ra-2Die Freiheit der WissenschaftDie gute Sache der Freiheit    
 
MAX WENTSCHER
Das Problem der Lehrfreiheit

"Wie kann jemand, der es gerade als seinen innersten Beruf faßt, anderen das Höchste und Wertvollste, das sich ihm selbst in seinem religiösen Innenleben erschlossen hat, gleichfalls mitzuteilen und auch sie dadurch innerlich zu fördern, ihnen zur Gottheit auf seinem Weg mit emporzuhelfen: wie kann ein solcher um einer von ihm als überwunden erkannten formelhaften Verpflichtung willen von dieser Aufgabe gerade da plötzlich ablassen wollen, wo sie ihm in neuer Tiefe und Größe aufgegangen ist und wo er besser als bisher den rechten Weg zum wahren Leben gefunden zu haben und zeigen zu können glaubt?"

Eines der am häufigsten geltend gemachten Motive der Befürwortung einer gewissen Einschränkung der Lehrfreiheit ist, daß die uneingeschränkte Freiheit allzu leicht zur Zügellosigkeit führen könne und daß man eines Schutzes gegen die Ausschreitungen individueller Lehr willkür  bedürfe. Im Interesse also der Selbstzucht und inneren Freiheit des Geistlichen selbst wünscht man diesen durch Absperrungsmaßregeln vor den Verlockungen der Eitelkeit, vor dem Sich-Gefallen im rücksichtslosen Aussprechen noch unreifer und unabgeklärter Anschauungen zu schützen. Das glaubt man der Rücksicht auf sein eigenes Beste, wie das der Gemeinde, schuldig zu sein. - Nun ist ohne Weiteres zuzugestehen, daß hier gewisse Gefahren vorliegen. Die Frage ist nur, ob man mit den Bestrebungen zur Einschränkung der Lehrfreiheit auch das rechte Mittel wählt, diesen Gefahren zu begegnen. Das aber muß in der Tat durchaus zweifelhaft erscheinen. Gerade auf Persönlichkeiten von der hier vorausgesetzten Eigenart, mit der Neigung, das eigene Selbst ein wenig in den Vordergrund zu stellen und glänzen zu lassen, werden solche Bestrebungen leicht das Gegenteil von dem wirken, was sie beabsichtigen: sie werden den Betreffenden Gelegenheit geben, sich als Märtyrer der Wahrheit zu fühlen, aber sicherlich niemanden, der es nicht ohnehin ist, zu einem wirklich brauchbaren Organ der Religionsverkündung umschaffen. - Im allgemeinen wird die Gefahr, daß ein noch etwas zu jugendlicher Geistlicher ernste Schädigungen im religiösen Leben der Gemeinde hervorruft, sicher nicht groß sein. Man wird es doch eben bemerken, daß da noch mancherlei jugendlich Unreifes mit unterläuft in dem, was er verkündet; und man wird es mit Geduld erwarten, bis eine reichere Lebenserfahrung und der Ernst des Berufes von selber ihre läuternde Wirkung üben. Wer aber dennoch diese Gefahr für so bedenklich hält, daß er ihr glaubt begegnen zu müssen, der wird das durch Beaufsichtigung oder durch Verbote und Bekenntniszwang gewiß nicht erreichen; er würde vielmehr darauf sein Augenmerk richten müssen, daß nicht allzu jugendliche, noch unausgereifte Persönlichkeiten schon zu solchen festen Anstellungen gelangen, in denen ihnen die Obhut des gesamten religiösen Lebens der Gemeinde anvertraut ist.

Eines aber muß man sich immer gegenwärtig halten: wo der Geistliche sein Tun und Lehren der Beaufsichtigung durch eine Behörde unterstellt sieht, da kann freies, wahrhaft eigenes religiöses Leben sich in ihm nicht entwickeln. Er wird zur inneren Unwahrhaftigkeit, zu politisch vorsichtiger Abwägung seiner Worte genötigt und damit in die leidige Praxis hineingedrängt, sich unter Verzicht auf eigene Einsicht und Überzeugung immer mehr in jene bequeme Formelsprache zu vergraben, welche den Vorzug hat, mit dem behördlich privilegierten Glauben zusammenstimmen. Aus diesem Grund erscheint es auch schon bedenklich, den Geistlichen - abgesehen natürlich von den für alle gültigen Gesetzen und staatlichen Behörden - noch einer besonderen  Disziplinar behörde zu unterstellen, welche es nun nicht mit dem Inhalt seiner Lehre, sondern nur mit der Beurteilung seines Lehr aktes  zu tun hätte. In der Wirklichkeit würde es solchen Behörden immer ein Leichtes sein, bei vorliegenden Differenzen in Betreff des Inhaltes der Lehre auch einen Punkt herauszufinden, an welchem der Schuldige den gebotenen Takt verletzt habe. Denn im Grunde muß es der Behörde ja schon als "taktlos" erscheinen, wenn jemand es unternimmt, durch das Aussprechen selbständig errungener Anschauungen der vorgeschriebenen Lehre entgegenzuwirken. - Man muß Vertrauen haben zu der allüberzeugenden Macht der religiösen Wahrheit, die dem, der sich Berufs wegen ganz ihrem Dienst widmet, sich ganz von selbst immer reicher und tiefer erschließen wird, alle Gelüste subjektivistischer Überhebung und kleinlicher Selbstanbringung überwindend und hinwegspülend. Und man muß Vertrauen haben zur menschlichen Persönlichkeit, die sich gerade da erst zum Höchsten und Größten unter edelster Selbstverleugnung emporhebt, wo sie sich rein auf sich selbst gestellt findet, von aller Bevormundung losgelöst und ganz nur der eigenen Verantwortung anheim gegeben.

