerer) Wahn", gleichbedeutend mit dem einfachsten Existenzialurteil "Tugend ist". Als Realität liegen tugendhafte Menschen zugrunde, nicht etwa tugendhafte Steine oder Atome; Sinn: es gibt tugendhafte Menschen, abstrahiert: Tugend. Abstrakta, denen gar keine Realität irgendeiner Art zugrunde liegt (17), gibt es nur in der Metaphysik oder einer metaphysischen Erkenntnistheorie.

LITERATUR - Otto von der Pfordten, Versuch einer Theorie von Urteil und Begriff, Heidelberg 1906
    Anmerkungen
    1) Dies widerspricht nicht dem in der Einleitung aufgestellten Grundsatz, man solle einen Begriff (dort des Urteils) nicht zu  weit  nehmen. Hier handelt es sich um einen Ausdruck für einen ganz elementaren Vorgang, eine ursprüngliche Denktätigkeit, den man gar nicht allgemein und umfassend genug wählen kann.
    2) Zum Beispiel WUNDT, Logik I, Seite 177; SIGWART an vielen Stellen. ERDMANN, Logik, Seite 56 unterscheidet als "Gegenstände des Denkens: 1. Dinge; 2. Vorgänge oder Veränderungen; 3. Beziehungen". Anstelle von 2. setze ich "Bewegungen"; die "Beziehung" ist nichts Primäres und steht nicht auf  gleicher Stufe  mit den ersten beiden Klassen. Übrigens lehnt ERDMANN trotz seiner 2. Klasse "Veränderungen" die Vorstellung eines Vorgangs ohne Substrat schlechthin an. (Seite 307f)
    3) SIGWART, Logik II, § 69, Seite 93
    4) Man kann diese echten Verbalsätze auch Existenzialsätze nennen, indem bei ihnen die Existenz einer Bewegung erfaßt und behauptet wird.
    5) Die Begriffe: "Wahrnehmung" und "Vorstellung" bleiben besser der Psychologie überlassen für diejenigen Stadien des Denkens, die eventuell  nach  den Urteilen liegen. Eine "Vorstellung" des Donners ist nicht mehr etwas Einfaches, Primäres, sondern setzt mehrere Urteile voraus.
    6) CHRISTOPH SIGWART, Die Impersonalien, Freiburg 1888.
    7) Dagegen: "es tagt" (Seite 46 und 47) nicht "werdender Zustand", sondern beginnende Bewegungen des Tages.
    8) Ich lasse in der Folge das "einfachsten" weg; gemeint sind hier immer die unvollkommenen Urteile (Subjektsätze) der Form  "A  ist", für die wir kein besonderes Wort besitzen.
    9) WILHELM WUNDT, Völkerpsychologie I, 2; Seite 307
    10) WILHELM WUNDT, Logik I, 2. Auflage, Seite 161f
    11) Damit ließ sich auch die Zunahme der Impersonalien in einer Sprache erklären. Völkerpsychologie I, 2; Seite 221
    12) SIGWART, Logik I, §5, Seite 30
    13) SIGWART, Logik I, § 11, Seite 79
    14) So natürlich auch HUSSERL (reine Logik), Logische Untersuchungen I, Seite 186: "rein generelle Sätze, aufgebaut aus Begriffen". Nicht das Urteil ist dann das Fundament der Logik, sondern der Begriff.
    15) Vor allem das mathematische und das deduktive Urteil.
    16) Etwa im Sinne von WILHELM OSTWALD, Naturphilosophie, 3. Auflage, Seite 66f
    17) HEINRICH RICKERT, Gegenstand der Erkenntnis, 2. Auflage, 1904, Seite 154: "Erkenntnistheoretische Begriffe, die keinen Inhalt haben, der sich auf Wirklichkeiten bezieht." Hierzu müßte streng genommen eine neue "copula" erfunden werden.