Auch "Fälle" haben ihr Gutes. Sie zeigen dem öffentlichen Bewußtsein, daß es noch nicht Zeit ist, zufrieden zu sein mit der Ertrag der Arbeit vorangegangender Geschlechter, daß auch wir uns vielmehr immer wieder in neue, eigene Aufgaben hineingestellt finden, daß auch wir selber weiter arbeiten und selber denken müssen, wenn nicht der Gang der Dinge eines Tages uns aus unserer vorzeitigen Ruhe aufschrecken soll. So danken wir es doch wohl solchen "Fällen", daß ein Thema, wie das der "Grenzen der Lehrfreiheit", das die vorjährige Tagung der "Freunde der Christlichen Welt" in Potsdam zur Diskussion gestellt, eine solche Anziehungskraft ausüben konnte. Man fühlt in weiten Kreisen, wie brennend diese Frage geworden ist, fühlt auch, daß gerade die Weiterblickenden unter den Gebildeten in erster Linie dazu berufen sind, mitzuwirken, daß der aufflammende Streit um die Lehrfreiheit rechtzeitig noch in Bahnen gelenkt wird, bei denen - unter Vermeidung schwererer Krisen - eine gedeihliche und segensreiche Weiterentwicklung der Religion sich erhoffen läßt. -

Es war ein doppelseitiges Interesse, das den Vorträgen und der Debatte über die Grenzen der Lehrfreiheit in Potsdam ihr Gepräge und ihre Orientierung gab. Denn zwei Arten von Fällen hatten die Gemüter erregt; und beiden mußte Rechnung getragen werden. Auf der einen Seite forderten die kirchenregimentlichen Maßregelungen von Männern, wie CÄSAR, Römer usw., bei denen augenscheinlich nicht die Einzelnen als solche, sondern die ganze "moderne" Richtung getroffen werden sollte, zu einer kritischen Prüfung der Rechtsbefugnis jener Kirchenbehörden heraus. Auf der anderen Seite aber hatte das Verhalten eines KALTHOFF, der trotz seiner ausgesprochenen Abwendung vom Christentum dennoch nach wie vor das Betreten der Kanzel als sein gutes Recht in Anspruch genommen, gleichfalls bei vielen Anstoß erregt. Man mochte dunkel empfinden, daß man in einem Augenblick, wo man für sich nach größerer Bewegungsfreiheit riefe, vor allen Dingen selber möglichst einwandfrei dastehen müsse, nicht sich mit erklärten "Widerchristen" - vielleicht gar "Atheisten", - zusammenwerfen lassen dürfe.

Allein auch da, wo solche Rücksichten fern lagen, hatte man in weiten Kreisen Ärgernis genommen an diesem Fall; und man wollte es deutlich zur Aussprache gebracht wissen, daß man am Christentum etwas über allen Verglech Wertvolles besitze und daß man mit Männern, die daran ernstlich zu rütteln anfangen, schlechterdings nichts gemein habe. Und nun war noch der "Fall Frenssen" hinzugetreten und hatte gleichfalls die Gemüter in lebhafte Erregung versetzt. Zwar kam hier nicht unmittelbar der Streit um die Grenzen der Lehrfreiheit in Frage. Denn FRENSSEN hatte sein geistliches Amt aus eigenem Antrieb aufgegeben und dem  Dichter  stand nun ja frei, zu sagen, was er für recht und gut hielt. Allein man empfand es doch: in diesem Mann und seinem Werk war etwas zum Ausdruck gelangt, was als eine der möglichen Folgewirkungen der "modernen Theologie" nicht wohl abzuleugnen war, mochte man auch noch so sehr geneigt sein, in der  Art, wie  hier die letzten Konsequenzen gezogen waren, Unzulängliches, Einseitiges zu finden.

Dieser allgemeinen Orientierung entsprechend, suchte man das gestellte Problem in folgender immer wiederkehrender Weise zu bewältigen. Man wollte zuerst dem Bedürfnis  uneingeschränkter  Lehrfreiheit zu klarem und kraftvollem Ausdruck verhelfen; dann aber, in einem zweiten Teil der Ausführungen, sollte die so geforderte  Freiheit  von bloßer subjektivistischer  Willkür  scharf geschieden werden und es sollte also dennoch zu einer  Abgrenzung  der Lehrfreiheit kommen; und endlich sollten Vorschläge entwickelt werden zur etwaigen  praktischen Durchführung  dieser Abgrenzung.

Es war nach meinem Gefühl für die Fruchtbarkeit der Debatte wenig günstig, daß man mit der  prinzipiellen  Erörterung des Problems sogleich auch die besondere Frage nach der Lehrfreiheit des  Lehrers  im Religionsunterricht verband. Gewiß wird nicht in Abrede zu stellen sein, daß gerade hier von vielen die tatsächlich bestehenden Schranken der Lehrfreiheit mit am lebhaftesten empfunden werden. Auch das ist zuzugestehen, daß es kaum möglich sein wird, in weiteren Kreisen des Publikums Verständnis und Interesse für die moderne Gestaltung der Religion zu erwecken, wenn man nicht gerade bei der Jugenderziehung den Anfang zu machen sich entschließt. Allein trotz alldem, wir müßten vor allem erst einmal über die Berechtigung und die Grenzen des Lehrfreiheitsgedankens selbst im klaren sein, ehe wir mit Aussicht auf Erfolg an die Sondergestaltung des Problems herantreten können, wie sie die Anwendung auf die Schule und deren besondere Aufgabe in sich schließt. Wir werden uns daher im Folgenden durchaus nur mit dem Problem in seiner  allgemeinen, prinzipiellen  Fassung beschäftigen. Haben wir hier erst einmal Klarheit und Einhelligkeit erreicht, so wird es ein Leichtes sein, auch die sich anschließenden  praktischen  Aufgaben zu bewältigen.

Die eigentliche  Schwierigkeit,  die der Diskussion des Lehrfreiheitsgedankens im Wege steht, liegt weniger auf  theoretischem  oder gar  logischen  Gebiet, als vielmehr darin, daß diese Frage zugleich mit der persönlichen Stellungnahme des Einzelnen zur Wahrheit und dem Wert des Lehr inhalts  aufs innigste zusammenhängt, daß sie somit entscheidend nur in langsamer historischer Arbeit an der Geistesentwicklung der Menschheit gelöst werden kann, nicht durch eine einfache "Aufklärung" des Verstandes. Und dazu kommt noch die eigenartige Doppelstellung der Religion, sofern sie einerseits innerste, eigenste Angelegenheit der  Persönlichkeit  ist, andererseits aber doch zugleich als  Gemeinschafts-Angelegenheit sich darstellt und das gerade an dem Punkt, wo sich das Problem der Lehrfreiheit erhebt. So begreift es sich leicht, daß Vielen mit der Aufrollung dieses Problems gar nicht gedient ist, während Andere davon gerade eine wesentliche Neubelebung der Religion erhoffen.

Wer einmal überzeugt ist, in der üblichen traditionellen Fassung der Religion autoritativ verbürgte höchste Wahrheit zu besitzen, der wird von vornherein gegen jede Lehrfreiheit, ja, im Grunde gegen jede Denkfreiheit, jedes selbständige Forschen und Kritik-Üben mißtrauisch sein, es für gefährlich oder doch überflüssig erklären. Anders schon, wer an der Absolutheit des traditionellen Glaubens, wenn auch nur an einem Punkt erst, einmal zu zweifeln begonnen hat; und in diesem Fall befinden sich gegenwärtig doch so gut wie alle denkenden Theologen, bis zur äußersten Rechten hin. Es gibt ja die in allen Einzelheiten einhellige Fassung unserer Religion gar nicht, auf die man sich berufen könnte als einwandfreie, allein echte Lehre, als feste Norm eines allgemein zu fordernden Glaubens. Hat man aber einmal begonnen, das Geltendmachen eigener Einsicht und Überzeugung und darauf begründeter Kritik auch nur an einem Punkt zuzugestehen, so hat man sich prinzipiell des Rechtes enthoben, es Anderen zu verwehren, wenn sie auf dieser Bahn weiterschreiten. Das einfache Zugeständnis, daß sich aus den Quellen unseres Glaubens eine durchweg einhellige, überall autoritativ verbürgte Lehre nun einmal nicht entnehmen läßt, genügt, der Diskussion über die Forschungs- und Lehrfreiheit ein für allemal das Tor zu öffnen. Jetzt kann es sich im besten Fall nur noch um den Versuch einer  Grenzbestimmung  handeln.

Und nun beginnen die Verlegenheiten. Denn nun, da man einmal nicht alles halten kann, möchte man doch das  "Wesentliche"  halten. Aber was  ist  dieses Wesentliche? Woran kann man es sicher erkennen und worauf begründet es seinen Anspruch auf Bevorzugung vor allem anderen?

Hier sind nun folgende Standpunkte möglich und haben jeweilig ihre Vertreter gefunden:

Erstlich, man läßt sich einfach vom tatsächlichen Entwicklungsgang der Dinge leiten, folgt dem, was eben gang und gäbe ist, worin man den Niederschlag dessen zu besitzen glaubt, was durch die fortgesetzte religiöse Arbeit der vorangegangenen Generationen in ihren höchsten Vertretern geleistet worden ist. Man hält sich also an die  Tradition  und an die bestehenden Kirchenordnungen. Diese haben doch einmal Rechtsgültigkeit. Wie dürfte man sich also gegen sie auflehnen? - Es sind zum Teil sehr achtbare Motive, die neben dem allgemeinen Hang zur Bequemlichkeit und Ruhe zu dieser Stellungnahme hintreiben. Das Althergebrachte, von den Vätern Überkommene erweckt Pietät und macht uns leicht geneigt, unbesehen hinzunehmen, was auf diesem altbewährten Boden erwachsen ist. Dazu kommt das Bedürfnis, die religiöse Wahrheit als etwas Feststehendes, Unveränderliches ansehen zu dürfen. Sie wäre ja sonst nicht absolute Wahrheit, für die man mit ganzer Seele über eintreten, die man als göttlich verehren dürfte. Und damit zusammenhängend, ist es Vielen ein Bedürfnis, in der Religion etwas Autoritatives, unbedingt Verpflichtendes zu sehen, das aller bloß menschlichen Denkarbeit unberührbar bleibt, das uns einem über all unser endliches Wollen und Wünschen erhabenen Gottesgebot unterwirft und so uns zu Gliedern einer höheren Welt erhebt, in deren Geschichte und Entwicklung die Gottheit ihren verborgenen Weltzweck zu allmählicher Verwirklichung bringt. - Trotz Alledem: Dieser Standpunkt ist doch wohl eigentlich nur dem Katholiken konsequent durchführbar. Für den Protestanten bleibt es immer ein kritisches Problem, wie er damit das Auftreten LUTHERs und der übrigen Reformatoren in Einklang bringen will. Wer der  Tradition  huldigen will, wie kann er einer  "Reformation"  anhängen wollen? Ja, wie kann er eigentlich JESU eigenes Auftreten und Wirken als letzte Grundlage seiner Religion anerkennen? - Aber freilich, man könnte sagen: Diese Männer hat Gott selbst gesandt, um im rechten Zeitpunkt der Weltgeschichte die auf  Irrwege  geratene Tradition wieder ins rechte Geleis zu bringen. Allein dann liegt doch die Frage nahe: Wer bürgt denn dafür, daß nicht auch jetzt wieder ein solcher Moment gekommen ist, wo die Tradition Irrwege eingeschlagen hat und eben deshalb vielleicht die Gottheit wieder neue Propheten oder Reformatoren erwecken will, den Schaden zu heilen? Die Männer der Tradition haben niemals die Propheten zu deren Lebzeiten als solche erkannt, sondern waren stets dabei, wo man diese "gekreuzigt und verbrannt" hat. Man sollte darum doch nicht gar so sicher sein, im Bann der Tradition von selbst jederzeit die allein seligmachende Wahrheit zu besitzen!

Ein zweiter möglicher Standpunkt, der nunmehr nahe gelegt scheint, ist in der Losung ausgesprochen: Zurück zu den ersten  Quellen  unserer Religion! An den Stifter selbst, an seine Worte und Werke wollen wir uns halten. Hier allein kann das Absolute, der reine Gottheitswille gegeben sein. Es muß also aus jenen ersten Quellen die reine, göttliche Wahrheit herausgearbeitet werden: dann haben wir autoritativ Verpflichtendes; dann haben wir die ursprünglichen "Heilstatsachen", das "Wesentliche" in unserer Religion. - Das wollten im Grunde auch die Reformatoren; das wollte vor allem auch LUTHER. Allein das Verhängnis wollte, daß man auf diesem Wege, je weiter man ihn verfolgte, immer mehr auf schwankenden Boden geriet. Anstelle der erhofften eindeutigen Klarheit zeigte sich, daß die Quellen, aus denen man schöpfen wollte, nicht ohne weiteres zusammenstimmten. Unverkennbar enthielten sie Widersprüche und überdies hatte gerade der für die Erhebung des Christentums zur Weltreligion bedeutsamste Apostel offenbar den Hauptnachdruck in der Religionsgestaltung auf Dinge gelegt, die in den Evangelien günstigenfalls doch nur einen Teil des Gesamtinhalts ausmachten, vielleicht aber überhaupt mit dem ursprünglichen Sinn und Geist des Ganzen keineswegs rein zusammenstimmten. - So fand man sich bei dem Bestreben, sich an die Quellen zu halten, notwendig zu einer Entscheidung der Frage hingedrängt, was man nun in diesen als das Echte, Maßgebende ansehen wolle. Und für diese Entscheidung wenigstens konnte man nicht mehr einfach an die Qellen selbst sich halten wollen; denn diese versagten ja eben an diesem Punkt. Man mußte auf eigene Verantwortung hin es mit anderweitigen zuverlässigen Maßstäben versuchen. Und selbst, wenn man die unmittelbar nun einmal nicht zutage tretende Einhelligkeit der Quellenschriften durch Interpretationen und Hilfskonstruktionen annehmbar zu machen versuchte, mußte man in diesen letzteren notwendig über den unmittelbaren Wortlaut des Überlieferten hinausschreiten und auf eigene Gefahr hin deuten und konstruieren, wofür man doch gleichfalls irgendwelcher der eigenen Einsicht entlehnten Maßstäbe bedurfte.

Damit ist nun der Übergang zu einem dritten Standort angebahnt, auf dem man mit den Mitteln des  eigenen Denkens und Forschens  die Quellen der Religion zu scheiden versuchen will, um so das reine, wahre Christentum herauszuschöpfen. Dabei kann man nun wieder in verschiedener Weise verfahren.  Entweder  so, daß man durch historische und philologische Kritik die eigentliche Lehre des Verkünders dieser Religion möglichst wortgetreu zu bestimmen such.  Oder  so, daß man sich bei diesem Konstruktionsversuch, soweit sich historisch nichts absolut Sicheres mehr feststellen läßt, vielmehr vom eigenen ethisch-religiösen Bewußtsein leiten läßt. Wer gern eine fertige, autoritative Religion besitzen möchte, wird gewiß überzeugt sein, nur auf dem ersten Weg zum Ziel gelangen zu können; der zweite wird ihm als verwerfliche Überhebung erscheinen. Allein die Sache liegt nun einmal tatsächlich so, daß die historische Kritik zu so sicheren positiven Ergebnissen auf keine Art zu gelangen vermag, wie man sie hier sucht. Man mag es bedauern, aber es ist doch einmal Tatsache, daß wir von JESUS selber keinerlei Aufzeichnungen haben; so gut wie sicher nicht einmal von seinen unmittelbaren Jüngern. Überdies ist nachweisbar, daß die Verfasser der Evangelien, dem Gebrauch des Zeitalters folgend, mancherlei in ihre Erzählung hineinkonstruiert haben, lediglich "auf daß erfüllt würde, was da geschrieben steht." Dazu kommt, daß ihre Berichte erst relativ spät niedergeschrieben sind, in einer Zeit, wo die allgemeine lebhafte religiöse Erregung einer objektiven, historisch getreuen mündlichen Bewahrung und Weitergabe der Worte und Werke des Meisters so ungünstig wie möglich sein mußte, zumal der allverbreitete Wunder- und Dämonenglaube sich überall ins Spiel mengte. Unter solchen Umständen kann von einer exakt historischen Feststellung der Urform unserer Religion, wie sie ihr Schöpfer selbst ihr hatte geben wollen, schlechterdings nicht die Rede sein. Wer sie dennoch versucht, der  konstruiert  eben, so gut innere Überzeugung und religiöses Empfinden ihn dazu instand zu setzen scheinen. Er begibt sich somit, wissentlich oder unwissentlich, doch schon auf den zweiten der eben angedeuteten Wege, dem auch wir uns nunmehr zuwenden müssen.

Eines ist hier gewiß: es ist völlig hoffnungslos und verfehlt, diesen Weg einzuschlagen für den, der sich einmal gewöhnt hat und nicht davon lassen kann, die religiöse Wahrheit als etwas von außen her, auf übernatürlichem Weg der Menschheit Geoffenbartes aller Vernunfteinsicht Entzogenes und Überlegenes zu fassen. Mit dieser supranaturalistischen Religionsfassung ist nicht zu streiten: man muß sie sich selbst überlassen und abwarten, wie lange sie auf einem längst schon verlorenen Posten noch ausharren mag. Nur das muß ihr freilich entgegengehalten werden: das moderne Bewußtsein empfindet nicht mehr, wie sie es als selbstverständlich voraussetzt. Möchte auch in noch so hoher Wille sich einmal in historischen Ereignissen und Tatbeständen der Menschheit kundgegeben haben: solange dieser Wille nicht zugleich als höchster Ausfluß auch unseres eigenen, innersten Fühlens und Wollens sich uns kundgibt, ist schlechterdings nicht abzusehen, was er uns eigentlichen angehen sollte. Nicht, weil er mächtig, allmächtig ist, werden wir uns einem göttlichen Willen zu fügen geneigt sein, sondern weil und sofern er sich uns als das höchste, unserer Einsicht und Wertschätzung irgendeines erreichbaren Gutes darstellt und erleben läßt. Gerade das ist es, was das Christentum gegenwärtig wieder zu neuem, innerlichem Leben erstehen läßt, daß die historische Forschung, so weit sie überhaupt mit einiger Wahrscheinlichkeit das Bild des Stifters dieser Religion in seiner ursprünglichen Reinheit zu rekonstruieren vermag, immer mehr ihn als wahren, ganzen Menschen enthüllt, dem wir mit unserem im höchsten Sinne menschlichen Denken und Fühlen nahe zu kommen vermögen, dessen Wort auch uns noch mit ganzer, erfrischender, befreiender Kraft ins Herz dringen, als seien sie heute erst gesprochen.

Allein wir empfinden es als eine besondere  Gunst  des Geschickes, daß hier die historische Forschung uns in dem, was wir bei JESUS suchen, so erfreulich zuhilfe kommt. Es könnte ansich auch recht wohl anders sein: es könnte sich bei genauerer Forschung auch herausgestellt haben, daß das echte Jesusbild nur wenig oder nichts gemein hätte mit unserem modernen Empfinden und unserem Ideal von echter, wahrer Religiosität. Und dann würde doch alle historische Beglaubigung nicht hinreichen können, diesem JESUS und seiner Lehre verpflichtende Autorität zu verleihen, möchte man auch noch so sehr auf höhere göttliche Offenbarung sich berufen.

Und nun scheint die Frage nahe gerückt: wozu brauchen wir denn überhaupt noch JESUS? Wenn erstlich die Quellen so wenig Zuverlässiges über ihn feststellen lassen und wenn ferner von vornherein die Absicht besteht, von seiner Lehre nur das anzuerkennen, was man gerade so gut auch aus sich selber schöpfen könnte: da wäres es doch bequemer und sicherer, diesen Umweg überhaupt zu vermeiden, lieber sogleich selbständig schöpferisch beim Aufbau der religiösen Wahrheit zu Werke zu gehen. - Gewiß, wenn es nur eine so leichte Sache wäre, frei schöpferisch eine Religion aus dem Nichts heraufzubeschwören! Allein wo haben wir denn die Persönlichkeiten, die sich auch nur von fern mit jenen großen Religionserneuerern vergleichen ließen, wie sie in den Gestalten der Propheten etwa oder der Reformatoren uns begegnen? Und wir sollten einen JESUS entbehren können? - Freilich werden wir uns gewiß nicht an ihn wenden, um uns durch seine Lehre oder das, was uns als solche überliefert ist, einfach binden und blind bevormunden zu lassen. Das können wir Heutigen nicht mehr und können es auch nicht einmal mehr wollen. Nur in dem Sinne wenden wir uns an ihn, um von seiner so unvergleichlich hohen und reinen Persönlichkeit uns zu gleicher Freiheit und Sicherheit des religiösen Bewußtseins erheben und emporfördern zu lassen, wie er sie sich selbst errungen hat! Ein Helfer zu freier, echt lebendiger Religiosität soll er uns sein, nicht ein starres Gesetzbuch, das alles eigene, innerlich echte religiöse Leben in Fesseln legte und ertötete! - Gelänge es dann zuletzt, von da aus noch weiter zu kommen, zu noch reinerer, höherer Ausprägung menschlicher Religiosität, als sie uns in JESU Leben und Lehre sich kund gegeben: umso besser! Was sich irgendwie als wahrer Fortschritt erweist, soll uns willkommen sein! Einstweilen aber fehlt doch noch viel, daß JESU Lehre bereits in ihrer ganzen Tiefe und Größe recht begriffen und ausgeschöpft wäre. Denn allzulange war sie der Menschheit in einer Fassung aufgeprägt, die ihren wahren, innersten Gehalt verdunkelte; und mochte sie dadurch auch vergangenen Zeitaltern einleuchtender und zugänglicher gemacht werden, so ist doch nicht zu leugnen, daß eben das ihrem ursprünglichen Sinn und Geist Fremdartige sie zu dem seit der Renaissance mehr und mehr zur Selbstbesinnung gelangenden allgemeinen Bewußtsein der Menschheit in einem immer unerträglicher werdenden Gegensatz bringt.

Es bedarf kaum näherer Ausführung, in welchem Maß die Entscheidung des Problems der Lehrfreiheit davon abhängig sein wird, welchen der hier erörterten Standpunkt zur Religion überhaupt der Einzelne sich zu eigen gemacht hat und daß eigentlich nur auf dem Boden der zuletzt ausgeführten Stellungnahme die Aufrollung dieses Problems als aktuelle Lebensfrage empfunden werden kann. Über diese Standpunkte selbst aber läßt sich nicht eigentlich debattieren. Ohne eigene Wahl pflegt der Einzelne in einen von ihnen hineinzuwachsen und ihm dann anzuhängen, als handle es sich um die Verteidigung heiligster Güter. Nur Wenige werden sich finden, die einer vorurteilsfreien Prüfung ihrer mitgebrachten Anschauungen auf diesem Gebiet geneigt sein werden. Und immer besteht die Gefahr, daß die in ihrem bisherigen "Glauben" wankend Gewordenen alle Religion überhaupt von sich abtun, sie für etwas Überwundenes, Veraltetes erklären, wovon man sich gründlich und für immer lossagen müsse. Nur Wenige sind sogleich reif für eine Auffassung der Religion, wonach diese nichts fest Gegebenes, Fertiges ist, sondern gerade darin ihren höchsten Wert enthält, daß der Einzelne sie sich selbst erringen, auf dem Boden des eigenen religiösen Bewußtseins sich selbständig erarbeiten muß. Nur die allmähliche historische Arbeit von Generationen, vor allem durch Vertiefung und Verinnerlichung der allgemeinen Bildung, kann hier entscheidend weiterbringen. Aber eben diese Arbeit setzt zum guten Teil gerade die Lehrfreiheit als wesentliche Bedingung ihrer Aussicht auf Erfolg voraus. Und so muß doch wieder vor allem erst einmal um diese gestritten werden, - so gut es mit den heute schon zur Verfügung stehenden Mitteln gehen will.

In erster Linie ist und bleibt Religion immer Sache der Einzelpersönlichkeit, innerste Privatangelegenheit des Einzelnen. Das ist oder sollte doch die unverlierbare Grundüberzeugung des protestantischen Bewußtseins geworden sein! "Gott und die Seele, die Seele und ihr Gott", so formuliert HARNACK kurz und treffend das zentrale Lebensinteresse aller echten Religiosität. Und es stünde herrlich um unsere Religion, wenn man sich dieses Wortes immer bewußt bliebe und ihm entsprechend handelte! - Allein daneben ist nun freilich die Religion doch auch Gemeinschaftsangelegenheit. Und gerade dem christlichen Bewußtsein, der Ethik der Nächstenliebe, ist es wohl angemessen, das, was man sich als höchstes, wertvollstes Gut erarbeitet hat, auch den Brüdern freudig mitzuteilen und zu erschließen. So wurzelt in jeder wirklich persönlich erfaßten Religion zugleich das Bedürfnis, sich mit Gleichgesinnten und Gleichstrebenden zur Gemeinschaft zusammenzuschließen und immer Neue und Andere dieser Gemeinschaft zu gewinnen. Und naturgemäß wird man vor allem bestrebt sein, den eigenen Nachkommen dieses glücklich erarbeitete hohe Gut möglichst getreu zu übermitteln.

Es scheint nun völlig klar: Das Problem der Lehrfreiheit gehört wesentlich der Religion als Gemeinschaftsangelegenheit an. Nur auf dem Boden der organisierten religiösen Gemeinschaft kann es entstehen. Es handelt sich somit bei ihm gar nicht um die Freiheit der persönlichen religiösen Überzeugung des Einzelnen als Einzelnen, sondern um die Frage, wie weit eine beauftragten Organ der Gemeinschaft das Recht zugestanden werden kann, bei der Durchführung der ihm übertragenen Aufgabe die eigenen, individuellen Anschauungen zur Geltung zu bringen, auf Kosten der von der Gemeinschaft erarbeiteten und gepflegten Traditionen. - Und bei einer solchen Fassung der Problemstellung scheint es weiterhin ganz klar, daß das Recht der Gemeinschaft das Höhere ist gegenüber allen Sonderanschauungen des Einzelnen. Wer sich in ihren Dienst stellt, der muß eben wissen, welche Aufgabe er damit übernimmt; und er braucht ja nichts zu übernehmen, was seinen persönlichen Überzeugungen zuwiderläuft.

Das klingt alles völlig einleuchtend und einwandfrei. Es ist dabei nur außer acht gelassen, daß die Religion, auch da, wo sie als Gemeinschaftsangelegenheit auftritt, doch ihrem innersten Kern und Wesen nach immer persönliches Leben, persönliche Tat bleibt, und daß sie es schlechterdings nicht ertragen kann, auf anderswoher empfangene Anschauungen sich festlegen zu lassen, die nicht mit persönlich eigenem Empfinden und Erleben erfüllt werden können. Darum ist es ein für allemal dem Geist der Religion entgegen, daß man Diener der Religion fordert, welche bloße Werkzeuge, bloß mechanische Verkündiger einer ihnen als feststehend übergebenen Heilswahrheit wären. Wo es gelingt, solche Verkündiger des rechten Glaubens zu gewinnen und in Tätigkeit zu bringen, da fälscht man die Religion, erniedrigt sie zur Sache eines leeren Wortbekenntnisses, während sie doch allein echt sein und Wert haben kann, wo sie zur innersten Lebensangelegenheit der Persönlichkeit wird, von den tiefsten, eigensten Lebensinteressen getragen ist. Wem es somit um wirkliche,  lebendige  Religion zu tun ist, nicht bloß um eine solche, wie sie die Statistik und vielleicht noch die Politik interessiert, der wird eine weitgehende Bewegungsfreiheit für ihre Organe dennoch wünschen müssen, trotz aller unzweifelhaften Rechte der Gemeinschaft auf getreue Pflege und Fortpflanzung ihres Glaubens.

Darüber also kann kein Zweifel sein: die Religion ist immer erst in zweiter Linie auch eine Gemeinschaftsangelegenheit und darf in keinem Fall dadurch in ihrem eigentlichen Wesen als Persönlichkeitsangelegenheit gefährdet werden.  Die Kirche hat der Religion zu dienen,  nicht umgekehrt! Es hilft überhaupt nichts, wenn man sagt, die Kirche sei nach Art eines Vereins zu betrachten, der seine Statuten und bestimmten Zugehörigkeitsbedingungen habe; wer sich denen nicht fügen wolle, der könne ja draußen bleiben. Denn erstens erhebt die Kirche im letzten Grund doch immer den Anspruch, die in historischer Kontinuität aus den ersten Christengemeinden hervorgegangene, privilegierte Gemeinschaft der Rechtgläubigen zu sein, so daß dem Draußenstehenden die überhapt die rechte Religion abgesprochen wird. Sdann aber liegt es einmal im Wesen einer solchen auf Statuten festgelegten Gemeinschaftsorganisation, daß nur allzuleicht durch die beständige Betonung dieser Statuten deren Inhalt zum eigentlichen Wesen der Sache gemacht wird, worüber dann die Religion selbst notwendigerweise zu kurz kommt.

Aus dem gleichen Grund ist es auch ganz vergeblich, aus der  Rechtsgeschichte  der Kirche etwa ihre Befugnis entnehmen zu wollen, über den "rechten Glauben" und die Zugehörigkeit zur Kirche zu entscheiden. Wer das versucht, dem mag vielleicht der Nachweis gelingen, daß unter dem Druck historisch politischer Machtfaktoren hier und dort rechtsgültige Bestimmungen über die Religion und ihre Ausübung in diesem oder jenem Sinne tatsächlich einmal zustande gekommen sind. Allein, wer diese darum als auch für uns unbedingt verbindlich fassen wollte, der verkennt eben das innerste Wesen der Religion, die sich nun und nimmer nach Art einer rechtlichen Institution fassen und behandeln läßt. Der Vergleich mit anderen Institutionen und Gemeinschaftsorganisationen  paßt  nicht auf die dem religiösen Leben dienenden, vor allem nicht auf die Kirche. Denn hier ist es nicht eine Angelegenheit der  Gemeinschaft  als solcher, was die Organisation sich zum Zweck setzt, sondern durchaus nur eine Angelegenheit der Einzelseele, der Einzelpersönlichkeit, die ein autoritatives Hereingreifen der Gemeinschaft schlechterdings nicht ertragen kann. Mögen wir also auch noch so viel halten von der Kirche als Helferin und Erzieherin zur Religion als unserem wertvollsten Gut: sobald sich irgendwo ein  Gegensatz  auftut zwischen den Ansprüchen der kirchlichen Organisation und den unveräußerlichen Forderungen, welche die Religion selbst uns in die Seele legt, müßten die ersteren unbedingt zurückstehen und es muß zugleich mit allen Mitteln dafür gesorgt werden, daß ein solcher Widerstreit künftig unmöglich wird, daß die Kirche an ihre Stellung als Dienerin der Religion aufs nachdrücklichste erinnert wird.

Aber folgt nun nicht gerade aus dieser Stellung der Kirche als Dienerin der Religion, daß sie von ihren eigenen Organen strengste Disziplin verlangen muß, eben damit die Freiheit des religiösen Lebens der Einzelnen nicht angetastet werde, sondern ein jeder finde, was er sucht? Würde nicht gerade die absolute "Lehrfreiheit" des von der Kriche angestellten Geistlichen eine Vergewaltigung der Freiheit des Publikums, der  Gemeinde  bedeuten? In der Tat hat man häufig versucht, die Gemeinde als die eigentlich maßgebliche Instanz in Sachen des Glaubens hinzustellen, der sich der Geistliche und auch die Kirche zu fügen habe. Die unserer Zeit eigene Vorliebe für demokratische Einrichtungen hat auch hier hereingewirkt; man meint, auch in religiösen und kirchlichen Dingen der Gemeinde eine Art Selbstregierung zugestehen zu müssen. Und gewiß ist diese Tendenz durchaus einwandfrei und vielleicht sogar zu empfehlen, soweit sichs dabei lediglich um die äußere Inszenierung des religiösen Gemeinschaftslebens handelt. Sie wird aber vom Übel sobald sie an irgendeinem Punkt in das innerlich Persönliche der Religion selbst hinübergreift, sobald sie sich mit verpflichtender Souveränität auf die Fassung und Gestaltung des Glaubensinhaltes selbst legen will. Mag man es im Kampf gegen gelegentliche Übergriffe von Seiten des Kirchenregiments auch einmal zweckmäßig finden, das Recht der Gemeinde in die Waage zu werfen und mag es auch vereinzelt Gemeinden geben, denen man ohne Gefahr weitergehende Befugnisse in die Hand geben könnte: es bleibt dennoch prinzipiell unstatthaft, überhaupt irgendeine Instanz zu schaffen, die in Sachen der Religion Vorschriften zu machen hätte, gleichviel ob diese Instanz ein Kirchenregiment oder eine Gemeinde, in praxi also eine Gemeinde-Majorität ist. Davor vor allem sollte man doch die Religion bewahren, daß sie zum Gegenstand von Volksabstimmungen und Majoritätsentscheidungen herabgewürdigt wird! Das wäre das Ende der Religion!

Kann somit eine Beschränkung der Lehrfreiheit auf keine Art zugestanden werden, so ist deshalb doch keineswegs das Aufkommen absoluter individueller Lehr willkür  zu befürchten. Denn in gewissem Sinne ist doch schon durch die ganze Vorbereitung des Geistlichen, wie des akademischen Lehrers, dafür gesorgt, daß vom Wertvollen der christlichen Religion nichts verloren gehen kann. Man müßte schon ein sehr geringes Zutrauen zur Überzeugungskraft und dem inneren Wahrheitsgehalt dieser Religion haben, wenn man es für möglich hält, daß jemand, der vier Jahre hindurch in vollen Zügen aus diesem Quell hat schöpfen können, davon innerlich unberührt bleiben sollte und sich minderwertiger Pseudoweisheit zuwenden könnte. Das wäre höchstens da zu befürchten, wo man jenes Studium zur Sache eines Zwanges zu machen versuchte, entweder dadurch, daß man dem Lehrenden selbst den zu lehrenden Inhalt vorschriebe, oder dadurch, daß man vom Lernenden forderte, daß er sich einen bestimmt vorgeschriebenen Glauben zu eigen mache, widrigenfalls er im Examen nicht bestehen könne oder ihm bei der Anstellung die Bestätigung versagt würde. Mit solchen Mitteln würde man allerdings selbst das Wertvollste und Heiligste seiner unmittelbaren Überzeugungs- und Wirkungskraft berauben können, es zu einer schwer getragenen Kette machen, die dann eben abgeworfen wird, sobald es ungestraft geschehen kann. Durch Glaubenszwang vermag man ein für allemal nichts Gutes zu wirken. Man bevölkert nur Kanzel und Lehrstuhl mit Männern, die sich und andere mit leeren Formeln täuschen und da die Religion suchen, wo sie nun und nimmer zu finden ist.

Nach alledem versteht es sich für uns von selbst, daß wir auch jeden Versuch ablehnen müssen, den offiziellen Lehrinhalt der Religion entgegen der persönlichen Überzeugung durch  pädagogische  Rücksichten irgendwelcher Art zu beeinflussen oder zu normieren. Was in den herrschenden Anschauungen einmal als irrig und in einem sittlich-religiösen Sinn als minderwertig erkannt ist, das soll auch nicht mehr von der kirchlichen Praxis noch fortgeschleppt und mit falscher Autorität umkleidet werden. Daß es dem Volk lieb geworden ist, daß das Volk daran hängt, wie der Krieger an einer alten, in vielen siegreichen Schlachten mit Ehren getragenen Fahne: das darf kein Grund sein, es der besseren Erkenntnis entgegen auch jetzt noch als wertvoll auszugeben. Die Masse des Volkes wird immer zum Aberglauben, zur Magie der Naturreligion geneigt bleiben. Wer sie darin glaubt schonen zu müssen, der hindert sie eben damit, sich zu reiner, wahrer Religiosität zu erheben. Wer aber veraltete, als irrig erkannte Vorstellungen und Wertschätzungen darum meint erhalten zu müssen, weil sie einen erzieherischen Einfluß aufs Volk übten, der verkennt, daß ein erzieherisch  wertvoller  Einfluß überall nur durch das Wahre und höchste Wertvolle geübt werden kann, niemals aber durch eine bevormundende Lehrpraxis, der die eigene innere Überzeugung von der Wahrheit ihres Lehrinhalts nicht mehr zur Seite steht. - Überdies aber ist bei allen solchen pädagogisch wohlgemeinten Erwägungen immer noch zu berücksichtigen, daß sich der Fortschritt der allgemeinen Bildung nun einmal auf keine Art mehr aufhalten läßt und daß es somit nicht verhindert werden kann, daß auch das Publikum allmählich merkt, mit welchen Mitteln es "erzogen" werden soll. Wo es aber dahin kommt, da ist dann nicht bloß die pädagogische Absicht, sondern mit ihr zugleich die Religion, die man so mißbraucht hat, in Mißkredit gebracht und damit zugleich auch die höhere erzieherische Wirkung aufgehoben, die sie von sich aus, ganz ohne so ein übereifriges Zutun, zu üben vermag.

Dennoch aber gibt es zweifellos pädagogische Rücksichten, die, und zwar im Interesse der Religion selbst, zu beobachten sind. Hierher gehört einmal die Beachtung der Regel, nichts Neues zu verkündigen, wovon sich bei einiger Kenntnis der ganzen geistigen Verfassung der Gemeinde voraussehen läßt, daß es mißverstanden werden wird, daß man Konsequenzen daraus ziehen wird, welche dem eigentlichen Sinne des neu Verkündigten vielleicht gerade entgegengesetzt sind. Man hat dafür zu sorgen, daß die religiöse Wahrheit nicht nur überhaupt ausgesprochen wird, sondern so ausgesprochen wird, daß sie auch in dem Sinne aufgenommen und begriffen werden kann, wie sie gemeint ist, daß also das Wertvolle darin auch ins rechte Licht gestellt erscheint und Boden fassen kann. Und - damit zusammenhängend - ist es denn auch eine pädagogische Forderung, bei der Lehre der Religion eine gewisse Kontinuität zu wahren, überall das Neue, so viel es gehen will, mit dem Alten, soweit ihm innerer Wert zukam, in Beziehung zu setzen. Religion und religiöse Weltanschauung läßt sich nun einmal nicht mit einem Schlag völlig umschaffen. Dazu ist sie mit viel zu zahlreichen Wurzeln in unser ganzes Gefühls- und Gemütsleben eingegraben; und es sind vielfach höchst achtbare und wertvolle Motive, mit denen man es hier zu tun hat, auch da, wo sie sich an etwas Veraltetes, nicht mehr Haltbares heften. Solche Gefühlsmotive, wie z. B. das der Pietät, wird man nicht ohne Gefahr übersehen und verletzen dürfen, wenn man nicht etwas höchst Wertvolles unwiederbringlich zerstören will, das doch bei jedem Neuaufbau der Religion unentbehrlich ist. - Es wird immer eine Taktfrage bleiben, wie weit die Rücksicht auf solche Motive und die Kontinuität gehen darf, ohne die Pflicht gegen die Wahrheit zu schädigen; und vor allem wird es auf die Art,  wie  das Neue verkündet wird, ankommen, ob es zweckmäßig und wohlgetan war, es auszusprechen. Dem wirklich religiösen Menschen wird es immer leicht genug werden, das eigentlich Wertvolle, den Geist der Religion, so unzweifelhaft überall in den Vordergrund zu stellen, daß der Wechsel der äußerlichen Einkleidung der religiösen Wahrheit niemandem etwas nimmt oder zerstört, was ihm nicht voll und ganz wieder ersetzt würde.

Durch Vorschriften irgendwelcher Art aber oder durch behördliche Beaufsichtigung wird sich dieser pädagogische Takt sicher nicht erzwingen lassen. Hier kann nur helfen, daß man dem Geistlichen selbst vollste Bewegungsfreiheit zugesteht und eben damit in ihm das volle Gefühl der Verantwortlichkeit erweckt für sein Tun und Wirken. Alle Versuche, dem Geistlichen irgendeine bindende Lehrverpflichtung aufzuerlegen, - sei es durch eine Neugestaltung des "Bekenntnisses" oder sei es auch nur durch eine "freiwillige" Bindung an die Traditionen seiner Kirche - müssen notwendig illusorisch bleiben, sofern niemand, der es ernst nimmt mit der Aufgabe stetiger Läuterung und Vertiefung seiner sittlich religiösen Anschauungen, sich verpflichten kann, noch auch darf, bei den gegenwärtig vielleicht von ihm erarbeiteten Vorstellungen dauernd zu verharren, auch dann, wenn etwa neue Ergebnisse der Wissenschaft oder neue innere Erfahrungen ihm eine höhere Einsicht anderer Art erschließen. Das aber wäre offenbar ein unbilliges und dem wahren Interesse der Religion widersprechendes Verlangen, wenn man jemandem, der in seinem späteren Berufsleben zu so einer Vertiefung und entsprechenden Veränderung seiner Anschauungen gelangte, zumuten wollte, seine Berufstätigkeit sodann niederzulegen. Wie kann jemand, der es gerade als seinen innersten Beruf faßt, anderen das Höchste und Wertvollste, das sich ihm selbst in seinem religiösen Innenleben erschlossen hat, gleichfalls mitzuteilen und auch sie dadurch innerlich zu fördern, ihnen zur Gottheit auf seinem Weg mit emporzuhelfen: wie kann ein solcher um einer von ihm als überwunden erkannten formelhaften Verpflichtung willen von dieser Aufgabe gerade da plötzlich ablassen wollen, wo sie ihm in neuer Tiefe und Größe aufgegangen ist und wo er besser als bisher den rechten Weg zum wahren Leben gefunden zu haben und zeigen zu können glaubt?

LITERATUR Max Wentscher, Das Problem der Lehrfreiheit, Tübingen 1907